Gustav Mahler. Seine Lieder, vorgestellt und besprochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und Publikation

  • In der vierten Strophe kommt es zu einer weiteren Steigerung der Expressivität der melodischen Linie. Das lyrische Ich empfindet sich nun als ein Mensch, der in dieser Nacht die Leiden der „ganzen Menschheit“ „kämpfen“ muss. Schon dieses Wort „Leiden“ erhält einen starken musikalischen Akzent dadurch, dass die melodische Linie eine lang gedehnte und in h-Moll harmonisierte Sekundfall-Bewegung in hoher Lage beschreibt. Das Klavier begleitet das mit gebundenen zwei- und dreistimmigen Akkorden. Bei den Worten „nicht konnt´ ich sie entscheiden“ kommt es dann zu einer regelrechten melodischen Kulmination. Mit einem Crescendo versehen steigt die melodische Linie in Sekunden und dann mit einem Quintsprung zum höchsten Ton des Liedes (einem „A“) auf und beschreibt danach bei dem Wort „bescheiden“ eine wie endlos wirkende, weil über drei Takte sich erstreckende und in zwei Ansätzen erfolgende Fallbewegung in Sekundschritten, die in einem kleinen Sekundfall endet. Mit zwei jeweils den Takt über gehaltenen sechsstimmigen e-Moll- und h-Moll-Akkorden begleitet das Klavier diese hochexpressive melodische Bewegung, die vernehmen lässt, in welches Extrem das seelische Leiden des lyrischen Ichs sich inzwischen gesteigert hat.


    Die einen kleinen, lang gestreckten Bogen in mittlerer Lage beschreibende melodische Linie auf den Worten „mit meiner Macht um Mitternacht“ wirkt wie ein müder Nachklang des melodischen Ausbruchs, der sich da gerade ereignet hat. Mit fallenden Oktaven in der mehr als eintaktigen Pause für die Singstimme hat das Klavier dazu übergeleitet. Im Nachspiel, das zugleich Zwischenspiel vor der letzten Strophe ist, lässt es wieder seine in tiefe Lage fallende Viertel-Kette und den Sexten-Terzen-Ruf in h-Moll erklingen.


    Die letzte Strophe setzt bemerkenswerterweise melodisch so ein wie die erste. Auch der Klaviersatz ist anfangs ähnlich, jedoch wirkt die Fallbewegung von Oktaven, die nach der Deklamation des Wortes „Mitternacht“ einsetzt, klanglich mächtiger, insofern sie sich in die Tiefe des Basses fortsetzt. Auch bei den Worten „hab´ ich die Macht“ entfaltet das Klavier nun mächtigere, die Tiefe betonende Klanglichkeit. Noch immer aber herrscht das h-Moll vor. Das ändert sich ohne modulatorische Überleitung, also in Gestalt einer unmittelbaren Rückung beim nächsten Vers: „In deine Hand gegeben“. Die melodische Linie darauf wird forte und „con gran impulso“ deklamiert. Zu dem Wort „Hand“ hin macht sie einen Quartsprung zu einem hohen „E“, und das Klavier schlägt dazu ebenfalls forte einen lang gehaltenen E-Dur-Akkord an. Das Wort „Hand“ gewinnt auf diese Weise eine geradezu strahlende Klanglichkeit.


    Ein ganz neuer Ton ist in das Lied getreten. Und obwohl man eigentlich nach den vorangehenden expressiven Ausbrüchen in der Melodik erwarten konnte, dass die Expressivität der Liedmusik gegen Ende des Liedes hin noch eine Steigerung erfahren würde, ist der Grad, in dem dies nun hier tatsächlich geschieht, überraschend. In das Lied tritt eine geradezu gewaltig anmutende – und in keiner Weise mehr liedgemäße – klangliche Pracht. Nicht nur das Fortissimo, in dem sich die Liedmusik bis zum Ende der Melodik ergeht, ist dafür verantwortlich, es ist vor allem die Struktur der melodischen Linie und des Klaviersatzes. In beiden gibt es keine fließende Bewegung von klanglichen Figuren mehr, vielmehr verfallen sie in einen gleichsam statischen Gestus. Jeder melodische Schritt trägt einen eigenen Akzent und wird lange gehalten; und bei jeder klanglich Figur im Klaviersatz ist es ebenso.


    Hierbei handelt es sich zumeist um fortissimo angeschlagene arpeggierte Akkorde, denen den ganzen Takt ausfüllende Arpeggien nachfolgen. Selbst wenn das Klavier einmal zur Artikulation von bitonalen oder dreistimmigen Akkorden übergeht, trägt jeder einzelne Akkord einen Akzent, entweder in Gestalt eines Sforzato- oder Portato-Zeichens oder eines langen Notenwertes. Und schließlich sind es noch die permanent sich ereignenden harmonischen Rückungen, die die spezifische Expressivität dieser letzten Liedstrophe mit bedingen und zu einem außergewöhnlichen klanglichen Ereignis werden lassen, dem selbst in der Klavierfassung, aber vor allem natürlich in der für Orchester, die Anmutung eines großen Chorals eigen ist.


    Die melodische Linie verharrt immer wieder, den Ansprache-Charakter besonders betonend, in langen Dehnungen, die entweder fortissimo in Gestalt von Einzeltönen erklingen, oder als Fallbewegungen in Sekunden erfolgen und dabei in extrem langsamer und akzentuierter Weise deklamiert werden:
    Die Anrufung des „Herrn“ auf einem hohen „Fis“ im Wert einer ganzen Note, begleitet von einem gewaltigen Arpeggio des Klaviers;
    der langsame gedehnte Abwärtsschritt in Sekunden bei den Worten „Tod und Leben“, den das Klavier in beeindruckender Weise mit Sforzato-Terzen mitvollzieht;
    die Fallbewegung in extrem gedehnten Sekundschritten bei „hältst die Wacht“, die, ganz und gar in eine Arpeggienflut eingebettet, wiederholt wird, wobei sich eine, einmal kurz das cis-Moll streifende, dann aber wieder ins Dur zurückkehrende harmonische Rückung ereignet.
    Aber dabei bleibt es ja nicht. Diese Worte werden noch einmal deklamiert, - in noch gewichtigerer Weise, mit einem aus einer Dehnung in hoher Lage bei dem Wort „du“ heraus erfolgenden, portato deklamierten und gedehnten Abwärtsschritt in Sekunden.


    Das letzte „um Mitternacht“ wird auf einer melodischen Figur deklamiert, die aus einer extrem langen Dehnung auf der Silbe „Mit“- besteht, der ein Sextsprung vorausgeht und ein Sekundfall nachfolgt, der in eine wiederum sehr lange Dehnung auf der Silbe „-nacht“ mündet. Das ist ein „H“ in mittlerer Lage, das da gedehnt erklingt, - der Grundton von H-Dur also. Um diesem Schluss aber das angemessene klangliche Gewicht zu verleihen, erklingt das H-Dur im Schlussakkord nicht gleich, sondern als Vorhalt „Cis-Dur“, der sich danach erst durch eine akkordische Modulation auflöst, so dass das zweitaktige Nachspiel in Gestalt von Arpeggien und arpeggierten Akkorden nach einer nochmaligen kurzen Rückung in den Dominant-Bereich mit einem arpeggierten fünfstimmigen H-Dur-Akkord enden kann.

  • Man hat Mahler bezüglich dieses Liedes den Vorwurf gemacht, er sei in vordergründige Theatralik verfallen, indem er die existenzielle Grenzerfahrung, die die Liedmusik zuvor in durchaus treffender und überzeugender Weise zum Ausdruck bringt, nicht zu Ende gedacht und geführt, sondern mit einer Art klanglicher Apotheose gleichsam zudeckt habe. Mathias Hansen, der sich ausführlich mit Mahlers Liedschaffen befasste, spricht in diesem Zusammenhang von einem „außerordentlich problematischen Tongebilde", und der Mahler-Biograph Jens Malte Fischer vernimmt in diesem Lied mehr Edward Elgar als Gustav Mahler, meint, man könne „von einer >Soul of Hope an Glory sprechen, die hier illuminiert wird“ . Seinen Kommentar dazu schließt er mit der Bemerkung: „Das Rätsel dieses Liedes harrt noch seiner Lösung.“


    Diese Kritik wird – wie ich finde - der Komposition aber wohl nicht gerecht. Was sich für mich hier liedmusikalisch ereignet, ist in seinem Wesen eine aus großer seelischer Not und auswegloser existenzieller Bedrängnis hervorgehende Anrufung einer transzendenten Macht, die Schutz und Hilfe zu gewähren vermag. Ich vernehme die Liedmusik eher als aus eben dieser Not kommende Beschwörung der Existenz eines göttlichen Wesens, denn als Ausdruck ungebrochener Glaubensgewissheit, - auch wenn die choralartige Klanglichkeit, wie sich der Liedschluss vor allem in der Orchesterfassung präsentiert dafür zu sprechen scheint. Das tut er aber nur für denjenigen, der den musikalischen Kontext nicht hinreichend beachtet, in dem dieser Liedschluss steht. Es ist gerade der plötzlich und unerwartet erfolgende Umschlag der Liedmusik im Bereich der Dynamik und der Harmonik, der Übergang von chromatischem Moll in ungebrochenes Dur und das Hereinbrechen von gewaltigen Klangfluten in das Ende eines Liedes, in dem davor der Geist kammermusikalischen Umgangs mit der der lyrischen Aussage herrschte, was die Deutung einer choralartigen Apotheose eines in der individuell-existenziellen Not herbeigesehnten und musikalisch beschworenen göttlichen Retters nahelegt.


    So sehr die Fassung für Singstimme und Klavier schon eine solche Deutung des Liedes insinuiert, die Orchesterfassung lässt sie noch plausibler werden. Bemerkenswert ist an ihr zunächst einmal die Reduktion des orchestralen Instrumentariums auf Holz- und Blechbläser, Pauke und Harfe. Die Streicher bleiben außen vor, dafür kommt bemerkenswerterweise ein Klavier zur Unterstützung der Harfe zum Einsatz. Man könnte das so verstehen, dass Mahler das Lied vom Schluss und Höhepunkt her komponiert hat, in dem eben dieses Instrumentarium mit seinem klanglichen Potential erforderlich ist.


    Das wäre aber wohl eine zu vordergründig handwerkliche Sicht. Der Verzicht auf den weichen Klang der Streicher, insbesondere der Violinen, denen Mahler ja eine „beruhigende und beseligende“ Klanglichkeit zusprach und sie in dieser Funktion auch einsetzte, ist wohl eher als ganz konsequente und darin radikale kompositorische Entscheidung in der Instrumentierung aufzufassen: Die existenzielle Erfahrung von Mitternacht lässt in ihrer harten Perspektiv- und Hoffungslosigkeit Streicherklang nicht zu. Er wäre verlogen. Allein die Harfe hat im klanglichen Raum von Blech, Holz und Pauke noch eine Daseinsberechtigung: Als Hereinragen der erlösenden Transzendenz in die bedrückende und als Austragen des Leidens der ganzen Menschheit erfahrene mitternächtliche Situation.


    Was die Kritiker dieses Liedes so sehr verstört und sie gar von einem Bruch innerhalb des Liedes sprechen lässt, der sich nach den Worten „in deine Hand gegeben“ bei dem Wort „Herr“ in Takt 77 ereignen soll, erweist sich bei genauem Hinhören auf das, was sich zuvor liedmusikalisch ereignet, keineswegs als ein solcher. Und gerade die Orchesterfassung lässt das erkennen. Dies deshalb, weil sie mit ihrem Instrumentarium das motivische Material der Liedmusik in klanglich differenzierter Weise vernehmlich werden lassen kann. Man begegnet ihm in der Musik der ersten Strophe in seinem ganzen Umfang. Drei Motive sind es, die dieses Lied klanglich prägen und seine musikalische Aussage generieren. Das erste artikulieren die Klarinetten in den ersten beiden Takten: Es ist die in Moll harmonisierte Aufeinanderfolge einer bitonalen Sexte, einer Terz und derselben Sexte, nun aber in gedehnter Gestalt. Schon im zweiten Takt vernimmt man das nächste Motiv. Die Flöten lassen es erklingen: Die wiederum in eine Dehnung mündende Tonfolge „Fis>G>Fis“. Und in eben diesem zweiten Takt artikulieren die Hörner das dritte Motiv: Eine in kleinen und großen Sekunden fallende melodische Linie aus Vierteln.


    Bevor in Takt vier die melodische Linie der Singstimme einsetzt, lassen die Klarinetten noch einmal Motiv I erklingen. Die Oben artikulieren im Anschluss daran Motiv II. Während die Singstimme die melodische Linie auf den Worten „Um Mitternacht“ deklamiert, die sich als Wiederholung dieses zweiten Motivs zu erkennen gibt, lassen die Flöten Motiv III in sehr hoher Lage erklingen, und während der langen Dehnung der melodischen Linie auf der Silbe „-nacht“ tun das auch das Fagott und das Kontrafagott. Die in Sekunden fallende melodische Linie auf den Worten „Kein Stern vom Sterngewimmel“ setzt das Fagott fort und greift damit Motiv III auf. Nach dem Ausklang der melodischen Linie auf den Worten „um Mitternacht“ vernimmt man von den Klarinetten Motiv I und parallel dazu von den Hörnern Motiv II, und im Anschluss daran lassen Fagott und Kontrafagott zusammen noch einmal Motiv III erklingen.


    Die mitternächtliche Situation wird also von diesen drei Motiven klanglich imaginiert, wobei man wohl davon ausgehen darf, dass Motiv I das hinsichtlich der nächtlichen Stille bewirkt, Motiv II aber dem lyrischen Ich und seiner seelischen Befindlichkeit zuzuordnen ist, denn die melodische Linie übernimmt es ja anfänglich. Und Motiv III? Hier wird es interessant. Verfolgt man das Lied mit der Partitur in der Hand, dann fällt auf: Wenn das lyrische Ich bekennt „Nicht konnt´ ich sie entscheiden“, kommt es zu einem massiven Auftreten dieses Motivs. Dies sowohl in der melodischen Linie selbst (Takt 57/58), wie auch danach in den Fagotten und den Hörnern (Takt 59/60). In den nachfolgenden Passagen des Liedes treten die Motive I und II immer mehr zurück, Motiv III lässt sich hingegen immer häufiger vernehmen (Takte 66/67 und 69-72, wiederum von den Fagotten und den Hörnern artikuliert).


    Die Antwort auf die Frage, wie das zu verstehen sein könnte, gibt der Schluss des Liedes. Bei den Worten „Du hältst die Wacht um Mitternacht“ beschreibt die melodische Linie anfänglich selbst diese Fallbewegung in Gestalt von mit Portati versehenen halben Noten, und die Hörner und die Trompeten (diese mit Terzen) folgen ihr darin forte. Danach, während der langen Dehnung der melodischen Linie auf dem Wort „Mitternacht“, lassen die Flöten , die Oboen und die Klarinetten zusammen mit den Trompeten und der Basstuba diesen Sekundfall erklingen, bevor dann alle zu den über zwei Takte gehaltenen Akkorden übergehen, in die nur noch die Harfen ihre Arpeggien einstreuen.


    Dann wäre also Motiv III der „Macht“ zuzuordnen, der sich das lyrische Ich am Ende überantwortet, weil es selbst keinen Ausweg aus seiner existenziellen Not zu finden vermochte, die „Schlacht“ der „Leiden der Menschheit“, die in ihm selbst tobte, „nicht entscheiden“ konnte. Das aber würde bedeuten: Von einem „Bruch“ in diesem Lied zu sprechen und es aus diesem Grund zu einem „außerordentlich problematischen Tongebilde“ zu machen, wird der dahinter stehenden kompositorischen Intention nicht gerecht. Der „Ausbruch“ in die extreme Expressivität der Choral-Apotheose, wie er sich mit dem Fortissimo-Anruf des „Herrn“ (Takt 77) ereignet, ist von vornherein in dieser Komposition angelegt. Motiv III, das diesen Liedschluss dominiert, tritt gleich am Anfang in Einheit mit den Motiven I und II auf.

  • Dieses Lied will einen nicht so recht loslassen. Und das hat ja auch seinen guten Grund: Es fällt in seinem Verlauf aus dem kammermusikalischen, und im Grunde auf Intimität und Stille angelegten musikalischen Grund-Gestus dieser Rückert-Lieder auf geradezu überraschende, wenn nicht gar verblüffende Weise heraus. Der Mahler-Biograph Jens Malte Fischer hat auf den ersten Blick schon recht, wenn er das mit den Worten kommentiert: „In der Tat kündigt Mahler die Verinnerlichung der anderen vier Lieder mit schon verstörender Unbekümmertheit auf.“ So ganz recht hat er – aus meiner Sicht – darin aber doch nicht. Die in dem Wort „Unbekümmertheit“ sich verdichtende untergründige Wertung, die in diesem kurzen Kommentar steckt, wird meines Erachtens Mahler nicht gerecht.


