Johannes Brahms. Seine Lieder, gehört und betrachtet im Bemühen, ihr Wesen zu erfassen

  • Und ich werde im Umkehrschluss, lieber Helmut, wenn ich darf, von jedem Brahms- oder Schubert-Lied, das ich im "Tamino bei Nacht"-Thread einstelle, einen Link zu einem deiner aktuellen Threads einstellen, wenn ich darf.. Für heute in der Nacht hatte ich heute Nachmittag schon auf dieser Seite ein Lied gefunden gefunden, das du unter Beitrag Nr. 78 besprochen hast. Ich habe es in meiner Sammlung mit Michael Nagy, Bariton und Helmut Deutsch am Klavier.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • "wenn ich darf.. "


    Ach du liebe Zeit! Wieso das denn, lieber Willi? Dieses Wort "dürfen"?
    Nichts lieber und besser als das! Es geschieht ja doch im Geist des kommunikativen Verkehrs miteinander in diesem Forum. Und zum Wohl und Gelingen desselben!

  • August von Platen: „Du sprichst, daß ich mich täuschte“


    Du sprichst, daß ich mich täuschte,
    Beschworst so hoch und hehr,
    Ich weiß ja doch, du liebtest,
    Allein du liebst nicht mehr!


    Dein schönes Auge brannte,
    Die Küsse brannten sehr,
    Du liebtest mich, bekenn es,
    Allein du liebst nicht mehr!


    Ich zähle nicht auf neue,
    Getreue Wiederkehr:
    Gesteh nur, daß du liebtest,
    Und liebe mich nicht mehr!


    Es mag die wirre, zwischen konträren Haltungen umher taumelnde Seelenlage dieses lyrischen Ichs gewesen sein, die Brahms reizte, sie mit einer Vertonung dieser Platen-Verse einzufangen und musikalische Gestalt annehmen zu lassen. Dieser Mensch liebt den, den er anspricht, immer noch, aber am Ende dieser Ansprache fordert er ihn auf, ihn nicht mehr zu lieben. Er will nur das Geständnis, dass es ehedem eine auf ihn bezogene Liebe beim Anderen gegeben habe. Und er meint dies einzufordern zu dürfen, ja zu müssen, weil er ansonsten das zu verlieren droht, was identitätsstiftender Inhalt seines Lebens ist: Die Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber wenn er behauptet, dass er nicht „auf neue, getreue Wiederkehr“ dessen hoffe, was gewesen ist, so mag man ihm nicht glauben.


    Das Lied, das Brahms auf diese Gedicht komponierte, reflektiert diese Seelenlage mit einer Musik, die sich dem analytischen Blick zwar als recht komplexe darbietet, dem Rezipienten – und das ist typisch für die Brahmssche Liedkomposition – aber als melodisch schlichtes, direktes und deshalb wahrhaftiges Sich-Aussprechen eines lyrischen Ichs begegnet. Die Komposition weist einen Viervierteltakt auf, die Grundtonartist c-Moll, und das Lied soll „Andante con moto“ vorgetragen werden. Dem viertataktigen Vorspiel, in dem die Singstimme am Ende auftaktig einsetzt, kommt eine wichtige Funktion zu: Nicht nur dass es zweimal als Zwischenspiel wiederkehrt und mit einem wesentlichen Teil die Singstimme am Ende begleitet, die beiden maßgeblichen Figuren, aus denen sich die melodische Linie aufbaut, sind in ihrer Grundstruktur in ihm vorgegeben, so dass man gar von einer Schlüssel-Funktion sprechen kann.


    Eine die Klanglichkeit des Liedes stark prägende Funktion geht überdies von ihm aus. Aus hoher Lage fallen, in c-Moll harmonisiert, Terzen und Sexten leicht rhythmisiert in mittlere herab und gehen in einen triolischen Achtel-Wirbel über. Im Bass erklingen nach einer Achtelpause einsetzende, also rhythmisch nachschlagende Figuren, die aus einem Achtel und einem Viertel (hier ein Einzelton und eine Oktave) gebildet sind. Sie bilden bei der ersten und der zweiten Strophe zu einem großen Teil die Substanz des Klaviersatzes im Bass und kehren in modifizierter Form als triolische Oktavsprünge in der dritten wieder.


    Eine den klanglichen Charakter des Liedes stark prägende Funktion geht überdies von ihm aus. Aus hoher Lage senken sich, in c-Moll harmonisiert, Terzen und Sexten leicht rhythmisiert in mittlere Lage herab und gehen in ein triolisches Achtel-Auf und Ab über. Im Bass erklingen nach eine Achtelpause einsetzende, also rhythmisch nachschlagende Figuren, die aus einem Achtel und einem Viertel (hier ein Einzelton und eine Oktave) gebildet sind. Sie bilden bei der ersten und der zweiten Strophe zu einem großen Teil die Substanz des Klaviersatzes im Bass und kehren in modifizierter Form und in ihrer Wirkung abgeschwächt als triolische Oktavsprünge in der dritten wieder. Da sie der melodischen Linie wie nachträglich aufgesetzt wirken, empfindet man sie als Akzentuierung von deren Aussage. Und sie finden sich im Klaviersatz ja dort, wo das lyrische Ich in sprachlich konstatierender Weise fundamentale Erfahrungen zum Ausdruck bringt: „Du sprichst, daß ich mich täuschte“, „Dein schönes Auge brannte“, „Die Küsse brannten sehr.“


    In der Melodik schlägt sich die innere Zerrissenheit des lyrischen Ichs in der Weise nieder, dass sie sich aus zwei klanglich konträren Motiven heraus entfaltet: Einerseits ein gleichsam gestisch konstatierendes Motiv, auf der anderen Seite ein von wehmütig-lieblicher Klanglichkeit geprägtes. Und beide erhalten im Klaviersatz eine ihre melodische Aussage akzentuierende Begleitung. In der ersten Strophe folgen sie beide unmittelbar hintereinander. Bei den Worten „Du sprichst, daß ich mich täuschte“ bewegt sich die melodische Linie in Gestalt von Sekundsprüngen im engen Intervall einer Quarte in mittlerer tonaler Lage und endet bei dem Wort „täuschte“ in einer Tonrepetition, der eine Viertelpause folgt. Hier erfährt dieser konstatierende Gestus der melodischen Linie eine ganz besonders starke Akzentuierung dadurch, dass sowohl im Bass, wie auch im Diskant die nachschlagenden Achtel-Viertel-Figuren in akkordischer Gestalt erklingen.. Und das gilt auch für den zweiten Vers der ersten Strophe. Dort tritt zwar durch den Unterton des Vorwurfs bei dem Wort „beschworst“ ein Terzsprung in hoher Lage in die melodische Linie, ihr Grundcharakter bleibt aber erhalten, und ebenso der des Klaviersatzes. Die Harmonik steuert das Ihre dazu bei, indem sie von c-Moll über f-Moll nach G-Dur moduliert und auf diese Weise den Vorhaltungen, die das lyrische Ich hier macht, Nachdruck verleiht.


    Mit den Worten „Ich weiß ja doch, du liebtest“ kommt eine neuer Ton in die Liedmusik: Es ist der des beseligt wehmütigen Schwelgens in Erinnerungen, - und wenn es auch nur imaginativ-fiktive sein mögen. Drei Mal, denn Brahms setzt hier wieder sein Prinzip der Wiederholung zum Zwecke der Ausdruckssteigerung ein, beschreibt die melodische Linie eine ruhige, weil in Gestalt von Viertelnoten erfolgende Fallbewegung in Sekunden, wobei sie jeweils, um ihre Expressivität zu steigern, jeweils eine Terz höher ansetzt. Und weil das in c-Moll- und f-Moll-Harmonisierung geschieht und das Klavier die melodischen Schritte in Diskant und Bass in Terzen und Sexten mittvollzieht, wobei dies im Bass in einem Auf und Ab von Einzeltönen und Terzen erfolgt, geht von all dem die klanglich höchst eindringliche Anmutung wehmütiger Beschwörung von Vergangenheit aus.


    Bei der Wiederholung der Worte „Du liebst nicht mehr“ setzt die melodische Linie auf einem hohen „As“ an und geht in einen Sekundfall über,, der sich am Ende als gedehnter Terzfall mit nachfolgendem Sekundanstieg zu dem Wort „mehr“ hin fortsetzt. Die Fallbewegung wird vom Klavier mit Sexten im Diskant mitvollzogen und in der ihr ohnehin schon eigenen wehmütigen Schmerzlichkeit noch intensiviert, da es sich bei den Sexten um Achtel handelt, die Fallbewegung in ihren Schritten also verdoppelt wird. Bei dem Wort „liebst“ ereignet sich eine Rückung von c-Moll nach Es-Dur, und das Wort „nicht“ erhält einen starken harmonischen Akzent durch einen verminderten Nonen-Akkord.


    Auf den beiden letzten Versen der zweiten Strophe („Du liebtest mich, bekenn es…“) liegt im wesentlichen die gleiche Liedmusik, und auch bei denen der dritten Strohe orientiert sich Brahms an deren Grundstruktur, so dass sie zum eigentlichen klanglichen Zentrum des Liedes wird. Da sich das lyrische Ich hier aber in die Aufforderung an das Du hineinsteigert, es nicht mehr zu lieben, wird die Liedmusik in einer Weise variiert, die ihre sich aus der wehmütigen Erinnerung nährende klangliche Lieblichkeit und Wärme in die Anmutung von Kühle pervertiert. Das ist zweifellos ein musikalisch bedeutsames Ereignis, dem man da als Hörer am Ende des Liedes begegnet. Die melodische Linie beschreibt bei den Worten „Gesteh nur, daß du liebtest“ wieder, nun allerdings auf tieferer tonaler Ebene, die schon bekannte Fallbewegung in Sekunden, die am Ende in einen Sekundsprung übergeht. Bei den Worten „und liebe mich nicht mehr geht die noch einmal in Sekunden und einer Terz fallende Vokallinie bei dem Wort „mehr“, darin abweichend von ihrem bisherigen Gestus, in einen Quintsprung mit nachfolgendem kleinem Sekundfall über, der mit einer Rückung von f-Moll nach b-Moll verbunden ist. In diesem f-Moll ist auch noch die starke und durchaus ausdrucksstarke Dehnung aus Sekundsprung und Quartfall auf dem Wort „liebe“ harmonisiert.


    Danach ereignet sich harmonisch aber Überraschendes. Bei den Worten „liebe mich nicht mehr“ senkt sich die melodische Linie langsam in tiefe Lage ab und erhebt sich am Ende gerade noch einmal um eine Sekunde, um bei dem Wort „mehr“ in eine lange, das Lied beschließende Dehnung überzugehen. Hier hat aber die Harmonik das die Ganze Liedmusik bislang beherrschende Tongeschlecht Moll verlassen und ist nach C-Dur gerückt. Auch wenn das Klavier die Fallbewegung der melodischen Linie wieder mit Terzen und der triolischen Figur aus dem Vorspiel und den Zwischenspielen begleitet, - von der Aufforderung, die sich hier melodisch-lyrisch artikuliert, geht eine gewisse klangliche Kälte aus. Das empfindet man auch von dem C-Dur-Akkord, der am Ende erklingt.

  • Bitteres zu sagen denkst du:
    Aber nun und nimmer kränkst du,
    Ob du noch so böse bist.
    Deine herben Redetaten
    Scheitern an korall´ner Klippe,
    Werden all zu reinen Gnaden,
    Denn sie müssen, um zu schaden,
    Schiffen über eine Lippe,
    Die die Süße selber ist.


    (G.F. Daumer, nach Hafis)


    Bei dem zugrundeliegenden lyrischen Text handelt es sich um eine sich auf ein Hafis-Gedicht stützende Nachdichtung Georg Friedrich Daumers. Das lyrische Ich hält dem Du, das „Bitteres“ zu sagen beabsichtigt, in einer Art liebevollem Spott entgegen, dass ihm das gar nicht gelingen könne, weil alles derbe Reden über Lippen gehen muss, deren Süße den Worten zwangsläufig ihre Bitternis nimmt. Das ist eine lyrische Grundkonstellation, die in ihrer Ambivalenz - hier das liebend-liebevolle Ich, dort das sich bitter und derb gebende Du - Brahms gereizt haben mag, sie eben darin liedmusikalisch einzufangen. Und man muss sich gar nicht mit der liedanalytischen Brille bemühen, - der schlichte Höreindruck macht unmittelbar sinnfällig: Das ist ihm in vollkommener Weise gelungen. Dietrich Fischer-Dieskau hat dieses kleine variierte Strophenlied, das in F-Dur als Grundtonart steht und einen Viervierteltakt aufweist, völlig zu Recht als „musikalisches Juwel“ bezeichnet, das bei Brahms-Liederabenden aber „meist übergangen“ werde.


    Brahms will es „Con moto, espressivo ma grazioso“ vorgetragen wissen, und damit trifft er das liedmusikalisches Wesen dieser Komposition sehr genau. Die Liedmusik changiert auf überaus reizvolle Weise zwischen klanglicher Süße und leicht bitter anmutender Herbheit. Wobei, und das ist durchaus bemerkenswert, sich im Höreindruck die Süße als überwiegend darbietet, so dass man meinen möchte, Brahms habe sich vom letzten lyrischen Bild, dem von der Macht, die von der Süße der Lippen ausgeht, so sehr überwältigt gefühlt, dass er die Komposition von ihm aus konzipiert und in ihren Details gestaltet hat. Der Liedschluss ergeht sich jedenfalls mit seinen schlichten harmonischen Rückungen zwischen Tonika und Dominante in geradezu konventionell anmutender klanglicher Schönheit, - ein Sachverhalt, der D. Fischer-Dieskau zu kritischer Anmerkung genötigt hat. Das ist aber wohl unangebracht, denn dem geht eine durchaus modulatorisch komplexe Harmonisierung der harmonischen Linie der Singstimme voraus, die man als Reflex des Bildes vom sich in Bitternis ergehenden lyrischen Du verstehen kann. Die klangliche Süße des Liedschlusses wäre von daher eine von der Aussage des lyrischen Textes her geradezu notwendige liedkompositorische Konsequenz.


