Die "innere Wende": Gefühle und Emotion in der Musik vor und nach 1800

  • Ab etwa 1800 ist der Sprache der europäischen Kunstmusik zunehmend ein Element des Emotionalen inhärent, welches zuvor fehlt. Da "Emotionen" im Gegensatz zu "Gefühlen" die Neigung haben, Menschen zu vereinnahmen und ihnen Verhaltensweisen und Befindlichkeiten zu oktroyieren, kann man davon sprechen, dass die Musik, die wesentlich mehr eine Sprache der Gefühle als des Geistes ist, auch eine entsprechende Emotionalisierung des (vertieften) Hörers bewirkt. Als Erklärung für das Phänomen der Emotionalisierung wird eine verminderte Wertigkeit geistig betonter Elemente in der Musiksprache angenommen, welche zu einer geringeren Betonung des Geistes des Rezipienten führt und somit einen breiteren Spielraum für die Entfaltung von Emotionen schafft. All dies ist in vielfacher Hinsicht konkret am Notentext feststellbar.

    Liebe Bachiana,


    die Unterscheidung von Gefühl und Emotion gibt es ja in der Literatur. Im Unterschied zu einfachem Gefühl ist dem zufolge Emotion ein Gefühl, was zugleich eine "Antwortreaktion" des beteiligten Subjekts enthält. Beispiele:


    Trauer ist Gefühl, Weltschmerz dagegen Emotion, weil man auf Trauer mit Wehmut reagiert.


    Freude ist Gefühl, Jubel Emotion, weil der Jubel mit einem Triumpfgefühl auf Freude antwortet.


    Auf dieser Grundlage läßt sich aber Deine Kernthese gerade nicht bestätigen. Denn Emotionen haben nicht weniger, sondern mehr Geist und Verstand als Gefühle, denn Gefühle sind unreflektiert, Emotionen dagegen höchst reflektiert.


    Und ebensowenig leuchtet ein, warum uns nur Emotionen Gefühle aufoktroyieren sollen und Gefühle nicht. Rachmaninows Musik zeigt viel Weltschmerz, aber beim Hören von Rachmaninow-Musik bekomme ich nun selber gar keinen Weltschmerz. Und freudige Musik kann mir eine freudige Empfindung nicht weniger aufoktroyieren als jubelnde Musik den Jubel.


    Könnte es also sein, dass Du "Emotion" viel zu sehr auf Wagnersche Gefühlsextase eingeengt hast?



    Lieber Holger, ich werde mich bemühen ! Doch ihr wisst schon, dass man besonders solche vergleichenden Analysen nicht einfach nebenbei aus dem Ärmel schütteln kann ? Vor allem müssen hier sinnvoll vergleichbare Werke gefunden werden ! (Aber wie üblich habe ich bereits griffige Ideen... ;))

    Da bin ich sehr gespannt darauf!



    Höchste Lust ist reinste Emotion. Das ist der Grund, warum Wagner schreibt: "unbewusst - höchste Lust!". Eine bewusste Wahrnehmung des Empfindens mag in jenem ekstatischsten Momente zwar möglich sein, jedoch kaum mehr eine bewusste Steuerung von Handlungen oder Gedanken.

    Wozu braucht denn die Erfassung von Gefühlen oder Emotionen überhaupt die "bewußte Steuerung von Handlungen und Gedanken"? Auch das ist eine Komplexitätsreduktion für meinen Geschmack. Wagners Oper besteht ja nicht nur aus Isoldes Liebestod, da gibt es z.B. auch noch eine sehr verständige Mitleidsethik...



    Die Lust des Vergessens mag kurzfristig das Leiden für beendet scheinen lassen. Doch in Wahrheit ? Noch niemals hat Stillstand Leiden beendet. Überwunden ist es dadurch noch lange nicht! Eher meine ich, das Gegenteil sei der Fall. Leider ist es noch immer so, dass vernünftiges Verhalten langfristig weniger Leiden nach sich zieht, als unvernünftiges Handeln. Um dies zu erkennen, muss man nicht einmal prüde, verklemmt, sinnen- oder genussfeindlich sein. Im Gegenteil. Ich bezweifle sehr stark, dass jemals jemand in seinem Leben entscheidend mehr Glück und positive Gefühle, Gesundheit oder Freude erzeugen konnte, indem er sich der Lust hingab, zu fühlen, was sich momentan an angenehm scheinenden Gefühlen anbot. Den "Willen auszuhängen" ist demnach wie ein Drogenrausch

    Schopenhauer hat nicht zufällig den Buddhismus entdeckt. Der Buddhist überwindet das Leiden, indem er sein Bewußtsein ausschaltet, wenn er z.B. mit einer Bürste den Boden schruppt, eine bekannte Übung. Warum soll das unvernünftig sein? Und er überwindet tatsächlich das Leiden, resultierend aus dem unstillbaren Durst menschlicher Begierde. Bei Wagner geschieht all das mit Musik und Ästhetik.



    Dies mag auch aus einer anderen Sicht wichtig sein: für unser Thema hier ! Denn genau diese zuvor bereits sukzessiv verstärkte und bei Wagner zum Kult erhobene "Zelebration der Lust und Emotion" ist es, die Musik seit 1800 zu "emotionalisierter Musik" macht.

    Das kann man glaube ich schwerlich behaupten, dass es bei romantischer Musik generell um emotionale Luststeigerung geht. Eine ziemlich gewagte These - die behauptet, alle Romantik kulminiere in Wagner. Schopenhauer sagt so schön: Auf ein Ziel läuft ein Weg immer nur dann zu, wenn man am Zielpunkt angekommen den Weg im Rückblick betrachtet! :D :hello:



    Herzliche Sonntagsgrüße
    Holger

  • Nein, das denke ich nicht.


    Ich wusste bislang nur nichts davon, dass solche eine Unterscheidung in der Literatur existiert :rolleyes: Ich versuchte nur für mich selbst eine Terminologie zu finden, mit welcher dieser Unterschied beschrieben werden kann zwischen Gefühlen, die man HAT und Gefühlen, die EINEN HABEN. ;)
    Ich behaupte natürlich auch nicht, dass jeder, der romantische Musik hört, sein Riechfläschchen in Griffweite haben sollte ...


    Doch die von dir hier genannte Unterscheidung ist so weit nicht von meiner Eigendefinition entfernt. Sind doch Emotionen darin "überhöhte Gefühle". Das Gefühl "Trauer" ist gleichsam eine Teilmenge des Gefühls "Weltschmerz", oder? Ebenso "Jubel und Triumph". Und mehr noch: die von dir genannten Beispiele haben beide eben genau den von mir gemeinten Charakter. Sobald sie Emotionen geworden sind, werden sie gleichsam übermächtig. Nur dass ich der Meinung bin, auch Trauer könne theoretisch ohne zusätzliche Beimengung zur "Emotion" werden. Doch dies gilt nur sehr theoretisch. Denn wieder setze ich die Alltagserfahrung an und sage: Wer übermannende Gefühle erlebt, hat niemals nur eines alleine. Man beobachte, wie bei zunehmender Emotionalisierung (Stress, Ärger, Verliebtheit, Eifersucht .....) stets eine ganze Reihe emotionaler Trittbrettfahrer auftreten, die die Gelegenheit nutzen "mitzupackeln" (wie wir in Österreich sagen ;)).



    Wozu braucht denn die Erfassung von Gefühlen oder Emotionen überhaupt die "bewußte Steuerung von Handlungen und Gedanken"?

    Im Prinzip gar nicht. Will man jedoch seine Handlungsfähigkeit erhalten (was in manchen Lebenssituationen durchaus von Vorteil sein kann), dann würde ich dieses dringend empfehlen... ;)



    Schopenhauer hat nicht zufällig den Buddhismus entdeckt. Der Buddhist überwindet das Leiden, indem er sein Bewußtsein ausschaltet, wenn er z.B. mit einer Bürste den Boden schruppt, eine bekannte Übung. Warum soll das unvernünftig sein? Und er überwindet tatsächlich das Leiden, resultierend aus dem unstillbaren Durst menschlicher Begierde. Bei Wagner geschieht all das mit Musik und Ästhetik.

    Hand aufs Herz: Hast du schon einmal einen Buddhisten getroffen, der sein "Leiden überwunden" hat? Vielleicht gibt es welche, die es so sehr akzeptieren können, dass man ihnen nicht mehr anmerkt, dass sie leiden. (Doch solche Menschen kenne ich auch bei uns). Doch im Ernst: Ich bin der festen Überzeugung, dass man durch meditative Ruhe zwar zeitweise das Wohlbefinden steigern, jedoch keinen echten Entwicklungsfortschritt machen kann. Und ohne diesen wird es wohl schwierig sein, das Leiden bleiben zu lassen! Fortschritt hat immer mit erhöhtem Bewusstsein zu tun.



    Das kann man glaube ich schwerlich behaupten, dass es bei romantischer Musik generell um emotionale Luststeigerung geht. Eine ziemlich gewagte These - die behauptet, alle Romantik kulminiere in Wagner. Schopenhauer sagt so schön: Auf ein Ziel läuft ein Weg immer nur dann zu, wenn man am Zielpunkt angekommen den Weg im Rückblick betrachtet!

    Holger, das habe ich auch nicht gesagt! (Manchmal kommt mir der Verdacht, du könntest ein wenig widerborstig sein! :love:) Nur habt ihr diesen Punkt favorisiert, daher versuchte ich, auf diesem Punkt zu bleiben. Natürlich kann es JEDE Emotion sein und natürlich ist es nicht nur Wagner (wenn er auch mit dem Tristanakkord einen sehr entscheidenden Schritt gesetzt hat).


    Auf bald!