    Einmal abgesehen davon, dass man bei Mahlers kompositorischem Schaffen eigentlich nicht von „Unbekümmertheit“ sprechen kann - diese Haltung ist dem Menschen und Künstler Gustav Mahler wesensfremd -, es liegt auch kein Fall von „Aufkündigung“ vor. Die fünf Rückert-Lieder setzen sich liedkompositorisch mit existenziellen Grunderfahrungen und Problemen des Menschen und Künstlers Friedrich Rückert auseinander. Eben deshalb hat er sie ja aus dessen lyrischem Werk ausgewählt, wie das auch bei den nachfolgenden „Kindertotenliedern“ der Fall ist, - und bei den „Wunderhorn“-Liedern ebenfalls. Nicht ohne Grund meinte er: „Nach des >Knaben Wunderhorn< kann ich nur mehr Rückert machen – das ist Lyrik aus erster Hand, alles andere ist Lyrik aus zweiter Hand.“


    „Lyrik aus erster Hand“, das ist für ihn eine, die ihn in ihrem sprachlichen Gestus und ihrer dichterischen Aussage unmittelbar anzusprechen vermag. Das Gedicht „Um Mitternacht“ unterscheidet sich von den anderen lyrischen Texten darin, dass es in seiner existenziellen Relevanz auf der Ebene des Fundamentalen angesiedelt ist. Die anderen Gedichte sind dies nicht in dieser Radikalität. Selbst bei dem, das in seine Nähe kommt, „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ nämlich, ist das nicht der Fall. Das „Abhanden-gekommen-Sein“ ist hier primär das des Künstlers und Komponisten. Schließlich mündet der lyrische Text in die Worte: „Ich leb allein in meinem Himmel, / In meinem Lieben, in meinem Lied.“ Und Mahler hat seine Liedmusik auch auf diese Aussage hin ausgerichtet. Bei „Um Mitternacht“ ist das lyrische Ich der auf seine elementare Existenz zurück geworfene Mensch schlechthin, gleichsam diesseits seiner künstlerischen Existenz, aber diese natürlich beinhaltend und einschließend. Die Liedmusik auf den lyrischen Text muss also anders gehört werden als bei den anderen Rückert-Liedern. Sie ist, hört und betrachtet man sie aus der existenziellen Relevanz von Mahlers Liedmusik – und seiner Musik überhaupt - wesenhaft elementarer. Sie muss es sein, weil der lyrische Text das so will.


    Von daher ist mir das Urteil des Musikologen Mathias Hansen über dieses Lied nicht recht verständlich. Er vernimmt darin, und das in „überzeichneter Weise“, den „Ton von Uneigentlichkeit“, wie er für Mahlers späte Kompostionen „so charakteristisch“ sei. Mit dem Begriff „Uneigentlichkeit“ spricht er den in Mahlers Sinfonik tatsächlich vorkommenden Sachverhalt an, dass eine musikalische Aussage in ihr Gegenteil verkehrt wird. Das sei auch in diesem Lied der Fall. Aber weil dies in Gestalt eines simplen Verfallens in die „Geste des Triumphs“ geschehe, sei ihm „der Kontrast“ „in recht unbeholfen wirkende Unausgewogenheit“ entglitten.


    Hier wird, so scheint mir, eine spezifische Eigenart der sinfonischen Musiksprache Mahlers in unzulässiger, weil der der musikalischen Faktur nicht werdender Weise auf dieses Lied übertragen. Der Begriff der „Uneigentlichkeit“ ist hier völlig fehl am Platze. Mahler will in diesem Lied nichts in sein Gegenteil verkehren. Die Emphase, in die das Lied in seinem letzten Teil ausbricht, will nicht – weil bewusst ins Extrem getrieben - als Perversion musikalischer Choralapotheose aufgenommen und verstanden werden. Sie ist musikalischer Ausdruck einer existenziellen Grenzerfahrung, die, weil der Mensch keinen Ausweg daraus mehr finden kann, in die Beschwörung einer Rettung durch eine höhere Macht mündet, der er sich mit den Worten „Hab ich die Macht in deine Hand gegeben“ total überantwortet. Bei dieser Liedmusik von „Uneigentlichkeit“ zu sprechen, mutet bei einem Mahler-Experten ein wenig verwunderlich an.

  • Mit dem Lied "Um Mitternacht" ist - für mich!- das Kapitel "Rückert-Lieder" hier in diesem Thread abgeschlossen, das heißt nur der erste Teil davon. Denn nun stehen noch die "Kindertotenlieder" an (deren Texte ebenfalls von Rückert stammen) und damit zugleich das letzte Kapitel dieses Threads.
    In diesem Zusammenhang möchte ich vorab auf diesen Thread verweisen, der sich bereits mit diesem Thema befasst hat:


    Kindertotenlieder


    Darin vertritt u.a. zweiterbass eine psychologisch fundierte These, die eine interessante Diskussion ausgelöst hat.

  • Diese Lieder entstanden in den Jahren 1901 bis 1904. Veröffentlicht wurden sie als „Lieder für Singstimme und Klavier bzw. Orchester“ im Jahr 1905, Verlag C. F. Kahnts Nachfolger, Leipzig. Die Uraufführung fand am 29. Januar 1905 in Wien unter der Leitung von Mahler selbst statt. Beim Orchester handelt es sich um ein kleines, bestehend aus einem vollen Streichersatz, zwei Flöten, zwei Oboen, einem Englisch-Horn, zwei Klarinetten, Bassklarinette,, zwei Fagotten, Kontrafagott, vier Hörnern, Pauken, Harfe, Glockenspiel, Celesta, Glöckchen und Tamtam. Das volle Orchester kommt aber nur im letzten Lied zum Einsatz. Der Orchestersatz ist in seiner Struktur durchweg ein kammermusikalischer. Der Besprechung der Lieder liegt hier, im Unterschied zu der vorangehenden Gruppe der fünf Rückert-Lieder, die Fassung für Orchester zugrunde.


    Die fünf Lieder stehen in einem zyklischen Zusammenhang. Er konstituiert sich nicht nur auf tonartlicher Ebene, sondern auch auf der der Inhalte. Den Rahmen bilden die Lieder eins und fünf mit ihrem d-Moll (die letzte Strophe steht in D-Dur), eingelagert in diesen sind die Lieder zwei und drei in c-Moll und das vierte in Es-Dur. Inhaltlich steht im Zentrum der ersten vier Lieder die emotionale und reflexive Auseinandersetzung des lyrischen Ichs mit dem „Unglück“ des Kindstodes, die sich auf der Basis eines sprachlich-narrativen Kontexts ereignet. Im fünften Lied kommt es dann gleichsam zu einer Bewältigung des schmerzhaft-leidvollen Schicksalsschlages in Gestalt einer visionären Imagination der Geborgenheit der Kinder in „Gottes Hand“.


    Die Gedichte stellen eine Auswahl Mahlers aus den von Rückerts Sohn 1872 veröffentlichten „Kindertodtenliedern“ Friedrich Rückerts dar. Dieser hatte ungefähr 400 lyrische Texten verfasst, mit denen er „den Verlust zweier kleiner Lieblinge, die um Neujahr 1834 dem Scharlachfieber erlagen“ – so seine eigenen Worte – zu bewältigen versuchte. In seiner Verzweiflung und seinem tiefen Leid schrieb er täglich im Schnitt drei bis vier Gedichte, in denen er sich bemühte, das schicksalhafte Ereignis reflexiv und emotional zu verarbeiten und ihm auf der Grundlage seines christlichen Glaubens und mit dem Mittel eines Sich-Zwingens zu reflexiver lyrisch-sprachlicher Artikulation einen Sinn abzugewinnen. Was dabei herauskam, hatte für ihn eine ausschließlich persönlich-subjektive Relevanz, war also nicht zur Veröffentlichung gedacht.


    Um die Entstehung der Lieder, die Frage also, warum Mahler sich liedkompositorisch diesen Gedichten Rückerts zuwandte, rankt sich eine biographische Legende, an deren Entstehung seine Frau Alma nicht ganz unschuldig war. Der Anlass war der Tod von Mahlers Tochter Maria Anna im Jahre 1907. Die Entstehung der Lieder kommentiert sie so:
    „Ich kann wohl begreifen, daß man so furchtbare Texte komponiert, wenn man keine Kinder hat, oder wenn man Kinder verloren hat. Schließlich hat auch Friedrich Rückert diese erschütternden Verse nicht fantasiert, sondern nach dem grausamsten Verlust seines Lebens niedergeschrieben. Ich kann es aber nicht verstehen, daß man den Tod von Kindern besingen kann, wenn man sie eine halbe Stunde vorher, heiter und gesund, geherzt und geküßt hat. Ich habe damals sofort gesagt: >Um Gottes willen, Du malst den Teufel an die Wand!< Der Sommer war schön, konfliktlos, glücklich.“
    Die Mahler-Literatur machte daraus aber ein künstlerisch-biographisches Konstrukt, das sich zum Beispiel in den Worten von H. Kralik so liest:
    „Jetzt“ – gemeint ist die Zeit nach dem Tod seiner Tochter – „empfand er das Werk als frevelhafte Herausforderung des Schicksals. Furchtbar erschüttert sah er hier seinen Glauben bestätigt, dass es ihm auferlegt sei, in seiner Musik sein eigenes Schicksal vorausahnend zu gestalten.“


    Das ist natürlich Unsinn. Die Antwort auf die Frage, warum Mahler zu den „Kindertotenliedern“ Rückerts griff, ist weit entfernt von diesem Bild des seherisch das eigene Schicksal vorausahnenden Künstlers. Sie ist dort zu suchen und zu finden, wo die Quelle all seiner Liedkomposition liegt: In dem personalen und künstlerischen Sich-Wiederfinden im lyrischen Text. Mahler war ein Sinnsucher, und er war das auf der Grundlage tiefer Gläubigkeit. Es gibt eine Fülle von biographischen Quellen dazu, - von Alma Mahler, Natalie Bauer-Lechner, Ferdinand Pfohl und Alfred Roller bis zu Bruno Walter. Dieser berichtet von den grundlegenden existenziellen Fragen, mit denen Mahler sich auseinandergesetzt hat:
    „Auf welchem dunklen Untergrunde ruht doch unser Leben (…) Von wo kommen wir? Wohin führt unser Weg? Habe ich wirklich, wie Schopenhauer meint, dies Leben gewollt, bevor ich noch gezeugt war? Warum glaube ich frei zu sein und bin doch in meinen Charakter gezwängt wie in ein Gefängnis? (…) Wird der Sinn des Lebens durch den Tod endlich enthüllt werden?“
    Und zu Mahlers Grundhaltung in seiner Hamburger Zeit (1891 bis 1897) merkt Ferdinand Pohl an:
    „In dem Glauben an das Jenseits fand er Trost; in der dauernden Betrachtung der letzten Dinge wurde es ihm zur vollkommenen Gewißheit und war endlich das Alpha und Omega seines Lebens, seiner Kunst.“


    Wenn man nach einem biographischen Sachverhalt sucht, der vielleicht Mahlers Hinwendung zu den „Kindertotenliedern“ Rückerts erklärlich werden lässt, so könnte es seine schwere Erkrankung im Februar 1901 sein, bei der er einen Blutsturz erlitt. Nach seinen eigenen Worten fühlte er sich damals „der Grenze, die das Leben vom Tod trennt“, sehr nahe. „Mehr noch“, fügte er hinzu, der Gedanke, in das Leben zurückzukehren zu müssen, erschien mir fast schmerzlich“. In den darauf folgenden Sommermonaten entstanden die Lieder eins, drei und vier des Zyklus.
    Aber aus dieser Todesnähe, die er damals erlebte und mit der er sich intensiv auseinandersetzte, lässt sich natürlich nicht hinreichend der Griff zur Lyrik Rückerts erklären. Die innere Beziehung zu diesem Dichter ist ja, wie bereits im vorangehenden Kapitel aufzuzeigen versucht wurde, eine recht komplexe. Mahler fand sich in dessen Lyrik in wesentlichen Punkten seines Selbstverständnisses als Mensch und Künstler wieder.


    Und hier, bei den „Kindertotenliedern“, ist es wohl – wie mir scheint - so, dass Mahler sich in ihnen in diesem Ringen um die Bewältigung einen existenziell tief greifenden Schicksalsschlages, wie es der Verlust zweier Kinder ist, wiederfand, und zwar insbesondere in den immer wieder erneuten, fast quälerisch anmutenden Anläufen Rückerts, dem unerhörten Vorgang einen Sinn abzugewinnen. Letzten Endes geht es hier um das reflexive Bemühen, einer als zutiefst kontingent erfahrenen Lebenswelt die Dimension von Sinnhaftigkeit des Geschehens abzuringen.
    Sinnsuche war wesentlicher Lebensinhalt für Mahler. In Rückerts „Kindertotenliedern“ begegnete er ihr in einer hochgradig ausgeprägten Intensität. Seine Lieder darauf verstehe ich als musikalischen Ausdruck der Teilnahme daran. Die Tatsache, dass Mahler den Zyklus mit dem letzten Lied in solch klanglich emphatischer Weise aufgipfeln ließ, ist für mich ein Beleg für diese These.


    Anmerkung:
    Es wird, wie bei den anderen Liedgruppen zuvor, der von Mahler vertonte Text abgedruckt. Wichtige Eingriffe von ihm in den Rückert-Text werden kenntlich gemacht.

  • Nun will die Sonn´ (R.: „Sonne“) so hell aufgeh´n,
    als sein kein Unglück, kein Unglück die Nacht gescheh´n.


    Das Unglück geschah nur (R.: „auch“) mir allein! (R.: ohne !))
    Die Sonne, die Sonne, sie scheinet allgemein! (R.: ohne !)


    Du mußt nicht die Nacht in dir verschränken, (R: „die Nacht nicht“)
    mußt sie ins ew´ge (R.: „ewige“) Licht, ins ew´ge Licht versenken! (R.: ohne !)


    Ein Lämplein (R: „Lämpchen“) verlosch in meinem Zelt! (R.: ohne !)
    Heil! (R.: ohne !), Heil sei dem Freudenlicht (R.: „Freudenlichte“) der Welt,
    dem Freudenlicht der Welt!



    Das lyrische Ich spricht von einem „Unglück“, das ihm geschehen sei, ohne dass in diesem Gedicht gesagt wird, worin es konkret besteht. Das geschieht im Mahler-Zyklus erst im letzten Lied. Mahler verstärkt im Ersetzen des Wortes „auch“ durch „nur“ („nur mit allein“) die singuläre individuelle Betroffenheit des lyrischen Ichs. Es erfährt das Aufgehen der Sonne als ein Ereignis, worin sich die Gleichgültigkeit von Natur und Welt gegenüber dem Schicksal des einzelnen Menschen zeigt.


    Das Gedicht generiert sich in seiner lyrischen Aussage aus dem Gegensatz von Licht und Dunkel, - Licht, wie es die Sonne spendet, und Dunkel, wie es die Nacht schicksalhafter Erfahrung mit sich bringen kann. „Die Sonne, sie scheinet allgemein“, das will sagen: Über alles auf dieser Welt, ohne den Blick auf das Einzelne, das Besondere, wie es sich in schicksalhaft-individueller Betroffenheit in dieser Welt konstituiert.


    In den letzten beiden Strophen kommen Rückerts Verse zum Kern ihrer lyrischen Aussage, - und zu dem, was für Mahler wohl das entscheidende Motiv zum Griff auf ausgerechnet dieses unter den unzähligen Gedichten Rückerts war. Das lyrische Ich sieht sich in seiner individuellen schicksalhaften Geworfenheit nicht in einem Gegensatz zur naturhaft lichten Welt stehend. Es versteht dieses Licht als Widerschein des „ewigen Lichts“ und damit als „Freudenlicht“, in das es sein Leid versenken kann, wissend, nein hoffend, dass ihm darin Erlösung zuteil wird.


    Rückert hat, so darf man annehmen, mit dem lyrischen Bild vom „ewigen Licht“ auf das Johannes-Evangelium (Kap.8, 12) zurückgegriffen. Mahler fühlte sich darin angesprochen, wie man eigenen Versen entnehmen kann, die mit „Hamburg 26.Mai 1896“ datiert und auf der in diesem Jahr erschienen Fassung des Liedes „Urlicht“ für Singstimme und Klavier notiert sind: „Verloren irrt´ ich einst auf dunkeln Wegen, / mir leuchtete kein Stern – mir blieb kein Hoffen! / Ein Strahl des ewigen Lichts hat mich getroffen / Nun wandl´ ich ihm in sel´ge Fern´ entgegen!“


    Das Lied steht in d-Moll als Grundtonart. Es soll „langsam und schwermütig“, aber „nicht schleppend“ vorgetragen werden. Das fünftaktige Vorspiel, in dem die Singstimme am Ende auftaktig einsetzt, wird von der Oboe und dem Horn bestritten, und die Art, wie das geschieht, erweist sich als gleichsam programmatisch für nicht nur dieses Lied, sondern für alle Lieder des Zyklus, - mit Ausnahme des fünften, das eine Sonderstellung einnimmt: Alle Lieder weisen eine mehr oder weniger stark ausgeprägte linear-polyphone Struktur auf. Die melodischen Linien, die Oboe und Horn artikulieren, sind gegenläufig angelegt. Während die Linie der Oboe in drei Anläufen aufwärts gerichtet verläuft und am Ende in eine bogenförmige Bewegung übergeht, ist die des Horns abwärts gerichtet und durchläuft darin das Intervall einer Dezime, bis sie am Ende mit einem Oktavsprung zu dem „A“ in mittlerer Lage aufsteigt, auf dem auch die Bewegung der Oboe endet.


    Es ist derselbe Ton, auf dem auch die Singstimme einsetzt. Diese setzt also mit ihrer melodischen Linie das fort, was Oboe und Horn in eigenständig-linearer Weise melodisch zum Ausdruck brachten, Und das Bemerkenswerte daran ist nun, dass sie dies in einer Weise tut, die gleichsam einen Verstoß gegen einen Topos der klassischen Musik darstellt: Die melodische Linie ist nicht aufwärts gerichtet, wie das gemeinhin, dem lyrischen Bild von der „aufgehen wollenden Sonne“ entsprechend, der Fall ist, sie senkt sich nach einem anfänglichen Terzsprung in langsamen, müde wirkenden, weil im Wechsel von einer punktierten halben Note und einem Achtel erfolgenden Schritten über das Intervall einer Quarte nach unten ab. Am Ende, bei „hell aufgeh´n“, rafft sie sich noch einmal um einen Sekundschritt nach oben auf, sinkt aber sofort wieder auf das tiefe „E“ zurück, von dem aus er erfolgte. Und während sie auf diesem Ton in einer langen Dehnung ausklingt, wiederholt die Oboe diese melodische Bewegung noch einmal, nun allerdings ohne die eingelagerten Dehnungen, d.h. in etwas flüssigerer, einer weniger müde wirkenden Form.