    Im zweitaktigen Vorspiel gibt das Klavier im Diskant in Gestalt von Terzen und dreistimmigen Akkorden die melodische Linie der Singstimme vor, mit der beide Strophen einsetzen. Im Bass erklingen aufsteigende Achtel, die am Ende in einen Fall über ein großes Intervall übergehen. Das ist die Grundstruktur des Klaviersatzes über das ganze Lied in: Mit nur wenigen Ausnahmen begleitet das Klavier mit zwei- bis dreistimmigen Akkorden die Bewegung der melodischen Linie, und im Bass artikuliert es Figuren, die zumeist aus einer nach oben steigenden Kette von Achteln, da und dort aber auch aus einem Auf und Ab von jeweils drei Achteln bestehen. Die Funktion des Klaviers beschränkt sich also darauf, die Singstimme zu tragen, zu begleiten und ihr die klanglich-harmonischen Akzente zu verleihen, aus denen sich allererst ihre Aussage vollinhaltlich konstituiert.


    Dass Brahms in der Gestaltung des Klaviersatzes durchaus differenziert verfährt, ist an der Wiederholung der Worte „Scheitern an korall´ ner Klippe“ zu vernehmen. Ihnen misst er großes Gewicht für die musikalische Aussage des Liedes zu, deshalb die Wiederholung. Sie geschieht in Gestalt einer gleichsam gedehnten und auf die Grundstruktur reduzierten Fassung der melodischen Linie, in der diese Worte beim ersten Mal deklamiert werden. Weil dies mittels deklamatorischer Schritte in Gestalt von halben und Viertelnoten erfolgt und überdies noch Viertelpausen eingeschoben sind, erhält jeder Schritt ein starkes Gewicht. Und das Klavier verhält sich dementsprechend: Es lässt eine Folge von auf der tonalen Ebene verharrenden dreistimmig-punktierten Viertel-Akkorden und Achtel-Akkorden erklingen und geht erst dann wieder dazu über, die melodische Linie in ihren Bewegungen zu begleiten, wenn diese ihren Bogen auf dem Wort „korall´ ner“ beschreibt.


    Beim ersten Vers der ersten (und der zweiten) Strophe setzt die melodische Linie mit einer Tonrepetition in mittlerer Lage ein, die dem Wort „Bitteres“ dadurch einen Akzent verleiht, dass auf ihm eine Tonrepetition liegt, bei der der erste Ton eine Dehnung trägt. Zu dem Wort „sagen“ hin gipfelt sie mit zwei Terzsprüngen auf und senkt sich danach in Sekunden ab. Die Aufgipfelung ist mit einer Rückung in die Dominante verbunden, so dass man einen leichten Vorwurf herauszuhören meint. Das am Ende in einen Quartfall mündende Auf und Ab in hoher Lage, das die melodische Linie bei den nachfolgenden Worten „Aber nun und nimmer kränkst du“ beschreibt, wobei die Harmonik in den Bereich der Subdominante „B“ rückt und dort chromatisch gebrochen wird, empfindet man als Bestätigung dieses Eindrucks. Das lyrische Ich fühlt sich durch das Verhalten des Du verletzt und wehrt sich dagegen, indem es sich in einer melodischen Linie artikuliert, die energische Sprung- und Fallbewegungen aufweist.


    Gleichwohl schlägt die Schmerzlichkeit der Erfahrungen dann doch durch, - wenn auch nur kurz. Bei den Worten „Ob du noch so böse bist“ beschreibt die melodische Linie zwei Fallbewegungen, die mit permanenten harmonischen Rückungen in z.T. verminderter Form von der Tonart „As“ über „B“ nach „C“ verbunden sind. Die sich in kleinen und großen Sekunden absenkenden deklamatorischen Schritte auf den Worten „böse bist“ werden in der eintaktigen Pause für die Singstimme vom Klavier in Gestalt von dreistimmigen Akkorden im Diskant noch einmal nachvollzogen. Auch in der Harmonisierung der melodischen Linie auf den Worten „Deine herben Redetaten / Scheitern an korall´ner Klippe“ ereignen sich Rückungen, die die Empfindungen, die sich für das lyrische Ich mit eben dieser Herbheit des Du verbinden, reflektieren. Sie reichen von C-Dur über f-Moll, Des-Dur, Es-Dur bis nach B-Dur am Ende. Die melodische Linie beschreibt wieder, wie am Liedanfang, aus Tonrepetitionen hervorgehende Sprungbewegungen, die man als Geste des Widerspruchs gegenüber dem Du empfindet.


    Die zweite Strophe weist in der Liedmusik derart starke Variationen auf, dass, gäbe es da nicht die bis zu den Worten „denn sie müssen“ reichende Identität in der Faktur mit der ersten, gar nicht von einem „variierten Strophenlied“ sprechen könnte. Es gibt aber auch noch gewisse Ähnlichkeit in der Struktur der melodischen Linie bei den Worten „Denn sie müssen, um zu schaden, / Schiffen über deine Lippe“. Sie beschreibt wieder ausgeprägte Fall- und Sprungbewegungen, die mit harmonischen Modulationen gekoppelt sind. Aber der Grundton des Vorwurfs mindert sich mehr und mehr und geht in dem Augenblick, wo die „Süße“ der Lippen zur Sprache kommt, in ausgeprägte klangliche Lieblichkeit über. Nach einem Sekund- und Terzanstieg, dem das Klavier im Diskant mit dreistimmigen Akkorden folgt und der nun in F- und B-Dur harmonisiert ist, beschreibt die melodische Linie bei dem Wort „selber“ einen expressiven Sextfall. Und um das noch zu steigern, greift Brahms wieder zur Wiederholung und lässt die Worte „die Süße selber ist“ auf einer Kombination von gedehntem, weil in Gestalt von halben Noten erfolgendem Sept- und Sextfall deklamieren, die das Klavier mit lang gehaltenen Akkorden im Diskant und aufsteigenden Achtel-Ketten im Bass begleitet. Dabei ereignet sich eine alles in Wohlklang bettende harmonische Rückung von der Dominante in die Tonika.

  • Hier im Nachtrag ein Link zu einer gesanglichen Interpretation des vorangehend besprochenen Liedes "Bitteres zu sagen denkst du". Es ist leider nicht angegeben, um welche Sängerin es sich hier handelt, die Interpretation scheint mir aber durchaus gelungen zu sein. Man kann hören, dass Fischer-Dieskau bei diesem Lied zu Recht von einem "musikalischen Juwel" spricht.


    https://www.youtube.com/watch?v=T8vtv42Uz4Q

  • Es ist leider nicht angegeben, um welche Sängerin es sich hier handelt

    Das stimmt nicht ganz unter dem Video steht in klein u.a.:


    Zitat

    "9 Lieder und Gesänge, Op. 32: No. 7, Bitteres zu sagen denkst du" von Lenneke Ruiten & Hans Adolfsen

    Ich denke also, dass Lenneke Ruiten die Sängerin und Hans Adolfsen der Pianist ist. :hello:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Danke für den Hinweis, lieber Stimmenliebhaber. Ich bin nicht so geübt im Umgang mit YouTube und habe jetzt erst die zwei Worte "Mehr anzeigen" entdeckt. Künftig weiß ich´s besser!

  • So stehn wir, ich und meine Weide,
    So leider miteinander beide.


    Nie kann ich ihr was tun zu Liebe,
    Nie kann sie mir was tun zu Leide.


    Sie kränket es, wenn ich die Stirn ihr
    Mit einem Diadem bekleide;
    Ich danke selbst, wie für ein Lächeln
    Der Huld, für ihre Zornbescheide.


    (G.F. Daumer, aus dem Persischen)


    Das lyrische Ich greift in der Absicht, das Verhältnis zwischen ihm und dem geliebten Du in seinem Wesen zu erfassen und zu beschreiben, zu einem wunderlichen Bild: Die Geliebte wird ihm zu einem Wesen, das im Grunde so pflanzenhaft unerreichbar neben ihm steht wie eine Weide. Mit seiner Liebe kann es sie nicht erreichen, sie aber kann ihm auch nicht etwas zuleide tun. Die Aussagen der dritten Strophe wirken wie ein Widerspruch dazu, denn es ist von Gekränkt-Sein des Du die Rede, und von einem Verzeihen all der „Zornbescheide“, die vom Du kommen. Was heißen muss: Die Metapher von der „Weide“ ist eine Übertreibung, hinter der ein Leiden über Mangel an liebevoller Zuwendung vonseiten der Geliebten steht.


    Das lyrische Ur-Thema von der Unüberwindbarkeit der Distanz zwischen Ich und Du, das sich schon in der alt-persischen Literatur des 14. Jahrhunderts findet, hat Brahms ganz offensichtlich angesprochen. Seine Vertonung dieser Verse lässt persönliche Betroffenheit vernehmen: Großer musikalischer Ernst drückt sich in ihr aus. Er gründet wesenhaft in der gewichtigen, weil in deklamatorischen Schritten von halben Notenwerten sich ereignenden Fallbewegung der melodischen Linie, die das Lied einleitet und sich als eine Art Keimzelle der Liedmusik insgesamt erweist. Denn nicht nur die melodische Linie der Singstimme ist in hohem Maße von Fallbewegungen geprägt, dergestalt, dass die einzelnen Zeilen allesamt in solchen enden, auch der Klaviersatz ist es. Kaum hat die Singstimme, ohne Vorspiel, ja sogar in einer anfänglichen Viertelpause für das Klavier, die melodische Fallbewegung auf den Tönen „C-As-F“ deklamiert, lässt das Klavier im Bass gleich zweimal hintereinander, bis in den Anfang der zweiten Melodiezeile reichend, ebenfalls einen doppelten Terzfall in Gestalt von halben Noten erklingen. Und bei der Wiederholung der beiden Anfangsverse, aus der Brahms eine ganze Liedstrophe macht, besteht der Klaviersatz im Bass aus nichts anderem, als der permanenten Wiederholung dieser Fallbewegung von Tönen im Wert von halben Noten über das Intervall einer Terz. Und das setzt sich sogar im fünftaktigen Nachspiel fort.


    Das wiederum lässt vernehmlich werden: Dem Klaviersatz kommt in diesem Lied eine große Bedeutung zu. Sie ist sogar so groß, dass sich daraus eine Art Kontrapunkt in der kompositorischen Anlage ergibt. Einerseits folgt das Klavier im Diskant oft in akkordischer Gestalt den Bewegungen der melodischen Linie und wiederholt sie in den in den drei zweitaktigen Zwischenspielen. Auf der anderen Seite aber setzt es immer wieder dort, wo die melodische Linie eine Fallbewegung beschreibt, ihr im Bass eine aufsteigende oder bogenförmig angelegte Folge von Viertelnoten entgegen. Auch in zwei Zwischenspielen ereignen sich gegenläufige Bewegungen in Bass und Diskant. Der Klaviersatz akzentuiert auf diese Weise die Aussage der melodischen Linie. Und das ist auch angebracht, ist doch das, das sich das lyrische Ich hier von der Seele reden will - bei aller Hilflosigkeit in der dazu verwendeten Metaphorik – von existenzieller Relevanz.


    Jedenfalls hat Brahms diese Verse wohl so aufgefasst. Mag dem lyrischen Text eine gewisse Skurrilität in der Manier des Hafis eigen sein, die Liedmusik von Brahms atmet einen tiefen Ernst. Er tritt dem Hörer gleich in der ersten Melodiezeile entgegen. Auf den Worten „So stehn wir“ senkt sich die melodische Linie, in f-Moll harmonisiert“, schwer und gewichtig, weil in Gestalt von halben Noten deklamiert, über einen doppelten Terzfall von einem „C“ in oberer zu einem „F“ in unterer Mittellage ab. Die nachfolgende Fallbewegung auf den Worten „ich und meine Weide“ lässt, weil sie über fast das gleiche Intervall, aber rascheren Schritten von Vierteln über Sekunden und eine Quarte erfolgt, diese das Lied eröffnende melodische Figur umso gewichtiger erscheinen: Sie weist, weil Brahms dem Wort „so“ das gleiche musikalische Gewicht wie den beiden nachfolgenden Worten zugemessen hat, die Anmutung von einer gleichsam fatalistischen Feststellung auf. Und das Klavier akzentuiert und kommentiert dies, indem es im Bass diesen doppelten Terzfall zweimal wiederholt, darüber aber im Diskant Sprungfiguren aus Einzeltönen und bitonalen Akkorden erklingen lässt, die in ihrem hüpfenden Gestus wie ein Infrage-Stellen, oder doch zumindest ein Relativieren eben dieses Ernstes wirken.


    Aber dieser Ernst setzt sich in der melodischen Linie ja fort. Bei den Worten „So miteinander beide“ wiederholt die melodische Linie ihre Fallbewegung, setzt aber, darin ihre Expressivität steigernd in der tonalen Ebene um eine Terz höher an und geht am Ende bei dem Wort „beide“ in einen, diesem ein geradezu herausragendes Gewicht verleihenden extrem gedehnten, weil taktübergreifenden Quintfall über. Und auch der Klaviersatz und die Harmonik setzten hier bedeutsame Akzente. Das Klavier begleitet die lange Dehnung auf dem Wort „beide“ mit einer lang gehaltenen und sich am Ende zu einer Sexte verengenden Oktave im Bass, und die Harmonik vollzieht an dieser Stelle eine Rückung vom anfänglichen As-Dur über B-Dur nach Es-Dur.