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Nein, das denke ich nicht.


    Ich wusste bislang nur nichts davon, dass solche eine Unterscheidung in der Literatur existiert :rolleyes: Ich versuchte nur für mich selbst eine Terminologie zu finden, mit welcher dieser Unterschied beschrieben werden kann zwischen Gefühlen, die man HAT und Gefühlen, die EINEN HABEN. ;)
    Ich behaupte natürlich auch nicht, dass jeder, der romantische Musik hört, sein Riechfläschchen in Griffweite haben sollte ...


    Doch die von dir hier genannte Unterscheidung ist so weit nicht von meiner Eigendefinition entfernt. Sind doch Emotionen darin "überhöhte Gefühle". Das Gefühl "Trauer" ist gleichsam eine Teilmenge des Gefühls "Weltschmerz", oder ? Ebenso "Jubel und Triumph". Und mehr noch: die von dir genannten Beispiele haben beide eben genau den von mir gemeinten Charakter. Sobald sie Emotionen geworden sind, werden sie gleichsam übermächtig. Nur dass ich der Meinung bin, auch Trauer könnetheoretisch ohne zusätzliche Beimengung zur "Emotion" werden. Doch dies gilt nur sehr theoretisch. Denn wieder setze ich die Alltagserfahrung an und sage: Wer übermannende Gefühle erlebt, hat niemals nur eines alleine. Man beobachte, wie bei zunehmender Emotionalisierung (Stress, Ärger, Verliebtheit, Eifersucht .....) stets eine ganze Reihe emotionaler Trittbrettfahrer auftreten, die die Gelegenheit nutzen "mitzupackeln" (wie wir in Österreich sagen ;)).

    Liebe Bachiana,


    manchmal braucht es etwas Zeit - jetzt erst verstehe ich richtig, worum es Dir geht. Du meinst das Gefühl der Ergriffenheit. Das ist in der Tat ein wichtiger Aspekt der Empfindsamkeit - da gibt es bezeichend immer diese Formulierungen: um zu rühren muß man selber gerührt sein usw. "Rührend" und "ergreifend" sind quasi auch Synonyme alltagssprachlich. Ergriffenheit meint, dass wir von etwas emotional "eingenommen" werden - das kann Musik sein, aber auch ein Sonnenuntergang, eine Rede...


    Das Beispiel der Trauer ist insofern interessant, als wir eigentlich weniger von der Trauer ergriffen werden, sondern von einer Trauer-Rede.


    Dem müßte man natürlich tiefer nachgehen. Denn Ergriffenheit ist auch nicht nur einfach ein starker Affekt wie der Zornausbruch - das nennen wir nicht Ergriffenheit im Alltag.



    Im Prinizp gar nicht. Will man jedoch seine Handlungsfähigkeit erhalten (was in manchen Lebenssituationen durchaus von Vorteil sein kann), dann würde ich dieses dringend empfehlen... ;)

    Beim Musikhören bleibe ich einfach faul im Stuhl sitzen und fröne der Handlungsunfähigkeit! :D



    Hand aufs Herz: Hast du schon einmal einen Buddhisten getroffen, der sein "Leiden überwunden" hat ?

    Tatsächlich! Die Asiaten haben uns in dieser Hinsicht einiges voraus! ;)


    (Meine "Widerborstigkeit" ist mir angeboren übrigens - also kein Laster, sondern Naturnotwendigkeit!) :D



    Auf bald !

    Das hoffe ich auch! :hello:



    Herzlich grüßend
    Holger

  • Liebe Bachiania,


    eine ganz persönliche Antwort an Dich steht noch aus - bitte habe etwas Geduld mit mir!


    Hier allerdings muss ich schon wieder Holger wiedersprechen, nämlich seinen Beispielen zu Emotion und Gefühl.
    Emotionen sind existenziell, sie üben im Grunde Gewalt über uns aus; sie sind unteilbar und nicht steuerbar.
    Gefühle hingegen sind vor allem das: teilbar.
    Triumph z.B. kann sehr zwiegespalten sein: kann aus Stolz bestehen, Hochmut, eingestandenem (oder auch nicht) Überlegenheitsgefühl....selbst Mitgefühl für den, über den da triumphiert wird, ist möglich.


    Emotionen sind ganz schlicht: Wut; Trauer; Freude; Überraschung; Ekel und Angst.
    Das sind die Bausteine unserer Gefühlswelt, die an Zwischentönen reich ist.
    Was dann eben die Gefühle sind, die so farbig und vielschichtig daherkommen- und die wir zu steuern in der Lage sind!


    Liebe Bachiania, etwas bedauernd scheint mir so zu sein, dass Du selbst Deinen Thread mitdemontierst, indem Du Dich solchen Diskussionen hingibst, in denen nicht nur immer weiter von Deiner Ur-Frage entfernt geschrieben wird, sondern auf die theorethische Ebene gehoben wird- noch dazu missverstanden oft- dass ich sehe, ich hätte alles dazu geschrieben.
    Was nicht sein müsste, würde man Deiner Frage Respekt erweisen satt sich in Zitaten zu ergießen oder sich genötigt sehen, Emotion und Gefühl per Definition in Worte zu fassen.


    Frage damit: gelingt es Musik, Emotionen auszulösen? Oder erreicht sie doch eher unser Gefühl?
    Und wie erreicht sie es, da sie selbst doch nicht ausdrücken kann, sondern "nur" erwecken?
    Klingt Trauer bei Händel wirklich anders als bei Beethoven?
    Macht diese "innere Wende" nicht aus, dass Händel quasi objektivierender zu Werke geht als Schumann, der sozusagen subjektivistischer seinen Hörer zu fassen sucht?


    Geht es einem Händel um den Hörer, Schubert nicht?
    Wer ist das Ziel beim Notenschreiben?


    Entschuldige, das liest sich äußerst pragmatisch, ist genauso gemeint.
    In Nahekommen zunächst sogar des Begreifens Deiner Frage, noch gar nicht auf eine Antwort zielend.
    Aber im Verständnis, dass nicht Wissenschaften die Antwort bieten und Bündel an Zitaten.
    Immer noch lese ich Deine Urfrage sehr persönlich- und möchte ihr eigentlich auch so antworten.
    Verzeih also, dass ich statt einer Antwort Gegenfragen stelle.
    Denn einer meiner Lieblingssätze eines Germanistikprofessors: "Und so entstand ein Krieg auf Seite 96" bringt zumindest mich der Beantwortung Deiner Frage nicht näher.


    Eher schon: reagiert ein Saul nicht auf Basis seiner Emotion, hingegen der Wanderer in der Winterreise nicht doch auf Basis seines Gefühls?
    Jonathan wiederum sehr wohl auf Basis seines Gefühls, weil Vergebung vielschichtig ist?
    Dann aber selbst der jämmerliche Wanderer Trauer empfindet bei Schubert ..... wie groß ist die Reibung der Musiksprache zwischen Händel und Schubert?
    Existiert sie und wenn ja, wo?


    In aller Bemühung, Deiner Frage zu folgen, herzliche Grüße,
    Mike

  • Ich versuchte nur für mich selbst eine Terminologie zu finden, mit welcher dieser Unterschied beschrieben werden kann zwischen Gefühlen, die man HAT und Gefühlen, die EINEN HABEN.

    Sind doch Emotionen darin "überhöhte Gefühle". Das Gefühl "Trauer" ist gleichsam eine Teilmenge des Gefühls "Weltschmerz", oder ? Ebenso "Jubel und Triumph". Und mehr noch: die von dir genannten Beispiele haben beide eben genau den von mir gemeinten Charakter. Sobald sie Emotionen geworden sind, werden sie gleichsam übermächtig.

    Liebe Bachiana,


    da die Begrifflichkeiten in diesem Bereich ziemlich fließend sind, gibt es glaube ich doch noch einigen Klärungsbedarf, so dass man wenigstens einigermaßen "festen Boden" unter den Füßen bekommt.


    Die Unterscheidung von "Gefühl" und "Emotion" stammt letztlich aus dem angelsächsischen Sprachraum - in der deutschen Tradition spricht man dagegen von Gefühl, Empfindung, Affekt, Stimmung.


    Wikipedia gibt für engl. emotion folgende Definition - gestützt auf die alltagssprachliche Verwendung:


    Emotion is, in everyday speech, a person's state of feeling in the sense of an affect.


    Hält man sich daran, dann ist Emotion entweder gleichbedeutend mit einem Affekt (was ja auch der lateinischen Wortbedeutung "In-Bewegung-setzen" entspricht), oder es handelt sich um ein Gefühl, dass dazu noch eine besonders ausgeprägte affektive Wirkungs-Komponente hat.


    Das als Grundlage ist für meinen Geschmack allerdings doch etwas dünn - um nicht zu sagen trivial - um damit die "innere Wende" seit 1800 zu begründen.


    Und es ist dazu auch noch hermeneutisch durchaus fragwürdig. Denn die Romantiker haben generell eine ziemlich starke Aversion gegen Affektiertheit. Dass also der Unterschied von romantischer und vorromantischer Musik in der mehr oder weniger ausgeprägten Affektbetonung von Gefühlsgehalten liegen soll, erscheint mir von daher eher wenig einleuchtend. Was man unter "Emotion" versteht, verlangt also für meinen Geschmack noch eine genauere Erläuterung, damit man bei der Suche nach konkreten Phänomenen nicht allzu sehr im Ungefähren fischt.


    Herzlich grüßend
    Holger

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  • Lieber Mike, danke für deine Antwort ! Du hast gewissermaßen schon recht: wir entfernen uns manchmal ein wenig von der ursprünglichen Fragestellung. Doch im Grunde sind wir dabei, gewisse Grundlagen zu klären.