    Diese Melodiezeile nimmt eine zentrale Stellung in diesem Lied ein, - nicht nur, weil sie auf überaus beeindruckende und treffende Weise das seelische Leid des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen vermag, sondern auch deshalb, weil sie in leicht variierter Gestalt noch zwei weitere Male erklingt: Auf dem ersten Vers der zweiten und dem der vierten Gedichtstrophe. Das Lied ist zwar durchkomponiert, Mahler hat ihm aber, um die Eindringlichkeit der melodischen Figuren zu erhöhen und ihre Aussagen in einen inneren Bezug zu bringen, die Struktur eines variierten Strophenliedes zugrunde gelegt. Nur bei der dritten Strophe weist die melodische Linie eine andere Grundstruktur auf, darin die Aussage des lyrischen Textes reflektierend. Das lyrische Ich löst sich hier ja von der Haltung der schmerzerfüllten Klage, genauer gesagt: Es versucht dieses, indem es sich zuredet und selbst dazu auffordert, nicht die Nacht über es herrschen zu lassen, sondern sich ins „ewige Licht“ zu versenken.


    Die musikalische Aussage des Liedes generiert sich aber in ihrem wesentlichen Kern nicht in erster Linie aus dieser dritten Strophe, sondern aus dem klanglichen Potential, das sich im Zusammentreffen der beiden Melodiezeilen aufbaut, wie es sich in der ersten, der zweiten und der vierten Liedstrophe ereignet. Fast könnte man da von einem kontrapunktischen Geschehen sprechen: Wie die erste Melodiezeile der ersten Strophe sich gleichsam kontrafaktisch zur lyrischen Aussage entfaltet, so tut dies auch die zweite. Der lyrische Text spricht vom „Unglück“, das „die Nacht“ geschehen“ ist. Die melodische Linie darauf mutet aber sowohl in ihrer Struktur, wie auch in ihrer Harmonisierung im Grunde erstaunlich an. Sie beschreibt zwar, das wiederholte Wort „Unglück“ in seiner Semantik reflektierend, eine chromatische Aufstiegsbewegung aus tiefer in mittlere Lage, dann aber ereignet sich bei dem Wort „Nacht“ eine melismatische Aufgipfelung in Gestalt eines kleinen Sextsprungs, der nach einem Quartfall in eine langsam sich in Sekunden absenkende Linie übergeht, in die noch einmal ein kleines Melisma eingelagert ist. Gleichzeitig erfolgt eine klangliche Aufhellung: Die Harmonik, die in d-Moll einsetzte, rückt in den Dur-Bereich und moduliert von D-Dur über A-Dur zurück nach D-Dur. Und noch ein Drittes setzt diese Melodiezeile von der ersten ab und bringt sie in eine gleichsam kontrapunktische Funktion zu ihr. Während bei der ersten Melodiezeile Oboe, Klarinette und Fagott den Orchesterklang bestreiten, treten nun bei der zweiten erstmals die Streicher in Aktion.


    Was hat sich hier liedmusikalisch ereignet? Der klangliche Gegensatz, den man in der Aufeinanderfolge der beiden Melodiezeilen vernimmt, lässt sich vielleicht so erklären, dass für Mahler das lyrische Ich den Aufgang der Sonne aus der tiefen Betroffenheit durch „das Unglück“ erlebt und sich deshalb zunächst über eine fallende, in Moll harmonisierte melodische Linie ausdrückt, dann sich aber gegen das Überwältigt-Werden durch das Leid innerlich auflehnt und die Erfahrung des „hellen“ Morgenlichts als eine positive in sich hinein lässt. Die klangliche Aufhellung der in ihren Bewegungen aufwärts gerichteten zweiten Melodiezeile wäre dann eine Nachwirkung eben dieser morgendlichen Erfahrung, die sich über das An- und Aussprechen des „Unglücks“ legt. Eine solche Deutung liegt durchaus auf der Linie dessen, was sich in der Folge im Lied ereignet. Hier, bereits in den ersten beiden Melodiezeilen, wäre dann schon der Anfang des inneren Wandlungsprozesses zu vernehmen, den sich das lyrische Ich in diesem Lied auferlegt.
    (Fortsetzung folgt)

  • Im Zwischenspiel lassen Horn, Oboe und Klarinette ein schwermütig wirkendes Klagemotiv erklingen, in das dann sehr fein, aber hell und klar Glockenspieltöne einfallen, - für Mahler eine klangliche Metapher für das Aufscheinen des ewigen Lichts. Horn, Fagott und Oboe setzen das Zwischenspiel im Moll-Klageton fort und leiten zur zweiten Liedstrophe über. Wieder erklingt die Melodiezeile, mit der das Lied einsetzt. Nun aber ist zweimal vor die melodische Dehnung ein Doppelschritt in Gestalt von Achteln gesetzt, den man so empfindet, als wolle das lyrische Ich seiner Aussage stärkeren Nachdruck verleihen. Es ist ja die Empfindung der singulären personalen Betroffenheit, die es hier zum Ausdruck bringt. Die Hörner begleiten die Bewegung der melodischen Linie hier mit einem drei Mal sich wiederholenden aufwärts gerichteten kleinen Sekundschritt, und die Oboe lässt danach die bogenförmig sich erhebende und wieder fallende melodische Figur erklingen, die dem Lied den für es so typischen schmerzlich-klagenden Grundton verleiht.


    Und wieder folgt die chromatisch ansteigende, dann aber sich harmonisch aufhellende und in ein Melisma mündende Melodiezeile. Dieses Mal entfaltet sie sich aber ruhiger, allein schon deshalb, weil sie am Anfang, bei den Worten „die Sonne“, nach einem Sekundschritt in Gestalt von zwei Dehnungen auf der Ebene eines tiefen „F“ und eines „Fis“ verbleibt, bevor sie ihren Aufstieg in ruhigen Sekundschritten fortsetzt. Die Harmonik moduliert hier wieder am Ende zwischen D- und A-Dur. Alles wirkt hier klanglich weicher als bei der ersten Strophe, vor allem weil alle Violinen die melodische Linie begleiten und die Harfe ein Auf und Ab von Einzeltönen beiträgt. Das Horn greift im Zwischenspiel den Sextsprung der melodischen Linie auf, wiederholt ihn noch einmal und geht dann zur Artikulation einer melodischen Figur über, die mit einer Rückung der Harmonik in den Moll-Bereich verbunden ist. Mehrfach folgen noch diese Sextsprünge, die nun in ihrer Moll-Harmonisierung und in der fallenden Linie, die sie beschreiben, wie Klagerufe wirken. Oboe und Klarinette übernehmen dann die Stimmführung und artikulieren auch eine Folge von Figuren, die wie Klagerufe anmuten.


    Bei den Worten „Du mußt nicht die Nacht in dir verschränken“ beschreibt die melodische Linie zwei Mal die gleiche Aufwärtsbewegung in ruhigen Schritten, am Ende in einen Sekundbogen mündend und in Moll harmonisiert. Gerade weil es in dieser melodisch sich wiederholenden Form erfolgt, wirkt dieses Sich-Zureden des lyrischen Ichs wie ein ganz bewusster Willensakt zur Überwindung des Gefangen-Seins im seelischen Schmerz. Oboe und Flöte begleiten die melodische Linie, - die erste wieder einmal mit gegenläufigen kontrapunktischen Bewegungen. Große Emphase kommt dann in die melodische Linie, wenn das lyrische Ich sich selbst auffordert, die seelische Nacht „ins ew´ge Licht“ zu „versenken“. Sie steigt sehr langsam, weil mit Dehnungen versehen und immer wieder auf der gerade erreichten tonalen Ebene verharrend, in kleinen und großen Sekundschritten bis zu einem hohen „Es“ auf und senkt sich von dort wieder in langsamen Sekundschritten auf ein tiefes „F“ ab, von dem aus sie sich, in Gestalt von z.T. gedehnten Schritten, noch einmal zu einem „A“ erhebt, um am Ende, bei den letzten Silben von „versenken“, in einer Kombination aus Terz- und Sekundfall auf einem tiefen „D“ zur Ruhe zu kommen.


    Die Aufgipfelung der melodischen Linie bei der Wiederholung der Worte „ins ew´ge Licht“ verleiht diesen Worten einen starken Akzent, dies auch dadurch, dass die ersten Violinen dieser Bewegung nicht nur folgen, sondern sie auch mit Achtelfiguren umspielen. Zwar moduliert die Harmonik bei beiden Melodiezeilen dieser dritten Strophe zwischen d-Moll und g-Moll, einmal aber ereignet sich eine Aufhellung durch eine kurze Rückung nach D-Dur, bemerkenswerterweise die der erstmaligen Deklamation der Worte „ins ew´ge Licht“.


    Ganz offensichtlich sah Mahler in diesem lyrischen Bild vom „ewigen Licht“ die zentrale Aussage dieses Rückert-Gedichts, eine, durch die er sich selbst unmittelbar angesprochen fühlte. Nicht nur die große Emphase zeigt das, die er hier in die Liedmusik legt, auch das Nach-und Zwischenspiel, das im Anschluss an die dritte Strophe erklingt, lässt das vernehmlich werden. Lange wiederholen die Violinen in höchst eindringlicher Weise die Sprungbewegungen über große Intervalle, mit denen sie die melodische Linie bei den Worten „mußt sie ins ew´ge Licht versenken“ begleiteten und in ihrer Aussage akzentuierten. „Mit großem Ausdruck“, so lautet hier die Vortragsanweisung. Mahler verstärkt sie nun im Nachspiel, indem er das Adjektiv „groß“ durch „leidenschaftlich“ ersetzt. Das gilt für das ganze Zwischenspiel vor der letzten Liedstrophe. Erst wenn die Flöten und die Oboen gegen Ende die Streicher ablösen und etwas lieblichere, aus großer Höhe fallende und in Moll-Harmonik gebettete Figuren artikulieren, klingt die große Emphase wieder ab. „Zurückkehrend“ lautet hier die Anweisung.


    Auf dem ersten Vers der vierten Strophe liegt wieder die melodische Linie, mit der das Lied einsetzt und die einem in ihrer tief reichenden Eingängigkeit inzwischen so sehr vertraut ist. Hier ist sie erneut leicht modifiziert: Den beiden ersten deklamatorischen Schritten ist jeweils ein steigender, bzw. fallender Achtel-Sekundschritt vorgeschaltet. Dem Bild von dem „verloschenen Lämplein“ wird dadurch große klangliche Eindringlichkeit verliehen. Man vernimmt die tiefe Betroffenheit des lyrischen Ichs. Zugleich aber wird nun vollends deutlich, dass die Fähigkeit dieser so unendlich langsam fallenden und in Moll harmonisierten melodischen Linie, den Hörer so unmittelbar und tief reichend anzusprechen, letzten Endes darin gründet, dass sie sich in der nachfolgenden Zeile wie in einer Art Atemholen wieder zu erheben und, in Dur-Harmonik gebettet, in einem Melisma aufzugipfeln vermag. So auch jetzt wieder, - und in einer emphatisch gesteigerten Form.


    War die fallende Melodiezeile von Oboe, Klarinette, Fagott und Horn begleitet, wobei die beiden letzteren die Singstimme mit wieder z.T. gegenläufigen Achtelfiguren umspielten, so folgen nun die ersten Violinen mit einem „sempre con sordino“ und „molto espr.“ gestalteten Klangstrom dem langsamen Anstieg der melodischen Linie, der mit einem zweifachen Legato-Sekundschritt nach oben auf dem Wort „Heil“ einsetzt und dann den schon bekannten melismatischen Bogen in D- und A-Dur-Harmonisierung beschreibt, der am Ende mit einem Sekundfall in ein gedehntes tiefes „D“ mündet. Wie ein erlöstes Ausatmen mutet das an. Ein Zwischenspiel folgt nach, in dem die Streicher eine aus diesem Sekundschritt sich generierende und darin wiegend wirkende melodische Linie erklingen lassen. Noch einmal deklamiert die Singstimme nun am Ende die Worte „dem Freudenlicht der Welt“. Und das Bemerkenswerte daran und nachdenklich Machende ist: Sie tut es auf einer nun z.T. fallenden und in Moll (d-Moll, g-Moll) harmonisierten melodischen Linie. Es ist keine durchgängige Fallbewegung, die sich hier ereignet. Auf dem Wortteil „Freuden“- gipfelt die melodische Linie wieder melismatisch kurz auf, und bei dem zweiten Wortteil „-lich“ ereignet sich sogar ein kurzes Aufblitzen von Dur-Harmonik.


    Das Lied endet offen. In den beiden letzten Schritten bewegt sich die melodische Linie von einem tiefen „E“ um eine Sekunde aufwärts zu einem „F“ und verharrt dort in Gestalt einer Dehnung. Da dies in d-Moll-Harmonisierung geschieht, ist das ein Ende auf der Terz zum Grundton. Aber im kurzen, nur dreitaktigen Nachspiel, das von den Bläsern, den Celli und den Kontrabässen in Gestalt von lang gehaltenen Akkorden bestritten wird, wozu die Harfe ihr Auf und Ab von Einzeltönen beiträgt, blitzt doch ein Ausblick auf die Zukunft auf: Vier Mal erklingt ein heller einsamer Glockenton. Der letzte in großer Stille, - denn das Orchester schweigt.

  • Alles, was diese „Kindertotenlieder“ im Rahmen des kompositorischen Schaffens von Mahler auszeichnet, ist in diesem ersten Lied bereits voll und ganz vernehmlich und erlebbar. Es ist eine Liedsprache, die in ihrer spezifischen Struktur und in ihrem Aufgreifen des lyrischen Textes eine bedeutsame, weil auf das Spätwerk und insbesondere auf das „Lied von der Erde“ verweisende kompositorische Weiterentwicklung Mahlers dokumentiert. Der Mahler-Biograph Kurt Blaukopf hat dies aus der speziell liedkompositorischen Perspektive mit den Worten zum Ausdruck gebracht:
    „Die >Kindertotenlieder< leiten eine neue Ära des Komponierens ein. Die Musik Mahlers, die hier von allen Merkmalen seiner frühen Liedkunst befreit ist (von simpler Folklore und vom Marschrhythmus, vom Militärsignal und vom Volkstümlich-Tänzerischen), erreicht eine Höhe, von der aus schon Schönbergs >Herzgewächse< (1911) und dessen >Pierrot Lunaire< (1912), Anton Weberns Rilke-Lieder (1910) und Alban Bergs Altenberg-Lieder (1912) wahrnehmbar werden.


    In diesem Urteil wird zwar die Bedeutung von Elementen der Folklore und des Militärischen im Sinne eines musikalischen Vokabulars verkannt und ihre Einbeziehung in die Komposition deshalb zu Unrecht kritisiert, gleichwohl ist Blaukopf in seinem Verweis auf die zukunftsweisende „Höhe“ dieser Liedsprache zuzustimmen. Es ist vor allem die radikale Reduktion auf polyphone und kontrapunktische Linienführung, die dieser Liedsprache ihre Modernität verleiht. Und durchaus wahrscheinlich ist, dass sich darin Mahlers Beschäftigung mit der Musik Bachs niederschlug, der er sich damals widmete. In einem Gespräch im Sommer 1901 meinte er:
    „Das Wunder seiner Polyphonie ist unerhört, nicht nur für seine Zeit, sondern für alle Zeiten. (…) Unsagbar ist, was ich von Bach immer mehr und mehr lerne (freilich als Kind zu seinen Füßen sitzend!): denn meine angeborene Art zu arbeiten ist Bachisch! Hätte ich nur Zeit, in diese höchste Schule mich ganz zu versenken.“


    Die liedhistorische Bedeutung, die den „Kindertotenliedern“ als einem der großen Zyklen der Liedgeschichte zukommt, reicht aber über diese musikalisch-strukturelle Ebene hinaus, weil sie auch – und natürlich dadurch bedingt – eine der musikalischen Aussage ist. Der große Mahler-Kenner Hans Wollschläger hat die „Kindertotenlieder“ in geradezu brillant verdichteter Weise in ihrem Wesen mit den Worten charakterisiert:
    „Mahler, der in der eigenen >Natur< den Panischen Schrecken kannte, hat ihn auch in der Natur Rückerts erspürt und in ihrem Sprechen freigesetzt, indem er dessen Glätte wiederauflöste. Seine Musik umgibt den Text mit dem surreal Zeitlosen des Todes, in dem der Kindertod selber nur eine Metapher war; ihre Linearität verlässt die Epoche, und im letzten Lied scheinen die Klagelaute aller Kulturen zu kontaminieren.“


    Das trifft alles mitten ins Zentrum dieser Lieder, - wenngleich ich in zwei Punkten Wollschläger nicht zu folgen vermag. Es mag ja sein – nein es ist so – dass Rückerts Lyrik ganz allgemein eine gewisse „Glätte“ eigen ist, bei seinen „Kindertotenliedern“ vermag ich sie aber nicht zu entdecken. Die wirken in der Direktheit und Unmittelbarkeit, in der das lyrische Ich sich ausspricht, für Rückertsche Verhältnisse unter formal lyrisch-sprachlichem Aspekt ungewöhnlich ungeglättet. Das „Freisetzen“ – um Wollschlägers Begriff aufzugreifen –, das Mahler mit seiner Musik geleistet hat, sehe ich eher darin, dass er mit seiner Musik die lyrischen Texte aus ihrem Verhaftet-Sein in singulär-individueller Schicksalhaftigkeit befreit und sie auf die Ebene allgemeiner existenzieller Relevanz gehoben hat. Für Rückert war der Kindertod – auch darin möchte ich Wollschläger widersprechen – ganz gewiss keine „Metapher“.