    Und in diesem Zusammenhang ist nun höchst bemerkenswert, dass Brahms, darin über die lyrische Vorlage hinausgehend, nicht nur den ersten Vers in der dritten Liedstrophe noch einmal in Gestalt eines liedmusikalischen Zitats wiederholt, sondern darüber hinaus den zweiten zum Gegenstand einer regelrechten liedmusikalischen Reflexion macht, indem er, die zentrale Aussage „miteinander beide“ noch einmal aufgreifend, in ihren seelischen Dimensionen melodisch auslotet. Im Unterschied zur Fassung in der ersten Strophe legt er nun auf das Wort „miteinander“ zwei gedehnte Doppelschritte, womit es einen stärkeren Akzent erhält. Das ist auch bei der Wiederholung dieser beiden Worte der Fall, allerdings mit einem bemerkenswerten Unterschied. Nun senkt sich die melodische Linie nur noch um eine kleine Sekunde ab, verharrt dort zunächst einmal und beschreibt dann einen Sekundsprung zu einem „C“ in mittlerer Lage, von dem aus sich bei dem Wort „beide“ ein taktübergreifender lang gedehnten Terzfall ereignet.


    Dieses langsame Sich-Herantasten der melodischen Linie in wie zögerlich wirkenden Schritten an den das Lied beschließenden hochexpressiven, weil extrem gedehnten Terzfall auf dem Wort „beide“ ist nicht nur liedkompositorisch genial, - es ist überaus vielsagend, weil es verrät, wie tiefernst Brahms diese zentrale Aussage des lyrischen Textes genommen hat: Die Einsamkeit des Menschen in der Zweisamkeit des „Miteinander-Beide“.

  • Wie bist du, meine Königin,
    Durch sanfte Güte wonnevoll!
    Du lächle nur – Lenzdüfte wehn
    Durch mein Gemüte wonnevoll!


    Frisch aufgeblühter Rosen Glanz,
    Vergleich´ ich ihn dem deinigen?
    Ach, über alles was da blüht
    Ist deine Blüte wonnevoll!


    Durch tote Wüsten wandle hin –
    Und grüne Schatten breiten sich,
    Ob fürchterliche Schwüle dort
    Ohn´ Ende brüte, wonnevoll.


    Laß mich vergehn in deinem Arm!
    Es ist in ihm ja selbst der Tod,
    Ob auch die herbste Todesqual
    Die Brust durchwüte, wonnevoll!


    (G.F. Daumer, nach Hafis)


    Das ist nicht nur das bedeutendste Lied des Opus 32, es ist eine der berühmt gewordenen Kompositionen von Johannes Brahms. Und das zu Recht, denn man kann es durchaus als Inbegriff seiner Liedkomposition bezeichnen, haben doch deren konstitutive Wesensmerkmale darin zu einer vollkommenen Synthese gefunden: Die den Geist des Volksliedes atmende Melodik, die innere Einheit und kompositorische Geschlossenheit bedingende variiert-strophische Gliederung und der die melodische Linie tragende, zugleich darin aber seine Eigenständigkeit wahrende und sie kommentierende und in ihrer Aussage bereichernde Klaviersatz.


    Es ist aber auch unter ganz grundsätzlichen, die liedkompositorische Intention betreffenden Aspekten ein typisches, ein repräsentatives Brahms-Lied. Schon zu seinen Lebzeiten hat man aus Kreisen der neudeutschen Schule an diesem Lied die Nachlässigkeit in Sachen Wortdeklamation kritisiert. Tatsächlich verfährt Brahms diesbezüglich recht nachlässig, und das wäre an sich auch nicht weiter erwähnenswert, stellte es sich nicht als Niederschlag seiner liedkompositorischen Grundhaltung dem lyrischen Text gegenüber dar. Dieser ist für ihn nicht in seiner prosodischen, sprachlich-strukturellen und metaphorischen Gestalt relevant und wird darin gleichsam zu einer Herausforderung für den Entwurf einer adäquaten Liedmusik, wie das bei seinem liedkompositorischen Antipoden Hugo Wolf der Fall ist. Er ist primär und ausschließlich Quell der Inspiration auf kognitiver und vor allem emotionaler Ebene. Und diesen will er mit seiner Liedmusik ausschöpfen, wobei die lyrisch-sprachliche Gestalt, in der er ihm in der Rezeption des jeweiligen Gedichts begegnete, von sekundärer Bedeutung ist. Nicht dass er sie ignorierte, das auf keinen Fall. Aber er will sich ihr nicht unterwerfen auf Kosten dessen, was für ihn den Primat beansprucht: Das ist die alle Emotionen einfangende und sie auf musikalischer Ebene repräsentierende Melodie.


    Und hier, bei diesem Lied, kann man dies auf wahrlich beeindruckende Weise erfahren und erleben. Hier wird gleichsam alles zur sich aus sich selbst heraus entfaltenden und die innere Geschlossenheit suchenden und wahrenden Melodie: Die an das lyrische Wort gebundene und sich daraus generierende Vokallinie und der diesem ebenfalls verpflichtete, gleichwohl darin eigensinnige Klaviersatz. Von der formalen Gestalt her handelt es sich um ein variiertes Strophenlied nach dem Schema „A-A-B-A´“: Erste und zweite Strophe sind in Melodik und Klaviersatz identisch, die dritte besitzt eine eigene, überraschenderweise in vom Tongeschlecht Moll geprägte Faktur, und die vierte Strophe weist in der Liedmusik zum dritten und zum vierten Vers („Ob auch die herbste Todesqual…“) Variationen auf. Grundtonart ist Es-Dur, ein Dreiachteltakt liegt zugrunde, und die Tempovorschrift lautet „Adagio“.


    Der lyrische Text beinhaltet einen Lobpreis der Geliebten in Gestalt von lyrischen Bildern, die zuweilen affektiv übersteigert wirken und sich an der Grenze zur lyrisch-sprachlichen Süßlichkeit bewegen. Brahms, und das ist ja typisch für seine Liedkomposition, stört sich daran nicht. Die literarische Qualität des lyrischen Textes ist für ihn ein sekundärer Aspekt, maßgeblich ist der emotionale Impuls, der von ihm ausgeht. Und der scheint in diesem Fall sehr stark gewesen zu sein. Man darf durchaus vermuten, dass Brahms sich deshalb von diesen Versen so angesprochen fühlte, weil er sich damals stark zu Elisabeth von Stockhausen hingezogen fühlte, der Tochter des Hannoverschen Gesandten in Wien, der er Klavierunterricht erteilte. Sie heiratete später den Komponisten Heinrich von Herzogenberg, und Brahms blieb beiden sein Leben lang in Freundschaft verbunden.


    Alle vier Strophen münden in den Ausruf „Wonnevoll!“, finden darin gleichsam in dem, was sie aussagen ihr Ziel und ihre Erfüllung. Und für Brahms lag, geht man von dem unmittelbaren Eindruck aus, den dieses Lied auf seinen Hörer macht, der Quell der Inspiration ganz offensichtlich in diesem emphatischen, das lyrische Zentrum bildenden Ausruf. Die Liedmusik aller Strophen läuft auf ihn zu, - auch die der dritten, bei der die melodische Linie mit einem in es-Moll harmonisierten und auf dem Hintergrund der vorangehenden melodischen Emphase wie zögerlich-verhalten wirkenden Sekundanstieg in mittlerer Lage einsetzt. Und tatsächlich beschreibt die melodische Linie hier bei dem ersten „wonnevoll“ nicht die ansonsten übliche Kombination aus Terz-und Quartfall, sondern eine – nun in Ges-Dur harmonisierte – Fallbewegung in Gestalt von zwei Terzen. Aber sie wirkt eben deshalb klanglich umso zärtlicher. Und das Klavier unterstützt dies mit „dolce“ auszuführenden in Bass und Diskant gegenläufigen Sechzehntel-Arpeggien.


    Es ist etwas von beseligter Verzückung in der Melodik dieses Liedes. Schon das Klavier wirkt in seinem viertaktigen Vorspiel davon wie beflügelt. Eigentlich singt es schon, bevor die Singstimme selbst damit anfängt. Und es gibt ihr den melodischen Gestus dabei vor. „Molto espressivo e dolce“ lässt es im Diskant eine in zwei Sekundschritten fallende Linie erklingen, die sich drei Mal auf ansteigender tonaler Ebene wiederholt, wobei sie sich mit Sexten, Quinten, Quarten und Terzen klanglich bereichert. Im Bass steigen derweilen Sechzehntel-Arpeggien aus tiefer in hohe Lage empor, und die Harmonik moduliert dabei zwischen der Tonika Es-Dur, Dominante und Subdominante. Die Singstimme übernimmt anschließend die vom Klavier vorgegebene Fallbewegung, stimmt gleichsam in sie ein und setzt sie mit einem Quartfall bei dem Wort „Königin“, der in danach einen doppelten Sekundanstieg übergeht, nach unten fort. Das Klavier folgt ihr darin mit Achteln im Diskant und begleitet mit aufsteigenden Sechzehnteln im Bass, die bei dem Wort „Königin“ in ein Auf und Ab übergehen.


    Dies die sachlich-nüchterne Beschreibung der kompositorischen Faktur der ersten Melodiezeile. Was sich hier liedmusikalisch ereignet, ist damit noch nicht erfasst. Das ist auch letztendlich nicht möglich: Die klangliche Faszination, die von dieser und den nachfolgenden Melodiezeilen ausgeht, lässt sich mit Worten nicht fassen. Immerhin erschließt sich aber dieses dem liedanalytischen Blick: Die Eigengesetzlichkeit der Melodik setzt sich über die sprachliche Struktur des lyrischen Textes hinweg, so als müsse sie ihn für sich vereinnahmen, weil der Geist ihrer Kantilene das so fordert, um sich selbst in einer Schönheit zu bewahren.


    In den beiden ersten Versen stellen die Worte „meine Königin“ unter syntaktischem Aspekt eine Apposition dar. Die lyrische Aussage lautet sinngemäß: Wie bist du durch sanfte Güte wonnevoll, meine Königin“. Die erste Melodiezeile ignoriert diesen syntaktischen Sachverhalt souverän. Man vernimmt sie in ihrer Aussagegehalt als: „Du bist meine Königin“. Die Struktur der melodischen Linie und ihre Harmonisierung bewirken das. Der gedehnte Sekundfall auf dem Wort „meine“ rückt das nachfolgende Wort „Königin“ mit seinem in eine Dehnung mündenden Sechzehntel-Anstieg ins Ziel der melodischen Bewegung. Hinzu kommt, dass sich dabei eine Rückung in die Dominante ereignet. In gleichsam exemplarischer Weise begegnet einem hier der Geist der Brahmsschen Liedkomposition. Er generiert sich aus der Melodik, die den Quell der musikalischen Aussage darstellt und deshalb das Recht für sich reklamieren muss und darf, sich dann, wenn die Entfaltung ihres klanglichen Körpers dies erfordert, über die sprachlichen Gegebenheiten des lyrischen Textes hinwegzusetzen. Wohlgemerkt: Nur über seine sprachliche Struktur, nicht über seine lyrische Aussage und seine Metaphorik, in der diese sich konstituiert. Denn von dieser gehen ja die Impulse aus, die die Melodik hervorgebracht haben.


    Das ganze Lied begegnet seinem Rezipienten wie die Selbstverwirklichung einer Melodie zur vollen Entfaltung ihrer Schönheit. Einer Schönheit, die freilich nicht um sich selber kreist, sondern die zentrale Aussage des lyrischen Textes reflektiert. Sie wird darin zu einer einzigartigen Hymne auf die geliebte Frau, - und zu einer wirklichen Perle unter den Liedern des Johannes Brahms. Denn der emphatische Gestus der ersten Melodiezeile setzt sich ja fort. Und er nimmt auch nicht Schaden daran, dass in der dritten Strophe die Moll-Chromatik vorübergehend in die Liedmusik einbricht. Bei den Worten „durch sanfte Güte wonnevoll“ beschreibt die melodische Linie einen langsamen Anstieg in Sekunden und gipfelt dann bei dem Wort „wonnevoll“ emphatisch in hoher Lage bogenförmig auf. Die Harmonik bewegt sich dabei im Bereich der Dominante. Bei der nächsten Melodiezeile, die die beiden letzten Verse der Strophe umfasst ereignet sich erneut eine bogenförmige Aufgipfelung der melodischen Linie in der hohen Lage eines es hohen „F“, wobei die Harmonik nun von Es-Dur nach As-Dur und am Ende wieder in der Bereich der Dominante B-Dur rückt, um eine Art Vorhalt für das verzückte Sich-Ergehen der melodischen Linie in dem Wort „wonnevoll“ zu schaffen.


    Wieder erlebt man hier, wie sich die Melodik, um sich in ihrer Eigengesetzlichkeit zu entfalten, über die vom lyrischen Text her gebotene Skandierung hinwegsetzt. Weil die melodische Linie auf dem Höhepunkt ihrer Bewegung bei dem Wort „wehn“ eine Dehnung benötigt, um sich dann dem Fall zu überlassen, in dem das Wort „Gemüte“ durch ein kurzes Verharren auf der tonalen Ebene einen Akzent erhält, geht sie zuvor über das Wort „Lenzdüfte“ mit einer Kombination aus drei Sechzehnteln, die das Erfordernis der Erstsilbenbetonung ignoriert, geradezu flüchtig hinweg. Dafür bringt aber die Rückung in die Subdominante As-Dur die Emphase in die Melodik, die dem lyrischen Bild angemessen ist.