    Aber im Verständnis, dass nicht Wissenschaften die Antwort bieten und Bündel an Zitaten.

    Lieber wäre mir auch, alle würden verstehen, was genau ich meine, dann müsste ich nicht immer wieder auf unterschiedliche Weise dasselbe zu erklären versuchen. Vieles an meinen Ansichten generiere ich aus Erfahrungen und Überlegungen. Weniger aus dem, was durchaus kluge alte Köpfe (natürlich seid ihr auch klug aber nicht alt! ;)) zuvor bereits gesagt haben. Daher argumentiere ich oft mit lebenspraktischen Beispielen. Allerdings habe ich auch einen Hang zur Abstraktion.
    Ausgangspunkt meiner Fragestellung war zunächst eine langjährige Wahrnehmung, aus welcher ich nun versuche, eine haltbare Erklärung zu abstrahieren.


    Für unsere (meine) Fragestellung ist es offenbar nötig, uns auf gewisse (theoretische) Grundlagen zu einigen.
    Ich dachte, dass ich mittels meiner musikalischen Analyse diese theoretische Phase des Diskurses verlassen hätte, doch sind meine Ansichten eventuell nicht so gängig ;), als dass man sie so einfach ohne Grundlagenerklärungen darlegen könnte.


    Allerdings habe ich den Verdacht, dass sowohl du als auch Holger mit mir in der Frage, was Emotionen seien, sowieso weitgehend übereinstimmen. Sowohl Holgers Definition (siehe mein letzter Beitrag), als auch deine widersprechen meiner im Grunde höchstens in Details.
    Du schreibst, Melante: "Emotionen sind existenziell, sie üben im Grunde Gewalt über uns aus; sie sind unteilbar und nicht steuerbar.
    Gefühle hingegen sind vor allem das: teilbar."
    Meine Erfahrung sagt: Gefühle sind sowieso nie "rein". Jedes (intensive) Gefühl ist eine Mischung aus verschiedenen Archetypen. Niemand war jemals einzig und allein nur "existentiell wütend". Stets besteht eine individuelle Beimengung von Unsicherheit oder Gekränktheit oder Angst oder Erinnerung oder anderen, zum großen Teil unbewussten Elementen. Holger meint eben, dies seien mehrere Emotionen, die sich auftürmen. Das ist von der anderen Seite betrachtet dasselbe ! Es mag schon sein, dass ein sehr zartes Gefühl auch einmal für sich selbst stehen bleibt. Jedoch kaum werden Gefühle stärker, sind sie meist aus mehreren Komponenten zusammengesetzt. Wenn diese dann so stark werden, dass sie uns zu bestimmen beginnen (ich finde das englische Wort "overwhelming" hier viel aussagekräftiger als alle deutschen Worte), dann spreche ich von "Emotionen". Ich bleibe bei meiner bereits auf mehrere verschiedene Arten formulierten Definition "Gefühle haben wir, Emotionen haben uns".
    Entscheidend für unser Thema ist also das "sie üben Gewalt über uns aus". Gefühle lassen (ich weiß wirklich nicht, wie ich es nochmals anders sagen soll) dem Menschen die Möglichkeit, andere Gefühle zu haben, zu bemerken, vielleicht bewusst hervorzuholen. Wenn ich voll des Glücks mit einem mir lieben Menschen beisammen bin, dann fühle ich mich GLÜCKLICH. Ich kann meine Umgebung wahrnehmen, mich auch über andere Dinge freuen, vielleicht über das Erlebnis schöner Natur und vieles andere. Wäre dieser Mensch jedoch mein Partner und ich in hohem Maße eifersüchtig, so wäre ich nicht imstande, etwas um mich herum, oder außerhalb dieses Themas liegendes überhaupt wahrzunehmen.
    So viel zur dieser theoretischen Grundlage.


    Doch nun wird es ein wenig schwierig, jedoch müssen wir zum Verständnis der Dinge sogar noch über die folgende Hürde. (Evenetuell mangelt es mir auch einfach an Fähigkeit, das was ich meine, tatsächlich in griffige Worte zu fassen).
    Ich habe hier den Unterschied zwischen "Gefühlen" und "Emotionen" sehr stark herausgearbeitet, eine notwendige Verdichtung, um wirklich verständlich zu machen, was ich meine.
    Im Alltag jedoch begegnen uns "Gefühle" und "Emotionen" dauernd, auch ohne uns natürlich handlungsunfähig zu machen. Die Lebensrealität ist natürlich abgeschwächt. Doch kann man bei aufmerksamer Selbstbeobachtung diesen Unterschied durchaus auch in geringeren Intensitäten feststellen. Man mag (ohne dass dies freilich nützt) über den versäumten Bus jammern oder weil man sich den Kopf gestoßen hat oder seinen Schlüssel verloren oder sogar weil das Wetter schon wieder oder noch immer regnerisch ist. Es müssen nicht gleich Todessehnsucht oder Eifersuchtsdramen sein.


    Was ich über die Musik sagen möchte, geht also natürlich über diese "Intensivdefinition" hinaus.
    Nun behaupte ich ja nicht, dass romantische Musik über uns Gewalt ausübe. Es ist keine Droge, die uns jemand ins Glas geschüttet hat. Denn niemand ist gezwungen, Musik zu hören. Man ist immer imstande, sich zu distanzieren, wenn man es möchte. Dies wollte ich auch gar nie behauten, selbst wenn es eventuell so verstanden wurde. Auch wollte ich nicht sagen, dass romantische Musik in irgend einer Weise Gefühle zwanghaft evoziere, die dann beim Hörer zu Emotionen würden, die ihn handlungsunfähig machen. Denn natürlich kann man uns allen zutrauen, nach einem Konzert oder anderen Hörerlebnis den Ort desselben zu verlassen und sein normales Leben weiter zu führen (wenn auch oft ein wenig "verändert").
    Doch: Wie gesagt neigen Gefühle dazu, sich zu stapeln, sich gegenseitig zu unterstützen und hochzuschaukeln. Somit kann Musik durchaus einen (entscheidenden) Beitrag für die Entstehung einer Emotion leisten.


    Und (was noch deutlich häufiger geschieht, möchte sagen der "übliche Fall beim Hören" ist): romantische Musik VERHÄLT sich wie Emotion, lässt Emotionen anklingen, lässt uns Dinge "tief im Bauch" spüren, weckt vage Erinnerungen, Ahnungen, lässt uns Dinge fühlen, die uns vielleicht nur halb bewusst, tief innen berühren. Sie weckt Sehnsüchte, lässt uns gleiten und treiben, uns hingeben an unser Fühlen, will keine Klarheit und kein Verstehen. Sie will nicht uns führen, sondern uns mit sich ziehen durchs unwegsame Dickicht unseres Inneren. Will uns verführen, ihr zu folgen, wie der süße Gesang der Sirenen den Odysseus. Dies kann durchaus extatisch sein, will man sich gestatten, diesem Spiel der Farben und Stimmungen zu folgen. Romantische Musik will nicht zuvorderst schön sein. Sie will berühren, will bewegen, er"greifen". Süß ist diese Verführung freilich, verlockend, dunkel, anziehend und beglückend auf eine Weise, die wir kaum erklären können, vermutlich auch nicht wollen. Wir sind hier imstande uns darin zu verlieren.


    Vorromantische Musik hingegen lässt den Menschen klar im Kopf bleiben. Sie führt uns in unser Inneres wie Ariadne mit dem roten Faden. Sie lässt uns SEHEN, was wir fühlen, sie lässt uns jubeln, freuen oder weinen, doch stets ist der Geist wach, wacher vielleicht sogar, als er es ohne die Musik wäre. Unser Jubel, unsere Freude, unsere Trauer finden stets im Empfinden großer Schönheit statt. Unsere Empfindungen haben einen Ort und eine Gestalt. Stets ist der Weg zurück sichtbar. Diese Musik tritt uns nie zu nahe. Sie gestattet, dass wir ihr nahe treten. Nicht sie will uns, sondern wir wollen sie. Der Weg nach außen ist stets zu finden und zugleich gelangen wir durch die Unmittelbarkeit ihrer Sprache und die Erhabenheit ihrer Gefühle in Regionen unseres Selbst, die wir uns vielleicht auf andere Weise kaum gestatten oder gar finden könnten. Wir bleiben dabei wir selbst, bei vollem Bewusstsein.



    Und wie erreicht sie es, da sie selbst doch nicht ausdrücken kann, sondern "nur" erwecken?
    Klingt Trauer bei Händel wirklich anders als bei Beethoven?
    Macht diese "innere Wende" nicht aus, dass Händel quasi objektivierender zu Werke geht als Schumann, der sozusagen subjektivistischer seinen Hörer zu fassen sucht?

    Dies ist kein Widerspruch. Denn genau das charakterisiert ja auch "Gefühle' im Gegensatz zu" Emotionen" (wenn wir freundlicherweise uns der Einfachheit halber darauf einigen können, bei dieser Terminologie zu bleiben), dass erstere für uns OBJEKTIVIERBAR bleiben, letztere jedoch so SUBJEKTIV sind, eine Betrachtung (seiner Selbst oder anderer) zumindest eingeschränkt ist.
    In diesem Sinne sehe ich diesen Unterschied von dir sehr gut auf den Punkt gebracht.



    reagiert ein Saul nicht auf Basis seiner Emotion, hingegen der Wanderer in der Winterreise nicht doch auf Basis seines Gefühls?
    Jonathan wiederum sehr wohl auf Basis seines Gefühls, weil Vergebung vielschichtig ist?
    Dann aber selbst der jämmerliche Wanderer Trauer empfindet bei Schubert.....wie groß ist die Reibung der Musiksprache zwischen Händel und Schubert?
    Existiert sie und wenn ja, wo?

