Der Abgang eines Giganten: Nikolaus Harnoncourt zieht sich von der Bühne zurück — Was bleibt?


  • Am Vorabend seines 86. Geburtstages erklärte Nikolaus Harnoncourt, zuletzt sichtlich gealtert, seinen gesundheitlich bedingten Rückzug von der Bühne, wie "Die Presse" gerade eben berichtete (Quelle).


    Die Nachricht kommt zwar nicht völlig aus heiterem Himmel, da der Maestro zuletzt bereits mehrfach Konzerte absagen musste. Dennoch schlägt es ein wie eine Bombe. Mit Harnoncourt tritt der wohl größte lebende österreichische Dirigent ab. Sage und schreibe 62 Jahre stand er dem von ihm gegründeten Concentus Musicus Wien als musikalischer Leiter vor und wirkte als Gastdirigent zahlreicher weltberühmter Spitzenorchester.


    Anfangs belächelt, war er nach dem Tode Karajans im Jahre 1989 der vermutlich berühmteste Dirigent Österreichs. Widmete er sich in seinen frühen Jahren primär der Alten Musik, erweiterte er sein Repertoire sukzessive bis in die Spätromantik hinein. Gerade war Harnoncourt im Begriff, seinen letzten Beethoven-Zyklus aufzunehmen. Dieser wird nun vermutlich ein Torso bleiben.


    Was aber bleibt von Harnoncourt?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich muss das erst einmal sacken lassen, habe aber gerade jetzt nicht einmal die Gelegenheit dazu, weil ich gerade auf dem Weg in die Kirche zum Üben bin.
    Mir fällt eine enorme Menge von dem ein, was bleibt. Aber ich schaffe das jetzt nicht, in wenigen Sätzen zu formulieren, weil es einfach zu viel wird.


    Auf jeden Fall bleibt eine enorme Dankbarkeit, so unglaublich viel gelernt zu haben.
    Ich werde mich dann wohl morgen oder übermorgen noch einmal melden....


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Ich darf mich glücklich schätzen, in meinem Kultursemester in Wien 1964/5 Nikolaus Harnoncourt mit seinem Concentus musicus mehrmals live erlebt zu haben und somit mit eigenen Ohren zu hören, wie man Alte Musik spielt. Das kannte ich vorher nur aus dem Rundfunk, beim WDR, mit der Cappella Coloniensis. Und immer spielte der Concentus in einem der wunderbaren Palais, von denen Wien offensichtlich damals so reich gesegnet war, dass ich mit einem Kumpel zusammen in einem dieser Paläste an einer, horribile dictu, Hallenfußball-AG teilgenommen habe; was noch schöner war, dass wir beide mit teutonischer Härte unsere österreichischen Kollegen das Fürchten lehrten.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Ich habe Harnoncourt einige Male als Konzertdirigenten in Berlin und Salzburg erleben dürfen. Für kommenden Sommer habe ich einen Neunte unter seiner Leitung im Großen Festspielhaus bestellt. Das wird nun wohl nix - sehr schade! :(

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Es ist doch gute Tradfition, lieber Stimmenliebhaber, dass in Leipzig zu Silvester die Neunte gegeben wird. Viellicht sollte man sich mal Silvester 2017, möglicherweise unter Nelsons vormerken?


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • "Eine Ära geht zu Ende" - wohl wahr...


    Unter den Dirigenten, die für mich am meisten polarisiert haben, gehört Harnoncourt definitiv zu den "Top 3" (neben dem "späten Bernstein" und Norrington).


    Zu seinen genialen Aufnahmen zählt für mich auf jeden Fall diese (aus 2012):



    Wunderbar fließende Tempi, kraftvolles und sensibles Musizieren, hervorragende Solisten, ein ausgezeichneter Chor, ein fantastisches Orchester; "von Herzen, möge es zu Herzen gehen" trifft auf diese Aufnahme so sehr zu wie auf wenige andere.