    Wohl aber kann man bei der Liedmusik, in die Mahler seine Texte eingebracht hat, davon sprechen, dass hier das Thema „Kindestod“ auf die Ebene der Erfahrung von Tod des unmittelbar nächsten Menschen gebracht und ihr damit eine die spezifische Dimension der Rückert-Verse transzendierende künstlerische Aussage verliehen wird. Schon dieses erste Lied lässt das auf beeindruckende Weise vernehmlich werden. Die sich wie aus der Enge des chromatischen Fallens befreiende und dann in Dur-Harmonisierung in eine nach oben sich richtende melodische Linie der ersten beiden Verse übergehende Liedmusik auf die beiden ersten Verse erfährt man wie die musikalische Evokation des existenziell schlechterdings Unbegreiflichen, wie es der Tod eines geliebten Menschen ist. Die Sonne vermag nicht mehr wirklich aufzugehen, das Naturphänomen kann sich für das lyrische Ich nur noch in einer müde fallenden melodischen Linie niederschlagen. Das „Unglück“ hat von ihm so sehr Besitz ergriffen, dass es zum alleinigen Inhalt dessen wird, was es noch zu sagen hat. Daher diese am Ende sich ereignende und im Grunde so erschreckende, Konterkarierung all der Moll-Harmonik, mit der das Lied im Vorspiel einsetzt und die chromatisch fallende melodische Linie ganz und gar beherrscht.

  • Die Polyphonie ist das die Musik dieses Liedes – wie des ganzen Zyklus – prägende strukturelle Merkmal. Das wurde in der Vorstellung und Beschreibung desselben zwar aufgezeigt, und es wurde auch darauf hingewiesen, dass sich darin eine Weiterentwicklung von Mahlers musikalischer Sprache zeigt, wie sie in seinem sinfonischen Schaffen danach eine Fortführung erfährt. Was aber noch nicht hinreichend reflektiert wurde, das sind die Gründe für die Hinwendung Mahlers zur Polyphonie. Der Nicht-Musikwissenschaftler kann dazu natürlich nur laienhafte Überlegungen anstellen, gleichwohl muss er sich dieser Frage stellen. Und vielleicht ist es am sinnvollsten, dies in ganz konkreter Gestalt zu tun, - am Beispiel eben dieses ersten Liedes, das dafür eine besonders ergiebige Quelle darstellt.


    Und schon hier – wie auch bei den folgenden Liedern – wird deutlich: Mahlers Polyphonie ist wesenhaft textgeneriert. Textgeneriert in dem Sinn, dass sie aus der kompositorischen Intention hervorgeht, dem lyrischen Text im Aufgreifen nicht so sehr seiner sprachlichen Struktur gerecht zu werden, als vielmehr seine Semantik musikalisch auszuschöpfen. An zwei Passagen des Liedes soll das in noch etwas stärker ins Detail gehender Weise aufgezeigt werden.


    Da ist der Anfang (Takt 1-10). Er weist eine für ein Orchesterlied ganz und gar ungewöhnliche klangliche Askese auf. Die Oboe setzt mit einer stark von kleinen und großen Sekundschritten geprägten und aus diesem Grund „klagend“ (Vortragsanweisung) wirkenden Melodie ein. Das Horn gesellt sich schon im zweiten Takt dazu, dies aber nicht mit einer melodischen Linie, die die der Oboe begleitet, sondern einer gleichsam kontrafaktischen. Sie weist im Gegensatz zu dieser eine fallende Tendenz auf, und dort, wo diese zum dritten Mal die tonale Höhe des Anfangs anstrebt, geht sie zu einem in tiefe Lage reichenden doppelten Quintfall über. Da die sich aus dem Zusammenspiel ergebenden Intervalle zumeist verminderte sind, bewirkt die Polyphonie der melodischen Linien von Oboe und Horn eine Steigerung der Expressivität des Klagetons, der dem Vorspiel innewohnt.


    Aber sie bewirkt noch ein Weiteres: Sie wird in ihrer spezifischen Klanglichkeit zu einer Art Ouvertüre für die melodische Linie der Singstimme, indem sie deren klangliches Wesen vorausgreifend präsentiert: Und das ist die große und die kleine Sekunde aufwärts, die eine Fallbewegung in Sekunden einleitet. In der melodischen Linie der Oboe klingt sie gleich sieben Mal auf, in der Konterkarierung durch die fallenden Sekunden in der Hornmelodik auf umso eindringlichere Weise. Und in dem Augenblick, da die Singstimme den in eine Dehnung mündenden melodischen Sekundschritt auf den Worten „Nun will“ deklamiert, begleitet sie das Fagott darin, und die Hörner lassen diesen Sekundschritt wie in einem Echo während der melodischen Dehnung auf Wort „will“ nachklingen. Während die melodische Linie der Singstimme in dieser kleinen Zeile schrittweise in Sekunden absinkt, lassen die Hörner einmal und die Fagotte zwei Mal erneut den Sekundschritt erklingen, jedes Mal in eine Dehnung mündend. Und während der zweitaktigen Pause für die Singstimme artikuliert die Oboe deren melodische Bewegung gleichsam in Kurzfassung noch einmal.


    Die Faktur dieser ersten zehn Takte des Liedes lässt sehr schön die kompositorische Intention erkennen, die hinter Mahlers Polyphonie steht. Indem die melodische Linie der Singstimme mit ihren sie konstituierenden Schritten – der steigenden und fallenden Sekunde – auf die verschiedenen instrumentellen Stimmen des Orchesters verlagert wird, die sie dann in gleichsam dialogischer Weise in die Liedmusik einbringen, erfährt deren musikalische Aussage in ihrem zentralen Kern eine hochgradige Steigerung, weil eine klangliche Bereicherung ihrer Expressivität. Und der Kern ist die aus der Erfahrung des Kindstodes rührende schmerzerfüllte Klage. Diese erste Melodiezeile ist ein singulärer Klageruf, der in dem chromatischen Fall, wie er sich nach dem anfänglichen, so überaus müde wirkenden Sich-Aufrichten der Melodik ereignet, deshalb so schmerzlich wirkt, weil er sich mitten im lyrischen Bild von der aufgehenden Sonne ereignet.


    Und da ist, als zweites Beispiel, die kurze liedmusikalische Passage auf den Worten: Du mußt nicht die Nacht in dir verschränken“ (Takt 47-51). Sie wirkt wie die Inkarnation der klanglichen Askese, wie sie so typisch für die vier Lieder ist, die in diesem Zyklus dem letzten vorausgehen. Nur zwei Instrumente begleiten hier die melodische Linie der Singstimme, aber im Grunde ist es nur ein Instrument, die Oboe nämlich. Die Flöten lassen nur zwei Mal eine den dritten und den letzten Takt dieser Passage ganz ausfüllende bitonale Terz erklingen. Und bemerkenswert ist nun, wie die Oboe die melodische Linie der Singstimme begleitet. Sie tut dies nämlich wieder in der gleichen Weise wie im Vorspiel die Hörner im Zusammenspiel mit der Oboe: In Gestalt einer kontrafaktischen Bewegung, die sich darin als Element der polyphonen Grundstruktur der Liedmusik bekundet.


    Und diese Polyphonie ist, wie auch dieses Beispiel zeigt, textgeneriert. Die melodische Linie der Singstimme entfaltet sich wellenartig. Sie setzt mit Sekundschritten in tiefer Lage an, gipfelt mit einem Legato-Bogen bei dem Wort „Nacht“ auf, fällt dann über das Intervall einer Quinte und einer Sekunde auf die Ausgangstonlage zurück, um danach erneut in einen Aufstieg überzugehen, der auf dem Wortteil „-schränken“ wieder in einen Legato-Bogen auf der tonalen Ebene des ersten zu münden.


    Diese Struktur der melodischen Linie ist Ausdruck der Willensanstrengung des lyrischen Ichs, wie sie mit dem monologischen „Du mußt“ am Anfang der Melodiezeile programmatisch artikuliert wird. Die melodische Linie der Oboe entfaltet sich in dazu gegensätzlicher Bewegung. Dort, wo die der Singstimme ihren Höhepunkt hat – bei dem Wort „Nacht“ – erreicht sie ihren tiefsten, bei dem tiefsten Punkt der Singstimmen-Melodie schwingt sie sich aber zu ihrem höchsten auf. Das ist bei dem Wort „dir“ der Fall, und ist darin höchst aufschlussreich für das Wesen von Mahlers Polyphonie. Dort, wo die melodische Linie der Singstimme gleichsam in sich zusammensinkt, weil das lyrische Ich gerade verzagt in dem Willensentschluss, sich nicht der „Nacht“ zu unterwerfen, setzt die Oboe ihren höchsten Ton dagegen und liefert damit den Impuls für das nachfolgende neuerliche Sich-Aufraffen der Singstimme.


    Auch wenn Mahler zurzeit der Komposition der „Kindertotenlieder“ sich intensiv mit Bachs Musik befasst und geradezu in Anbetung vor ihr versunken ist, - seine Polyphonie ist von anderer Art als die seines bewunderten Vorbilds. Sie ist nicht immanent musikgeneriert wie bei Bach, sie ist in seinen Liedern extern wortgeneriert, und in seiner Sinfonik sinngemäß ausdrucksgeneriert.
    Der kompositorische Gebrauch von musikalischen Vokabeln ist, so denke ich, im Grunde Niederschlag eines wesenshaft polyphonen musikalischen Denkens.

  • Nun seh´ ich wohl, warum so dunkle Flammen
    Ihr sprühtet mir in manchem Augenblicke.
    O Augen! O Augen! Gleichsam, um voll (R.: „gleichsam um“) in einem Blicke
    Zu drängen eure ganze Macht zusammen.


    Dort ahnt´ ich nicht, weil Nebel mich umschwammen,
    gewoben vom verblendenden Geschicke,
    daß sich der Strahl bereits zur Heimkehr schicke,
    dorthin, dorthin, von wannen alle Strahlen stammen.


    Ihr wolltet mir mit eurem Leuchten sagen:
    Wir möchten nah dir bleiben gerne (R.: „nah dir immer bleiben gerne“),
    doch ist uns das vom Schicksal abgeschlagen.
    Sieh´ uns nur an (R.: „Sieh´ recht uns an!“), denn bald sind wir dir ferne!
    Was dir nur Augen sind in diesen Tagen:
    In künft´gen Nächten sind es dir nur Sterne.



    Die Licht-Metaphorik, die im Zentrum des vorangehenden Gedichtes stand, wird hier wieder aufgegriffen, - im Kreisen der Gedanken des lyrischen Ichs um die „Augen“ der toten Kinder. Sie sind dem lyrischen Ich als „dunkle Flammen“ gegenwärtig, in denen sich für es, wie ihm nun bewusst wird, das ganze ihm zugewandte Leben verdichtete. Zu Lebzeiten der Kinder vermochte es das nicht zu sehen, war, wie es das jetzt empfindet, “verblendet“ von all den „Geschicken“, die das Leben mit sich bringt. Es sah nicht, dass in dem Strahl, der ihm aus den Augen der Kinder entgegen kam, schon der Tod lauerte, dass er dorthin zurück wollte, woher aller Strahl des Lebens kommt.


    Wie alle diese Verse Rückerts sind auch diese in ihrem lyrischen Kern Versuche der Bewältigung des Kindesverlusts und des seelischen Schmerzes, den er mit sich brachte. Im Blick der Augen meint das lyrische Ich nun in der vergegenwärtigenden Retrospektive die Geste der innigen Zuneigung im Wissen um den vom Schicksal erzwungenen Abschied zu sehen. Und es findet Trost in dem Gedanken, dass der Tod der Kinder eine Heimkehr an den Ort ist, wo alles Licht, alle „Strahlen“ ihren Ursprung haben, - in diesem irdischen Leben erfahrbar in dem Leuchten der Sterne, die für es zum Leuchten der Kinderaugen werden. Hier, in diesem tröstlichen Gedanken der Einbindung irdischen Geschickes in diese bergenden überirisch-kosmischen Sphären, schließt dieses Gedicht an die Metaphorik vom „ewigen Licht“ des Anfangsgedichts an.


    Mahlers Vertonung dieser Verse fängt mit ihren musikalischen Mitteln beide sie so stark prägenden Elemente in höchst beeindruckender Weise ein: Die im Akt der Vergegenwärtigung vergangenen Lebens sich einstellende schmerzerfüllte Wehmut und die Suche des lyrischen Ichs nach Trost im gedanklichen Kreisen um die Licht-Symbolik, wie es sich in den Bildern der Kinderaugen einstellt. Das ereignet sich auf drei Ebenen, die natürlich ineinandergreifen: In der Struktur der melodischen Linie, im klanglichen Charakter des Orchestersatzes und in der Harmonik, der in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zukommt.


    Das Eigenartige an der Harmonisierung der melodischen Linie ist: Sie begegnet dem Hörer als ein permanentes Umkreisen der Grundtonart, in der das Lied steht. Man empfindet das nicht als eigentlich nicht so sehr als ein Umkreisen, eher als ein Ausweichen, ein Meiden, ein Aus- dem Weg-Gehen. Mahler hat c-Moll als Grundtonart vorgegeben, und das viertaktige Vorspiel setzt auch darin ein, - mit bemerkenswerten harmonischen Rückungen freilich, auf die noch einzugehen ist. Die melodische Linie der Singstimme bindet mit den drei ersten deklamatorischen Schritten auf den Worten „Nun seh´ich“ in Takt fünf auch tatsächlich an dieses c-Moll an, - aber eben nur hier. Schon der nächste Schritt, der Sekundschritt hin zu einer melodischen Dehnung bei dem Wort „wohl“ ist mit einer Rückung nach As-Dur verbunden. Und damit hat die melodische Linie das c-Moll verlassen und kehrt nicht wirklich mehr zu ihm zurück, streift es nur gelegentlich, wandert aber in ihrer Harmonisierung durch weit voneinander entfernte Tonarten, um am Ende in C-Dur zur Ruhe zu kommen.


    Wie lässt sich dieses harmonische Irrlichtern erklären? Naheliegend ist, es als den Niederschlag der Lichtmetaphorik des lyrischen Textes zu verstehen. Das „Strahlen“ der Kinderaugen ist für das lyrische Ich gegenwärtig und ist es doch zugleich nicht, weil es nur imaginativ, im Akt der Erinnerung, in die Gegenwart geholt wird. Sinnlich erfahrbar wird es nur noch in der nächtlichen Begegnung mit den Sternen. Dort aber ist es als der Transzendenz angehöriges Phänomen nicht wirklich mehr fassbar.


    Und noch ein zweiter Sachverhalt ist an der Harmonik dieses Liedes bemerkenswert. Sie erinnert in einer harmonischen Figur des Klaviersatzes, der gleichsam leitmotivische Figur zukommt, weil sie an für die Aussage der melodischen Linie relevanten Stellen immer wieder auftaucht, stark an die Harmonik von Richards Wagners „Tristan und Isolde“. Es geht um die in den ersten vier Takten des Vorspiels von den Klarinetten, den Fagotten, Celli, den Violen und den Kontrabässen zweimal artikulierte klangliche Figur, die aus einem von den Celli artikulierten Anlauf von Einzeltönen in Sekundschritten hin zu einem dissonanten Akkord, der sich in der nachfolgenden Rückung in seiner Dissonanz nicht wirklich auflöst. Ganz oder in Teilen erklingt die danach noch insgesamt sechs Mal.


    Wenn man bedenkt, dass die melodische Linie am Anfang diesen Sekund-Dreischritt aufgreift und von ihm zu dem hohem „Es“ getragen wird, das mit einer Rückung nach As-Dur einhergeht, dann könnte man in dieser leitmotivischen harmonischen Figur, die ja dann durchweg nur instrumental realisiert wird, so etwas wie den Motor sehen, der die Harmonik des Liedes in dieser so bemerkenswert schweifenden, den Raum zwischen d-Moll und Des-Dur durchmessenden, zu Trugschluss-Bildungen neigenden und in all dem – vielleicht – die im lyrischen Ich sich verkörpernde Haltung des Suchens reflektierenden Bewegung antreibt.


    Dass diesem akkordischen Leitmotiv eine zentrale, die Aussage der Liedmusik mit konstituierende Rolle zukommt, zeigt sich schon nach den ersten beiden Melodiezeilen. Zunächst, beim ersten und zweiten Vers, bewegt sich die melodische Linie in ruhiger, wellenförmiger Gestalt auf mittlerer tonaler Ebene, begleitet von Flöte und Klarinette mit lang gehaltenen Akkorden und von der Harfe mit Arpeggien. Das Wort „dunkle Flammen“ erhält dabei einen Akzent durch eine harmonische Rückung von As-Dur nach dem Dominant-Septakkord von c-Moll. Bei den Worten „ihr sprühtet mir in manchem Augenblicke“ kommt etwas größere Lebhaftigkeit in die Bewegung der melodischen Linie. Nun sind es keine Viertel mehr, sondern Achtel, die sie prägen, und man meint die innere Erregung zu spüren, die dem lyrischen Ich bei der Erinnerung an diese Kinderaugen überkommt. Am Ende, bei „manchem Augenblicke“, senkt sich die melodische Linie wieder in tiefere Lage ab und beschreibt am Ende einen Sekundfall, - nun wieder in Gestalt von Vierteln.