    Man muss hier differenzieren: natürlich hat Saul starke Emotionen ! Ebenso wie viele Charaktere Händels, Monteverdis, sogar Bachs sowie Schuberts ! Doch gab es mit dieser "inneren Wende" offensichtlich den ästhetischen Entscheid, diese Emotionen dem Hörer sehr leicht (quasi "vorverdaut') verfügbar zu machen. Ich glaube nicht, dass dies ein geändertes Selbstverständnis des Komponisten gegenüber den Hörer mit sich bringt. Vielmehr vermute ich, dass dies mit geänderten gesellschaftlichen, somit ästhetischen und anderen Umständen zusammenhängt.


    Über Beethoven bin ich mir selbst noch nicht ganz klar. Ebenso denke ich noch intensiv darüber nach, wie die Musik des "empfindsamen Stils" um 1750 zu bewerten ist. Man entbinde mich vorerst hier bitte noch von einer Stellungnahme.


    Es ist mir eine Freude, mich hier wieder einmal für das außerordentlich hohe fachliche und menschliche Niveau unseres Diskurses bei euch zu bedanken. Und natürlich ganz besonders auch dafür, dass ich durch eure Meinungen und Anregungen ständig angeregt bin, erneut und aus anderen Perspektiven darüber nachzudenken, und somit auch meine Ansichten immer wieder neu zu überdenken!


    Ich danke euch, dass ihr meine langen Texte lest. Wahrlich, kürzer geht es leider nicht, obwohl mir das lieber wäre. Zu wenig fasslich ist unser Thema. Aber dafür umso schöner!



    Herzliche Grüße
    Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Und (was noch deutlich häufiger geschieht, möchte sagen der "übliche Fall beim Hören" ist): romantische Musik VERHÄLT sich wie Emotion, lässt Emotionen anklingen, lässt uns Dinge "tief im Bauch" spüren, weckt vage Erinnerungen, Ahnungen, lässt uns Dinge fühlen, die uns vielleicht nur halb bewusst, tief innen berühren. Sie weckt Sehnsüchte, lässt uns gleiten und treiben, uns hingeben an unser Fühlen, will keine Klarheit und kein Verstehen. Sie will nicht uns führen, sondern uns mit sich ziehen durchs unwegsame Dickicht unseres Inneren. Will uns verführen, ihr zu folgen, wie der süße Gesang der Sirenen den Odysseus. Dies kann durchaus extatisch sein, will man sich gestatten, diesem Spiel der Farben und Stimmungen zu folgen. Romantische Musik will nicht zuvorderst schön sein. Sie will berühren, will bewegen, er"greifen". Süß ist diese Verführung freilich, verlockend, dunkel, anziehend und beglückend auf eine Weise, die wir kaum erklären können, vermutlich auch nicht wollen. Wir sind hier imstande uns darin zu verlieren.


    Vorromantische Musik hingegen lässt den Menschen klar im Kopf bleiben. Sie führt uns in unser Inneres wie Ariadne mit dem roten Faden. Sie lässt uns SEHEN, was wir fühlen, sie lässt uns jubeln, freuen oder weinen, doch stets ist der Geist wach, wacher vielleicht sogar, als er es ohne die Musik wäre. Unser Jubel, unsere Freude, unsere Trauer finden stets im Empfinden großer Schönheit statt. Unsere Empfindungen haben einen Ort und eine Gestalt. Stets ist der Weg zurück sichtbar. Diese Musik tritt uns nie zu nahe. Sie gestattet, dass wir ihr nahe treten. Nicht sie will uns, sondern wir wollen sie. Der Weg nach außen ist stets zu finden und zugleich gelangen wir durch die Unmittelbarkeit ihrer Sprache und die Erhabenheit ihrer Gefühle in Regionen unseres Selbst, die wir uns vielleicht auf andere Weise kaum gestatten oder gar finden könnten. Wir bleiben dabei wir selbst, bei vollem Bewusstsein.

    Liebe Bachiana,


    das ist ein wunderbares, geradezu vorbildlich einfühlsames Beispiel für die Durchdringung von musikalischer Erfahrung und Reflexion. Ich bin beeindruckt! :)


    Ich kann das sehr gut nachvollziehen an diesem Beispiel:



    Ich bin ja nun alles andere als ein Kenner von Alter Musik. Aber ich glaube, die berührende „Schönheit“ dieses Chorsatzes von d´Helfer kann jeder, der Musik liebt, unmittelbar nachvollziehen. Das ist Harmonie der Mehrstimmigkeit in Vollendung – zudem mit einer nie dekorativen barocken Fülle und Natürlichkeit. Für mich bezeichnend ist das Dies irae. D´Helfer – ein Mensch des Barock – verlässt da nämlich die barocke Fülle mehrstimmigen Gesanges und kehrt zur schlichten und strengen gregorianischen Einstimmigkeit zurück. Wenn man gerade bei diesem vielzitierten Dies irae-Choral an die Komponisten des 19. Jhd. denkt – Berlioz, Liszt, Verdi – dann wird hier darauf verzichtet, den Zorn Gottes mit musikalischen Mitteln zu malen, als ein Aufruhr in der Musik, welcher den Hörer erzittern läßt. Helfers Musik bleibt dagegen distanziert.


    Für mich ist die Frage, warum diese Musik so „harmonisch“ ist, letztlich eine philosophische nach der Welt- und Lebenseinstellung. Da ist bei Charles d´Helfer einmal das beruhigende Gefühl zu spüren, in einer geordneten und im ganzen wohleingerichteten Welt aufgehoben zu sein. Dazu kommt ein Humanismus des aufrechten Gangs – in dieser Totenzeremonie wird ja ein Herrscher gelobt für sein insgesamt gelungenes, gottgefälliges Leben, also die Schönheit und Gelungenheit der Schöpfung mit der Musik gepriesen. Dagegen lebt der Mensch des 19. Jhd. in einer im Grunde aus den Fugen geratenen Welt, in der er sich fremd fühlt. So hat die Musik dann eine andere Funktion, nämlich die des Erhabenen: ihn zu „packen“ – zugleich zu erniedrigen und zu erhöhen, durch den berauschenden Klang vom elenden, irdischen Leben gleichsam in eine bessere Welt emporzuheben. Wie wir „Gefühlen“ begegnen und wie Musik damit umgeht ist letztlich vom Welt- und Existenzverständnis des Menschen, der sie erlebt, nicht zu trennen.


    Mit herzlichen Sonntagsgrüßen
    Holger

  • Liebe Bachiania,


    ich habe Deinen Beitrag aufmerksam (mehrmals) gelesen. Ich möchte nur auf einige wenige Punkte antworten, nicht weil sie mich nicht interessierten, sondern weil ich mich auf die für mich besonders wichtigen beschränke.


    Ich bleibe bei meiner bereits auf mehrere verschiedene Arten formulierten Definition "Gefühle haben wir, Emotionen haben uns".
    Entscheidend für unser Thema ist also das "sie üben Gewalt über uns aus."

    Das ist eine treffende Unterscheidung, allerdings ist mir gewaltsam in der Auswirkung für Emotion zu übertrieben (was nützlich sein kann, um den Leser zu erreichen). Ich kenne aus eigener, oftmals erlebter Erfahrung, dass ich kleinere Musikstücke oder Passagen aus größeren Werken viele Male hintereinander hören will/muss (was sich bei längeren Stücken wegen der Zeitdauer relativiert),
    weil mich meine Emotion so gepackt hat, dass es mir schwer fällt, aufzuhören.



    Vorromantische Musik hingegen lässt den Menschen klar im Kopf bleiben. Sie führt uns in unser Inneres wie Ariadne mit dem roten Faden. Sie lässt uns SEHEN, was wir fühlen, sie lässt uns jubeln, freuen oder weinen, doch stets ist der Geist wach, wacher vielleicht sogar, als er es ohne die Musik wäre. Unser Jubel, unsere Freude, unsere Trauer finden stets im Empfinden großer Schönheit statt. Unsere Empfindungen haben einen Ort und eine Gestalt. Stets ist der Weg zurück sichtbar. Diese Musik tritt uns nie zu nahe. Sie gestattet, dass wir ihr nahe treten. Nicht sie will uns, sondern wir wollen sie.

    Und (was noch deutlich häufiger geschieht, möchte sagen der "übliche Fall beim Hören" ist): romantische Musik VERHÄLT sich wie Emotion, lässt Emotionen anklingen, lässt uns Dinge "tief im Bauch" spüren, weckt vage Erinnerungen, Ahnungen, lässt uns Dinge fühlen, die uns vielleicht nur halb bewusst, tief innen berühren. Sie weckt Sehnsüchte, lässt uns gleiten und treiben, uns hingeben an unser Fühlen, will keine Klarheit und kein Verstehen. Sie will nicht uns führen, sondern uns mit sich ziehen durchs unwegsame Dickicht unseres Inneren.

    Wenn Du den Thread „Musik, die emotional stark bewegt“ lesend überfliegst, wirst Du feststellen, dass die dort von mir als Bespiele aufgeführten Werke kaum aus der Zeit der Romantik stammen (gerade Musik aus der Romantik wirkt bei mir meist weniger emotional). Das kann an meinen persönlichen Vorlieben für bestimmte Musik liegen, aber auch an den Deinen, die Grundlage für Deine hier geäußerte Meinung ist.
    Ich meine also, dass die Wirkung von Musik – vor oder nach 1800 – derart unterschiedliche Wirkungen beim Hörer haben können – selbst wenn analytisch feststellbar ist, dass es kompositorische Unterschied gibt – dass die von Dir festgestellten Auswirkungen m. E. mehr persönlicher Natur sind.