    - Ich hatte diesen Beitrag erst im Parallelthread Nikolaus Harnoncourt (geb. 06.12.1929 in Berlin) verfasst; hier scheint er mir aber besser aufgehoben zu sein...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Diese Missa Solemnis kenne ich nicht, aber ich habe eine Live-Aufnahme unter Harnoncourt im TV aus Graz (?) gesehen, mit sehr guten Solisten, dem Arnold-Schönberg-Chor, das Orchester habe ich leider vergessen. Der Clou ist dieser: ich bin ja hier hinlänglich als Verächter Beethovenscher Chormusik bekannt (nur dieser, bitte), also etwa der 4. Satz der Neunten und die Chorfantasie. Die Missa Solemnis zählte auch dazu. Seit dieser Aufnahme von Harnoncourt habe ich meine Meinung geändert; ich halte sie jetzt für ein Meisterwerk. Es bewahrheitet sich der Satz, dass es oft genug tatsächlich auf die Interpreten ankommt. Deine Aufnahme, lieber Norbert, kommt auf meine Anschaffungsliste!

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Diese Missa Solemnis kenne ich nicht, aber ich habe eine Live-Aufnahme unter Harnoncourt im TV aus Graz (?) gesehen, mit sehr guten Solisten, dem Arnold-Schönberg-Chor, das Orchester habe ich leider vergessen.


    Ich glaube, dass ist die, die ich auch gesehen habe. Harnoncourt wirkte dort körperlich bereits sehr eingeschränkt. Bei dem Live-Mitschnitt, den ich sah, spielte der jedenfalls Concentus musicus Wien.
    Auch mir ging es so: Mit diesem Werk konnte ich bisher nicht so sehr viel anfangen. Nachdem ich aber diese überirdischen Momente miterleben durfte, hat sich meine Meinung dazu geändert. Harnoncourt konnte nicht mehr - wie gewohnt- die elektrisierenden Impulse körperlich aktiv geben, sondern wirkte hauptsächlich dadurch, dass er einfach da war. Das Vertrauen, das er ausströmte, beflügelte die Musiker derart, dass man von einer Sternstunde sprechen konnte. Wenn es möglich wäre, diese Aufnahme zu bekommen, dann würde ich sie mir sofort bestellen.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Lieber Glockenton, versuch mal (zur Not bei Alfred), meine E-Mail-Adresse herauszubekommen, auf die du mir dann deine Postadresse schickst. Es wäre mir ein Vergnügen, dir eine Kopie der Missa zukommen zu lassen.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Harnoncourt konnte nicht mehr - wie gewohnt- die elektrisierenden Impulse körperlich aktiv geben, sondern wirkte hauptsächlich dadurch, dass er einfach da war. Das Vertrauen, das er ausströmte, beflügelte die Musiker derart, dass man von einer Sternstunde sprechen konnte.


    Ich denke, lieber Glockenton, auch mit der Aufnahme aus Amsterdam wirst Du zufrieden sein, denn das, was Du sehr schön beschrieben hast, gilt auch für diese.


    Man merkte Harnoncourt schon an, dass Dirigieren auch "Arbeit" ist. Er machte einmal eine kurze Pause, setzte sich dabei hin und ruhte sich "körperlich und geistig" aus.


    Aber wie er es schaffte, aus dem Orchester, dem Chor und den Solisten eine Einheit zu gestalten und wie "selbstverständlich" dieses riesige Chorwerk bei ihm erklang, das war "ganz große Kunst".


    Gäbe es nicht die ebenso beeindruckende und berührende Aufnahme mit Haitink (dieses Jahr erschienen) würde ich sagen, dass Harnoncourt eine "Referenz der Neuzeit" dirigiert hat.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Ich zähle zu denen, die ab etwa 2005 Harnoncourt die Gefolgschaft aufgekündigt haben: zu viele Eigenwilligkeiten, Übertreibungen, Tempoverrückungen und und und.... Erstaunlicherweise fallen in diesen Zeitraum auch die letzten ernsthaften Kritiken deutscher Klassik-Magazine. Danach nur noch ganz vereinzelt: Beethoven: Missa solemnis (DVD).