    In der dritten Strophe wirkt die melodische Linie, als könne sie ihrer Neigung, klanglichen Zauber durch ruhigen Aufstieg in hohe Lage mit nachfolgendem sanftem Fall zu entfalten, nicht ungehemmt nachgehen. Etwas scheint sie zu bedrücken und in mittlerer Lage festhalten zu wollen. Die lyrischen Bilder sind dafür verantwortlich: Die „toten Wüsten“ und die „fürchterliche Schwüle“, die „ohn Ende brütet“. Die melodische Linie verharrt zunächst, in es-Moll harmonisiert, in mittlerer Lage, strebt zwar nach oben, kehrt aber bei dem Wort „Wüsten“ mit einem Sekund- und einem Quartfall wieder in tiefe zurück. Aber die Melodik von Brahms ist von innerem Leben beflügelt, und so geht die melodische Linie bei den Worten „und grüne Schatten breiten sich“ erneut zu einer Aufstiegsbewegung über, setzt dabei um eine kleine Sekunde höher an und beschreibt dann tatsächlich wieder eine jener Bogenbewegungen in hoher Lage, die in den beiden vorangehenden Strophen ihren Charakter ausmachten. Und wieder setzt sie sich dabei über das Skandierungsgebot des lyrischen Textes hinweg: Nach dem Quartsprung in Gestalt von Sechzehnteln bei dem Wort „breiten“ liegt auf dem nachfolgenden „sich“ ein auffällig gedehnter Sekundfall, dem eine Achtelpause für die Singstimme folgt.


    Es ist eigentlich ein Verstoß gegen das liedkompositorische Gebot textgemäßer Deklamation, was sich hier ereignet: Einem Reflexivpronomen ein solches melodisches Gewicht zu verleihen. Für Hugo Wolf wäre das undenkbar gewesen, für Brahms durchaus nicht. Er denkt melodisch und wird dabei vom affektiven Gehalt des Bildes inspiriert. Und siehe: Der klangliche Effekt, der von dieser melodischen Gewichtung des Reflexivpronomens ausgeht, verleiht dem lyrischen Bild eine bedrückende Aura. Dass Brahms das ganz bewusst so angestrebt hat, lässt der Klaviersatz vernehmen und erkennen. Wie die melodische Linie wirkt er bei dieser dritten Strophe anfänglich wie tonal eingeengt. Von den aufsteigenden Arpeggien der ersten und zweiten Strophe lässt er ab und beschränkt sich in Diskant und Bass auf ein Auf und Ab von Sechzehnteln in mittlerer tonale Lage. Bei dieser melodisch ungewöhnlichen Gewichtung des Wortes „sich“ geht er aber ebenfalls zu einem klanglich herausragenden Aufstieg von Sechzehnteln aus extrem tiefer Basslage bis in den Diskant über. Und auch harmonisch ereignet sich Ungewöhnliches bei diesem zweiten Vers der dritten Strophe. Die Harmonisierung der melodischen Linie rückt vom anfänglichen es-Moll in den Dur-Bereich und moduliert von H-Dur nach E-Dur. Im weiteren Verlauf der Liedmusik dieser Strophe ereignet sich eine Rückung nach D-Dur, und die auf einem hohen „Es“ ansetzende und bis zu einem tiefen „Ges“ sich erstreckende Fallbewegung auf den Worten „ohn Ende brüte“ ist gar in ges-Moll harmonisiert.


    Aber all diese chromatischen Eintrübungen einer wie beschwert wirkenden melodischen Linie sind nicht von Bestand. Die Verzückung, die das Wort „wonnevoll“ beim Komponisten auslöste, will ihr Recht reklamieren. Und das tut sie am Ende dieser dritten Strophe auch, - wenn auch immer noch ein wenig beschwert in Gestalt eines Terzfalls „Fes-Des“ und in tiefer Ges-Dur-Harmonik eingefangen. Auch in der vierten und letzten Strophe tritt noch einmal eine chromatische Eintrübung in die melodische Linie. Bei den Worten „herbste Todesqual“ beschreibt sie eine auf einem hohen „Fes“ ansetzende und in des-Moll harmonisierte Fallbewegung in verminderten Sekunden.
    Aber dann darf sie sich wieder unbeschwert dem Jubel des „wonnevoll“ widmen und das Lied darin ausklingen lassen.

  • Lieber Helmut, sei herzlich bedankt für die Einstellung deines Beitrags zu "Wie bist du meine Königin". Es ist zweifellos eines der bemerkenswertesten und berühmtesten Brahms-Lieder überhaupt. Ich habe es auch im Gesangsunterricht gesungen, aber nicht so gerne wie einige andere, würde es auch nicht zu meinen fünf Lieblingsliedern von Brahms rechnen. Warum das so ist, beschäftigt mich schon, und da gab mir dein Beitrag wertvolle Hinweise.


    Zunächst einmal habe ich das Lied jetzt noch einmal mehrfach gehört.



    Woran mag es also liegen, dass dieses Lied nicht zu meinen persönlichen Favoriten zählt?


    Ganz sicher nicht an dem wunderbaren Vorspiel, dass den lyrischen und lichten Grundton des Liedes ganz wunderbar einfängt, sich zu einem Höhepunkt steigert und dann wieder abklingt und im Pianissimmo abklingt - das geht nicht besser, gar keine Frage!


    Woran liegt es also dann?


    Wahrscheinlich liegt der Grund hier:

    Schon zu seinen Lebzeiten hat man aus Kreisen der neudeutschen Schule an diesem Lied die Nachlässigkeit in Sachen Wortdeklamation kritisiert. Tatsächlich verfährt Brahms diesbezüglich recht nachlässig, und das wäre an sich auch nicht weiter erwähnenswert, stellte es sich nicht als Niederschlag seiner liedkompositorischen Grundhaltung dem lyrischen Text gegenüber dar.

    Wenn ich mir die erste Gesangsphrase ansehe, finde ich diese bei weitem nicht so glücklich wie das Vorspiel. Dass der erste Ton der Phrase zugleich der höchste ist, finde ich nicht so glücklich.


    Und dann eben die Betonungsverschiebungen bei einzelnen Wörtern: "Königin" statt "nigin", wobei das "meine" auch noch gewichtiger komponiert ist als das wichtige Substantiv "Königin", "wonnevoholl" statt "wonnevoll" usw., auch das wichtige "lächle" geht zwischen dem "du" und dem "nur" beinahe verloren.


    Das "Wonnevoll" finde ich am Ende der ersten und zweiten Strophe relativ sinn- und zusammenhanglos stimmprotzend "ausgestellt", der Zusammenhang zur bisherigen Strophe ist mir nicht stark genug, es wirkt auf mich irgendwie isoliert und herausgestellt wie ein Signalwort, was von Brahms auch garantiert so beabsichtigt war, aber richtig glücklich werde ich nicht damit.


    Fazit: Das beste an der ersten und zweiten Strophe ist für mich das jeweilige Vorspiel.


    Aber dann wirds interessant: Um wie viel überzeugender ist die nun kommende dritte Strophe in Moll mit spannenden Modulationen nach Dur und dann wieder zurück. Hier steppt harmonisch der Bär. Und dann nach der größten Tragödie auf "ohn' Ende wüte" die hinreißende Modulation zum wonnevollen "Wonnevoll!", das hier nicht isoliert wirkt, sondern wirklich die Strophe abrundet und zum Grundcharakter des Liedes zurückführt. Das ist großartige, spannende Musik, wo etwas passiert! Abgründe, ein Wechselbad und am Ende die Erlösung in luftig-leichter Verklärtheit.
    Schon allein für diese Strophe muss man dieses Lied schätzen, wenn nicht gar lieben.


    Und um wie viel spannender wirkt nach dieser so einzigartigen dritten Strophe jetzt die viert Strophe, die musikalisch erst einmal scheinbar nur eine Wiederholung der Strophen 1 und 2 darstellt, aber trotzdem nach dem Erlebnis der 3. Strophe ganz anders klingt und noch viel abgeklärter und "glaubwürdiger" wirkt als die ersten beiden Strophen, die mich etwas, wenn auch weniger emphatisch, an die "Zueignung" erinnern, mit der ich auch etwas fremdle.
    Und dann in dieser 4. Strophe der erneute unerwartete Einbruch nach Moll bei der "Todesqual", eine besondere Note, die den ersten beiden irgendwie fehlt.
    Bemerkenswert finde ich auch noch das eigentlich simple Nachspiel, das den Grundcharakter noch ein wenig weiterführt und ausklingen lässt. Am Ende des ersten Satzes seines Deutschen Requiems braucht Brahms dafür weit mehr Takte, um nach allen Modulationen den Grundcharakter wieder zu befestigen und zu bekräftigen. Hier reicht ein leichtes Auströpfeln, dem licht-leichten Charakter des Liedes angemessen.


    Also: Es ist meines Erachtens weder die große Emotion von "Nicht mehr zu dir zu gehen" oder "Vom ewiger Liebe" noch die ungetrübte Idylle, sondern hat in der durchsichtigen Form beinahe etwas klassisches oder klassizistisches. Andere Lieder, die "romantischer" sind, berühren mich mehr, aber den zweifellos vorhandenen (wenn auch vielleicht nicht durchgängig voll gelungenen) Schönheiten und Emotionen dieses Liedes kann und will ich mich natürlich nicht verschließen.
    Als Sänger achtet man bei diesem Lied freilich sehr darauf, nicht zu stark einzusteigen, um am Anfang der ersten Gesangsphrase keinen falschen Akzent zu setzen (der Einstieg ist tückisch, ein Höhenpiano aus dem nichts zu entwickeln, ist nicht so einfach) und man konzentriert isch während der ersten Strophen darauf, das "wonnevoll" möglichst gut und eindrucksvoll zu erwischen - und kommt gar nicht richtig zur Auseinandersetzung mit den Inhalten, das ist bei anderen Liedern von Brahms glücklicherweise anders!


    Und nach dieser höchst subjektiven Analyse dieses Liedes noch eine ganz persönliche Anmerkung zum eingestellten Interpreten, den ich mir nun gerade fünf Mal mit diesem Lied angehört habe: Kann man diese Verklärtheit, Entrückheit dieses Liedes stimmlich besser erfassen und transportieren als Dietrich Fischer-Dieskau mit seiner so obertonreichen "Mischstimme" oder die brustige Kraftmeierer, der so viele seiner Bariton-Kollegen leider viel zu oft völlig unreflektiert frönen? Ich denke nicht! Siegfried Lorenz habe ich mit diesem Lied live erlebt und auch sehr genossen, es ist auch auf seiner wunderbaren Brahms-Lieder-CD enthalten, aber bei der eingestellten Aufnahme von Dietrich Fischer-Dieskau bleiben für mich wirklich gar keine Wünsche offen, das geht nicht besser, hier erweist er sich ganz klar als ein Gigant unter den Liedersängern und Liedgestaltern! :yes:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • Vielen Dank für Deinen Beitrag zu diesem Lied, lieber Stimmenliebhaber. Er ist aus vielerlei Gründen für mich – und ganz sicher nicht nur für mich – reich an interessanten Aspekten, vor allem deshalb, weil Du im Urteil über diese Liedkomposition die subjektive Dimension ins Spiel bringst, dies aber durchaus im Sich-Einlassen auf Details der Faktur. Das regt zum nochmaligen Hinhören an, zum Überprüfen des eigenen Urteils und ganz generell zum weiteren Nachdenken über dieses Lied.


    Auf einige Aspekte und Feststellungen in Deinem Beitrag werde ich – sehr gerne! – in einem späteren Nachtrag zur Besprechung dieses Liedes noch näher eingehen.

  • Bei Stimmenliebhaber: lese ich:
    Dass der erste Ton der Phrase zugleich der höchste ist, finde ich nicht so glücklich.“
    … und das macht mir wieder einmal bewusst, wie wichtig es für die Liedbetrachtung ist, dass sie nicht nur aus der Perspektive des Analytikers erfolgt. Diesem stellt sich der angesprochene Sachverhalt wie folgt dar.
    Das Lied setzt mit einem „Es“ in hoher Lage ein, wobei es sich aber nicht um den höchsten Ton des Liedes handelt, denn sie steigt in der ersten Strophe zweimal zum Zwecke der Akzentuierung der lyrischen Aussage um eine Sekunde höher auf: Bei „wonnevoll“ und bei dem Wort „“wehn“. Aber interessanter ist die Anlage dieser ersten Melodiezeile. Sie verrät nämlich sehr viel über die spezifische Eigenart der Brahmsschen Melodik.


    Die Worte „Wie bist du, meine Königin“ lässt er ja – darin sich über die Syntax des lyrischen Textes hinwegsetzend durch die Struktur der melodischen Linie und die nachfolgende Achtel-Pause zu einem singulären Ausruf werden. Dabei nimmt er den Worten „meine Königin“ ihren Charakter als Apposition. Und eben deshalb lässt er die Vokallinie, in hoher Lage ansetzend, in einen Fall übergehen, bei dem der Anfangston kein eigenes Gewicht hat, vielmehr einer von drei in Sekunden fallenden Achteln ist. Erst bei „meine“ kommt eine Dehnung in die melodische Linie, - in Gestalt eines Sekundfalls von punktiertem Achtel und Sechzehntel. Bei dem nachfolgenden Wort „Königin“ steigt die melodische Linie dann wieder in Sekundschritten an, mit dem deklamatorisch die Erstsilbenbetonung ignorierenden Viertel (also einer Dehnung) auf der letzten Silbe.