    Vieles an meinen Ansichten generiere ich aus Erfahrungen und Überlegungen.

    Es dürfte die weitaus geringere Anzahl von Musikfreuden sein, die anhand einer Partitur die dort vom Komponisten in Noten niedergeschriebenen Klangvorstellungen in ihrem „inneren Ohr“ (im Gehirn) nachvollziehen können (neben oder nach der Struktur). Noch komplizierter wird es, wenn der Komponist Musikzitate (das Zitat will erst mal erkannt werden) aus Werken anderer Komponisten in seine Komposition einfließen lässt und die Bedeutung des Zitats als bekannt voraussetzt, ebenso für das Verständnis seiner Komposition. Es mag durchaus sein, dass Du diese Fähigkeiten und Kenntnisse hast, dann ist Deine Meinung m. E. auch mehr für den beschriebenen kleinen Kreis von Musikfreunden zutreffend und weniger für die „Allgemeinheit“ von Klassikmusikfreunden.



    Viele Grüße
    zweiterbass



    Nachsatz: Ich bin mir sicher, mein Beitrag wird bei Dir nicht als Kritik ankommen, sondern eben als eine andere, noch viel mehr subjektivere Meinung.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Dies irae


    Eine interessante Idee, hier d'Helfers Requiem anzuführen, ein Werk allerdings auch, das in seiner musikalischen Zweitklassigkeit eher die Masse der damaligen liturgischen Produktion repräsentieren dürfte, weniger die eigentlichen "Spitzenprodukte".
    D'Helfer weicht dem Dies irae ja nicht umsonst in gewisser Weise aus.


    Bereits die ältesten erhaltenen Officiums-Vertonungen loten ganz verschiedene Möglichkeiten aus. Ockeghems strenge Kargheit, de la Rues dunkler Ton, Richafords tröstliche Klangschönheit stecken die Möglichkeiten ab. In allen jedoch fehlt die Sequenz. Brumel versucht sich als Erster daran, bleibt dabei allerdings beim gregorianischen Choral und vermag in seinem Requiem letztlich nicht das ihm eigene kompositorische Niveau zu erreichen.


    Da die Liturgie eine Vertonung der Sequenz nicht zwingend verlangt, bleibt sie bis ins 17. Jahrhundert in der Mehrzahl der Fälle außen vor. Das gilt auch für das berühmteste Requiem des Saeculums, Victorias Officium, und, um wieder nach Frankreich zu gelangen, für Caurroys Requiem (nebenbei ein m.E. überzeugenderes Beispiel für besagte "Harmonie der Mehrstimmigkeit").


    Entscheidet man sich dennoch für eine Vertonung des Dies irae, beschränkt man sich im Bereich der gallikanischen Kirche oft auf die schlichte Implantierung der gregorianischen "Vorlage". Cererols, ein Zeitgenosse d'Helfers, verknüpft den (aragonsischen) Choral bereits mit tänzerischen Abschnitten! Im Spätbarock kann das Dies irae sogar dezidiert heitere Züge tragen, wie beispielsweise in ZWV 46 zu lesen/hören.


    Auf naheliegende illustrative Vertonungen verzichten die großen Namen auch während des Barocks. Versuche in dieser Richtung gibt es bezeichnenderweise nur von eindeutig provinziellen Komponisten (eines der wenigen auf Tonträger greifbaren Beispiele stammt von Hochreither).


    Eine Zäsur um 1800 ist auch hier festzustellen. Mozart bringt 1791 bereits theatralische Elemente ein, stützt sich aber noch auf den auch von d'Helfer genutzten Plainchant. Eybler, der sich an der Weiterführung von Mozarts Requiem versucht hatte, verzichtet in seiner eigenen Vertonung von 1802 bereits auf derartige Referenzen.


    Das Dies irae aus Cherubinis c-moll-Werk könnte bereits einer frühromantischen Oper entstammen. Man muß die alten deutschen Kritiken an den theatralischen Officiums-Vertonungen von Berlioz oder Verdi nicht teilen, um zu erkennen, daß der Versuch, mittels Pathos und schierer Masse zu überwältigen, auch in unfreiwillige Komik umschlagen kann.
    Dies ist nun keineswegs nur die anachronistische Sichtweise einer abgeklärten Post-Bellum-Generation. Spott hat Berlioz' Sequenz bereits bei Zeitgenossen provoziert.


    Das erwähnte Gefühl des "Unbehaustseins" ist ja nicht neu, wurde allerdings im 19. Jahrhundert auf modische Weise besonders gepflegt. Dabei war es ja nicht unbedingt das eigentliche Publikum eines Berlioz-Requiems, welches von den tatsächlichen sozialtopographischen Umwälzungen zuallererst betroffen war.
    Jedenfalls dürfte die Profanisierung des sakralen Raums, in dem die Orgel zum Orchesterersatz und die Totenmesse zur schaurig-unterhaltsamen Oper wurde, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits weitgehende Realität gewesen sein.

  • Eine interessante Idee, hier d'Helfers Requiem anzuführen, ein Werk allerdings auch, das in seiner musikalischen Zweitklassigkeit eher die Masse der damaligen liturgischen Produktion repräsentieren dürfte, weniger die eigentlichen "Spitzenprodukte".
    D'Helfer weicht dem Dies irae ja nicht umsonst in gewisser Weise aus.

    Lieber Gombert,


    das ist alles sehr lehrreich, was Du schreibst und für mich mit Gewinn zu lesen! Aber mir als auf diesem Gebiet unbedarftem Hörer geht es natürlich nicht um eine musikhistorische Bewertung, sondern die ästhetische Qualität, die ich höre.



    Entscheidet man sich dennoch für eine Vertonung des Dies irae, beschränkt man sich im Bereich der gallikanischen Kirche oft auf die schlichte Implantierung der gregorianischen "Vorlage".

    Das hatte ich mir fast gedacht! Die interessante Frage wäre natürlich, warum man damals so wenig Bedürfnis hatte, das illustrativ zu orchestrieren.



    Das erwähnte Gefühl des "Unbehaustseins" ist ja nicht neu, wurde allerdings im 19. Jahrhundert auf modische Weise besonders gepflegt.

    Das Wort "modisch" finde ich ja ein bisschen verräterisch. Der homo modernus ist im Mittelalter ein Schimpfwort - das ist der, der sich an das Zeitliche hängt und nicht am Bleibenden und Ewigen orientiert. Es zeugt davon, dass man noch kein historisches Bewußtsein hatte und entsprechend schwingt in der Bezeichnung "modisch" die Abwertung des Historischen speziell des 19. Jhd. mit. Sicher ist das Gefühl des Unbehaustseins eine anthropologische Konstante. Aber: Der dreißigjährige Krieg ist nicht die französische Revolution. Das Gefühl des Unbehaustseins im 19. Jhd. ist eben sehr spezifisch und darin neuartig aus vielerlei Gründen. Es wird zur welterschließenden Grundbefindlichkeit - das ist letztlich geschichtlich neu, was man auch wie ich meine sehr gut durch Quellen belegen kann. Das als "Mode" abzutun, verkennt für mich die wesentliche Dimension dieser historischen Erfahrung.



    Dabei war es ja nicht unbedingt das eigentliche Publikum eines Berlioz-Requiems, welches von den tatsächlichen sozialtopographischen Umwälzungen zuallererst betroffen war.
    Jedenfalls dürfte die Profanisierung des sakralen Raums, in dem die Orgel zum Orchesterersatz und die Totenmesse zur schaurig-unterhaltsamen Oper wurde, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits weitgehende Realität gewesen sein.

    Hier finde ich doch den Unterschied evident. Das Requiem von d´Helfer huldigt dem status quo, Berlioz´ Requiem verherrlicht dagegen eine Bewegung, einen welthistorischen Umsturz, die Julirevolution von 1830. Das war bezeichnend ein staatliches Auftragswerk im nationalen Interesse. Hegel nannte Napoleon mal den "Weltgeist zu Pferde", was das Gefühl der Zeit sehr gut wiedergibt. In diesem Geiste erging, das ist mehr als plausibel finde ich, der Auftrag an den Komponisten Berlioz, nicht nur die französische Revolution als nationales Ereignis, sondern dieses zugleich als ein umstürzlerisches weltgeschichtliches Ereignis außerordentlichen Ranges musikalisch "grandios" zu feiern. Entsprechend wählt er dazu auch sehr monumentale Mittel. Das als bloße Unterhaltungsoper abzuwerten, ist meiner Meinung nach eine tendentiöse Wertung post factum. Damals war man wohl wirklich der Meinung, "Geschichte" zu schreiben im großartigen Sinn, und entsprechend auch dazu bereit, dafür die entsprechenden musikalischen Mittel aufzubringen. Ganz ohne Wertung macht diese Situation der Entstehung deutlich, warum es einem solchen Komponisten anders als dem barocken darum geht, Musik erlebnisfähig zu machen - passend zur Einmaligkeit des geschichtlichen Augenblicks, den man miterlebt.



    Herzlich grüßend
    Holger

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  • Wie gesagt neigen Gefühle dazu, sich zu stapeln, sich gegenseitig zu unterstützen und hochzuschaukeln.


    Vielleicht steckt in diesem Satz von Bachiania der Schlüssel für die Beantwortung der eingangs gestellten Frage.