    So ist auch seine letzte CD mit Beethovens 4. und 5., wie all das andere aus den letzten 10 Jahren völlig belanglos, weil auch hier viel zu viel übertrieben wurde: in der 5. Sinfonie dröhnen uns langanhaltende Bläsertiraden entgegen und das völlig überzogen; die finalen Schlussakkorde kann man nicht mal als Karikatur bezeichnen, sondern sie sind Schwachsinn in Reinkultur ---> "Regietheater" auf dem Konzertpodium. :no::stumm::thumbdown:



    LT

  • die finalen Schlussakkorde kann man nicht mal als Karikatur bezeichnen, sondern sie sind Schwachsinn in Reinkultur ---> "Regietheater" auf dem Konzertpodium.


    Habe selten einen durchsichtigeren Versuch gelesen, gewisse zustimmende Folgepostings zu generieren.
    Wer hier im Forum die steile These vertritt, dass HIP im Allgemeinen und Harnoncourt im Besonderen "Regietheater auf dem Konzertpodium" veranstalten oder Teil einer dem Regietheater vergleichbaren Hässlichkeits-Ästhetik wären, das weiss wohl jeder, der hier eine geraume Zeit dabei ist oder mitliest.
    Bin gespannt, ob er über dieses im hingehaltene Stöckchen springt und daraufhin die mehr oder weniger amüsanten Rituale beginnen.


    Wer von "Schwachsinn in Reinkultur" spricht, also derartig schwere Geschütze der Abfälligkeits-Rhetorik auspackt, der sollte schon fachlich sehr sehr genau begründen können, wie er denn zu solchen Fiasko-Bewertungen kommt. Sollte er das nicht können (mit welchem fachlichen Gewicht kann er denn überhaupt auftreten), dann fallen diese trollenden Ausfälle automatisch auf denjenigen zurück, der sich zu solchen Worten erdreistet.


    Ich frage mich, warum sich jemand bei einem derartigen Ablehnung eines Interpreten ausgerechnet von genau dem dann immer wieder neue CDs zulegt - denn nur wer eine Einspielung im Bestand hat, kann sich ja überhaupt über die Schlusstakte äußern. Ein solcher fataler Hang zum Masochismus wäre mir fremd. Von Leuten, deren Art zu Musizieren mir derart unsympathisch wäre, würde ich mir jedenfalls niemals eine CD kaufen.


    Es ist ein allgemein bekanntes Phänomen der Online-Kommunikations-Unkultur der Jahre 2015 und 2016, dass man die Grenze des Sagbaren immer mehr in Richtung Ungeheuerlichkeit verschiebt. Das verschafft erst einmal Aufmerksamkeit. Wenn eine skandalisierende Aussage erst einmal in der Welt ist, dann ist es ziemlich egal, ob dann irgend jemand später relativiert oder zurückrudert.
    Tamino ist von diesem Phänomen nicht immer verschont geblieben, aber es sind - und das ist ja das Gute hier- zum Glück nur Ausnahmeerscheinungen.


    Von daher ist es wohl wenig zielführend, solchen Postings weiterhin Aufmerksamkeit zu schenken - irgendwo ist das auch ein Dilemma...


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Ich habe mir die besagte CD natürlich nicht gekauft! Wozu gibt es Dussmann in Berlin? -- Da kann ich mir jede verfügbare Aufnahme anhören so oft ich will. Erst nach der Hörprobe entscheide ich, ob ich mir die Aufnahme kaufe oder nicht!


    Übrigens ist meine Äußerung >>Schwachsinn in Reinkultur ---> "Regietheater" auf dem Konzertpodium<< nicht aus dem Zusammenhang zu reißen! Diese Äußerung bezieht sich nicht auf Harnoncourt generell (immerhin besitze ich unter seiner Leitung über 100 CDs und mehrere DVDs - aber eben fast alle vor 2005 veröffentlicht!) und schon gar nicht auf die HIP-Bewegung, da ich ein großer Befürworter dieser Bewegung bin. Meine Äußerung bezog sich allein auf die Harnoncourtsche Auslegung der Schlussakkorde in Beethoven 5.