    Warum diese detailliert-analytische Betrachtung dieser Melodiezeile? Weil sie ein Musterbeispiel der gleichsam atmenden Melodik von Brahms ist. Dieser Fall mit Schwerpunkt auf dem Wort „meine“ und dem Nachklingen in der Dehnung auf der letzten Silbe von „Königin“ wirkt – in meinen Ohren – wie ein Ausatmen mit nachfolgendem Innehalten, - wie das ja auch beim gesprochenen Ausruf der Fall ist, der hier an die Geliebte gerichtet ist. Und wie sehr bewusst Brahms hier – in eben dieser kompositorischen Aussage-Absicht – vorgegangen ist, das sieht man daran, dass er die Harmonik am Ende der Zeile eine Rückung von der Tonika in die Dominante machen und, in der kurzen Pause für die Singstimme, das Klavier die melodische Bewegung auf dem Wort „Königin“ noch einmal nachvollziehen lässt.

  • Gibt es denn noch ein anderes Brahms-Lied, bei dem der höchste Ton der ersten Phrase zugleich der erste ist? Mir fällt erst einmal kein anderes ein. Beim "Kirchhof" ist der Auftakt "Der Tag" ungemein hilfreich, auch wenn er nur einen Halbton tiefer ist. Der Einstieg auf dem höchsten Ton der ersten Phrase kommt mir ziemlich singulär vor, was zum Charakter des Liedes passen würdest, aber vielleicht kennst du ja noch andere Beispiele?

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Es geht ja um eine auf einem relativ hohen Ton ansetzende und anschließend in einen Fall übergehende Melodiezeile am Liedanfang. Eine solche liegt unter den hier bereits besprochenen Liedern – außer bei diesem hier gerade anstehenden – bei drei weiteren Liedern vor. Und in allen Fällen ist sie – wie das ja auch hier der Fall ist – durch die lyrische Aussage bedingt. Es sind die Lieder:


    „Nachtigallen schwingen“, op.6, Nr.6 (Beitrag 41): Ein auf einem hohen und gedehnten „F“ ansetzender Quintfall, der danach in einen dreifachen Sekundanstieg übergeht;


    „An eine Äolsharfe“, op.19, Nr.5 (Beitrag 74): Ein dreifacher, auf einem hohen „Es“ ansetzender Terzfall, dem ein doppelter Sekundanstieg nachfolgt;


    „So stehn wir, ich und meine Weide“, op.32, Nr.8 (Beitrag 98): Ein dreifacher, auf einem hohen „C“ ansetzender Terzfall, an den sich eine um eine Sekunde angehobene Fallbewegung der melodischen Linie anschließt.

  • Mit „Wie bist du, meine Königin“ ist das letzte Lied des Opus 32 vorgestellt und besprochen. Man vernimmt es als beeindruckendes Dokument der zu ihrer Reife gelangten Liedkomposition von Johannes Brahms an, - zu ihrem liedkompositorischen Wesen, wenn man so will. Die Stimmen von Melodik und Klaviersatz entfalten sich zwar eigenständig finden aber bei allem gelegentlichen Auseinanderdriften immer zu einer Einheit zusammen, die die Liedmusik zu einem formal durchgestalteten und in sich geschlossenen kompositorischen Werk werden lässt.


    Was Dietrich Fischer-Dieskau zum ganzen Opus 32 anmerkt, gilt wie ich meine – in ganz besonderer Weise für dieses letzte Lied darin:
    „Mit Opus 32 wird eine Ebene des Stils erreicht, auf der sich die folgenden Werke bewegen werden: eine überaus komplizierte Vielfalt, ein Verschmelzen von liedhaftem Duktus, Strophenliedform, motivischer Variation und Entwicklung, komplexem Klaviersatz trotz Dominanz der Singstimme, zugleich im Anspruch ein Kunstlied und dem Ideal des Volksliedes folgend.“ (Johannes Brahms, S.119)


    Nun würde, folgte ich meinem Prinzip der Orientierung an der Opus-Ziffer, als nächstes das Opus 33 zur Besprechung anstehen: Die „Romanzen aus L. Tiecks Magelone“. Ich habe mich aber entschlossen, sie gemeinsam mit den „Vier letzten Liedern“ ans Ende dieses Threads zu stellen. Dies ganz einfach deshalb, weil beide Werke durch ihren Charakter als Zyklus eine Sonderstellung im Liedschaffen von Johannes Brahms einnehmen, aber auch, weil in beiden die Gattung des Klavierliedes transzendiert wird. Ich bitte um Verständnis dafür.


    Als nächstes steht also nun das Opus 43 an. Es erschien 1868 bei J. Rieter-Biedermann, Leipzig, und enthält insgesamt vier Lieder, die Brahms zwischen 1857 und 1866 komponiert hat, ohne dass man sie im einzelnen genauer datieren kann:
    „Von ewiger Liebe“ (wendisch);
    „Die Mainacht“ (Hölty)
    „Ich schell mein Horn ins Jammertal“ (altdeutsch)
    „Das Lied vom Herrn von Falkenstein“ (Volkslied)
    Da ausgewählt werden muss, sollen nur die beiden ersten Lieder näher betrachtet werden.

  • Dunkel, wie dunkel in Wald und in Feld!
    Abend schon ist es, nun schweiget die Welt.
    Nirgend noch Licht und nirgend noch Rauch,
    Ja, und die Lerche sie schweiget nun auch.


    Kommt aus dem Dorfe der Bursche heraus,
    Gibt das Geleit der Geliebten nach Haus,
    Führt sie am Weidengebüsche vorbei,
    Redet so viel und so mancherlei:


    "Leidest du Schmach und betrübest du dich,
    Leidest du Schmach von andern um mich,
    Werde die Liebe getrennt so geschwind,
    Schnell, wie wir früher vereiniget sind.
    Scheide mit Regen und scheide mit Wind,
    Schnell wie wir früher vereiniget sind."


    Spricht das Mägdelein, Mägdelein spricht:
    "Unsere Liebe, sie trennet sich nicht!
    Fest ist der Stahl und das Eisen gar sehr,
    Unsere Liebe ist fester noch mehr.


    Eisen und Stahl, man schmiedet sie um,
    Unsere Liebe, wer wandelt sie um?
    Eisen und Stahl, sie können zergehn,
    Unsere Liebe muß ewig bestehn!"


    (Hoffmann von Fallersleben, aus dem Wendischen)


    Dem Lied liegt eine Übertragung eines wendischen Volkliedes zugrunde. In den Booklets zu Brahms-Lieder-Aufnahmen findet man als Autor zumeist Joseph Wenzig (1807-1876) genannt. Die jeweiligen Autoren stützen sich dabei auf die Erstausgabe des Opus 43. Wie Eric Sams 1972 nachgewiesen hat (Österreichische Musikzeitschrift XXXVII) handelt es sich dabei aber um einen Irrtum. Der Verfasser (also „Übersetzer“) ist Hoffmann von Fallersleben. Aber eigentlich, so denkt man beim Hören dieses Liedes, ist die Frage nach der Verfasserschaft des Textes von sekundärer Bedeutung. Denn man begegnet hier einem Hymnus auf die Macht der Liebe, wie er in der Liedliteratur nicht Seinesgleichen hat. In der Art und Weise, wie Brahms hier den Volksliedton getroffen und liedkompositorisch sublimiert hat, stellt das Lied zweifellos eines seiner großen und für sein Schaffen typischen und repräsentativen Lieder dar. Es ist Bestandteil des erst 1868 bei Rieter-Biedermann erschienenen Opus 43, das aus vier formal sehr unterschiedlichen Liedern besteht, die im Zeitraum 1857 bis 1866 entstanden. Die beiden letzten („Ich schell´ mein Horn“ und „Das Lied vom Herrn von Falkenstein“), auf die hier nicht eingegangen werden soll, stehen als Volkslieder in starkem Kontrast zu dem ersten Paar („Von ewiger Liebe“ und „Die Mainacht“). Gemeinsam haben sie alle aber, dass sie thematisch in weitem Rahmen um das Thema „Liebe“ kreisen.


    „Von ewiger Liebe“ liegt ein Dreiviertakt zugrunde, als Grundtonart fungiert h-Moll, bzw. H-Dur in der letzten Strophe, und die Vortragsanweisung lautet „mäßig“. Es handelt sich um eine Strophenlied-Komposition nach dem Grundschema „A-B-C“. Aber damit ist die Binnenstruktur unzulänglich beschrieben, denn Brahms arbeitet hier wieder nach dem – von ihm gerne und häufig angewendeten - Prinzip der Wiederholung in entwickelnder Variation. Die erste und die zweite Strophe sind bis auf den letzten Vers liedmusikalisch identisch. In der zweiten Strophe weist die melodische Linie leichte Variationen auf, auch weil eine Hinführung zur Liedmusik der dritten Strophe geschaffen werden muss. Innerhalb derselben lässt sich eine Zweiteiligkeit feststellen: Mit dem dritten Vers („Werde die Liebe getrennt so geschwind“) kehrt die melodische Linie auf den beiden ersten Versen mit einigen Varianten wieder. Und auch bei den beiden letzten Strophen ereignen sich viele Wiederholungen in der Melodik. Die zentralen lyrischen Aussagen – die Unvergänglichkeit und Unwandelbarkeit der Liebe und die im Vergleich dazu hohe Vergänglichkeit von „Stahl und Eisen“ – werden von Brahms, eben weil ihnen für die liedmusikalische Gesamtaussage so hohe Bedeutung zukommt, mit identischen melodischen Figuren versehen. Dem analytischen Blick enthüllt sich dieses Lied als höchst kunstvolles architektonisch-musikalisches Gebilde, das gleichwohl – und darin wird es wieder zu einer Erfahrung des Wunders der Brahmsschen Liedmusik – in erstaunlich volksliedhafter Einfachheit daherkommt.


    Was an der Melodik bei Brahms so erstaunlich und einzigartig ist, das kann man an diesem Lied in beeindruckender Weise erfahren. Die vier Melodiezeilen auf den vier Versen der ersten Strophe, die durch Viertelpausen und einmal eine im Wert von fast zwei Takten voneinander abgesetzt sind, reflektieren die Aussage der lyrischen Bilder und sind doch zugleich von sangbarer volkliedhafter Schlichtheit. Die Struktur der ersten Zeile wird vom Klavier im viertaktigen Vorspiel in Gestalt von arpeggienhaft aufgelösten Akkorden vorgegeben. Dem Wort „dunkel“ entsprechend setzt sie in tiefer Lage an und steigt dann bei der Wiederholung des Wortes mit einem doppelten Terzsprung in untere Mittellage empor, wobei der dunkle Vokal „u“ durch die Tonrepetition eine starke klangliche Wirkung entfaltet. Die Fallbewegung auf den Worten „in Wald und in Feld“ nimmt, weil sie ebenfalls an einem „D“ ansetzt“, dies aber eine Oktave höher, dem Wort „dunkel“ die Anmutung von Bedrohlichkeit weg. Sie wirkt klanglich hell, und dies nicht nur von ihrer Struktur her, sondern auch von ihrer Harmonisierung: Sie moduliert vom anfänglich h-Moll über fis-Moll am Ende nach Fis-Dur.


    Die Liedmusik atmet in der ersten Strophe einen leicht idyllischen Grundton. Er setzt sich in der zweiten Melodiezeile fort, und das Klavier trägt mit seinen der melodischen Linie im Diskant folgenden Akkorden und den aufsteigenden Arpeggien im Bass wesentlich dazu bei. Aber auch die melodische Linie suggeriert mit ihrem langsamen sich senkenden Auf und Ab in Terzen diesen Eindruck, bis sie dann bei den Worten „nun schweiget die Welt“ einen veritablen – und dieses Bild wiederum reflektierenden – Oktavfall zu einem tiefen „A“ hin beschreibt. Auch hier ereignen sich wieder zwei die melodische Linie in ihren Aussagen unterstützende harmonische Rückungen: Von a-Moll nach d-Moll am Ende der Zeile.


    D-Moll ist auch die Harmonik, in der die dritte Melodiezeile auf den Worten „Nirgend noch Licht und nirgend noch Rauch“ einsetzt. Deren Bewegung wird, wie das auch im Vorspiel schon geschah, im fast zweitaktigen Zwischenspiel nach der zweiten Zeile in akkordischer Gestalt vorgegeben. Das sich wiederholende und damit für die lyrische Aussage gewichtige Wort „nirgend“ erhält einen starken melodischen Akzent dadurch, dass der anfängliche Sekundsprung in tiefer Lage im zweiten Fall als verminderter Sekundfall in mittlerer Lage wiederkehrt, was mit einer harmonischen Rückung von d-Moll nach fis-Moll verbunden ist. Auch das Wort „Rauch“ wird mit dem Mittel der Harmonik hervorgehoben. Bei dem Sekundsprung bei „noch Rauch“ ereignet sich eine Rückung von fis-Moll nach Cis-Dur. Und Brahms macht nun etwas, das wieder seinen souveränen, nämlich der Melodik den Primat einräumenden Umgang mit dem lyrischen Text erkennen lässt: Er nimmt das Wort „ja“, das eigentlich an den Anfang des nächsten Verses gehört, noch in diese Melodiezeile hinein und macht es auf diese Weise gleichsam zur melodischen Eröffnung der letzten Melodiezeile.


    Diese, denen die Worte „und die Lerche sie schweiget nun auch“ zugrunde liegt, ähnelt in ihrer Struktur jener auf den Worten „Abend schon ist es, nun schweiget die Welt“. Und das zeigt, wie hintergründig subtil die Liedmusik von Brahms bei all ihrer Einfachheit in der klanglichen Oberfläche angelegt ist. Das Wort „schweigen“ verbindet die beiden Verse, das Schweigen der Lerche ist Teil des allgemeinen Schweigens, in das die Welt abends langsam versinkt. Und die Liedmusik bildet diesen Sachverhalt mit ihren Mitteln ab.