    Eine Pause im Wert von drei Achteln folgt für die Singstimme. Und in dieser beginnen die Celli wieder mit der Artikulation des Sekund-Dreischritts, der das akkordische Leitmotiv einleitet, das dann in allen Streichern voll erklingt und zwei Mal seine Rückung vollzieht, wobei die erste in B-Harmonik erfolgt, die zweite sich hingegen im Bereich von „Des“ ereignet. Und dies geschieht – was bezeichnend ist – an der Stelle, an der die Singstimme zwei Mal die Worte „O Augen!“ auf einen gedehnten Sekundanstieg der melodischen Linie in unterer Mittelllage deklamiert. Es besteht also tatsächlich ein innerer Zusammenhang zwischen diesem musikalischen Motiv und dem lyrischen der „Augen“, das im Zentrum von Rückerts Gedicht steht.


    Und die nachfolgende Liedmusik nimmt man wie eine Bestätigung für das innere Erfüllt-Sein des lyrischen Ichs durch dieses lyrische Bild der Kinderaugen. In die melodische Linie scheint den beiden nächsten Zeilen (eingeleitet mit den Worten „Gleichsam, um voll in einem Blicke…“) große Helligkeit zu treten, denn die Harmonik rückt in geradezu überraschender Weise nach C-Dur mit einer modulatorischen Bewegung zur Subdominante hin. Aber das hält nicht lange vor. Bei der zweiten Zeile (eingeleitet mit „zu drängen eure…“) wird die helle Dur-Harmonik schon wieder von d-Moll verdrängt, das sich freilich auch nicht bis zum Ende hält, denn B-Dur löst es bei dem Wort „zusammen“ ab.


    Das lyrische Ich, so lässt die Phrasierung der melodischen Linie vernehmen, fühlt sich wie beseligt von der imaginativen Begegnung mit den „Augen“, die ihm in einer Intensität begegnen, als würden sie „ihre ganze Macht“ in diesem einen Augenblick zusammen drängen. Die Vokallinie beschreibt eine weit gespannte, legato vorzutragende Bogenlinie, begleitet von lang gehaltenen melodischen Figuren und Akkorden der Holzbläser und Streicher und Arpeggien der Harfe. Bei den Worten „zu drängen eure ganze Macht zusammen“, dort also, wo die der Einbruch von Moll-Harmonik in das vorangehende C- und F-Dur ereignet, geht sie zu kürzeren (Achtel statt Viertel) und größere tonale Räume einnehmenden deklamatorischen Schritten über, die sogar einen veritablen Oktavfall bei dem Wort „Macht“ einschließen. Aus der damit erreichten tiefen Lage erhebt sie sich aber wieder und endet in einem leicht gedehnten (nun wieder Viertel) Sekundfall in tiefer Lage auf den beiden letzten Silben des Wortes „zusammen“. Die Rückung von d-Moll nach B-Dur, die damit einhergeht, begleitet die Harfe mit einem markanten, aus tiefer in sehr hohe Lage aufsteigenden Arpeggio. Und danach erklingt wieder das akkordische Leitmotiv.


    Was will die Liedmusik sagen? Die Verzückung, die sich beim lyrischen Ich im Augenblick der imaginativen Vergegenwärtigung der Kinderaugen einstellt und sich in der C-Dur-Harmonisierung einer lieblich anmutenden melodischen Linie niederschlägt, wird vom Bewusstsein der realen Gegebenheiten eingeholt. Der melodische Oktavfall bei dem Wort „Macht“ und das d-Moll, in dem er sich ereignet, signalisieren musikalisch: Die Macht des „Strahls“, der aus den Kinderaugen kam, ist erloschen, ist nur noch in der retrospektivischen Imagination gegenwärtig.
    (Fortsetzung folgt)

  • Auch in der zweiten Strophe ereignet sich wieder eine emphatische Aufgipfelung der melodischen Linie, die mit einer Rückung nach C-Dur verbunden ist. Und wieder ist es die Vergegenwärtigung des Bildes von den Kinderaugen im lyrischen Ich, die dieses auslöst. Die Eingangsworte dieser Strophe werden auf seiner überaus ruhig sich bewegenden, dabei auf einer tonalen Ebene in tiefer Lage verbleibenden und sich langen Dehnungen überlassenden melodischen Linie deklamiert. Erst bei den Worten „weil Nebel mich umschwammen“ kommt es, um die Bedeutung dieses Vorgangs zu akzentuieren, zu einem Sextsprung in obere Mittellage mit einer nachfolgenden Fallbewegung der melodischen Linie. Die Streicher begleiten das mit einem strömenden Klangbett, in das die Harfe ihre Arpeggien setzt. As-Dur ist die dominierende Harmonik.


    Dort, wo sich das lyrische Ich des „verblendenden Geschickes“ bewusst wird, das ihm den Blick in die Zukunft mit Nebel verhüllte, geht die melodische Linie in lebhaftere (Folgen von Vierteln und Achteln), bogenförmig sich in oberer Mittellage entfaltende Bewegung über, wobei das Wort „verblendenden“ einen Akzent durch eine Dehnung in hoher Lage erhält. Die Harmonik rückt von Des-Dur nach es-Moll und moduliert am Ende dieser Melodiezeile nach f-Moll. Die Bläser haben sich nun wieder zu den Streichern hinzugesellt, und die Oboe folgt der Bewegung der melodischen Linie in gegenläufiger Form. Man spürt die innere Erregung, die sich im lyrischen Ich beim Bewusstsein seiner damaligen Blindheit dem Geschick gegenüber einstellt.


    Bei den Worten „der Strahl bereits zur Heimkehr schicke“ geht die melodische Linie wieder in eine weit phrasierte und ruhig sich entfaltende Bogenbewegung über, die bei dem Wort „schicke“ ihren Höhepunkt erreicht und in einen Sekundfall mündet. Die Streicher folgen dieser Bogenbewegung, die Harfe bringt sich fortissimo mit einer ganzen Folge von Arpeggien ein, und die Harmonik rückt nach C-Dur. Aber wie man das schon von der ersten Strophe her kennt: Helle Dur-Harmonik kann sich in diesem Lied nicht lange halten, sie trübt sich alsbald wie mit dem Mol-Chroma ein. So auch hier. Nach einer Viertelpause deklamiert die Singstimme zwei Mal das Wort „dorthin“ , und das in Gestalt eines Doppelschritts auf nur einer, allerdings beim zweiten Mal um eine Sekunde nach unten gerückten tonalen Ebene. Das erste „dahin“ ist in d-Moll harmonisiert, beim zweiten aber kehrt das C-Dur wieder zurück, und es bleibt auch die dominierende Tonart bei der letzten Melodiezeile dieser Strophe. Hier ereignet sich noch einmal eine bogenförmige und gedehnte Aufgipfelung der melodischen Linie in mittlerer Lage bei den Worten „Strahlen stammen“.


    Auf beindruckende Weise lässt die Liedmusik wieder vernehmen, mit welcher Innigkeit sich das lyrische Bild der Imagination der Kinderaugen hingibt, und welche trostspendende Kraft für es von der Vorstellung ausgeht, dass die „Strahlen“, die ihm in den nun erloschenen Augen ehedem begegnet sind, ihren Quell im „ewigen Licht“ haben, - dass sie von dort gekommen sind. Und siehe: Wieder kommentieren die Celli, die Violinen und die Kontrabässe im Nachhinein dieses Sich-versteigen des lyrischen Ichs in die Lichtmetaphorik mit dem akkordischen Leitmotiv. Es ist dieser in diesem Lied ganz offensichtlich zugeordnet.


    Die Imagination dessen, was „die Augen“ dem lyrischen Ich „sagen“ wollten, löst bei der Liedmusik eine weitere Steigerung ihrer emphatischen Expressivität aus. Die melodische Linie beschreibt – aus einem harmonischen Vorhalt heraus – einen Anstieg in kleinen und großen Sekunden, die wie eine Art Anlauf wirkt, der bereits in sich einen Steigerungseffekt enthält, weil er sich durch den Übergang zu halben Noten verlangsamt. Er wird von den ersten und zweiten Violinen mitvollzogen und von den Pikkoloflöten mit Trillern begleitet Dann aber holt die melodische Linie zu einer weit gespannten fallenden Linie aus, der die Streicher wiederum folgen, wobei die Harfe bogenförmig auf und ab steigende Sechzehntel erklingen lässt. Die Harmonik moduliert zunächst von D-Dur nach G-Dur, dann bei dem gedehnten Sekundfall auf dem Wort „gerne“ am Ende der Melodiezeile nach Fis-Dur. Die Liedmusik entfaltet hier eine geradezu anrührende, weil überaus liebliche, aber leicht von Wehmut angehauchte Klanglichkeit.


    Gegen Ende dieser Zeile setzen die Hörner zur Artikulation einer chromatisch aufsteigenden und von Dehnungen durchsetzten Achtelfigur an, die in Moll-Harmonik mündet. Es klingt an, dass diesem „wir möchten gerne“ keine Erfüllung beschert war. Und das bringt auch die melodische Linie auf den Worten „doch ist uns das vom Schicksal abgeschlagen“ zum Ausdruck: Sie beschreibt eine langsam fallende, zunächst zwar in Es-Dur harmonisierte, dann aber nach ges-Moll hin modulierende Fallbewegung. Die Flöten wiederholen dabei zwar anfänglich den Sekundanstieg der melodischen Linie auf den Worten „doch ist uns“, nachdem diese aber geendet hat, lassen die Hörner die melodische Bewegung erklingen, die auf den Worten „ihr sprühtet mir in manchem Augenblicke (Vers 2, erste Strophe) lagen. Sie sind ganz und gar in Moll-Chroma gebettet und setzen hier an dieser Stelle einen starken Akzent von schmerzlicher Wehmut.


    Was die Augen dem lyrischen Ich zu sagen haben, dieses „Sieh uns nur an…“, deklamiert die Singstimme auf einer zunächst in tiefer Lage fallenden und harmonisch nach Ges-Dur rückenden melodischen Linie. Diese geht aber dann, weil das baldige „Fern-Sein“ verkündet wird, in stärker von Sprüngen geprägte Bewegung über und moduliert harmonisch noch weiter nach Ces-Dur. Und wieder kommentiert ein Instrument hier im Nachklang die Melodik: Die Oboe wiederholt eine ganz in Moll gebettete melodische Bewegung, mit der sie die Singstimme bei der Deklamation der Worte „gewoben vom verblendenden Geschicke“ (zweiter Vers, zweite Strophe) begleitet hat. Die Harfe begleitet sie dabei mit Arpeggien. Deutlich wird hier, wie überaus kunstvoll Mahler die Liedmusik motivisch durchwoben hat.


    Die melodische Linie auf den Worten „Was dir nur Augen sind in diesen Tagen“ hebt wieder mit einem Dreifachschritt in kleinen Sekunden an, beschreibt danach aber einen ähnlich schwungvollen und am Ende in einem Sekundfall in hoher Lage aufgipfelnden Aufstieg, wie sie das bereits bei den Worten „Daß sich der Strahl bereits zur Heimkehr schicke“ getan hat. Auch hier werden wieder intime innere Beziehungen in der Liedmusik hergestellt. Bei der letzten Liedzeile setzt sich die Dur-Harmonisierung der vorangehenden fort: Die Harmonik moduliert von F- über C- nach D-Dur. Die Kinderaugen sind in die harmonisch klare Ferne der „Nächte“ gerückt. Und die melodische Linie bringt dies nach dem zweifachen, in eine Dehnung mündenden verminderten Quintfall auf den Worten „in künft´gen Nächten“ mit einem lang gedehnten, legato vorgetragenen Doppel von Terz- und Quartfall bei dem Wort „Sternen“ zum Ausdruck. Er ist in D-Dur harmonisiert.


    Was das Nachspiel zu sagen hat, wundert gar nicht mehr. Das musste kommen: Das nun von den Streichern und den Bläsern zusammen zum Erklingen gebrachte, also geradezu mächtig auftretende akkordische Leitmotiv. Ihm folgt das Anstiegsmotiv der melodischen Linie in kleinen Sekunden, vorgetragen von den Flöten und den Violinen. Und während die Harfe ein aus tiefer in sehr hohe Lage aufsteigendes Arpeggio erklingen lässt, moduliert ein von den Violinen, den Flöten und den Klarinetten gebildeter dissonanter Vorhalt zu einem c-Moll-Akkord, der morendo im Pianissimo erstirbt.

  • Der Mahler-Kenner und –liebhaber wird dieses Lied als Inbegriff und Kulmination des Geistes seiner Musik hören und in sich aufnehmen. Vor allem das Motiv, das die Celli im Zusammenspiel mit den Violen, den Klarinetten und den Fagotten im Vorspiel aufklingen lassen, das Wagnersche Harmonik atmet, zugleich an das Adagietto der Fünften Symphonie erinnert und sich als klanglich zentrales und die Liedmusik prägendes Element erweist, mag beim Hörer eine solche Reaktion auslösen. Aber seine Bedeutung erschöpft sich nicht in diesen Assoziationen, so faszinierend und in Bann schlagend sie auch sein mögen. Hier ereignet sich etwas nicht nur für dieses Lied Programmatisches, sondern darüber hinaus für Mahlers Liedmusik Typisches: Die Auslotung der semantischen Tiefe eines lyrischen Textes mit den Mitteln der Harmonik.


    Bemerkenswert an diesem Lied ist ja - was bei seiner obigen Vorstellung im einzelnen aufzuzeigen versucht wurde -, dass fast bis zum Ende seine Tonika, das c-Moll also, ihre Funktion als klangliches Fundament nicht auszuüben vermag. Die Harmonisierung der melodischen Linie der Singstimme scheint sie regelrecht zu meiden. Aber vielleicht sollte man eher sagen: Sie scheint sie, nach dem Verlust, der sich am Anfang ereignet, zu suchen und nicht mehr zu finden. Die Tonarten, die sie wie gleichsam herumirrend durchläuft, können hier gar nicht alle aufgezählt werden. Allein bei der ersten Strophe sind es: As-Dur, B-Dur, Des-Dur, Ges-Dur, C-Dur, F-Dur, und d-Moll. Moll-Harmonik ist ja durchaus ein wesentlicher klanglicher Raum, in den die melodische Linie bei all ihren Ausbrüchen in die Dur-Sphäre immer wieder zurückfällt, neben d-Moll sind es es-Moll, f-Moll, und h-Moll. Aber c-Moll ist nicht dabei. Das klingt erst im drittletzten Takt auf, im Nachspiel also: Im Arpeggio der Harfe, das von den Violen, den Celli, dem Kontrabass, der Flöten, den Klarinetten und den Fagotten mit mehr oder weniger lang gehaltenen Einzeltönen und Akkorden begleitet wird.


    Diese eigenartige und dieses Lied in seinem klanglichen Charakter so stark prägende harmonische Unbestimmtheit wird in gleichsam programmatischer Weise von dem Cello-Anfangsmotiv mit seinen schweifenden chromatischen Rückungen vorgegeben. Und fragt man sich nach Gründen, die Mahler zu dieser kompositorischen Handhabung der Harmonik bewogen haben könnten, dann stößt man alsbald auf die motivische Quelle: Es ist der lyrische Text. Von ihm her gehört und reflektiert, erscheint die harmonische Struktur dieses Liedes wie eine klangliche Inkarnation seiner zentralen Aussage: „Doch ahnt´ ich nicht, weil Nebel mich umschwammen, / Gewoben vom verblendeten Geschicke, / Daß sich der Strahl bereits zur Heimkehr schicke“. Der vom Schicksal des Kindestodes getroffene Mensch versetzt sich zurück in die Vergangenheit, erlebt dabei noch einmal die Begegnung mit den Blicken der Kinder und erfährt sich selbst dabei als „von Nebeln umschwommen“. Er sah nicht, konnte nicht sehen, dass der „Strahl“, der ihm damals aus den Augen entgegenkam, bereits den Tod in sich barg.


    Die Imagination von Vergangenheit, in deren Zentrum der Selbst-Vorwurf damaliger Blindheit steht, ist Gegenstand dieses lyrischen Textes. Letztendlich steht hinter diesem – sachlich gewiss völlig unbegründeten – Selbst-Vorwurf absolute situative Ratlosigkeit, - die Unfähigkeit, den schweren Schicksalsschlag rational und emotional zu bewältigen. Mahlers Liedmusik will die semantische Tiefe des lyrischen Textes voll und ganz ausloten. Das macht ihr ganz spezifisches Wesen aus. Hier – bei diesem Lied – tut sie es, indem sie die absolute Ratlosigkeit eines lyrischen Ichs in Gestalt einer schweifenden, nicht zur Grundtonart findenden und in diesem Sinne gleichsam musikalisch „ratlosen“ Harmonik sinnlich erfahrbar werden lässt.

  • Die Lichtmetaphorik spielt in diesem lyrischen Text eine große Rolle. Die Kinderaugen werden vom lyrischen Ich in der Vergegenwärtigung von Vergangenheit, wie sie sich hier lyrisch ereignet, so erfahren, als würden sie „dunkle Flammen“ sprühen, in deren Strahl sich aber bereits die Heimkehr an den Ort andeutet, von dem alle Strahlen kommen, - eine Erfahrung, die von ihm freilich aus schicksalhafter Verblendung nicht in ihrem wahren Wesen zu erfassen war. Dieses Bild von der „Heimkehr“ enthüllt sich am Ende in seiner ganzen, nämlich die Transzendenz beinhaltenden Dimension: Das Leuchten der Kinderaugen geht in das Leuchten der Sterne über. Das Licht, das im irdischen Dasein aus ihnen kam, hat seine wahre Quelle dort, im himmlisch-ewigen Licht. Und dorthin kehrt es im Tod wieder zurück.