    LT

  • Und wer an einer ernsthaften Auseinandersetzung interessiert ist, schaut z.B. bei spotify vorbei. - Ich bin zufällig gerade mit dem ersten Satz der 5ten durch und mein Eindruck ist durchaus zwiespältig: Wie die wahrscheinlich meisten hier bin ich bzgl. der sogenannten "Schicksals-Symphonie" eher vollsymphonisch sozialisiert (Karajan, Böhm etc.). Das liefert Harnoncourt mit dem Concentus natürlich nicht. Er ist scheint mir jedenfalls auserordentlich zügig unterwegs zu sein. Das Klangbild empfinde ich als außerordentlich transparent, wobei tatsächlich die Bläser sehr im Vodergrund stehen, während die Streicher etwas "dünn" herüberkommen. Was glücklicherweise fehlt, ist der etwas esoterische Überbau seiner letzten Einspielung der drei späten Mozart-Symphonien, der sich für mich doch eher negativ auf die Interpretation ausgewirkt hat. - Ich werde mal weiterhören :hello:

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Ich glaube nicht, dass man Harnoncourt nach dieser letzten veröffentlichten CD beurteilen wird.


    Harnoncourt war wohl der einflussreichste Interpret seiner Generation. Nur Gustav Leonhardt kommt da noch heran, aber nur weil der auch als Cembalist maßgeblich war (als Dirigent ist er m.E. weniger interessant als Harnoncourt und hatte auch ein viel schmaleres Repertoire).


    Zwar sind das Spekulationen (und es ist letztlich auch egal, Konzerte und Aufnahmen werden ja nicht für die Leute in 100 Jahren gemacht, sondern für uns jetzt), aber da ich persönlich von den "Ausflügen" Harnoncourts jenseits der (Früh-)romantik oft eher enttäuscht war, vermute ich, dass doch eher seine Interpretationen von Monteverdi bis Beethoven mittelfristig relevant bleiben werden.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Bin ich der einzige, dem diese letzte Beethoven Fünfte unter Harnoncourt gefällt? Hier im Forum vielleicht, aber sehe ich mir andere Rezensionen an, sowohl von professionellen Kritikern als auch bei Amazon, scheint das doch nicht der Fall zu sein. Von daher: vorurteilsfrei mal anhören. Habe da deutlich belanglosere Aufnahmen gehört in den letzten Jahren.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

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    – Luís de Camões

  • Dass es mir nicht gefiele, habe ich keineswegs gesagt - nur muss ich mir die CD erst einmal besorgen.
    Durch den neulichen Lautsprecherkauf muss ich in Sachen CD-Einkauf allerdings im Moment noch etwas zurückhaltender agieren.
    Ich will sie mir aber besorgen.....am besten etwas günstiger.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Bin ich der einzige, dem diese letzte Beethoven Fünfte unter Harnoncourt gefällt? Hier im Forum vielleicht, aber sehe ich mir andere Rezensionen an, sowohl von professionellen Kritikern als auch bei Amazon, scheint das doch nicht der Fall zu sein. Von daher: vorurteilsfrei mal anhören. Habe da deutlich belanglosere Aufnahmen gehört in den letzten Jahren.


    Nein, Du bist nicht allein :hello: Mir hat die Aufnahme ebenfalls gut gefallen, obwohl sie wirklich speziell ist. Besonders Harnoncourts Neigung, die Generalpausen lang zu halten, führt zu ungewöhnlichen Höreindrücken und in den Schlussakkorden der Fünften dann in der Tat zu einem etwas fragwürdigen Ergebnis. Liebestraums Verstörung kann ich verstehen, obwohl ich das Urteil "Schwachsinn in Reinkultur" für völlig überzogen halte. Harnoncourt hat sich zu diesem Thema ja auch in dem Booklet geäußert. Auf jeden Fall ist es ein Beethoven, wie ich ihn noch nie gehört habe und den ich in meiner Sammlung nun nicht mehr missen möchte.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • @ Dr. Pingel


    Ich habe etwas im Netz gesucht, aber bin mir nicht sicher, den Richtigen gefunden zu haben.


    Die Wegwerfadresse kalzt2004-sats@yahoo.de werde ich in den nächsten Tagen löschen.
    Schick mir vorher darauf gerne eine Mail... ;)


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Ich habe sie auch nicht gehört, fand aber, soweit ich mir erinnere, die Aufnahme der 5. die am wenigsten überzeugende des 1990er Zyklus, auch daher hat diese neu erschienene CD keine hohe Priorität. (Ich habe vermutlich mehr als 20 Aufnahmen des Werks von Weingartner bis Järvi, daher hat *gar keine* Neuaufnahme des Stücks auch nur mittlere Priorität...).