    Die zweite Strophe ist in ihrem Wesen noch lyrisch-deskriptiv angelegt. Brahms konnte also guten Gewissens hier die Liedmusik der ersten Strophe wiederholen, variiert sie aber auf den Worten „redet so viel und so mancherlei“, um zum eher episch geprägten Charakter der dritten Strophe überzuleiten. Denn hier ereignet sich wörtliche Rede, - und überdies Bedeutsames: Der Bursche bietet seinem Mädchen die Trennung an, um es vor übler Nachrede und „Schmach“ wegen der Beziehung zu ihm zu bewahren. Die Liedmusik reflektiert dies mit einem sich von der der vorangehenden Strophen deutlich abhebenden Grundton. Sie ist in der Struktur der melodischen Linie der Singstimme deklamatorisch-rhetorisch geprägt, im Klaviersatz weist sie mit dem große Intervalle nehmenden Auf und Ab der Achtelfiguren im Diskant leicht dramatische Züge auf. Auch die Harmonik reflektiert diesen lyrisch-textlichen Sachverhalt. Permanent vollzieht sie Rückungen von h- Moll oder e-Moll nach Fis-Dur, bevor sie sich, wenn das Wort „scheiden“ die Oberhand gewinnt, ganz und gar dem Tongeschlecht Moll (h-Moll, e-Moll) überlässt.


    In der melodischen Linie schlägt sich der lyrische Gestus der Ansprache und deren leicht dramatischer Charakter in der Weise nieder, dass sie in eine Folge von kleinen Zeilen untergliedert ist, in der sich mehrfach die gleiche Bewegung ereignet: Auf einen langsamen Anstieg in Gestalt von Vierteln folgt ein rascherer und damit expressiverer in Gestalt von Achteln, und danach ereignet sich ein Fall, der zunächst in ruhigen deklamatorischen Schritten, am Ende aber wieder in rascheren erfolgt. Bei allen Variationen, die die Melodik in der dritten Strophe durchläuft, bleibt diese Grundstruktur erhalten. Und darin wurzelt ihre klangliche Eingängigkeit und es konstituiert sich darin – was für Brahms von hoher Bedeutung ist – ihre liedmusikalische Identität, die letztendlich die Quelle für diese Eingängigkeit ist.


    Nach dieser Strophe folgt ein ungewöhnlich langes, nämlich zehntaktiges Zwischenspiel, in dem das Klavier die Achtel-Figuren, mit denen es die melodische Linie in der dritten Strophe begleitete, weiterführt. Im Bass gesellen sich nun bitonale Akkorde in Gestalt von Terzen, Quarten und Sexten dazu, und all das lässt die melodische Linie der Singstimme in ihren letzten Bewegungen noch einmal nachklingen und leitet am Ende – auch harmonisch – zu den beiden letzten Strophen des Liedes über. Diese Überleitung war liedkompositorisch zwingend, denn nun ereignet sich musikalisch Umwerfendes. Die Liedmusik wirkt mit einem Mal wie neu geboren, wie aus einer anderen Welt kommend. Und doch mutet sie nicht fremd an. Man vernimmt sie als zugehörig, wie eine Antwort auf das, was sich zuvor gerade liedmusikalisch ereignet hat. Es ist ein wundersames musikalisches Ereignis, an dem man als Hörer hier teilhat.


    Auf den Worten „Spricht das Mägdelein, Mägdelein spricht“ liegt eine melodische Linie, die in syllabisch exakter Deklamation zunächst auf den tonalen Ebene eines tiefen „Fis“ verharrt, sich nur einmal kurz davon um eine Sekunde erhebt, um sofort wieder zurückzukehren. Eine ruhige Eröffnung der Melodik ereignet sich hier, die mit der Fallbewegung auf den Worten „Mägdelein spricht“ in eine klanglich liebliche Aura gebettet wird. Das die Liedmusik der Burschenstrophe am Ende ganz und gar beherrschende Moll ist wie weggeblasen: Ungebrochene Dur-Harmonik herrscht vor, und das gilt bis zum Liedende, wobei sie zwischen H-Dur, E-Dur, Fis-Dur und Cis-Dur moduliert. Auch das Klavier überlässt sich nun ganz und gar der Artikulation von akkordischen Achtel-Dreierfiguren, von denen infolge ihrer Terzen- und Sextenbetonheit die Anmutung großer klanglicher Lieblichkeit ausgeht.


    Auch wenn die Melodik dieser beiden Schlussstrophen in relativ kleine und von mehr oder weniger langen Pausen (ein Achtel bis vier Achtel) gegeneinander abgegrenzte Zeilen untergliedert ist, man vernimmt und empfindet sie als die in sich gebundene Entfaltung einer einzigen großen melodischen Emphase. Die Liedmusik beginnt zu singen, und dies auf zauberhafte Weise. Da versichert ein Mädchen seinem Geliebten, dass ihre Liebe unerschütterlich ist, unwandelbar und beständiger als Stahl und Eisen. Und das so sehr Berührende daran ist, dass dies in Gestalt einer Melodik geschieht, der jeglicher Gestus der Behauptung und er Versicherung abgeht. Sie entfaltet sich in der vollkommenen Ruhe des Selbstverständlichen, und die Emphase, die ihr gleichwohl innewohnt, ist die eines stillen klanglichen Leuchtens.


    Der Gestus der Steigerung, den sie aufweist, ist ein subtil verhaltener, - und gerade deshalb so überzeugender. Der Harmonik kommt dabei eine bedeutsame Funktion zu. Das sei, um das Lied nicht analytisch zu zerpflücken, an nur einem Beispiel aufgezeigt. Auf den Worten „Fest ist der Stahl“ liegt eine kleine melodische Figur, die, um ihm einen Akzent zu verleihen, mit einer langen Dehnung auf dem Wort „fest“ einsetzt und nach einem doppelten Sekundfall wieder zu dem Ausgangston zurückkehrt. Das mutet wie eine musikalische Feststellung an. Und da es sich bei den Worten „und das Eisen gar sehr“ lyrisch um eine Fortsetzung derselben handelt, wiederholt sich die melodische Figur, dabei nun allerdings mit einer Art Auftakt versehen. Die Harmonik vollzieht dabei aber einer Rückung vom anfänglichen E-Dur in den Dominantseptakkord-Bereich von Cis. Beim vierten Vers („Unsere Liebe ist fester noch mehr“) beschreibt die melodische Linie drei aufeinander folgende Fallbewegungen, wobei sich ein die Expressivität steigernder Effekt dadurch einstellt, dass sich die tonale Ebene im Ansatz erst um eine Quarte angebt, dann um eine Sekunde absenkt, die Intervalle des Falls sich aber von einer Sekunde zu einer Terz vergrößern. Die Harmonik moduliert dabei zunächst im Septakkord-Bereich von Fis nach E und von dort nach Fis-Dur am Ende.


    Es ist eine melodisch-klanglich überaus zarte Nachdrücklichkeit, in der sich das „Mägdelein“ hier liedmusikalisch ausdrückt. Und sie bleibt auch in der zweiten und letzten Strophe der liedmusikalische Grundton. Dadurch, dass sich die auf dem Bild von „Eisen und Stahl“ liegenden melodischen Figuren bei den Worten „Eisen und Stahl, sie können vergehn“ mitsamt ihrer Harmonisierung wiederholen, kommt ein Moment des Insistierens auf, das dann am Liedende zum Heraustreten des Mädchens aus der Haltung zarter Nachdrücklichkeit in die emphatische Expression führt. Brahms setzt dazu wieder das kompositorische Prinzip der Wiederholung ein.


    Im letzten Vers „Unsere Liebe muß ewig bestehn!“ werden die Worte „unsere Liebe“ und „ewig“ wiederholt. Und der Grund ist unmittelbar sinnfällig: Es ist die Steigerung der musikalischen Emphase. Die melodische Linie beschreibt drei Mal die strukturell gleiche Bewegung. Auf einen zweischrittigen Fall auf den Worten „unsere“, und einen einschrittigen auf „ewig“ folgt ein Sprung zuerst über eine Quinte, dann zweimal über eine Quarte, der jeweils in einen gedehnten Fall über eine Terz übergeht, wobei daraus dann bei den Worten „ewig bestehn“ ein dreischrittiger Fall zum Grundton „H“ wird. Eine hymnische Beschwörung der „ewigen Liebe“ ereignet sich hier. Und sie ist so überwältigend, weil es eine eminent melodische ist, in der sich die Vokallinie im Gestus der Wiederholung erst in höhere tonale Lage steigert, um sich danach langsam wieder zurückzunehmen und auf dem Grundton zur Ruhe zu kommen. Die Harmonik unterstützt und steigert sie darin mit Rückungen von der Grundtonart H-Dur nach Fis-Dur und E-Dur, wobei sich einmal, und das ist besonders vielsagend, beim zweiten Terzfall auf dem Wort „Liebe“ sogar eine kurze Rückung nach cis-Moll ereignet.
    Ein kleines Indiz der harmonischen Subtilität der Liedkomposition von Johannes Brahms.

  • Das ist vermutlich mit einigem Abstand mein Lieblingslied von Brahms (wobei ich gestehen muss, nur einen relativ kleinen Teil seiner Lieder überhaupt zu kennen, noch weniger davon gut). Ich kann das ohne Noten spontan nicht belegen, aber als ich das Lied mal live gehört habe, schien es mir, als könnte man die "Begleitung" beinahe als eigenes "Lied ohne worte" oder "Intermezzo" spielen. (Das mag aber auch daran gelegen haben, dass der Pianist sehr gut und besser war als die Sängerin ;))


    Weil das im ersten Absatz ("Dem Lied [sc. Text?] liegt eine Übertragung eines wendischen Volkliedes zugrunde.") nicht ganz klar ist: Die Melodie des Lieds hat doch keine Grundlage in einem Volkslied, sondern ist von Brahms neu komponiert, oder?

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ja, richtig, lieber Johannes Roehl, der erste Satz ist nicht hinreichend präzise formuliert. Zwar geht aus dem nachfolgenden Text hervor, wie er gemeint ist, er hätte jedoch lauten sollen: Dem Lied liegt die Übersetzung eines wendischen Volksliedtextes zugrunde. Wie bei allen Liedern auf einen Volksliedtext, die Teil eines Lied-Opus sind, stammt auch hier die Melodik von Brahms selbst. Nur bei den 1894 ohne Opus-Ziffer veröffentlichten "Deutschen Volksliedern. Mit Clavier-Begleitung" hat Brahms die Volkslied-Melodik weitgehend übernommen und sich auf die Hinzufügung eines eigenen Klaviersatzes beschränkt.


    Was den Klaviersatz von diesem Lied "Von ewiger Liebe" anbelangt - dessen Hochschätzung durch Dich ich sehr wohl nachvollziehen kann - so weist er mit seinen akkordischen Bewegungen im Diskant und seinen triolischen Figuren im Bass eine solch hohe Eigenständigkeit auf, dass man ihn sehr wohl als - wie Du sagst - als "Lied ohne Worte" oder "Intermezzo" hören und auffassen kann. Bei den ersten drei Strophen bildet sich ja die melodische Linie großenteils in den Oberstimmen der Akkorde ab, und die "dolce" auszuführenden triolischen Terzen- und Quartenfiguren der beiden letzten Strophen entfalten einen ganz eigenen klanglichen Zauber.
    Die ausgeprägte Eigenständigkeit des Klaviersatzes ist ein konstitutives Merkmal der voll entwickelten Liedmusik von Johannes Brahms, wobei das immer wieder aufs Neue Erstaunende ist, wie eng der Klaviersatz dabei in die Melodik eingebunden und integriert ist.

  • Lieber Helmut, auf dieses Lied habe ich gewartet. Der Opuszahlen nach konnte ich mir ja den Zeitpunkt in Deinem Thread in etwa ausrechnen. Dass es ausgerechnet heute – an einem für mich nicht unwichtigen Tag - hier erscheint, nehme ich für eine glückliche Fügung. "Von ewiger Liebe" ist auch mein liebstes Lied von Brahms, ja überhaupt eines meiner liebsten Lieder. Ich scheue mich nicht, es meinen Brahms’sche "Tristan" zu nennen. Anders kann ich meine Beziehung zu diesem Lied nicht ausdrücken. Diese schier endlose Meldodie zieht einen hinein, so dass man nur schwer wieder herausfindet. Auch das ist eine Ähnlichkeit mit Wagner, die ich nicht gesucht habe. Sie drängte sich mir regelrecht auf. Es ist mir leider nicht gegeben, mir Lieder über das Notenbild zu erschließen. Ich bin auf Analysen und Beschreibungen wie von Dir angewiesen - oder auf die Interpreten. Sie vermitteln mir Musik. Ohne sie wäre ich völlig hilflos und aufgeschmissen. Leider werden Liederabende immer seltener, was auch an anderer Stelle des Forums immer wieder beklagt wird. Ist eigentlich schin mal darünber diskutiert worden, warum das so ist? Live habe ich das Lied nur einmal gehört. Deshalb bin ich auf Konserven angewiesen. Es gibt viele Aufnahmen. Den tiefsten Zugang hat mir Christa Ludwig vermittelt. Sie findet den dunklen Ton, den ich am dem Lied schätze. Ich möchte eine Einspielung mit Geoffrey Parsons am Klavier von 1969 eingestellen, die mir als ihre gelungendste scheint:



    Deine Hinweise auf die Textvorlage sind aufschlussreich. Wohl ehr zufällig bin ich stets davon ausgemnagen, dass dabei Hoffmann von Fallersleben seine prägenden Hände im Spiel hatte. Ich teile alle Deine Bemrkungen dazu. Nur mit dem Schluss habe ich meine Probleme:


    "Eisen und Stahl, man schmiedet sie um,
    Unsere Liebe, wer wandelt sie um?
    Eisen und Stahl, sie können zergehn,
    Unsere Liebe muß ewig bestehn!"