    Achtet man einmal darauf, an welchen Stellen des lyrischen Textes Mahler besondere melodische und harmonische Akzente im Sinne von wiederkehrenden musikalischen Motiven setzt, dann fällt auf: Es ist immer dort der Fall, wo es um diese Lichtmetaphorik geht. Dabei tritt die Chromatik des das Lied einleitenden Cello.-Motivs in ein bemerkenswertes Spannungsverhältnis zur Helle der C-Dur und D-Dur-Harmonik, was sich mehrfach in diesem Lied ereignet und seine ganz besondere, so sehr berührende Expressivität bedingt. Das klanglich sehr beeindruckende - und ja auch dynamisch hochexpressive! - Cello-Motiv von Takt 1 bis 4, das in einen harmonisch unaufgelösten dissonanten Akkord mündet (die Musikwissenschaft spricht hier von einem Doppeldominant-Septnonen-Akkord mit alterierter Quinte) wird nur einmal in der Begleitung der melodischen Linie der Singstimme in einen direkten Bezug zum lyrischen Text gebracht: Bei den wiederholten Worten „O Augen“ (Takte 10-14). Danach erklingt er noch weitere vier Mal, dies aber immer in gleichsam die melodische Linie in deren Pausen kommentierender Form, nämlich in den Takten 19-21, 35-40, 44-47 und 67-71, also am Ende des Liedes.


    Dieses unaufgelöst-dissonante Motiv tritt also immer dort auf, wo der lyrische Text von der Erfahrung des Lichts spricht – oder gesprochen hat -, das dem lyrischen Ich in seiner Imagination von Vergangenheit in den Augen der Kinder begegnete. Bei seinem letzten Erklingen am Schluss des Liedes ist das indirekt auch so, - indirekt insofern, als dieses Licht nun als aus der Transzendenz kommende Verheißung angesprochen ist. Es ist also ganz offensichtlich so, dass dieses Motiv gleichsam an die schmerzlich-leidvolle Situation des lyrischen Ichs gebunden ist und in seiner Chromatik dessen emotionale Befindlichkeit zum Ausdruck bringt.


    Dem stehen jene gegenüber Passagen der Liedmusik, in denen sich eine wie die Erlösung aus der unaufgelöst-chromatischen Moll-Harmonik wirkende Rückung in den Dur-Bereich ereignet, wobei das C-Dur in ganz besonderer Weise diese Wirkung zu entfalten vermag. Und bemerkenswert ist nun, an welchen Stellen des lyrischen Textes sich das ereignet. Es geschieht immer dort, wo die Verheißung der Transzendenz angesprochen wird, also bei den Worten „zur Heimkehr schicke“ (Takt29/30), „ihr wolltet mir mit eurem Leuchten sagen“ (Takte 35-40) und „Was dir nur Augen sind in diesen Tagen, in künft´gen Nächten sind es dir nur Sterne“ (Takte 60-67).


    Mahler hat seine Komposition auf diesen lyrischen Text Rückerts ganz offensichtlich von dessen Lichtmetaphorik her entwickelt und sie in deren Zentrum gestellt. Sie muss ihn also in der Rezeption dieses Textes ganz besonders angesprochen haben. Und man kann das durchaus als kompositorischen Niederschlag seiner religiösen Grundhaltung und Weltanschauung hören und verstehen. Oben, in Beitrag 190 („Mahlers Glaube und Weltanschauung“), wurde darauf hingewiesen, dass diese sehr stark von den Schriften Gustav Theodor Fechners beeinflusst wurde, insbesondere von dem 1851 erschienenen Buch „Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits. Vom Standpunkt der Naturbetrachtung.“ Dort, in Fechners philosophischen Theorien, findet sich genau dieser Gedanke von den tieferen, weil in die Transzendenz weisenden Zusammenhängen von Augen, Gestirnen und Engeln.

  • Wenn dein Mütterlein
    tritt zur Tür herein,
    und den Kopf ich drehe,
    ihr entgegensehe,
    fällt auf ihr Gesicht
    erst der Blick mir nicht,
    sondern auf die Stelle,
    näher, näher nach der Schwelle,
    dort, dort, wo würde dein
    lieb´ Gesichtchen sein,
    wenn du freudenhelle
    trätest mit herein, trätest mit herein
    wie sonst, mein Töchterlein.


    Wenn dein Mütterlein
    tritt zur Tür herein,
    (R.: Wenn zur Tür herein / Tritt dein Mütterlein)
    mit der Kerze Schimmer,
    ist es mir, als immer,
    kämst du mit herein,
    huschtest hinterdrein,
    als wie sonst ins Zimmer!
    O du, o du, des Vaters Zelle,
    ach, zu schnelle, zu schnell
    erlosch´ner Freudenschein, erlosch´ner Freudenschein!
    (R.: O du, der Vaterzelle
    Zu schnelle
    Erlosch´ner Freudenschein!)



    Die lyrische Aussage geht in diesem Gedicht aus einer realiter erlebten Situation hervor, die mit den beiden ersten Versen der beiden Strophen umrissen wird. Allen Versen, die fließend ihre stumpfen Enden überschreiten, liegt indirekt das konditional-temporale „Wenn“ zugrunde, das sich lyrisch-sprachlich zu einem „Dann“ auswächst. Dieses „Dann“ bringt dann die tiefe schmerzliche Erschütterung mit sich, von der die Verse der zweiten Hälfte der Strophen sprechen. Das „Dann“ ist freilich kein reales mehr, es ist eines der retrospektivischen Imagination, und deshalb regiert hier der sprachliche Konjunktiv. Aber die Erinnerungen sind so mächtig, dass sie am Ende realmächtige Gewalt gewinnen: Das lyrische Ich bricht in das laute „O du“ eines schmerzerfüllten Rufes aus.


    Mahlers Vertonung reflektiert in ihrer Faktur sowohl die spezifische, vom Fluss des dreifüßigen, in stumpfer Kadenz endenden Trochäus geprägte sprachliche Struktur der Verse, wie auch das die Binnenstruktur der Strophen konditionierende „Wenn- Dann“. Das Lied ist – infolgedessen – das einzige in diesem Zyklus, das in seiner musikalischen Aussage gleichsam eindimensional ist: Es ergeht sich ausschließlich im Ausdruck des Leidens und der seelischen Schmerzen des lyrischen Ichs, ohne dass eine dimensionale Ausweitung in Gestalt einer Trost spendenden Einbeziehung der transzendenten Perspektive erfolgt, wie das in den um die Lichtmetaphorik kreisenden gedanklichen Passagen der vorangehenden Lieder, aber auch in den beiden nachfolgenden der Fall ist. Diesem Lied kommt insofern eine Sonderstellung in diesem Zyklus zu, und es ist davon auszugehen, dass Mahler es ganz bewusst gleichsam in seine Mitte gesetzt hat.


    Schon im Vorspiel, für das die Vortragsanweisung „schwer, dumpf“ gilt, stimmt das Lied einen eindringlichen Klageton an, der deshalb so schwer lastend, ja bedrückend wirkt, weil die in Moll-Harmonik gebetteten Figuren, die in dominanter Weise von klassischen Klageinstrument Englisch-Horn artikuliert werden, immer wieder in eine Dehnung münden, bevor sie von der nächsten Figur abgelöst werden. Fagotte begleiten dabei das Horn, die Celli lassen pizzicato auf und ab steigende Einzeltöne im Viervierteltakt erklingen, die wie die Andeutung eines Trauermarsches wirken. Die Grundtonart c-Moll moduliert zwar mehrfach, vor allem immer wieder kurz nach G-Dur, sie beherrscht das Vorspiel aber ganz und gar.


    Noch eine Eigenart der Faktur verleiht dem Lied seine so große klangliche Eindringlichkeit: Die melodische Linie weist – vor allem in den ersten Versen der beiden Strophen - eine fast volksliedhaft anmutende Einfachheit auf, dies auch deshalb, weil sich die Figuren, die sich aus den deklamatorischen Schritten bilden, wiederholen. Und nicht nur dies: Das Lied kommt anfänglich als Strophenlied daher: Bis einschließlich zum sechsten Vers sind die melodischen Linien der beiden Strophen identisch. Erst mit den Worten „als wie sonst ins Zimmer“ weicht die Vokallinie der zweiten von der der ersten ab.


    Der tiefere Sinn dessen erschließt sich erst in den zweiten Hälften der Strophen, dort also wo Mahler nicht nur vom Strophenlied abweicht, sondern auch von der damit einhergehenden Orientierung am Volksliedton. Das geschieht jeweils vom siebten Vers der beiden Strophen an und begegnet dem Hörer als Ausbruch aus dem Grundton schlicht-inniger Klage in die Expressivität des Bekenntnisses von Leid und Schmerz. Wobei die zweite Strophe darin noch eine Steigerung mit sich bringt. Lautet die Anweisung Mahlers in der ersten Strophe an dieser Stelle noch „steigernd, nicht eilen“, so heißt es in der zweiten an der entsprechenden: „mit ausbrechendem Schmerz“. Und spätestens hier wird man sich der liedkompositorischen Absicht bewusst, die hinter diesem Griff Mahlers zu der volksliedhaft einfachen und sich am Strophenlied-Prinzip orientierenden Liedsprache der Strophenanfänge steht: Die schlichte Innigkeit des Klagetons wird mit einem Mal, dort, wo das lyrische Ich gleichsam aus sich herausbricht, in der Tiefe seiner an die Existenz rührenden Schmerzlichkeit vernehmlich und erfassbar.


    Die melodische Figur, die auf den beiden ersten Versen der beiden Strophen liegt, entfaltet in ihrer geradezu holzschnittartigen Schlichtheit hohe klangliche Eindringlichkeit: Sie steigt aus sehr tiefer Lage über zwei Quarten und eine Sekunde in mittlere tonale Lage auf und fällt danach wieder über eine Quarte zurück auf den vorletzten Ton, der nun eine Dehnung trägt.. Das wirkt, vor allem weil diese Figur ja wiederholt wird, wie ein Sich-im-Kreise-Drehen eines lyrischen Ichs, das in seinem Schmerz ganz und gar gefangen ist und nicht mehr die Kraft hat, daraus in die laute Klage auszubrechen. Die zweite, ebenfalls sich wiederholende Figur, die auf den Versen drei und vier der beiden Strophen, wirkt wie der neuerliche Ausdruck dieser Grundhaltung und überdies wie eine Bestätigung ihrer subjektiven Ausweglosigkeit. Die Fallbewegung in Sekunden, die die melodische Linie beschreibt, mutet wie erstarrt an, weil die ersten beiden Schritte sich auf der jeweiligen tonalen Ebene wiederholen. Erst beim dritten Schritt geschieht das nicht. Aber dieser Sekundfall ereignet sich nun in melodisch gedehnter Gestalt (zwei halbe Noten), und überdies im zweiten Fall als ein kleiner: Ausdruck tiefer Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit.


    Im Unterschied zur melodischen Linie der Singstimme ist der Orchestersatz in den ersten Hälften der beiden Strophen nicht identisch, er weist jedoch in den wesentlichen, weil den Klang dominierenden Instrumentengruppen deutliche Parallelen auf. Die Celli und die Harfe liefern mit ihrem Auf und Ab von Einzeltönen die rhythmische Grundlage im Sinne eines gleichförmigen, trauermarschähnlichen Voranschreitens. Klanglich dominant und den Klageton intensivierend sind die melodischen Linien, die Fagott, Oboe und Englisch Horn im Zusammenspiel erklingen lassen. Die Figuren, aus denen sich diese melodischen Linien zusammensetzen, haben eine ähnliche rhythmische Grundstruktur wie das Vorspiel, und sie prägen den Geist des Liedes sehr stark: In Sekundschritten bewegen sich Achtel auf und ab oder beschreiben eine bogenförmige Linie, münden am Ende aber immer wieder in eine Dehnung. Die Vokallinie wirkt dabei wie in ein klangliches Bett eingehüllt, das sich aus dem Zusammenspiel klagender Einzelstimmen bildet.


    Zwischen den beiden Strophen und vor dem zweiten Teil der beiden erklingt jeweils ein Zwischenspiel. Das erste wird klanglich stark von den Hörnern geprägt, die eine bogenförmige, z.T. aus verminderten Terzen und Sexten bestehende Bogenlinie erklingen lassen, die am Ende, schon in Begleitung der Singstimme, von Des-Dur nach ges-Moll moduliert. Das Zwischenspiel vor der zweiten Strophe besteht aus klanglichen Motiven des Vorspiels, und dasjenige, das vor dem zweiten Teil der zweiten Strophe erklingt, drückt, weniger als die vorangehenden Orchester-Einlagen, Schmerz und Klage aus. Die Oboe, artikuliert, begleitet von Englisch Horn und Klarinette, eine wellenartig in hohe Lage aufsteigende Folge von Vierteln, die die Flöte dann übernimmt und noch höhere Lage fortführt.
    (Fortsetzung folgt)

  • Mit den Worten „sondern auf die Stelle, / näher, näher nach der Schwelle“ (Vers 7/8 erste Strophe) kommt ein neuer Ton in die melodische Linie. Sie geht von dem Gestus der ruhig-verhaltenen Klage zu einem stärker drängend-expressiven über. Mit der Wiederholung des Wortes „näher“ steigt sie in dicht aufeinander folgenden, nur noch anfangs gedehnten Sekundschritten in hohe Lage auf und gipfelt bei dem Wort „dort“ forte auf einem hohen „F“ auf, bevor sie sich dann langsam wieder in tiefere Lage absenkt. Die Harmonik rückt dabei, permanent zwischen Dur und Moll modulierend, von den Tonarten „As“ über „F“ und b-Moll, bis sie dort, wo die melodische Linie wieder in ruhigere Bewegung übergeht, zu ihrem c-Moll zurückkehrt, das in der gewohnten Weise zur Dominante hin moduliert. Mit den beiden letzten Versen sinkt die melodische Linie in tiefe Lage ab. Bei der Wiederholung der Worte „trätest mit herein“ bewegt sie sich mit Sekundschritten auf und ab im tonalen Raum zwischen einem tiefen „Des“ und einem „H“, und das Wort „Töchterlein“ am Ende wird gar auf einer von einem abgrundtiefen „G“ zu einem „C“ aufsteigenden melodischen Linie deklamiert.


    Nicht nur die Struktur der melodischen Linie hat sich in diesem zweiten Teil der ersten Strophe gewandelt, auch im Orchestersatz ist das der Fall. Das Cello geht hier von seiner Artikulation von schreitend sich auf und ab bewegenden Einzeltönen ab und begleitet, zusammen mit den Violinen, die Singstimme nun in ihren Bewegungen. Später übernehmen dies dann die Fagotte in Gestalt von verminderten Terzenfolgen, dabei von den Flöten und Klarinetten unterstützt. Die Liedmusik lässt hier auf eine höchst eindringliche Weise vernehmen, wie sehr das lyrische Ich von dem imaginierten Bild des an der Seite der Mutter über die Schwelle hereintretenden Kindes innerlich ergriffen wird. Aber das Absinken der melodischen Linie in extrem tiefe Lage deutet an, dass das lyrische Ich dabei um den Tod weiß.


    Seinen Höhepunkt an Expressivität erreicht das Lied mit den letzten Versen der zweiten Strophe: „O du, o du, des Vaters Zelle, / ach, zu schnelle, zu schnell / erlosch´ner Freudenschein, erlosch´ner Freudenschein!“ In der melodischen Linie, die auf dem vorangehenden Vers liegt, deutet sich das Ergriffenwerden des lyrischen Ich von seinen Erinnerungen schon an. Bei den Worten „als wie sonst ins Zimmer“ verlässt die melodische Linie die Figur, die auf der Parallelstelle der ersten Strophe liegt („sondern auf die Stelle“). Sie steigt nun nicht mehr über das Intervall einer Sexte in obere Mittellage empor, sondern beschreibt einen Bogen fast ausschließlich aus Sekundschritten in unterer Mittellage, bei dem sich eine Rückung von d-Moll nach As-Dur ereignet und der eine hohe Anmutung von Innigkeit aufweist (Vortragsanweisung: „innig“). Es folgt als kurzes Zwischenspiel die wellenförmig nach oben steigende melodische Linie der Oboe, die von den Flöten übernommen wird.


    Danach ereignet sich in der melodischen Linie ein ähnlicher Sekund-Anstieg in hohe Lage, wie das schon beim neunten Vers der ersten Strophe geschah. Nur wird die Forte-Aufgipfelung auf dem hohen „F“ direkter angesteuert und die nachfolgende wellenartige Fallbewegung wird legato deklamiert, - das alles unter der Vorgabe: „Mit ausbrechendem Schmerz“. Nun begleiten allein die Streicher die melodische Linie in ihrer Bewegungen, während die Celli und die Kontrabässe sich auf die Artikulation von lang gehaltenen Akkorden, bzw. Einzeltönen beschränken. Das tun sie im Bereich des Pianos, während die Singstimme in den des Fortes vordringt und sich so in einer für dieses Lied ungewöhnlichen Weise klanglich exponiert. Die Harmonik moduliert sehr stark in den Tongeschlechtern Dur und Moll über die Tonarten C, F, B bis nach Des dort, wo sich die melodische Bewegung wieder zu tiefen Lagen hin absenkt.


    Es sind ausschließlich Fallbewegungen in Sekunden und Terzen, auf denen die Worte „ach zu schnell, zu schnell“ deklamiert werden, wobei sich der Ansatz dazu tonal absenkt. Zwar beschreibt die melodische Linie zu dem Wort „schnell“ hin noch einmal einen Quartsprung hin zu einem „G“ in mittlerer Lage, dies aber nur, um danach, bei dem Wort „erlosch´ner“ erneut in einen doppelten Terzfall überzugehen. Bei der Wiederholung der Worte „erlosch´ner Freudenschein“ ereignet sich dies noch einmal, nur dass das Absinken der Vokallinie in noch tiefere Lage erfolgt. Die Silbe „-schein“ trägt dabei jeweils eine Dehnung, was dem Wort einen Akzent verleiht, der die nachfolgende Fallbewegung auf dem Wort „erlosch´ner“ nur noch schmerzlicher werden lässt.