    Mir ging es eher grundsätzlich darum, dass man Karajan ja auch nicht aufgrund des verschleppten Tschaikowsky-Konzerts mit Kissin beurteilt o.ä.

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    (Bob Dylan)

  • Wenn ich auch nicht mit allen mir bekannten Einspielungen Harnoncourts zufrieden bin, so schätze ich doch sehr seine rigorose Art, unsere Hörgewohnheiten in Frage zu stellen. Mögen seine Antworten auch mitunter nicht jedermanns Geschmack entsprechen, so versprachen seine Aufnahmen doch immer ein spannendes Hörerlebnis. Außerdem habe ich durch ihn erstmals Kontakt mit den Opern Monteverdis und Franz Schmidts Oratorium "Das Buch mit sieben Siegeln" bekommen - und für diesen "Zugewinn" meines Klassikrepertoires bin ich sehr dankbar.


    Was für mich persönlich bleibt sind z.B. folgende von mir sehr geschätzte Aufnahmen:




    Während ich den Einspielungen von der "Zauberflöte" oder dem "Figaro" nicht so viel abgewinnen kann, finde ich diese Interpretation der "Entführung" absolut gelungen. Bei den Aufnahmen der Mozart-Sinfonien mit dem Cgo stört mich der für meinen Geschmack mitunter zu starr gehaltene Takt, der die Musik am "Atmen" hindert. Davon kann hier allerdings nicht die Rede sein.



    Exzentrische und sehr lebendige Aufnahmen (vor allem bei der Nr. 5), die mich aber durchaus überzeugen. Schade, dass dieser Zyklus nicht vollendet werden wird.



    Selten hört man den Dialog zwischen Solist und Orchester so deutlich herausgestellt. Diese Art von Auseinandersetzung der Teilnehmer, die bei ihrem musikalischen Diskurs nicht immer einer Meinung sind, lässt aufhorchen.




    Mein persönlicher Favorit der Dvorak-Sinfonien in einer absolut beeindruckenden Interpretation.




    Ich kenne keine bessere Einspielung dieses Werkes.


    Auch wenn ich nicht verschweigen will, dass es auch einige Aufnahmen Harnoncourts gibt, die mir gar nicht zusagen (z.B. "Aida" und "Die Fledermaus"), so sind zumindest die obigen Einspielung - neben anderen - fest in meiner CD-Sammlung verankert. Und darüber bin ich sehr froh.

  • vorhin habe ich mit Bestürzung in den Nachrichten gesehen, dass Nikolaus Harnoncourt am 5. März, also gestern, verstorben ist. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm steht, aber das Schicksal wollte es wohl so.


    Mein Beileid gilt seinen Angehörigen.

    Es wird immer weitergehn, Musik als Träger von Ideen.

    Kraftwerk

  • Die Frage "was bleibt" hat sich auch die Fachzeitschrift Gramophone gestellt und eine Liste der "größten Aufnahmen" Harnoncourts veröffentlicht.


    Natürlich ist eine solche Liste immer subjektiv.
    Ich persönlich bin mit den Beethoven Klavierkonzerten und den Brahms Sinfonien nie so recht warm geworden, vermisse dafür die Nennung der Dvorak Sinfonien 7 und 8.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Ich kenne die Neuaufnahmen von Weihnachtsoratorium, Mozart-Requiem und Jahreszeiten nicht. Die Liste krankt m.E. ein wenig an der Konzentration auf zu gängiges Repertoire.


    Meine "Liste", die ich vermutlich schon mal genannt habe, wäre in etwa


    Vivaldi: op.8, inkl. 4 Jahreszeiten


    Bach
    Kantaten, nicht nur als Pionierleistung, aber hier gebührt natürlich Leonhardt ebenfalls die Ehre.
    Matthäuspassion, sowohl die "rein-männlich" (außer Orchester) besetzte von 1970 als auch die dramatische von 2000.
    Johannespassion 1995


    Händel
    Concerti grossi op.6,
    Orgelkonzerte opp. 4+7 (+ zwei weitere, aber die sind kaum zu finden)
    Cäcilienode
    Alexanderfest (die neuere Aufnahme der Mozart-Fassung kenne ich nicht)