    Der Vers ist wie eine Beschwörung, dem Zweifel untergelegt ist. Als ob es doch nicht so weit her ist mit dem Glaube an die ewige Liebe. Vielleicht ist das ja auch gerade die Aussage!


    Mit herzlichen Grüßen verbleibt Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • "... auf dieses Lied habe ich gewartet..."
    Und worauf ich erst gewartet habe: Mein so geliebtes Katzenporträt auf klassischem Hintergrund endlich wieder zu sehen und von dem Menschen wieder Beiträge zu lesen, der mit ihm hier auftritt.
    In der Liebe zu diesem Lied sind wir eins, lieber Rheingold, und die Assoziation zu Wagners "Tristan" kann ich voll und ganz nachvollziehen. Ich wüsste keine Liedmusik zum Thema "Liebe" zu nennen, die Ausdruck solch tiefen Einfühlungsvermögens und infolgedessen so voller Seele ist.
    Das, was Du zur letzten Strophe zu bedenken gibst, ist mir so noch nicht bewusst geworden. Ich werde mir das noch einmal durch den Kopf gehen lassen, - und das sehr gerne!

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  • Nur mit dem Schluss habe ich meine Probleme:


    "Eisen und Stahl, man schmiedet sie um,
    Unsere Liebe, wer wandelt sie um?
    Eisen und Stahl, sie können zergehn,
    Unsere Liebe muß ewig bestehn!"


    Der Vers ist wie eine Beschwörung, dem Zweifel untergelegt ist. Als ob es doch nicht so weit her ist mit dem Glaube an die ewige Liebe. Vielleicht ist das ja auch gerade die Aussage!

    Das, was Du zur letzten Strophe zu bedenken gibst, ist mir so noch nicht bewusst geworden. Ich werde mir das noch einmal durch den Kopf gehen lassen, - und das sehr gerne!

    Ich habe mit dem Schluss auch meine Probleme, allerdings nicht mit dem gesamten Schlussabschnitt, sondern nur mit der extremen Ausstellung der - wiederholten - letzten Zeile. (Mit besonders Ausstellungen habe ich es nicht so, das weißt du ja seit meinem "Wonnevoll"-Einwand bei "Wie bist du meine Königin", lieber Helmut.)


    Zur besonderen Güte dieses Liedes gehört ganz zweifellos dieser irre Übergang von der größtmöglichen Dramatik mittels des Klavierzwischenspiels zum mildesten "Spricht das Mägdelein" - und auch diese lyrischen Zeilen des Mädchens finde ich geradezu hinreißend gelungen. Das sich das Mädchen am Ende zu solcher Pathetik steigert, passt meines Erachtens nicht so recht zum schlichten, friedvollen Charakter, mit dem dieses Mädchen hier in süßestem Piano eingeführt wird.


    Will Brahms die textliche Schlussaussage also bezeifeln? Ich glaube, er will sie im Gegenteil bekräftigen, so wie Beethoven im Schlussatz seiner "Neunten" mit fast schon ohrenbetäubender Verzweiflung das "muss ein lieber Vater wohnen"! Natürlich kann man auch dort seinen inneren Zweifeln hören, ob es denn wirklich so ist. Den kann man vielleicht auch bei Brahms hören, gerade durch diese wiederholende und pathetische Bekräftigung der letzten Zeile - und dennoch klingt hier das Nachspiel für mich ganz anders als die besagte Stelle in Beethovens "Neunter". Dieses Nachspiel überzeugt mich mehr und beglaubigt für mich die vertonte Botschaft weit mehr als die Gesangswiederholung davor. Nach dem Nachspiel zweifle ich weniger als vor dem Nachspiel - zumindest nicht daran, wie es Brahms meint. Wie es in der Relaität aussieht, darüber kann man natürlich immer (ver-)zweifeln, aber vielleicht war Brahms hier vor dem abschließenden Nachspiel einfach nicht so genial wie davor? (Dieses Klavierzwischenspiel zwischen dem verzweifelten Burschen und dem leise abgeklärten Mädchen - auch diese anfängliche Abgeklärtheit spricht für mich eher gegen den Zweifel - gehört zu den genialsten Passagen, die ich von Brahms kenne, und da gibt es einige.)
    Nun bin ich gespannt, was du sagst, lieber Helmut, wenn du dich mit dem von "Rheingold1876" zu Recht aufgeworfenen Schlussproblem (das ich ähnlich, aber nicht gleich sehe) noch einmal beschäftigst. :yes: :hello:


    P.S.: Die besonders ausgestellte Wiederholung des Wortes "ewig" erinnert mich freilich schon sehr an die Beethovensche Wiederholung "muss / ein / lie- / ber / - Vaaaaa- / - ter / woooooh- / - näääään". So ganz sicher bin ich mir also mit meiner Deutung auch nicht.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Die ewige Liebe ist ja von Shakespeare's Sonetten bis zu "In time the Rockies may crumble, Gibraltar may tumble
    They're only made of clay but our love is here to stay" und "Marmor, Stein und Eisen bricht" häufig mit ähnlichen Metaphern beschworen worden. (Vgl. auch in Brahms op.3/1 "und splittert der Fels auch im Wind". Ich frage mich, ob der Kern der Metaphorik nicht ursprünglich religiös ist: "Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen" etc.)
    Ich sehe das Lied eher als Dreischritt: Zweifel des Burschen - ruhige Versicherung des Mädchens - leidenschaftliche Bekräftigung (letztlich beider, auch wenn der Text noch zum Mädchen gehört).

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Rheingold hat - erfreulicherweise - hinsichtlich der Rezeption und des Verständnisses der letzten Strophe des Liedes die These in den Raum gestellt:
    „Der Vers ist wie eine Beschwörung, dem Zweifel untergelegt ist. Als ob es doch nicht so weit her ist mit dem Glauben an die ewige Liebe.“
    So hatte ich selbst das noch nicht gesehen, habe aber, wie angekündigt, noch einmal genau hingehört und sorgfältig über das nachgedacht, was ich da höre. Immerhin ist der Gedanke von Rheingold ja naheliegend, wurde doch das „Mädchen“ gerade durch den „Burschen“ mit der Möglichkeit einer Beendigung ihres Liebesverhältnisses konfrontiert. Nun sehe ich, dass Stimmenliebhaber sich ebenfalls damit auseinandergesetzt hat und könnte mir meine eigenen Worte hier eigentlich sparen, denn ich kann seiner Argumentation eigentlich nur beipflichten


    Ich selbst hatte mit Blick auf die zweitletzte Strophe von der überaus zarten Nachdrücklichkeit gesprochen, mit der sich das „Mädchen“ hier liedmusikalisch ausdrückt, und ich meinte sie auch in der letzten Strophe wieder zu vernehmen. Sie ist Ausdruck und Bekenntnis unerschütterlich tiefer Liebe. Und dadurch, dass die auf dem Bild von „Eisen und Stahl“ liegenden melodischen Figuren bei den Worten „Eisen und Stahl, sie können vergehn“ mitsamt ihrer Harmonisierung wiederkehren, kommt ein Moment der Beharrlichkeit und des Insistierens auf, das dann am Liedende zum Heraustreten des Mädchens aus der Haltung zarter Nachdrücklichkeit in die emphatische Expression führt.


    Die entscheidende Frage ist nun, wie diese emphatische Aufschwung, den die Liedmusik in der letzten Strophe nimmt, von Brahms wohl gemeint sein könnte. Immerhin schwingt sich die Liedmusik, die in der zweitletzten Strophe pianissimo einsetzt, nun dynamisch „un poco animato e crescendo“ bis ins Forte auf und dort verbleibt sie auch bis zum Ende der melodischen Linie und klingt erst im Nachspiel „ritardando molto“ wieder ins Piano ab. Und in eben diesem Gestus ereignen sich die Wiederholungen, die Brahms in den letzten Vers einfügt.


    Ist das, so frage ich mich, eine Art Bruch im Gestus der Liedmusik der zweitletzten Strophe, - in dem Sinne, dass in dem Mädchen, das gerade ein so inniges und eindringliches Bekenntnis seiner Liebe abgelegt hat, Zweifel an deren Bestand aufkommen, die es im Gestus der emphatischen Beschwörung zurückzudrängen versucht? Um es klar und deutlich zu sagen: Ich vermag das so nicht zu hören. Der maßgebliche Grund dafür ist: Diese Emphase kommt ja nicht erst in der letzten Strophe auf, sie ist in der vorangehenden schon angelegt. Dies durch das Bild vom „Eisen und Stahl“ und die melodische Figur, die auf den Worten „unsere Liebe ist fester noch mehr“ liegt. Brahms wiederholt ja nicht nur Worte, er wiederholt – und das gewiss mit Absicht – auch melodische Figuren, um die beiden Schlussstrophen miteinander zu verkoppeln und zu einer liedmusikalischen Einheit werden zu lassen.


    Dass die aus einer Dehnung mit nachfolgendem doppeltem Sekundfall und Terzsprung bestehende melodische Figur aus den Worten „Fest ist der Stahl“ in der letzten Strophe auf den Worten „Eisen und Stahl“ wiederkehrt, darauf wurde bereits hingewiesen. Aber etwas anderes ist im Grunde noch bedeutsamer. Die Melodik beider Strophen lebt ganz wesentlich von der Figur, die immer dann auftaucht, wenn das Mädchen von „unserer Liebe“ spricht. Sie taucht erstmals im zweiten Vers der zweitletzten Strophe auf und besteht aus einem melodischen Quintsprung mit nachfolgendem doppeltem und anfänglich gedehntem Terzfall. Dadurch, dass diese Figur in den Wiederholungen des letzten Verses immer wiederkehrt, entwickelt sich dieser Eindruck von Nachdrücklichkeit und innerer Festigkeit, mit dem das Mädchen sein Bekenntnis vorbringt. Dieses Aufgreifen der melodischen Figur aus dem Anfang der Mädchenstrophen und das mehrfache Wiederholen am Ende will sagen: Die Gewissheit des ewigen Bestands ihrer Liebe war von Anfang an da und bleibt unerschütterlich. Die Emphase ist dann also, wie ich meine, als hymnisches Sich-Hineinsteigern in eben diese Gewissheit zu hören und nicht als Beschwörung der Liebe in der Absicht, tiefsitzende Zweifel an ihrem Bestand – oder auch Angst vor ihrer Vergänglichkeit – zurückzudrängen.
    Aber wohlgemerkt: Das ist die Art und Weise, wie ich ganz subjektiv die Liedmusik von Brahms höre und verstehe.

  • Das freut mich, lieber Stimmenliebhaber. Und ich kann gar nicht sagen, wie viel es mir bedeutet, dass es hier endlich mal wieder hier im Forum zu einem Gespräch über Liedmusik gekommen ist.
    Dem guten Johannes Brahms sei Dank!

  • Das kann ich nur bestätigen, lieber Helmut, und ich habe gestern nach der Lektüre deines sehr schönen Beitrages über das Lied "Von ewiger Liebe" op. 43 Nr. 1 mich spontan entschlossen, es im Thread "Tamino bei Nacht" vorzustellen und habe dabei in Dietrich Fischer-Dieskau (mit Hermann Reutter 1954) einen Interpreten gefunden, der dem Lied und seinem Gehalt m. E. sehr gerecht geworden ist, und ich kann Johannes' und Rüdigers positive Äußerungen sehr gut verstehen.
    Ich werde mir auch gleich noch die von Rüdiger präferierte Lesart Christa Ludwigs anhören.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Ludwig Heinrich Christoph Hölty: „Die Mainacht“


    Wann der silberne Mond durch die Gesträuche blinkt,
    Und sein schlummerndes Licht über den Rasen streut,
    Und die Nachtigall flötet,
    Wandl´ ich traurig von Busch zu Busch.


    Überhüllet vom Laub girret ein Taubenpaar
    Sein Entzücken mir vor; aber ich wende mich,
    Suche dunklere Schatten,
    Und die einsame Träne rinnt.


    Wann, o lächelndes Bild, welches wie Morgenrot
    Durch die Seele mir strahlt, find´ ich auf Erden dich?
    Und die einsame Träne
    Bebt mir heißer die Wang´ herab.


    Der zugrundeliegende lyrische Text stammt von Ludwig Hölty, weist jedoch in der vorliegenden Form mehrfache Änderungen sowohl durch den Herausgeber Johann Heinrich Voß, wie auch durch Brahms selbst auf, der die zweite Strophe („Selig preis´ ich dich dann, flötende Nachtigall“) nicht berücksichtigte. Unter formalem Aspekt handelt es sich hier um eine asklepiadeische Ode, - eine lyrische Gattung, die sich von ihrer formal streng geregelten Sprachlichkeit gegen eine Umwandlung in Liedmusik sperrt. Brahms schert sich nicht darum. Fast möchte man, da sich das liedkompositorisch mehrfach ereignet hat, annehmen und vermuten, dass er sich durch solche im Grunde sperrigen lyrischen Texte herausgefordert fühlte. Aber dem ist wohl nicht so. Das Hölty-Gedicht vertonte er aus dem gleichen Grund, wie das bei ihm immer der Fall war: Die lyrischen Bilder, das Lebensgefühl und die zugrundeliegende existenzielle Erfahrung sprachen ihn persönlich ganz unmittelbar an. Er fand sich darin wieder. Und in der Vertonung der Verse setzte er sich – aus eben diesem Grund der persönlichen Betroffenheit – über die prosodischen Fakten ganz einfach hinweg.