    Die melodische Figur, auf der das Wort „Freudenschein“ zum letzten Mal deklamiert wird, ist identisch mit der, die auf dem Wort „Töchterlein“ am Ende der zweiten Strophe liegt: Ein Aufstieg in drei Legato-Schritten von einem sehr tiefen gedehnten „G“ aus zu einem „C“ in tiefer Lage. Die Celli folgen dem, die Kontrabässe begleiten mit lang gehaltenen Tönen. Die Harmonik, die bei den letzten melodischen Bewegungen im Bereich von c-Moll verblieb, moduliert bei dieser Schlussfigur in überraschender Weise von G-Dur kurz nach C-Dur auf der Silbe „-schein“, die auf einem tiefen „C“ deklamiert wird. Aber schon der nächste Akkord, der sich aus dem Zusammenspiel von Englisch Horn, den übrigen Bläser und der Harfe im Nachspiel ergibt, steht wieder in c-Moll. Gleichsam im Nachklang vernimmt man Motive aus dem Vorspiel und den Zwischenspielen, die „morendo“ erlöschen. Sie tun das am Ende in einem im dreifachen Piano erklingenden und lang gehaltenen G-Dur-Akkord.


    Das ist ein Liedschluss auf der Dominante, - ein gleichsam offener also. Wie sind dieses G-Dur, das hier erklingt, und jenes C-Dur, das nur kurz auf dem letzten Ton der melodischen Linie aufblitzt, zu verstehen? Kommt da doch in dieses Lied, das sich so ganz dem perspektivlosen Schmerz der Trauer überlässt, ein Schimmer von Hoffnung auf Trost? Wenn dem so sein sollte, dann ist es einer des Liedendes, einer der dem Lied selbst nicht eigen ist. Und als Schimmer am Ende verweist er auf das nachfolgende vierte Lied.

  • Lieber Helmut,


    manchmal, wenn mir danach ist (weil Gustav Mahler nicht unbedingt zu meinen Top-Ten gehört und sein und das Liedschaffen anderer Komponisten auch nicht), lese ich hier mit. Und oft, nein, meistens, muss ich wegen der Komplexität des Themas passen. Ich könnte so etwas nicht! Aber gerade deshalb komme ich aus ehrlicher Überzeugung nicht umhin, Dir an dieser Stelle für deine Erläuterungen Dank zu sagen und Respekt zu zollen. Was hier an tiefgründiger Arbeit ans Licht das Tages (oder an die abendliche Lampe) tritt, sind für mich Spitzenleistungen aus Deiner Feder. Dass diese hervorragenden Arbeiten irgendwann einmal im Orkus der Zeit verschwinden werden (?), ist schade...


    Mit Dank
    Musikwanderer Manfred


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Ich muss gestehen, lieber Musikwanderer Manfred: Diese Deine Worte haben mir gut getan! Es ist ein bisschen einsam hier, und da gewinnt jedes Wort, das als Kommentar von außen kommt, hohes Gewicht.


    Zu Deiner Bemerkung den „Orkus der Zeit“ betreffend: Mir kam sofort Dein trockener Kommentar auf die Äußerung von Tapio im Thread „Haben Diskussionsforen im Internet und ihre Nutzer ein Verfallsdatum“ in den Sinn. Tapio meinte: „Alle hier Anwesenden werden in 300 Jahren vergessen sein.“ Daraufhin Du: (Das) „versetzte mich mit der Zahl "300" in Erstaunen - Du kannst nämlich die beiden Nullen streichen...“.
    So ist es!
    Mir ist wohl bewusst, dass das, was wir hier im Forum schreiben, mitsamt all der Mühe und dem Arbeitsaufwand, die damit verbunden sind, eine höchst vergängliche Angelegenheit ist. Dabei spielt übrigens der Sachverhalt, dass das Tamino-Forum ein „Ein-Mann-Unternehmen“ ist, für mich eine durchaus bedeutsame Rolle.
    Ich sehe die Sache aber aus der Perspektive des Alters, dessen Privileg es ist, nicht nur um die Vergänglichkeit zu wissen, sondern sie auch tatsächlich zu leben. Konkret heißt das: Wenn das, was ich am heutigen Tag als Beitrag zum Forum eingebracht habe, für diesen oder jenen Menschen, der Interesse an dem Thema hat, zu einer so oder so gearteten Bereicherung wurde, dann hatte meine Arbeit einen Sinn. Diese Hoffnung genügt mir völlig, und sie trägt mich zum nächsten Tag der Arbeit am Thema.


    Übrigens: Ich hatte, als ich auf Deinen Beitrag stieß, gerade gelesen, was Du heute im Tamino-Opernführer zu Klenaus „Rembrandt vin Rijn“ eingetragen hast. Und gestatte mir die Bemerkung:
    Das, was Du an Arbeit an diesem substantiell höchst gewichtigen Bestandteil des Tamino-Forums leistest, ist von ganz anderem Kaliber als meine Beiträge zum Kunstlied-Thread.

  • Konkret heißt das: Wenn das, was ich am heutigen Tag als Beitrag zum Forum eingebracht habe, für diesen oder jenen Menschen, der Interesse an dem Thema hat, zu einer so oder so gearteten Bereicherung wurde, dann hatte meine Arbeit einen Sinn


    Und sollte sich - was mit Sicherheit nicht der Fall ist - kein Mensch für das Geschreibsel interessieren, dann bleibt immer noch der Posten, dass sich der Autor selbst bereichert; das ist für den Schreibenden ein Punkt, den man nicht unter den Tisch fallen lassen sollte ... so viel Egoismus muss sein!

  • Wenn Du das Wort "Bereicherung" auf das beziehst, was aus der Beschäftigung mit dem Gegenstand eines Threads für den hervorgeht, der ihn betreibt, es also, wie ich das ja auch verstanden habe, nicht auf das Schreiben selbst beziehst, dann hast zu ganz zweifellos recht, lieber hart!
    Das war für mich im Fall von Gustav Mahlers Liedern übrigens in ganz besonderer Weise der Fall. Die Beschäftigung mit ihnen wurde für mich zu einem mich überaus bereichernden Erlebnis.
    Zu den Gründen dafür sollte ich mich vielleicht am Ende, das ja nun naht, noch einmal äußern. Natürlich aus rein sachlicher, nicht persönlicher Perspektive.


    Übrigens: Auch Dir Dank für diesen Beitrag! Und gar gerne wüsste ich, was Du, als großer Kenner des Kunstliedes, von der Liedmusik Gustav Mahlers hältst, wie Du sie einschätzt und was sie Dir zu sagen hat.

  • Gerade sehe ich:
    Der vorangehende Beitrag endete in den Worten „Gar gerne wüsste ich…“.
    Und in diesem Zusammenhang kommt mir in den Sinn:
    Zweiterbass hat sich, worauf ich ja oben schon einmal hinwies, im Thread „Kindertotenlieder“ gründlich und sehr engagiert mit diesem Zyklus auseinandergesetzt und in diesem Zusammenhang hochinteressante Thesen aufgestellt.
    So meinte er dort in Beitrag 32:
    „Ich stolpere immer wieder darüber, warum er für die Kindertotenlieder eine Musiksprache (z. T. identisch) aus seinen anderen Werken übernommen hat?"
    Bemerkenswerterweise versah er das aber mit einem Fragezeichen. Und das vermutlich aus einer Ahnung heraus, dass es vielleicht nicht zutreffen könnte.
    Und diese Ahnung war natürlich berechtigt. Mahlers Liedsprache ist, wie hier aufzuzeigen versucht wurde – und noch wird – , aufgrund ihrer Polyphonie auf der Grundlage eines reduzierten Orchestersatzes eine andere, als sie sich in den - früheren - „anderen Werken“ findet.


    Ich wäre gerne mit zweiterbass in einen Dialog darüber eingetreten. Vor allem darüber, warum er diese vermeintliche Verwendung einer – wie ich ihn verstanden habe – unangebrachten Liedsprache für so bedenklich hält, dass er darüber ins „Stolpern“ geriet.
    Womit ich schon wieder bei dem „Gar gerne wüsste ich…“ gelandet bin.

  • Ich möchte mich noch einmal Helmuts Beitrag 227 zu wenden; dort heißt es:


    Zitat

    Mir ist wohl bewusst, dass das, was wir hier im Forum schreiben, mitsamt all der Mühe und dem Arbeitsaufwand, die damit verbunden sind, eine höchst vergängliche Angelegenheit ist. [...] Wenn das, was ich am heutigen Tag als Beitrag zum Forum eingebracht habe, für diesen oder jenen Menschen, der Interesse an dem Thema hat, zu einer so oder so gearteten Bereicherung wurde, dann hatte meine Arbeit einen Sinn. Diese Hoffnung genügt mir völlig, und sie trägt mich zum nächsten Tag der Arbeit am Thema.


    Das ist sehr schön geschrieben und entspricht auch meiner Einstellung zur Mitarbeit in diesem Forum.


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Hallo Helmut,


    leider fehlt mir die Zeit, auf Deine Beiträge zu den Kindertotenliedern einzugehen - ich werde versuchen, das im Herbst nachzuholen.


    Mein Satz mit dem "?" ist aber so gemeint wie geschrieben, ich hinterfrage nicht meine Meinung. In der Musiksprache der Orchesterfassung der Kindertotenlieder (wieder-)erkenne ich Passagen aus anderen seiner Werke, die ich für die Kindertotenlieder nur dann als passend empfinde, wenn Mahler weniger auf die Empfindungen Rückerts (siehe Texte der Gedichte) eingeht sondern mehr seine Sicht vertont.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Erst mal bin ich froh, dass Du geantwortet hast, lieber zweiterbass. Ich wusste ja, dass Du eine besondere Beziehung zu den „Kindertotenliedern“ hast, und die Tatsache, dass Du dich hier nicht äußerst, weckte in mir die Befürchtung, Du könntest ganz und gar nicht einverstanden sein mit dem, was hier über diese Lieder zu lesen ist.
    Ich sehe: Ich habe Dein Fragezeichen falsch gedeutet: Du beziehst es auf Mahlers Musik selbst. Natürlich hast du recht, wenn Du in den „Kindertotenliedern“ den Geist der Mahler-Musik vernimmst, - auch wenn sie hier aufgrund ihrer polyphonen Anlage einen ganz spezifischen Charakter hat.


    Aus Deiner Bemerkung: „…wenn Mahler weniger auf die Empfindungen Rückerts (siehe Texte der Gedichte) eingeht sondern mehr seine Sicht vertont“ entnehme ich, dass Du in den Liedern weniger die Aussage der lyrischen Texte Rückerts vernimmst, viel mehr hingegen das, was sich bei Mahler in der Rezeption der Gedichte an Gedanken und Emotionen eingestellt hat.
    Das gilt natürlich für jede Komposition auf einen lyrischen Text, für jedes Lied eines jeglichen Komponisten also. Die Frage ist dabei aber: Wird der Komponist mit seiner Musik der Aussage des lyrischen Textes gerecht?


    Diese Frage ist im Falle von Mahler eine hochinteressante, weil bei ihm generell hinter jeder seiner Kompositionen ein sehr hoher subjektiver Aussage-Wille steht. Und das gilt in ganz besonderer Weise für seine Lieder. Er hat – was ich ja versuchte deutlich zu machen – die Gedichte aus „Des Knaben Wunderhorn“ und die aus dem lyrischen Werk Rückerts gerade deshalb ausgewählt, weil er darin gleichsam das poetische „Rohmaterial“ zur Gestaltung der eigenen künstlerischen Aussage mit den Mitteln der Musik sah.


    Gleichwohl reflektieren sie den lyrischen Text in seiner Semantik und Metaphorik durchaus in einer deutlich fassbaren Weise. Und das gilt auch für die „Kindertotenlieder“. Bei dem gerade vorgestellten Lied „Wenn dein Mütterlein“ sieht man es zum Beispiel daran, dass die Vertonung in ihrer Faktur sowohl die spezifische, vom Fluss des dreifüßigen, in stumpfer Kadenz endenden Trochäus geprägte sprachliche Struktur der Verse, wie auch das die Binnenstruktur der Strophen konditionierende „Wenn- Dann“ widerspiegelt. Und sie wird in ihrer Grund-Anlage dem schlichten, gleichsam häuslichen Bild, das Rückert hier lyrisch gestaltet, dadurch in durchaus beeindruckender Weise gerecht, dass sie einen volksliedhaft-schlichten Gestus annimmt: Die melodische Linie auf den Worten „Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein“ atmet in ihrem das Prinzip der Wiederholung nutzenden schlichten Auf und Ab den Geist eines Volksliedes und reflektiert darin das im Zentrum des Gedichts stehende lyrische Bild.
    Und der Schmerz, den der „Vater“ bei der Imagination dieses Bildes empfindet, wird von der Liedmusik Mahlers in – wie ich finde – geradezu erschütternder Weise zum Ausdruck gebracht, - vor allem am Ende des Liedes, bei den Worten „O du, des Vaters Zelle…“. Auch in der emotionalen Dimension wird die Komosition also dem Gedicht Rückerts gerecht.


    Das ist natürlich meine subjektive Beurteilung des Liedes, - wie sie sich aus seiner Rezeption auf der Grundlage der kompositorischen Faktur bei mir eingestellt hat. Will sagen: Darüber kann man diskutieren. Und ich würde mich wirklich freuen, lieber zweiterbass, wenn Du im Herbst vielleicht tatsächlich Zeit und Lust dazu hättest.

  • Lieber Helmut, lieber Manfred, ich melde mich mal zu Wort, um euch in eurem Schreiben zu bekräftigen. Hart hat das schön ausgedrückt, indem er meinte, dass der Schreiber sich erstmal selbst bereichert. Was Mahler angeht, bin ich im Moment aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage, ihn zu hören. Daher werde ich deine Beiträge, lieber Helmut, komplett im Winter ausdrucken und mit der Musik zusammen lesen. Auch wenn ich die musikologischen Ausführungen oft nicht verstehe, ist der Erkenntnisgewinn doch sehr groß; das habe ich z.B. an meinem Lieblingslied von Mahler, "Nicht wiedersehn", schon erfahren.
    Was unseren "musikwanderer" angeht, freue ich mich schon auf unser nächstes Treffen voller Musik; wir wohnen in der gleichen Stadt.

    Was ist der Unterschied zwischen der SPD und der Titanic? Die SPD kann den Eisberg jetzt schon sehen!

  • In Anknüpfung an meinen vorangehenden Beitrag möchte ich zitieren, was Christian Gerhaher zu dem Lied „Wenn dein Mütterlein“ meint (in: „Halb Worte sind´s, halb Melodei“). Ich lese darin eine Bestätigung dessen, was ich gerade dazu ausführte:


    Mahler hat dieses schlichte und schöne Gedicht unglaublich beeindruckend dargestellt. Hier wird mit einer Intensität ein optisch vorstellbares Bild heraufbeschworen, wie ich das nur aus wenigen Liedern – typisch ist das ja besonders für Schubert, beispielsweise in der >Winterreise< - in dieser Intensität kenne. Bis zur Mitte der beiden Strophen gibt es jeweils eine Accelerando-Bewegung, Ausdruck dieser ungeheuren Aufwallung, der Wieder-Bewusstwerdung des schrecklichen Verlustes, und am Ende verlangsamt es sich wieder. Zurück bleibt das unerträgliche Bild der Mutter, die alleine in der Tür steht, während der Vater – so könnte man es sich vorstellen – vom Arbeitstisch aufschaut und da, wo das Kind sonst an der Seite der Mutter stehen würde, aber nicht mehr das Lebendige erblickt.“ (S.111)

    Mit der Einschätzung des Gedichts hat Gerhaher sehr wohl recht. Es ist von einer für Rückert ganz ungewöhnlichen sprachlichen Schlichtheit und Einfachheit. Und gerade das macht es so wahr!

  • Diesem Lied kommt im Rahmen des Zyklus insofern eine Sonderstellung zu, als es dessen Gegenstand direkt thematisiert und auf klanglich schmerzliche Weise in dessen Zentrum vorstößt, ohne dabei die Dimension der Trost spendenden Transzendenz einzubeziehen, wie das bei allen anderen Liedern der Fall ist. In der musikwissenschaftlichen Literatur zu Mahler ist man freilich auf musikalisch-kontextuale Zusammenhänge gestoßen, die ihm angeblich doch eine gleichsam unterschwellige Ausweitung seiner so sehr dem Ausdruck situativ-realen Leidens verhafteten musikalischen Aussage verleihen. So gibt es in diesem Lied Anklänge an Bachs Choral „Herr, nun laß in Frieden“ (BW 337), ebenso solche an den langsamen Satz von Mahlers Vierter Symphonie und an seine “Achte“. Unter Bezugnahme auf Constantin Floros, der meint, man könne das Pizzicato-Motiv von Mahlers „Vierter“ als Variante des Glockenmotivs aus Wagners „Parsifal“ sehen, vertritt Alexander Odefey in seinem Aufsatz über die „Kindertotenlieder“ die These, dieses Lied sei doch „mit einer religiösen Semantik verknüpft“.