    Könnte es sein, dass die Musik nach 1800 es sich viel ausgiebiger zunutze macht, dass Gefühle sich aufstauen lassen - viel ausgiebiger als es die Musik in der Zeit zuvor getan hat. Die Musik wird nach 1800 in immer größerem Maße so inszeniert, dass Gefühle sich aufschaukeln und sich in ihrer Wirkung potenzieren. Auf diese Weise kann romantische Musik den Hörer ähnlich in ihren Bann ziehen wie es ein Roman mit dem Leser tut, vor dem verschiedene Spannungsbögen parallel aufgebaut werden. Man kennt das: die Handlung wird immer genau dann, wenn sie am spannendsten ist, unterbrochen. Es wechselt der Ort der Handlung, eine Rückblende wird eingeschoben oder es beginnt ein ganz neuer Handlungsstrang. Vieles wird zunächst im Dunkeln gelassen und für später aufgespart. Auf diese Weise treibt ein Autor seine emotionalen Spielchen mit uns und baut im Leser ein Gemisch aus unterschiedlichen Erwartungen und Hoffnungen auf. Kurz vor dem möglichen Platzen der emotionalen Blase löst der Schreiber das Gewirr aus Emotionen in einem großen Show-down genüsslich auf.


    Musik vor 1800 ist weniger episch breit angelegt. In Analogie zur Literatur schreitet die „Handlung“ chronologisch voran und einzelne Episoden sind in sich mehr oder weniger abgeschlossen. Man kann das Buch getrost zur Seite legen, ohne den Faden zu verlieren und ohne das Gefühl, vom Autor vorgeführt und verführt worden zu sein. Die Schönheit der Sprache selbst spielt eine sehr wichtige Rolle.


    Wenn diese Analogie zutrifft, sollte sich dieses Strickmuster in der Musik doch leicht nachvollziehen lassen.

  • Ich halte es für gewagt (bis falsch), den Begriffen "Emotion" und "Gefühl" verschiedenartige Bedeutungen zuordnen zu wollen. Einfach, weil sich im allgemeinen Sprachgebrauch da keine verschiedenen Bedeutungen zeigen. Beide Begriffe sind völlig synonym und austauschbar.


    Dann sollte man auch keine Unterschiede künstlich herbeikonstruieren.


    Zur Wende der Musik nach 1800... ich würde auch sagen, daß mit der Romatik eben das Gefühl zentral in die Musik Einzug hielt. Musikalische Stilmittel, Ausdruck, Techniken usw. zielten darauf ab, Gefühle einzufangen, und darzustellen. Und im Hörer dann auch wieder auszulösen.


    Ausnahmen bestätigen natürlich wie immer die Regel. Die Romantik gilt ja auch ganz allgemein als die Kunstepoche des Gefühls. Es paßt also alles zusammen...


    Natürlich ist es manchmal subjektiv, welche Gefühle beim Hören von Musik im Hörer hervorgerufen werden. Manchmal ist es aber auch ziemlich klar und eindeutig (das "Grandiose" an Tschaikowski's b-Moll-Klavierkonzert etwa versteht so gut wie jeder, der es hört). Ich gönne mir beim Hören immer die Musik, deren Emotionalität/emotionale Wirkung gerade zu meiner momentanen Stimmungslage paßt.


    Viele Grüße
    Chris


    p.s. wobei gerade auch Beethoven in einigen Werken sehr große und zwingende Emotionen zeigt... eigentlich gehört der zu den Romantikern ;)
    Und Mozarts Requiem etwa ist Emotion pur... gehört also zu den "Ausnahmen".


  • Vielleicht steckt in diesem Satz von Bachiania der Schlüssel für die Beantwortung der eingangs gestellten Frage.


    Könnte es sein, dass die Musik nach 1800 es sich viel ausgiebiger zunutze macht, dass Gefühle sich aufstauen lassen - viel ausgiebiger als es die Musik in der Zeit zuvor getan hat. Die Musik wird nach 1800 in immer größerem Maße so inszeniert, dass Gefühle sich aufschaukeln und sich in ihrer Wirkung potenzieren.


    Musik vor 1800 ist weniger episch breit angelegt.


    Meiner Ansicht nach war im Gegenteil eine der wesentlichen Errungenschaften der Musik der Romantik (allerdings stärker ab ca. 1830) die immense Aufwertung "kleiner" und "kleinster Formen": Lieder aller Art, einschl. solcher "ohne Worte", Schuberts Moments musicaux und Impromptus, Schumanns Klavierstücke Chopins Mazurken, Preludes und Etüden, die manchmal nicht einmal eine Minute dauern. Also Fragmente, Aphorismen und Epigramme statt Epen und Romane.


    Opern des Barock oder Mozarts sind dagegen länger als viele "typische" Opern des 19. Jhds. (z.B. länger als das meiste von Donizetti oder Verdi, freilich gibt es auch Grand Opera und Wagner, aber man kann ja nicht einfach nur die extremen Fälle rauspicken).
    Bei Sinfonien und Orchesterwerken zeigt erst die Spätromantik ab den 1870/80ern Dimensionen, die die "Vorgaben" von Beethovens und Schuberts 9. aus den 1820ern erreichen oder übertreffen. Einer der längsten und epischsten Sinfoniesätze überhaupt stammt sogar schon von 1803.
    "Typische" Sinfonien und Einzelsätze zwischen 1800 und 1870 sind nur geringfügig länger als die Londoner Sinfonien Haydns und die letzten 4 Mozarts und oft kürzer als Beethovens und Schuberts.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat von »Bachiania«
    Vieles an meinen Ansichten generiere ich aus Erfahrungen und Überlegungen.


    Es dürfte die weitaus geringere Anzahl von Musikfreuden sein, die anhand einer Partitur die dort vom Komponisten in Noten niedergeschriebenen Klangvorstellungen in ihrem „inneren Ohr“ (im Gehirn) nachvollziehen können (neben oder nach der Struktur). Noch komplizierter wird es, wenn der Komponist Musikzitate (das Zitat will erst mal erkannt werden) aus Werken anderer Komponisten in seine Komposition einfließen lässt und die Bedeutung des Zitats als bekannt voraussetzt, ebenso für das Verständnis seiner Komposition. Es mag durchaus sein, dass Du diese Fähigkeiten und Kenntnisse hast, dann ist Deine Meinung m. E. auch mehr für den beschriebenen kleinen Kreis von Musikfreunden zutreffend und weniger für die „Allgemeinheit“ von Klassikmusikfreunden.

    Lieber Zweiterbass, hier habe ich mich wohl nicht ganz klar ausgedrückt. Ich meinte grundsätzlich allgemeine, den Menschen und die Welt betreffende Erkenntnisse. Dass ich auch gerne in den Notentext blicke, um mir meine eigene Meinung zu bilden, stimmt natürlich. Allerdings lege ich immer (ich hoffe das kommt auch bei euch so an) großen Wert darauf, nicht "elitär" zu sein und die Dinge so zu schreiben, dass man sie auch hörend nachvollziehen kann. Dies ist freilich bei Bachfugen nicht ganz einfach, dennoch strebe ich es an.



    Musik vor 1800 ist weniger episch breit angelegt. In Analogie zur Literatur schreitet die „Handlung“ chronologisch voran und einzelne Episoden sind in sich mehr oder weniger abgeschlossen. Man kann das Buch getrost zur Seite legen, ohne den Faden zu verlieren und ohne das Gefühl, vom Autor vorgeführt und verführt worden zu sein. Die Schönheit der Sprache selbst spielt eine sehr wichtige Rolle.

    Diese Analogie finde ich sehr schön, Seicento ! Tatsächlich legt ja barocke Musik wenig Wert auf eine epische Breite, die dann das Hören zuweilen schwierig, weil unübersichtlich macht. Das Barock liebt die Vielfalt, die Abwechslung. Vielleicht auch deswegen steigert sich kein Gefühl so tief hinein, wie in eine romantische Oper und Symphonie. Weil der nächste Ausgang immer recht schnell angeboten wird. Ich hatte kürzlich sehr gefühlsintensive Hörerlebnisse bei Händels "Giulio Caesare". Auch wenn hier die Protagonisten leiden und weinen, in Emotionen liegen, wie man es keinem Menschen zumuten möchte, spielt stets die "Schönheit" eine tragende Rolle. Jemand sagte mir zu dem konkreten Fall: "die Emotion [der handelnden Personen, nicht der Musik !] kann man doch ruhig in Kauf nehmen, wenn sie Anlass ist für so viel schöne Musik !"



    Meiner Ansicht nach war im Gegenteil eine der wesentlichen Errungenschaften der Musik der Romantik (allerdings stärker ab ca. 1830) die immense Aufwertung "kleiner" und "kleinster Formen": Lieder aller Art, einschl. solcher "ohne Worte", Schuberts Moments musicaux und Impromptus, Schumanns Klavierstücke Chopins Mazurken, Preludes und Etüden, die manchmal nicht einmal eine Minute dauern. Also Fragmente, Aphorismen und Epigramme statt Epen und Romane.


    Opern des Barock oder Mozarts sind dagegen länger als viele "typische" Opern des 19. Jhds. (z.B. länger als das meiste von Donizetti oder Verdi, freilich gibt es auch Grand Opera und Wagner, aber man kann ja nicht einfach nur die extremen Fälle rauspicken).
    Bei Sinfonien und Orchesterwerken zeigt erst die Spätromantik ab den 1870/80ern Dimensionen, die die "Vorgaben" von Beethovens und Schuberts 9. aus den 1820ern erreichen oder übertreffen. Einer der längsten und epischsten Sinfoniesätze überhaupt stammt sogar schon von 1803.
    "Typische" Sinfonien und Einzelsätze zwischen 1800 und 1870 sind nur geringfügig länger als die Londoner Sinfonien Haydns und die letzten 4 Mozarts und oft kürzer als Beethovens und Schuberts.

    Ich bin mir persönlich noch nicht ganz klar über die Rolle sowohl der Vorklassiker als auch Beethovens in dieser Frage. Hier erbitte ich noch Überlegungszeit.


