Lieber Alfred,
Die Beurteilung von Orchestern ist zunächst natürlich immer eine subjektive Sache!
Selbstverständlich gibt es dafür eine Reihe von Kriterien. In einem anderen Thread hatte ich mal versucht, die kurz aufzulisten.
Aber auch die Anwendung solcher Kriterien bleibt letztlich subjektiv!
Also: Für Dich sind die Wiener Philharmoniker die unumstrittene Nummer 1 unter den Orchestern! Warum auch nicht?
Ich will nicht bestreiten: Es gibt einige Argumente dafür! Aber es gibt auch Argumente dafür, andere Orchester höher einzustufen.
Der Sinn von Umfragen und Rankings ist nun einfach, herauszufinden, wie viele Musikfreunde/Experten/Kritiker/Sponsoren/was-weiß-ich für Leute dieses oder eher doch jenes Orchester als das führende Spitzenorchester einstufen.
Die Bachtrack-Umfrage hat das Ergebnis erbracht, dass von den Befragten eine Mehrheit der Meinung war, die Berliner und die Amsterdamer hätten die Nase.
Das vor ein paar Monaten hier diskutierte CNN-Ranking hatte auch die Berliner an der Spitze gesehen!
Neues Orchester-Ranking von CNN
Kannst Du soetwas nicht einfach mal akzeptieren?
Aber ich fand es lächerlich, daß "16 ausgewiesene Musikkritiker" ein Orchester auf Platz 3 reihen, deren Polposition auf der ganzen Welt ausser Zweifel steht...
Deine Formulierungen (hier und in früheren Beiträgen) lässt vermuten, dass Du irgendwie annimmt, die 16 Musikkritiker hätten sich getroffen und ihre Rangliste gleichsam ausgehandelt.
So läuft das natürlich nicht. Die Leute werden je einzeln angeschrieben und aufgefordert zu sagen, welches Orchester sie wie hoch einschätzen.
Aller Erfahrung nach können sie Punkte vergeben. Vielleicht 10 für das Orchester, das sie auf dem ersten Platz sehen, 9 für das danach rangierende Orchester .... und so weiter.
Zum Schluss wird einfach zusammen gezählt!
In diesem Fall von Bachtrack haben eben die Berliner 136 Punkte, die Amsterdamer 113 und die Wiener 74!
Das ist doch ein ehrenwerter Platz für die Wiener!
Allerdings bietet das Ergbenis natürlich schon auch einen Stachel: der Abstand ist doch recht groß!
Heute hat die klassische Moderne und gemässigte zeitgenössische Musik einen höheren Stellenwert als in meiner Jugend, wo sich die Klassikwelt mehr auf die Wiener Klassik konzentrierte, Mahler und Schostakowitsch zwar bekannt, aber nicht eigentlich beliebt waren und Komponisten mancher Länder allenfalls aus dem Musiklexikon bekannt waren..
Das scheint mir eher ein spezifisch wienerisches Phänomen!
In der Bundesrepublik Deutschland wurde gerade nach dem Krieg in vielen Städten sehr bewusst, eine demonstrative Ausweitung des Repertoires betrieben. Komponisten, die in der Zeit des Nationalsozialismus verboten oder zumindest nicht aufgeführt worden waren, wurden wieder aufgeführt. So kam vor allem das, was Du die klassische Moderne nennst, in die Konzertsäle - also Schönberg, Berg und Webern, aber auch Ravel, Debussy, Bartok, Janacek, Strawinsky, Hindemith!
Hinzu kamen schon in den 50er Jahren Komponisten wie Milhaud, Honegger, Tippett, Poulenc.
Zudem wurden Werke 'zeitgenössicher Komponisten' vorgestellt: etwa Fortner, Blacher, Hartmann, Messiaen, Klebe, Henze - bald auch Boulez, Ligeti, Dallapiccola,Penderecki und Kagel.
Wenn man das in Erinnerung ruft, wird man natürlich sagen müssen, dass es insbesondere die Orchester der Rundfunkanstalten waren, die diese Ausweitung des Repertoires betrieben - in Berlin, Köln, Hamburg, Baden-Baden, Frankfurt, Stuttgart, München.
Aber auch die Berliner Philharmoniker arbeiteten an einer Ausweitung des Repertoires kräftig mit. Es gab eine eigene Reihe, die ganz der 'modernen' Musik gewidmet war. Wichtiger aber scheint mir fast: in den Abonnementskonzerten wurde eigentlich konsequent immer ein Werk aus dem 20.Jahrhundert aufs Programm gesetzt. Nicht alle Abonnenten mochten das. Da dieses 'Neutönige' zunächst oft als erstes Stück gespielt wurde, kamen sie einfach später. Deshalb wurde schließlich die Reihenfolge umgestellt und das 'Neutönige' kam in die Mitte.
Nicht übersehen werden darf, dass auch viele Dirigenten sehr bewußt Werke spielten, die nicht zum Haydn-Mozart-Beethoven-Schubert-Schumann-Brahms-Bruckner-Kanon gehörten. Selbst Karajan. Er hat gar nicht so selten Sibelius aufgeführt und sogar Nielsen, er hat Prokofieff und Shostakovich auf seine Programme gesetzt.
ALSO: Es mag sein, dass in Wien in deiner Jugend das Repertoire noch relativ begrenzt war.
Allerdings: könnte nicht auch nur deine Wahrnehmung eher auf diesen Teil des Repertoires fokussiert gewesen sein?
Begann nicht schon Ende der 50er Jahre in Wien "die reihe"? Und hat nicht Max Schönherr schon unmittelbar nach Kriegsende das "Orchester für die Radioverkehrs-Aktiengesellschaft RAVAG“ gegründet, um zeitgenössische Musik zur Aufführung zu bringen - ein Ensemble das doch eine Stellung im Wiener Musikleben gewann und - nach etlichen Namensänedrungen - heute "ORF Radio-Symphonieorchester Wien" heißt?
Ob das alles hier her gehört, mag bezweifelt werden, aber ich mochte die Behauptung, die Erweiterung des Repertoires sei erst in jüngster Zeit passiert, so nicht unwidersprochen lassen!
Dass sie heute einen weiteren Radius hat, braucht nicht betont zu werden! Aber das schlägt sich auch nicht wirklich in den Abonnementsreihen aller Orchester nieder!
Beste Grüße nach Wien
Caruso41
PS.:
In der gerade beginnenden Saison, werden ja die Wiener Philharmoniker öfter in meine Nähe kommen.
In Köln geben sie in der Philharmonie immerhin 4 Konzerte (Unter Blomstadt, Nézet-Seguin, Barenboim und Metzmacher)
In Dortmund íst dann der direkte Vergleich mit den Berliner möglich. Beide Orchester werden in dieser Saison je ein Konzert unter dem selben Dirigenten geben - unter Nézet-Seguin!
Ich werde also Gelegenheit haben, die Wiener wieder live zu hören und bin gespannt, ob sie den wenig positiven Eindruck, den ich von Konzert- und Opernaufführungen in Salzburg 2013 und 2014 mitgenommen habe, korrigieren können!
.