    Mir scheint das, mit Verlaub, ein wenig weit hergeholt. Ich bin eher der Auffassung, dass die Größe dieses Liedes gerade darin gründet, dass es sich auf erschütternde, weil absolut trost- und hoffnungslose Weise im musikalischen Ausleben des Leides erschöpft, das sich für das lyrische Ich in der imaginativen Vergegenwärtigung einer vergangenen Lebens-Situation konkretisiert.
    Bach spielt dabei durchaus eine Rolle. Eine ganz wesentliche sogar. Aber nicht im Sinne einer unterschwelligen Einbeziehung des religiösen Gehalts seines Chorals BWV 337, in dem man tatsächlich der melodischen Figur auf den Worten „und den Kopf ich drehe“ und „mit der Kerze Schimmer“ begegnet. Nein, Bachs Polyphonie wird hier zu einem elementaren und fundamentalen liedsprachlichen Medium der musikalischen Aussage. Wobei diese sich gerade darin konstituiert, dass die von Bach inspirierte, aber im Gestus der Volksliedhaftigkeit eingesetzte Polyphonie zwei Mal in diesem Lied auf geradezu schroffe Weise, wie in einer Art musikalischem Bruch, in ganz und gar ungeregelte, geradezu unmäßige Expressivität umschlägt und damit daraus ausbricht.


    Bei den Worten „Wenn dein Mütterlein / Tritt zur Tür herein, / und den Kopf ich drehe, / ihr entgegensehe“ ereignet sich in der Liedmusik harmonisch schlichte, weil diatonische Polyphonie, die überdies in der Einfachheit der melodischen Figuren und ihrer Wiederholung Volksliedhaftigkeit insinuiert. Und in der zweiten Strophe wiederholt sich das ja noch einmal (Takt 40ff.). Die Liedmusik fängt hier in ihrer inneren polyphonen Ordnung und ihrer volkliedhaft-melodischen Schlichtheit eine Situation vergangener Lebenswelt ein, in der ihrerseits alles geordnet war, insofern die verstorbenen Kinder noch gegenwärtig waren, die sie mit Lebens-Sinn erfüllten. In dem Augenblick aber, wo dem lyrischen Ich bewusst wird, dass diese bürgerlich so sinnerfüllte und geordnete Lebenswelt zerstört ist, bricht auch die Liedmusik aus ihrer vorgängigen polyphonen Ordnung aus.


    Das ereignet sich zwei Mal in diesem Lied, nämlich bei den Worten „Dort, dort, wo würde dein lieb´ Gesichtchen sein…“ und „Du, o du, des Vaters Zelle...“ , in den Takten 24 bis 33 und 55 bis 64 also. Und man erfährt es als hochgradig beeindruckendes, den Hörer tief berührendes musikalisches Ereignis, wobei es im zweiten Fall mit einer Steigerung seiner ohnehin schon hohen Expressivität verbunden ist. Diese kommt durch mehrere Faktoren zustande, und alle stellen einen expressionistischen Ausbruch aus der vorangehenden geregelten Polyphonie der Liedmusik dar.
    Unter der – im zweiten Fall - ausdrücklichen Vortragsanweisung „mit ausbrechendem Schmerz“ steigert sich die melodische Linie aus dem Piano, in dem sie sich bislang bewegte, ins Forte. Damit tritt sie in einen markanten, geradezu schroffen Gegensatz zu dem sie begleitenden und sich mit wenigen Instrumenten (B-Klarinette, Viola, Cello und Kontrabass) ins Piano und Pianissimo zurücknehmenden Orchester. Zudem beschreibt sie eine schmerzlich anmutende chromatische Fallbewegung, die einen erstaunlichen tonalen Raum durchläuft: Von einem eingestrichenen hohen „F“ bei „o du“ über das Intervall von 14 Tonstufen (fast zwei Oktaven also) bis hinunter zu einem tiefen „G“, von dem sie sich bei dem Wort „Freudenschein“ nur müde wieder bis zu einem tiefen „C“ hinauf zu bewegen vermag.


    Es ist der liedmusikalische Geist der „Kindertotenlieder“, dem man hier in auf sein Wesen gebrachter Form begegnet. Und es ist – darüber hinaus – der Geist von Mahlers später Musik überhaupt. Der exzellente Mahler-Kenner Hans Heinrich Eggebrecht hat dieses Wesen der Orchesterlied-Sprache Mahlers, die, wie ich denke, in den „Kindertotenliedern“ gleichsam zu sich selbst gefunden hat, in höchst treffender Weise in die Worte gefasst: „Mahlers Orchesterlied ist nicht Lied als >Textgesang mit Begleitung<, sondern ist als Ganzes und in jedem Augenblick der instrumental-musikalische Ausdruck einer textgeborenen Empfindung.“

  • Lieber Helmut,


    Der Zweifel ist ein Beleg für Nachdenken. So zweifelst Du ob Dein Wirken im Forum genügend Beachtung findet. Lass' doch die Zahlen sprechen, die sind klare, im Grunde unwiderlegbare Beweise. Du hast für Deine Vorstellung der Mahler-Lieder nahezu 11.000 Zugriffe. Das ist bei diesem Thema enorm. Du hast dieses Interesse geschaffen und durch die Qualität Deiner Beiträge voll verdient.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Konkret heißt das: Wenn das, was ich am heutigen Tag als Beitrag zum Forum eingebracht habe, für diesen oder jenen Menschen, der Interesse an dem Thema hat, zu einer so oder so gearteten Bereicherung wurde, dann hatte meine Arbeit einen Sinn. Diese Hoffnung genügt mir völlig, und sie trägt mich zum nächsten Tag der Arbeit am Thema.


    Lieber Helmut,


    Deine Arbeit hat großen Sinn, sie bereichert, mehrt Wissen, schenkt sogar Glück, weil sie Vieles an Musik überaus erst verständlich macht und einen vertieften Zugang ermöglicht. Auch wenn mir beruflich bis dato die Zeit fehlt, mich noch mehr einzuarbeiten und zu Wort zu melden -auch ich gedenke, dies nachzuholen- wisse mich dennoch als Leser immer dankbar und aufmerksam an Deiner Seite!


    Herzlichst


    Dein Don Gaiferos

  • Dank für eure Worte, lieber operus und Don Gaiferos!
    Wichtig aber ist mir noch dieses: Ich habe mich nirgends über "mangelnde Beachtung" meiner Betätigung in diesem Thread beklagt. Das kann gar nicht sein, weil ich dergleichen nie gedacht und empfunden habe.
    Was ich oben in den kleinen Beiträgen, auf die operus Bezug nimmt, zum Ausdruck brachte, war der Wunsch nach einer dialogischen Auseinandersetzung über die Lieder Gustav Mahlers. Und der resultierte aus dem Wissen, dass es in diesem Forum eine ganze Reihe von Leuten gibt, die eine Menge Ahnung von Gustav Mahler haben und seine Musik und seine Lieder nicht nur lieben, sondern auch sehr gut kennen.
    Die "Liebe" zwar vielleicht nicht, wohl aber die "Ahnung", das Wissen also, dürfte bei einigen davon größer sein als die meinige. Also ist dieser Wunsch doch wohl, wenn nicht berechtigt, so doch wohl verständlich.
    Denke ich. Und das aus rein sachlichen Gründen!

  • Oft denk´ ich, sie sind nur ausgegangen!
    Bald werden sie wieder nach Hause (R.: nach Haus) gelangen!)
    Der Tag ist schön! O, sei nicht bang!
    Sie machen nur einen weiten Gang. (R.: weitern Gang)


    Jawohl, sie sind nur ausgegangen
    Und werden jetzt nach Hause (R.: Nach Haus) gelangen! )
    O, sei nicht bang, der Tag ist schön!
    Sie machen nur den Gang (R.: machen den Gang) zu jenen Höh´n!


    Sie sind uns nur vorausgegangen
    Und werden nicht wieder (R.: werden nicht hier) nach Haus verlangen!)
    Wir holen sie ein auf jenen Höh´n
    Im Sonnenschein! Der Tag ist schön auf jenen Höh´n!
    (R.: Im Sonnenschein, der Tag ist schön)
    (Rückert hat keine Ausrufezeichen)


    Es sind Bekenntnisse des lyrischen Ichs, von denen dieses Gedicht spricht, - eine Offenlegung seines Innern, das um eine Bewältigung des „Unglücks“ ringt, das über es hereingebrochen ist. Es redet sich in einer Art Autosuggestion ein, die Kinder seien nur ausgegangen und kämen bald wieder zurück. Der Tag sei doch so schon, wie könne sich darin ein Unglück ereignen. Wie eine Bekräftigung dieses autosuggestiven Vorgangs wirkt das lyrisch so deplaziert daherkommende, weil umgangssprachliche „Jawohl“ am Beginn der zweiten Strophe. In dieser aber kommt schon das Bild von den (fernen) „Höh´n“ in die Vorstellungen, mit denen das Ich einen Ausweg aus der Verstrickung in den seelischen Schmerz zu finden versucht.


    Und wie hilflos es sich darin zeigt, wie sehr es im Grunde weiß, dass all diese der Selbsthilfe dienenden Vorstellungen im Grunde eine Flucht aus der Realität sind, lässt die dritte Strophe erkennen. Die „Höh´n“ wandeln sich mit einem Mal von realen Gebilden zu solchen der Transzendenz. Das lyrische Ich wird sich der Tatsache bewusst, dass das „Ausgehen“ tatsächlich ein Davongehen in den Tod ist, will aber von der Suche nach Trost in einer hilfreichen Vorstellung nicht ablassen und macht die „Höh´n“ zu solch verlockend schönen Gefilden, dass die Kinder von dort gar nicht mehr zurück nach Hause – in die irdische Welt – wollen. Die autosuggestive Wendung „Der Tag ist schön“ wird nun auch auf jene anderen „Höh´n“ jenseits der realen Welt bezogen, es ereignet sich also in diesem Gedicht am Ende ein Transzendieren der realen Welt mit dem Wunsch und der Hoffnung, dass es dort ein Wiedersehen mit den Kindern gibt.


    In diesem Gedicht Rückerts gibt es also kein wirkliches Sich-Stellen der Faktizität des Kindstodes. Die Transponierung der lyrischen Bilder mit anfänglichem Realbezug in die Sphäre der Transzendenz beinhaltet eine Fortsetzung jener autosuggestiven Flucht in vermeintlich Erlösung bringende Vorstellungen. Der Quell des seelischen Schmerzes und der Trauer bleibt untergründig weiter aktiv. Und dies lässt auch Mahlers Vertonung dieser Verse ganz deutlich vernehmen. Das Lied ist in auffälliger Weise auf klangliche Wärme abgestellt. Nicht nur, dass sich in der Partitur vier Mal die Anweisung „warm“ und drei Mal „zart“ findet, es sind vor allem die zahlreichen Sexten- und Terzenparallelen, die das Klangbild maßgeblich prägen. Sie finden sich in sechzig der insgesamt 71 Takte des Liedes. Aber sein Klangbild erschöpft sich nicht in dieser klanglichen Wärme. Die melodische Linie entfaltet sich in allen drei Strophen in einer Art Polarität der beiden Tongeschlechter. Bevor die Harmonisierung mit dem jeweils dritten Vers zum Tongeschlecht Dur hin wechselt, ist die bei den beiden ersten Versen an es-Moll gebunden, das mit der Dominante B-Dur moduliert. Und auch das Vorspiel schlägt im sechsten Takt nach es-Moll um.


    Die Komposition ist stark strophenliedartig angelegt. Zwar weist der Orchestersatz von Strophe zu Strophe Modifikationen auf, die harmonischen Modulationen bleiben aber gleich. Und auch die melodische Linie weist in den beiden ersten Strophen nur minimale, für ihre Aussage nicht wirklich relevante Unterschiede in der Struktur auf. Erst in der dritten Strophe weicht sie darin von den beiden vorangehenden Strophen ab, dies aber erst im letzten Vers. Man kann sich also bei einer liedanalytischen Betrachtung darauf beschränken, die melodische Linie in ihrer strophischen Grundstruktur zu beschreiben und zu interpretieren, um sich alsdann auf die Abweichungen davon einzulassen und nach deren Relevanz im Hinblick auf die musikalische Aussage zu fragen.


    Den Grundcharakter der melodischen Linie der drei Strophen könnte man vielleicht mit den Worten beschreiben: Sie will sich lösen von der Bindung an die tiefe tonale Lage und das das damit verbundene es-Moll und strebt hinauf in höhere tonale Gefilde und die Harmonisierung mit dem Tongeschlecht Dur. Insofern reflektiert sie in diesem ihrem Wesen das lyrische Ich in seinem Bestreben, aus seinem tiefen Leid herauszufinden, indem es sich Wunschvorstellungen überlässt, Bei der ersten Melodiezeile gelingt dieses Sich-Erheben noch nicht. Sie setzt auftaktig auf einem tiefen „B“ ein, beschreibt dann einen verminderten Sextsprung, der sie auf die Ebene eines „Ges“ in mittlerer Lage führt. Über diese aber vermag es nicht mehr hinauszukommen, sie geht vielmehr bei den Worten „sie sind nur ausgegangen in Sekundschritten wieder abwärts, erhebt sich zwar noch einmal kurz, um aber am Ende über einen Quintfall wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren. Immerhin ist diese Fallbewegung mit einer Rückung von dem anfänglichen es-Moll in die Dominante „B“ verbunden. Aber diese melodische Linie mutet an, als „denke“ das lyrische Ich zwar an dieses Nur-ausgegangen-Sein, wisse es aber im Grunde besser.


    Bemerkenswert ist, dass die zweite Melodiezeile mit dem gleichen verminderten Sextsprung einsetzt, der sie, in es-Moll harmonisiert, wieder auf die Ebene des „Ges“ hebt. Nun aber geht sie nicht mehr in eine Fallbewegung über, sondern steigt über einen neuerlichen Sprung, dieses Mal sogar über eine kleine Septe, in die Lage eines hohen „Des“ empor. Verbunden ist dieser Aufstieg mit einer Rückung in den Dur-Bereich von Des und Ges, die dieses Mal bis zum Ende der Zeile konstant bleibt. Zwar beschreibt die melodische Linie in ihrer zweiten Hälfte wieder eine Fallbewegung, diese führt sie aber nicht mehr zurück zum Ausgangspunkt, sondern ist eine nur gleichsam vorübergehende, denn sie endet bei dem Wort „ausgegangen“ in Gestalt einer Dehnung auf der Ebene der Oktave zu ihrem Einstieg bei der ersten Zeile. In dieser Gestalt reflektiert die Melodik die Haltung des lyrischen Ichs, das sich in diesem Augenblick einredet, die Kinder kämen alsbald wieder nach Hause zurück.


    Auch in den Sextenparallelen, mit denen die Fagotte und die Violinen die Singstimme begleiten, während sich die Celli ein Auf und Ab von Achteln in mittlerer tonaler Lage erklingen lassen, ereignet sich diese Umkehr der Bewegungsrichtung. Zunächst artikulieren die Fagotte zweimal eine fallende Linie von Sexten, bei dem Wort „ausgegangen“ folgen dann aber zwei Dreiergruppen von aufsteigenden Sexten. Auch die Violen lassen Figuren aus in Sekunden und einer Terz aufsteigenden Achteln und halben Noten erklingen, und die Celli gehen zur Pizzicato-Artikulation von Einzeltönen über.


    Bei den Worten „Der Tag ist schön! O sei nicht bang“ ist dann die Befreiung der melodischen Linie aus den Tiefen der Moll-Chromatik voll und ganz gelungen. In As-Dur Harmonisierung beschreibt sie einen mit einem Sekundsprung einsetzenden und partiell gedehnten Bogen, für dessen Vortrag die Anweisung „zart“ gilt. Seine einschmeichelnde Lieblichkeit wird von den Flöten noch gesteigert, indem sie der Bewegung mit Terzen folgen. Auch die Violinen beschreiben genau den Bogen, den die melodische Linie nimmt. Mehr Harmonie geht nicht, - der Tag soll eben schön sein, nicht nur in der realen Außenwelt, sondern auch im Innern des lyrischen Ichs.


    Bei dem nachfolgenden zweiten Bogen auf den Worten „O sei nicht bang!“ steigt die melodische Linie nun, da das melodische Ich sich ja gleichsam ermahnt, in etwas energischeren Schritten, über das Intervall von Terzen nämlich, in noch höhere Lage empor, und die Harmonik rückt vorübergehend in den Bereich eines verminderten „Ges“. Das „bang-Sein“ ist ja da, es muss nur weggeredet werden. Und so ist denn den fallende Teil dieses kleinen Bogens auch schon wieder in B-Dur harmonisiert, und die Linie fällt bei dem Wort „bang“ auch nicht auf ihren Ausgangspunkt zurück, sondern endet auf der Terz darüber, bevor die Singstimme zur Deklamation der letzten Melodiezeile der Strophe ansetzt. – jene auf den Worten „Sie machen nur einen weiten Gang“.


    Sie soll „warm“ vorgetragen werden. Und die Hörner tun alles, um diese klangliche Wärme noch zu erhöhen: Sie folgen der Bewegung der melodischen Linie mit Sextenparallelen. Ihr klanglicher Reiz wurzel darin, dass sie in einer wellenartigen, um eine Sekunde steigenden und wieder fallenenden Bewegung einsetzt und dann zu dem Wort „weiten“ hin einen Sekundsprung zu einem hohen, ein Portato-Zeichen tragenden „D“ beschreibt, von dem aus sie dann wieder in einen Fall übergeht, der am Ende über eine Quarte erfolgt. Die Harmonik moduliert dabei von Es-Dur nach der Dominante „B“. In dem nachfolgenden, zur zweiten Strophe überleitenden Zwischenspiel greifen die Oboen zusammenmit den Streichern diese wellenartige Bewegung der melodischen Linie auf und führen sie weiter. Am Ende mündet dieses zunächst weiter in der Dominante verbleibende Zwischenspiel in die Tonika es-Moll, und die Singstimme kann darin erneut mit der Deklamation der schon bekannten melodischen Linie einsetzen, an deren Anfang der verminderte Sextsprung von einem tiefen „B“ zu einem „Ges“ steht.
    (Fortsetzung folgt)