    Dein Einwand über die kurzen Formen der Romantik, Johannes, ist berechtigt. Dennoch tragen gerade diese Stücke in sehr hohem Maße jene Kennzeichen, die ich anhand Schumanns op. 73 beschrieben habe. Dies widerspricht nicht meinem Bild. Denn die Analogie der Musik zu inneren Zuständen, die wir an uns selbst kennen, ist dennoch ganz klar sichtbar. Manchmal reißen uns verschiedene Emotionen hin und her, so dass uns nahezu schwindlig wird, dann wieder haben uns einzelne für lange Zeit im Griff.


    Stets bitte ich bei meinen Ausführungen zu beachten (auch als Erklärung für Zweiterbass), dass ich die Dinge sehr pointiert formuliere, das es sonst nur bei aufmerksamer (Selbst-)Beobachtung möglich sein könnte, diese Unterschiede nachzuvollziehenn. Wie oben bereits mehrfach gesagt, spielt sich all das in der (Lebens- und musikalischen) Praxis sehr viel subtiler ab.


    :hello: Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Zit. Classicophil: „Ich halte es für gewagt (bis falsch), den Begriffen "Emotion" und "Gefühl" verschiedenartige Bedeutungen zuordnen zu wollen. Einfach, weil sich im allgemeinen Sprachgebrauch da keine verschiedenen Bedeutungen zeigen. Beide Begriffe sind völlig synonym und austauschbar.“

    Aber nein! Diese Begriffe sind alles andere als „synonym und austauschbar“. Der Begriff „Gefühl“ ist hochkomplex und bezieht sich auf eine fundamentale Fähigkeit des Menschen. Der Begriff „Emotion“ hingegen bezeichnet eine Bewegung des Gemüts im Sinne eines Affekts. Eine ganze Philosophie rankt sich um den Begriff des Gefühls. Viele Philosophen haben dem Gefühl eine Erkenntnisfunktion zugeschrieben. Max Scheler spricht - darin an Brentano anknüpfend - zum Beispiel von einem „intentionalen Fühlen“, mit dem der Mensch die Welt der Werte zu erfassen und darin sogar eine Hierarchie auszumachen vermag. Hegel bezeichnet das „Gefühl“ als ein „dumpfes Weben des Geistes in seiner bewußt- und verstandlosen Individualität“ Fichte sprach dem Gefühl die Funktion zu, Erfahrung des Dinges an sich“ zu sein. Und Heidegger geht sogar so weit, dem Gefühl die Fähigkeit zuzumessen – er geht dabei von der „Gestimmtheit“ aus – das Wesen des menschlichen Daseins erschließen zu können.

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  • Verbindlichen und herzlichen Dank, Helmut! Zu einen gebe ich dir natürlich recht, und zum anderen ersuche ich aus pragmatischen Gründen darum, die von uns so mühevoll erarbeitete Theoriegrundlage als Basis zu belassen, selbst wenn man individuell anderer Meinung sein mag! Denn diese Unterschiede bestehen ja eindeutig, wie auch immer man sie benennen mag.


    :) Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Ich bleibe bei meiner bereits auf mehrere verschiedene Arten formulierten Definition "Gefühle haben wir, Emotionen haben uns".

    Das ist die Ausgangsbasis! :)



    Zu einen gebe ich dir natürlich recht, und zum anderen ersuche ich aus pragmatischen Gründen darum, die von uns so mühevoll erarbeitete Theoriegrundlage als Basis zu belassen,

    genau das passt aber sehr gut dazu:



    Max Scheler spricht - darin an Brentano anknüpfend - zum Beispiel von einem „intentionalen Fühlen“, mit dem der Mensch die Welt der Werte zu erfassen und darin sogar eine Hierarchie auszumachen vermag.

    Wenn wir Gefühle haben, und sie nicht uns haben, dann ist das intentionales Fühlen.



    Heidegger geht sogar so weit, dem Gefühl die Fähigkeit zuzumessen – er geht dabei von der „Gestimmtheit“ aus – das Wesen des menschlichen Daseins erschließen zu können.

    Wobei Heidegger die Begriffe "Gefühl" wie auch "Affekt" grundsätzlich meidet und von "Stimmungen" und "Befindlichkeiten" redet. ;)



    Es wechselt der Ort der Handlung, eine Rückblende wird eingeschoben oder es beginnt ein ganz neuer Handlungsstrang. Vieles wird zunächst im Dunkeln gelassen und für später aufgespart. Auf diese Weise treibt ein Autor seine emotionalen Spielchen mit uns und baut im Leser ein Gemisch aus unterschiedlichen Erwartungen und Hoffnungen auf. Kurz vor dem möglichen Platzen der emotionalen Blase löst der Schreiber das Gewirr aus Emotionen in einem großen Show-down genüsslich auf.

    Als Beispiel dazu fällt mir z.B. eine Mahler-Symphonie ein - aber Schubert, Schumann oder Mendelssohn?


    Und: Diese "emotionalen Spielchen" hebt die zeigenössische Rezeption des 18. Jhd. (!) an der Musik von C. Ph. E. Bach hervor - das ist eindeutig vor 1800.



    Meiner Ansicht nach war im Gegenteil eine der wesentlichen Errungenschaften der Musik der Romantik (allerdings stärker ab ca. 1830) die immense Aufwertung "kleiner" und "kleinster Formen":

    Das finde ich auch sehr wichtig. Denn das spricht für eine Betonung des Lyrischen und paßt nicht zur Romantik-Rezeption, die ihr eine emotionale "Dramatisierung" in irgend einer Form unterstellt.



    Tatsächlich legt ja barocke Musik wenig Wert auf eine epische Breite, die dann das Hören zuweilen schwierig, weil unübersichtlich macht.

    Die Romantiker beziehen sich gerne auf Shakespeare... ;)



    Dein Einwand über die kurzen Formen der Romantik, Johannes, ist berechtigt. Dennoch tragen gerade diese Stücke in sehr hohem Maße jene Kennzeichen, die ich anhand Schumanns op. 73 beschrieben habe.

    Es gibt aber Hochromantisches, dass sich so

    Manchmal reißen uns verschiedene Emotionen hin und her, so dass uns nahezu schwindlig wird, dann wieder haben uns einzelne für lange Zeit im Griff.

    gerade nicht beschreiben läßt, etwa die ruhigen und völlig unemphatischen "Consolations" von Liszt.



    Alle Mitdiskutanten grüßend :hello: :hello: :hello:
    Holger

  • Aus Zeitmangel nur ganz kurz! Helmut, damit habe ich NICHT DICH gemeint, sondern den Beitrag von Classicophil! Bitte bleib uns als Gesprächspartner erhalten!! :)

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
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  • Zit. Classicophil: „Ich halte es für gewagt (bis falsch), den Begriffen "Emotion" und "Gefühl" verschiedenartige Bedeutungen zuordnen zu wollen. Einfach, weil sich im allgemeinen Sprachgebrauch da keine verschiedenen Bedeutungen zeigen. Beide Begriffe sind völlig synonym und austauschbar.“

    Aber nein! Diese Begriffe sind alles andere als „synonym und austauschbar“. Der Begriff „Gefühl“ ist hochkomplex und bezieht sich auf eine fundamentale Fähigkeit des Menschen. Der Begriff „Emotion“ hingegen bezeichnet eine Bewegung des Gemüts im Sinne eines Affekts. Eine ganze Philosophie rankt sich um den Begriff des Gefühls. Viele Philosophen haben dem Gefühl eine Erkenntnisfunktion zugeschrieben. Max Scheler spricht - darin an Brentano anknüpfend - zum Beispiel von einem „intentionalen Fühlen“, mit dem der Mensch die Welt der Werte zu erfassen und darin sogar eine Hierarchie auszumachen vermag. Hegel bezeichnet das „Gefühl“ als ein „dumpfes Weben des Geistes in seiner bewußt- und verstandlosen Individualität“ Fichte sprach dem Gefühl die Funktion zu, Erfahrung des Dinges an sich“ zu sein. Und Heidegger geht sogar so weit, dem Gefühl die Fähigkeit zuzumessen – er geht dabei von der „Gestimmtheit“ aus – das Wesen des menschlichen Daseins erschließen zu können.


    Aus diesen Gründen halte ich nicht allzuviel davon, sich zu sehr mit dem zu befassen, was längst verstorbene Philosophen gesagt oder geschrieben haben... erstens widersprechen sie sich oft genug, und zweitens ist es zum Teil einfach nicht mehr zeitgemäß. Und dem Menschen auf der Strasse, der vielleicht auch etwas verstehen und erklärt haben will, sind solche Gedankengänge dann kaum mehr zugänglich. Gleiches gilt für andere Begriffe auch, wie etwa dem wichtigen Begriff der Schönheit in Kunst und Musik.


    Gefühl, Emotion... ich verwende meist das Erstere. Gefühl in der Musik gibt es auf verschiedenerlei Arten:


    a) das, was der Künstler fühlt, während er ein Werk schafft
    b) das was der Interpret fühlt, wenn er ein Werk spielt
    c) das, was der Hörer fühlt, wenn er die Interpretation hört


    a) und b) sind uns aus verständlichen Gründen nicht immer zugänglich; c) schon.


    Ich schätze aber, es mag zuweilen von a) bis c) Kongruenz gegeben haben...


    Habe mir überlegt, ob man als Mensch eigentlich frei von Gefühlen sein kann. Die Antwort ist: nein... in jedem Augenblick unseres Daseins "durchdringt" uns irgendein Gefühl, irgendetwas, das uns Rückmeldung darüber gibt, wie wir uns fühlen, und wie unsere Befindlichkeit ist.