    Haydn
    alle Sinfonien, die mit dem Concentus musicus eingespielt wurden, v.a. die "Pariser", aber z.B. bei Nr. 30, 31, 69 gibt es eher noch weniger ähnlich gute Optionen
    Chorfassung der 7 letzten Worte
    evtl. die späten Messen, wobei ich diese Aufnahmen nicht alle kenne und die sind auch nicht alle gleichermaßen überzeugend, gleichwohl bei diesem nicht so häufig aufgenommenen Repertoire, jedenfalls vorne mit dabei.


    Mozart
    Krönungsmesse und Vespern KV 339
    (1980er Aufnahmen von Requiem und c-moll-Messe mit Einschränkung wegen schlechtem Chor und mäßigen, teils intransparentem Klang)
    Sinfonien mit dem Concertgebouworchester, v.a. 25, 26, 31, 35, 36, 38, 39, 40
    Haffner-Serenade und Posthornserenade mit der Staatskapelle Dresden
    Klavierkonzerte 23 und 26 mit Gulda
    (Die bei Gramophone empfohlenen Bläserkonzerte sind auch sehr gut)
    (Opern habe ich drei: Idomeneo, Entführung, Titus, aber zu lange nicht gehört)


    Beethoven
    Sinfonien (mit Einschränkung, hauptsächlich 1-4, 7+8 sind empfehlenswert)
    Ouverturen
    Missa Solemnis
    Violinkonzert (mit Einschränkung wg. bizarrer Kadenz und Kremer-Manierismen)
    (die Klavierkonzerte mit Aimard sind definitiv ungewöhnlich, haben mich aber nicht überzeugt)


    Schubert: Sinfonien
    (die späten Schubert-Messen habe ich auf meiner Anschaffungsliste)


    Schubert/Schumann: 4. Sinfonien mit den Berliner Philharmonikern



    Aus der späteren Romantik kenne ich nicht so viele Aufnahmen bzw. fand sie nicht so überragend oder überzeugend. Die Schumann-Sinfonien gut, aber nichts besonders, ähnlich die Brahms-KK mit Buchbinder; Brahms' Sinfonien 3+4 so seltsam und wenig überzeugend, dass ich die anderen nicht gehört habe. Das Deutsche Requiem wäre aber noch mal einen Versuch wert.


    Interessant auch, dass Gramophone beide Schumann-Chorwerke und Genoveva dabei hat (die Aufnahmen kenne ich alle nicht).


    Dvorak: Sinfonische Dichtungen und Klavierkonzert gefallen mir sehr, aber da kenne ich keine anderen Aufnahmen... Bruckners 4.,5.,9 habe ich, die müsste ich aber nochmal hören. Anscheinend werden die von einem Teil Brucknerianer weitgehend abgelehnt, von einem anderen zumindest als sehr interessante Alternative empfohlen.


    Auch wenn ich es als "Altersprivileg" verstehen kann, bedaure ich ein wenig, dass NH in den letzten 10 Jahren seiner Tätigkeit relativ viel sehr gängiges Repertoire noch einmal eingespielt hat (Weihnachtsoratorium, Messiah, Mozart-Requiem etc.). Die "Pariser Sinfonien" sind so gut, dass ich mir stattdessen noch ein paar weniger oft gespielte Haydn-Sinfonien erhofft hätte.

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Was bleibt? - Sein Humor, der mir in vielen Interviews begegnet ist, sein tiefes Verständnis von Musik, das er in seinen Publikationen vermittelt hat, seine Leidenschaft, wie er für seine Ideen eintrat. Aufnahmen und Aufführungen, die wach rütteln, nie bequem waren und sind, immer tief empfunden.


    Ich mag mich an eine Aussage Harnoncourts erinnern, dass er und seine Frau sich von Kartoffeln ernährt hatten, um teure Instrumente sich anschaffen zu können. Das hat mir imponiert.


    In seinen jungen Jahren betrieb er ein Marionetten-Theater, nach dem Studium von Heinrich von Kleists Aufsatz „Über das Marionettentheater“. Was wenige wissen, dass er ein begnadeter Handwerker war, ein Schnitzer, der seine Möbel selbst herstellte und sie mit durchdachten Motiven versah.