    Beim Hören von typischen Stücken aus Barock und Klassik freue ich mich eher an der kunstvollen Idee und Schönheit der Umsetzung; bei typischen Stücken aus der Romantik dann auch noch an der emotionalen Kraft, die transportiert wird.



    Das finde ich auch sehr wichtig. Denn das spricht für eine Betonung des Lyrischen und paßt nicht zur Romantik-Rezeption, die ihr eine emotionale "Dramatisierung" in irgend einer Form unterstellt.


    Was hat denn die Länge eines Stückes mit dessen emotionalem Gehalt zu tun? Nichts... siehe das Beispiel gute Popmusik: in einer typischen Länge von fünf Minuten wird ein ganz enormer emotionaler Gehalt transportiert.


    Gewissermaßen fanden sich in den kurzen Formen der Romantik die Urahnen der modernen Popmusik.


    Viele Grüße
    Chris

  • Aus diesen Gründen halte ich nicht allzuviel davon, sich zu sehr mit dem zu befassen, was längst verstorbene Philosophen gesagt oder geschrieben haben...

    Und was ist bitteschön die Alternative? Etwa einfach Herumlabern ohne sachliche Fundierung? Und sowieso: Das Schlaueste stammt meist von Menschen, die verstorben sind...



    Und dem Menschen auf der Strasse, der vielleicht auch etwas verstehen und erklärt haben will, sind solche Gedankengänge dann kaum mehr zugänglich.

    Schlicht falsch! Als praktizierender Philosoph mache ich da immer wieder die genau gegensätzliche Erfahrung.



    Gleiches gilt für andere Begriffe auch, wie etwa dem wichtigen Begriff der Schönheit in Kunst und Musik.

    Ach so! Wenn Sokrates fragt: Was ist Schönheit? Dann antwortet man ihm: eine schöne Frau, ein schönes Pferd, eine schöne Melodie. Weiter braucht man sich also keine Gedanken zu machen.



    a) und b) sind uns aus verständlichen Gründen nicht immer zugänglich; c) schon.


    Ich schätze aber, es mag zuweilen von a) bis c) Kongruenz gegeben haben...

    Und woher weißt Du, was der Komponist gefühlt hat? Bist Du Esoteriker oder Hellseher?



    Was hat denn die Länge eines Stückes mit dessen emotionalem Gehalt zu tun?

    Hier geht es um die Unterscheidung von Lyrischem und Dramatischem.



    Schöne Grüße
    Holger


  • Was hat denn die Länge eines Stückes mit dessen emotionalem Gehalt zu tun? Nichts... siehe das Beispiel gute Popmusik: in einer typischen Länge von fünf Minuten wird ein ganz enormer emotionaler Gehalt transportiert.


    Meine Antwort bezog sich auf eine recht ausführlich vorgestellte Idee von seicento, dass romantische Musik vielleicht mit Romanen und einer Kumulation von Emotionen durch einen solchen epischen Verlauf vergleichbar wäre. Eine Besonderheit an der Musik der Romantik sind aber gerade nicht epische, sondern außerordentlich kurze, oft zugespitzte oder gar fragmentarische Stücke (denen oft sowohl die Kontraste als auch die dynamisch-dramatischen Entwicklungen, die für die Musik Haydns, Mozarts und Beethovens typisch sind, fehlen). Darauf habe ich hingewiesen, weil mir seicentos Vorschlag daran völlig vorbeizugehen scheint.

    Ich sehe es ähnlich, dass der emotionale Gehalt oder Transport sehr wenig mit dem Umfang eines Stücks zu tun hat.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber Johannes,


    ich wolltre eigentlich gar nicht die Länge so in den Vordergrund stellen, sondern die "Erzählstruktur". Ich wollte wissen, ob das Besondere an der romantischen Musik das Anhäufen von Gefühlsmischungen ist, deren Einzelkomponenten sich gegenseitig beeinflussen. Werden einzelne musikalische Linien öfter abgebochen, neue angelegt, später wieder aufgenommen und so ineinander verwoben, dass sich die verschiedenen Emotionen gegenseitig aufschaukeln? Öfter als das vor 1800 der Fall war?


    seicento

  • Ich meine, etwas vereinfacht, nach wie vor, dass die musikalischen Formen und Ausdrucksformen sowohl vor als auch nach 1800 so vielfältig sind, dass beides möglich ist. Das erste Kyrie der h-moll-Messe dauert, je nach Interpretation 10-12 Minuten, aber es gibt von Bach auch Präludien oder Inventionen, die nicht einmal eine Minute dauern.


    Was schwebt Dir als Beispiel dafür, dass sich verschiedene? Emotionen gegenseitig aufschaukeln, vor?


    Schaukelt sich bei extrem kontrastreichen Zyklen relativ kurzer Stücke wie Schumanns Davidsbündlertänzen, Kreisleriana oder Chopins Preludes etwas auf? dann ginge das auch mit kurzen Stücken, sofern zyklisch angeordnet. Oder heben sie sich gegenseitig auf, weil es "bloße Abwechslung", keine dynamische Steigerung ist?


    Schaukeln sich die Affekte in einem planvoll symmetrisch angelegten Stück wie dem Credo/Symbolum Nicenum aus der h-moll-Messe nicht vielleicht auch auf? Oder gar in einem Abschnitt einer der Passionen?


    Der simple Punkt ist: Die Analogien und Parallelen zwischen der Repräsentation (oder nur dem Auslösen - das sind zwei sehr unterschiedliche Dinge) von Emotionen beim Hörer und musikalischen Verlaufsformen sind eben nicht eindeutig. Mal mag eine solche Parallelisierung plausibel gelingen, aber m.E. kaum eindeutig anhand stilistischer Unterschiede.

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  • ich wolltre eigentlich gar nicht die Länge so in den Vordergrund stellen, sondern die "Erzählstruktur". Ich wollte wissen, ob das Besondere an der romantischen Musik das Anhäufen von Gefühlsmischungen ist, deren Einzelkomponenten sich gegenseitig beeinflussen. Werden einzelne musikalische Linien öfter abgebochen, neue angelegt, später wieder aufgenommen und so ineinander verwoben, dass sich die verschiedenen Emotionen gegenseitig aufschaukeln? Öfter als das vor 1800 der Fall war?


    Das hast Du, lieber Seicento, für meinen Geschmack schon treffend empfunden. Man kann das auch anders ausdrücken: Die Dynamisierung in romantischer Musik bedeutet, dass nicht nur einfach verschiedene "Gefühle" gezeigt werden, sondern zusammenhängende emotionale Entwicklungen.


    Man kommt letztlich aber nicht weiter, wenn man dafür nicht einen Grund angibt. Musik entsteht ja nicht im leeren Raum, sondern ist Ausdruck ihrer Zeit. Und in der zweiten Hälfte des 18. Jhd. entdeckt man das Subjekt. Meine These (und andere vertreten das auch) ist da ganz einfach: Wenn Musik nicht nur "Gefühle" ausdrückt, sondern zugleich damit ein sich fühlendes Subjekt, dann kommen damit quasi automatisch ganz neue "dynamisierende" Ausdrucksaspekte hinzu. Dann wird eben nicht mehr wie im Barock bloß emblematisch Trauer, Freude usw. geschildert, schön gesondert in "objektiver" Mannigfaltigkeit, sondern ein Subjekt, was sich mit seinen Gefühlen verändert, entwickelt, sich in seine Gefühle hineinsteigert, hin- und hergerissen ist, ambivalent reagiert usw. Dann gerät sozusagen alles in "Bewegung" - und natürlich auch der Hörer solcher Musik, der dann ganz anders darauf reagiert bzw. reagieren muß. Das kann ihn dann irritieren, besonders einen "modernen" Hörer, der sich nicht mehr so mit seiner Subjektivität identifizieren kann wie ein Stürmer und Dränger des 18. oder Romantiker des 19. Jhd.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Als Beispiele für den Ausdruck von Subjektivität habe ich einmal den 3. Satz der wunderschönen Mozart-Sonate KV 310. Soviel ungebremsten "Sturm und Drang" traut man eigentlich eher Beethoven als Mozart zu. :) Da ist ein unruhiges Drängen, ein ziellos-unaufhörliches Vorwärtstreiben, eine Triebhaftigkeit, die den ganzen Satz mit aller Macht ergreift und den lyrischen Einschub scheinbarer Beruhigung zu etwas Irrealem, Traumhaften werden läßt - eine Art "weihnachtlichem" Wunsch, eigentlich zu schön, um wahr zu sein.


    3. Satz Presto ab 20:30 Min.



    Mein zweites Beispiel ist Alexander Scriabins Prelude op. 11 Nr. 10. Hier haben wir eine ganze emotionale Entwicklung und nicht nur ein lyrisches Stimmungsbild - zusammengedrängt auf nur einer Notenseite. Das Stück eröffnet in gespannter Ruhe, schwermütig, düster. Daraus entwickelt sich (die Dynamikspanne ist wahrlich gewaltig, geht von pp bis fff ) ein beklemmender Ausbruch von Leidenschaft wie ein Vulkanausbruch, der wie urplötzlich erkaltende heiße Lava, wenn sie ins Meer fließt, zu Basaltsäulen erstarrt. Kein Ende, sondern ein Abbruch. Die Leidenschaft als Heimsuchung, die das Subjekt überfällt.


    Hier "haben" wir nicht nur ein Gefühl, sondern eine emotionale Bewegung die "uns hat" mit Bachianas Worten, das uns auch als Hörer "ergreift".



    Schöne Grüße
    Holger

  • Wieso sprichst Du von wir, wenn Du Deine Empfindungen mitteilst?

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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