    Etwas, das mir im Gedächtnis ist, sind die Gedanken, die er 1991 in einer Rede zum Abschluss des Mozart-Jahres formuliert hatte:


    „Wir Musiker – ja alle Künstler – haben eine machtvolle, ja heilige Sprache zu verwalten. Wir müssen alles tun, dass sie nicht verloren geht im Sog der materialistischen Entwicklung. Es ist nicht mehr viel Zeit, wenn es nicht gar schon zu spät ist, denn die Beschränkung auf das Denken und die Sprache der Vernunft, der Logik, und die Faszination durch die damit erzielten Fortschritte in Wissenschaft und Zivilisation entfernen uns immer weiter von unserem eigentlichen Menschentum. Es ist wohl kein Zufall, dass diese Entfernung mit der Austrocknung des Religiösen Hand in Hand geht: Die Technokratie, der Materialismus und das Wohlstandsdenken brauchen keine Religion, kennen keine Religion, ja nicht einmal Moral.
    Die Kunst ist eben keine hübsche Zuwaage – sie ist die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet, sie garantiert unser Mensch-Sein.“


    Worte, die heute, wie ich denke, noch mehr Gewicht haben.
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ich bin sehr traurig.


    Der Mann hat mir viel bedeutet, und ich habe die Anfeindungen in den Achtzigerjahren (und später) nicht verstehen können, selbst wenn mir manche wenige Aufführungen nicht so gefallen haben (weil das gelegentlich gegen meine Hörgewohnheiten ging). Ich habe das immer sehr geschätzt und interessant gefunden, was Harnoncourt (oft Neues) beigetragen hat, zumal er immer sehr plausibel verbalisiert hat, was er wollte. Sehr schön!


    Er hat viele Aufnahmen hinterlassen, die ich sehr gerne mag. Ich habe jetzt nicht die Muße, alle zu nennen, die mir etwas bedeuten, daher vorerst nur so viel:


    Mozart-Opern und -Symphonien, Beethoven-Symphonien, Missa Solemnis, Bach-Passionen und -Kantaten, Bruckners Fünfte mit den Wiener Philharmonikern (CD-Aufnahme tontechnisch fantastisch, Radio-Live-Übertragung aus Salzburg interpretatorisch noch besser), Bruckners Neunte.

    Bitte bedenken Sie, dass lautes Husten - auch zwischen den Stücken - die Konzentration der Künstler wie auch den Genuss der Zuhörer beeinträchtigt und sich durch den Filter eines Taschentuchs o. ä. erheblich dämpfen lässt.

  • Vielleicht habe ich ja die Kommentare übersehen, die eventuell an anderer Stelle abgegeben wurden.
    Ich möchte das ohne Wertung sagen: Anscheinend hat der Dirigent in Deutschland nicht vielen Musikliebhabern etwas bedeutet. Vielleicht kannte man ihn dort gar nicht. Das österreichische Tamino-Klassikforum hat ja bis zu zehnmal so viele Mitschreiber aus Deutschland als aus Österreich. Ich hatte seit Jahrzehnten das Gefühl, Harnoncourt sei so wichtig gewesen in der Musikwelt. Geplant war eine Scala-Eröffnung (oder mindestens eine Produktion) mit Porgy and Bess mit Harnoncourt am Pult, trotz aller Hürden (Rechte etc.) hätte sie stattfinden können. Schade, dass nichts daraus geworden ist. Aber wie wunderbar all die Produktionen, die mit ihm überall in den letzten Jahrzehnten realisert werden konnten. Ich empfinde große Dankbarkeit.

    Bitte bedenken Sie, dass lautes Husten - auch zwischen den Stücken - die Konzentration der Künstler wie auch den Genuss der Zuhörer beeinträchtigt und sich durch den Filter eines Taschentuchs o. ä. erheblich dämpfen lässt.

  • Fehlende Anteilnahme kann man dem Forum nicht wirklich vorwerfen. Sie fand aber primär an anderer Stelle statt: Nikolaus Harnoncourt ist tot


    Ich selbst äußerte mich dort auch ausführlich dazu.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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