    Das Lied entstand 1866 in Karlsruhe. Ihm liegt ein Viervierteltakt zugrunde, und es soll „Sehr langsam und ausdrucksvoll“ vorgetragen werden. Zwar fungiert Es-Dur als Grundtonart, bei den beiden ersten Versen der zweiten Strophe ereignet sich aber eine Rückung in den Kreuztonarten-Bereich („H“, „Cis“, „Fis“). Und damit ist schon ein Wesensmerkmal dieser Liedkomposition angesprochen: Auch wenn sie sich nicht in enger Anbindung an die spezifischen Gegebenheiten des lyrischen Textes als einer asklepiadeischen Ode entfaltet, so weist ihre Faktur gleichwohl einen engen Bezug zur Semantik und zur Metaphorik derselben auf. Das Lied ist, wie das ja grundsätzlich bei Brahms der Fall ist, nicht in genuinen Sinne wortgeneriert, es erwächst aus den Emotionen, die das affektive Potential des lyrischen Textes beim Komponisten zu wecken vermag. Höltys Verse handeln von der Sehnsucht nach Liebe, die in ihrer Unerfülltheit – oder Unerfüllbarkeit – erfahren wird, anlässlich einer bezaubernden Mainacht mit all ihren Verheißungen von erfülltem naturhaftem Leben. Das Gedicht ist lyrisch-sprachliche Evokation eines Lebensgefühls, das Brahms tief vertraut war und in dem er sich unmittelbar wiederfand.


    Die Liedmusik verrät das in allen Bereichen ihrer Faktur: Im strophischen Aufbau, in der Motiv-Struktur der Melodik und ihrer Harmonisierung und in der Funktion des Klaviersatzes auf der Grundlage seiner jeweiligen Gestalt. Was die strophische Anlage des Liedes anbelangt, so fällt auf, dass sich Brahms insofern über die Dreistrophigkeit des lyrischen Textes hinwegsetzt, als er die Liedmusik auf die Strophen zwei und drei noch einmal in zwei Teile untergliedert, so dass man eigentlich von fünf Liedstrophen sprechen möchte. Es ist ja nicht nur die Rückung in die Kreuztonart in der ersten Hälfte der zweiten Strophe, die eine deutliche Binnengliederung der Liedmusik bewirkt, es ist auch die Struktur der melodischen Linie mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz, die als diesbezüglich strukturierender Faktor von Bedeutung sind. Brahms ordnet den lyrischen Aussagen melodische Figuren zu, die er in variierter Gestalt dort wiederholt, wo sie sich ihrerseits im Text wiederholen. Das ist ein Grundprinzip seiner Liedkomposition, das deren so einzigartige musikalische Ausdrucksstärke, ihr hohes klanglich-evokatives Potential bedingt.


    Es sind zwei melodische Motive, in deren polarer Binnenspannung sich die Liedmusik dieses so großen - und wie das vorangehende berühmten - Liedes entfaltet: Die melodische Linie auf den Worten „Wann der silberne Mond durch die Gesträuche blinkt“ und die auf der „einsamen Träne“. Sie stellen in ihrer Struktur tatsächlich melodisch-klangliche Gegensätze dar: Hier die gleichsam klanglich schildernde, die maienhafte Natur reflektierende und deshalb bogenförmig schweifende melodisch Figur, dort die in ihrem emphatischen Gestus nicht nur schweifende, sondern ausschweifende und den melodischen Rahmen sprengende Gegen-Figur. Es ist das Da und Dort, aus dessen polarer Spannung der lyrische Text seine poetische Aussage gewinnt, und es spricht für die Größe der Brahmsschen Liedmusik und ihre intensive Nähe zur Semantik des lyrischen Textes, dass sie diesen Sachverhalt nicht nur reflektiert, sondern mit ihren spezifischen Mitteln potenziert.


    In beiden melodischen Figuren schlägt sich die Semantik des lyrischen Textes unmittelbar nieder. Bei der ersten steigt die melodische Linie von einem tiefen „B“ mit einem Quart- und einem Sekundsprung in untere Mittellage empor, überlässt sich bei dem Wort „Mond“ einer Dehnung, geht danach in ein Auf und Ab über, wobei das Wort „Gesträuche“ ebenfalls durch eine Aufgipfelung einen leichten Akzent erhält, und senkt sich danach wieder in eine Dehnung auf einem „Es“ ab. Sie entfaltet sich dabei im Raum einer ganzen Oktave und den Bewegungen wohnt ein unbeschwert wirkender deskriptiver Gestus inne. Wie nah Brahms bei all seiner liedkompositorischen Ausrichtung auf den affektiven Gehalt des lyrischen Text doch an dessen sprachlicher Struktur ansetzt, das zeigt sich daran, dass er die melodische Linie mit einem tiefen „B“ einsetzen lässt. Damit reflektiert sie klanglich die vokale Komponente in dem Wort „wann“.


    Die Worte „Und die einsame Träne rinnt“ schildern nicht, wie der erste Vers, die Atmosphäre der maienhaften Mondnacht, sie sprechen von der seelischen Befindlichkeit des lyrischen Ichs. Dieses erfährt sich selbst als von der friedvollen Einheit der nächtlichen Welt ausgegrenzt und fühlt sich „dunkleren Schatten“ zugehörig. In der melodischen Emphase auf diesen Worten ereignet sich ein Ausbruch des tiefen Schmerzes, den das lyrische Ich in der Erfahrung der Mainacht empfindet, und die Liedmusik bringt das mit einer sich in hohe Lage aufschwingenden und lang gedehnten, also weit phrasierten melodischen Linie zum Ausdruck. Es ist ein langsamer Anstieg, der sich hier in Gestalt von z.T. gedehnten Tonrepetitionen vollzieht. Auf dem Wort „Tränen“ liegt dann ein hoch expressiver, sich über zwei Takte erstreckender Bogen der melodischen Linie in Gestalt eines dreifachen Terzfalls nach langer Dehnung auf einem hohen „Es“. Die Harmonik unterstützt und steigert die Expressivität durch eine Rückung von Es-Dur nach As-Dur und wieder zurück, wobei sich in diesen modulatorischen Prozess beim Einsatz der langen Dehnung ein c-Moll hineinschiebt, der dem Wort „Träne“ einen Anflug von Schmerzlichkeit verleiht.


    Betrachtet man den inneren Aufbau des ganzen Liedes unter diesem Aspekt der Polarität der beiden melodischen Hauptfiguren, dann zeigt sich – und ist auch deutlich vernehmlich -: Die Komposition ist angelegt auf die Kulmination der zweiten melodischen Figur am Ende des Liedes, und dieses bezieht daraus seine so tief beeindruckende liedmusikalische Aussage. Das schlägt sich auch im Klaviersatz nieder. Besteht dieser in der ersten Strophe noch aus einem klanglich transparenten Auf und Ab von Achteln in Gestalt von Dreierfiguren im Diskant über länger gehaltenen Akkorden oder Einzeltönen im Bass, so beginnt er sich in der zweiten Strophe schon zu verdichten: Im Bass erklingen Akkordrepetitionen, die von der Zwei- in die Dreistimmigkeit übergehen. In der letzten Strophe ist der Klaviersatz im Bassbereich zwar klanglich wieder etwas weniger dicht angelegt, da sich Akkorde mit Einzeltönen abwechseln, dafür ereignet sich aber im Diskant ein permanentes Auf und Ab von Einzeltönen und zunächst zweistimmigen, dann dreistimmigen Akkorden, das der melodischen Linie bei der Wiederkehr der Figur auf den Worten „Und die einsame Träne…“ folgt und sie in ihrer Expressivität steigert.


    Und diese erreicht nun tatsächlich hier ihren Höhepunkt. Wieder beschreibt die melodische Linie den schon bekannten weit gespannten Bogen, der auch hier wieder (wie schon bei „rinnt“) nun bei dem Wort „bebt“ auf der Quinte zum Grundton „Es“ endet, als sei dem Ausdruck des Schmerzes noch nicht Genüge getan. Aber während bei ersten Mal das Klavier in der zweitaktigen und mit einer Fermate versehenen Pause für die Singstimme die Fortsetzung der melodischen Linie übernimmt, macht das hier nun die Singstimme. Das geschieht bei den Worten „mir heißer die Wange herab“ in Gestalt einer wie in schmerzlichem Stocken durch eine Viertel- und eine Achtelpause unterbrochenen melodischen Linie. Das Wort „heißer“ wird zunächst auf einer Kombination von Quintsprung und nachfolgendem gedehntem Sekundfall deklamiert, wobei die Harmonik von Es-Dur nach As-Dur rückt. Nach einer Viertelpause wiederholt die Singstimme das Wort „heißer“, nun aber auf einer hochexpressiven Fallbewegung der melodischen Linie, die dich über eine ganze Dezime erstreckt und in den weit gespannten Bogen auf dem Wort „Wang“ mündet.


    Hier ereignet sich eine wirkliche Kulmination der Expressivität der Liedmusik, denn die Wiederholung des Wortes „heißer“ setzt - unerwartet und überraschend - auf einem hohen „Fes“ ein, das auch in Fes-Dur in Gestalt eines neapolitanischen Sextakkords harmonisiert ist. Erst nach einer Achtelpause führt die Singstimme die melodische Linie mit einem in den Grundton „Es“ mündenden Sekundfall bei dem Wort „herab“ fort.


    Was ist hier liedkompositorisch geschehen? Man darf wohl sagen: Etwas für den Komponisten Johannes Brahms höchst Bezeichnendes und Typisches: Er will seine musikalischen Schöpfungen nicht in der Hoffnungslosigkeit enden lassen. Das beeindruckendste Beispiel dafür dürften die „Vier ernsten Gesänge op.121“ sein. Hier, in diesem Fall, hat Ulrich Mahlert in einer Betrachtung des Liedes dessen Schluss mit den Worten interpretiert: „Die Versagung wird als Erfüllung komponiert“.

  • Hier ob dem Eingang seid befestiget,
    Ihr Kränze, so beregnet und benetzt
    Von meines Auges schmerzlichem Erguß!
    Denn reich zu tränen pflegt das Aug´ der Liebe.


    Dies zarte Naß, ich bitte,
    Nicht allzu frühe träufet es herab.
    Spart es, bis ihr vernehmet, daß sie sich
    Der Schwelle naht mit ihrem Grazienschritte,
    Die Teuere, die mir so ungelind.


    Mit einem Male dann hernieder sei es
    Auf ihres Hauptes gold´ne Pracht ergossen,
    Und sie empfinde, daß es Tränen sind;
    Daß es Tränen sind, die meinem Aug´
    In dieser kummervollen Nacht entflossen.


    (Georg Friedrich Daumer)


    Das ist das erste von insgesamt vier Liedern, die zusammen den Inhalt des Opus 46 ausmachen. Die lyrischen Texte stammen von Georg Friedrich Daumer und Ludwig Hölty. Nur die beiden letzten Kompositionen sind hinsichtlich ihrer Entstehung sicher zu datieren. Das Lied „An die Nachtigall“ (Text Hölty) entstand im Juni 1868, und das vorangehende mit dem Titel „Die Schale der Vergessenheit“, ebenfalls auf ein Gedicht von Hölty, wurde im gleichen Jahr komponiert. Das zweite Lied, dem ein Gedicht von Daumer zugrundeliegt, trägt den Titel „Magyarisch“. Brahms übergab die Kompositionen dem Verleger Fritz Simrock, der für nicht nur zu seinem künftigen Hauptverleger, sondern auch zu einem wichtigen Berater in finanziellen Angelegenheiten wurde. Das Opus 46 erschien 1868 im Druck.
    Hier soll, weil nun einmal ausgewählt werden muss, auf das erste und das vierte Lied des Opus 46 näher eingegangen werden.


    Der lyrische Text von „Die Kränze“ stammt von Georg Friedrich Daumer. Eine Vorlage aus dem Griechischen liegt ihm zugrunde, und er sollte Bestandteil seiner „Anthologie der Weltdichtung“ sein. Die Komposition von Brahms darauf ist möglicherweise 1864 entstanden. Ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, und sie soll „ziemlich langsam“ vorgetragen werden. Hinsichtlich ihrer Harmonik bietet sie ein recht komplexes Bild. Nicht nur dass diese stark moduliert und das Tongeschlecht wechselt, sie entfaltet sich auch sowohl in B- wie auch in Kreuztonarten. Die erste Strophe steht in Des-Dur als Grundtonart, bei der zweiten und den ersten drei Versen der dritten Strophe sind vier Kreuze als Vorzeichen vorgegeben, wobei die Harmonie zwischen cis-Moll, fis-Moll, e-Moll, a-Moll, E-Dur, A-Dur und D-Dur moduliert, und bei den beiden letzten Versen bewegt sich die Harmonik wieder, wie am Liedanfang, im Bereich von Des-Dur, As-Dur und b-Moll.


    Die Instabilität der Harmonik ist wohl als Niederschlag der seelischen Regungen des lyrischen Ichs zu verstehen. Dieses leidet unter der abweisenden Haltung der Geliebten, der Unerfülltheit seiner Liebe also, - ein lyrischer Gegenstand, der Brahms wohl bewogen haben mag, zu diesem Gedicht zu greifen und es in Liedmusik zu verwandeln. Die Sehnsucht nach Liebeserfüllung und das Leiden unter dem Nicht-Zustandekommen liebeserfüllter Zweisamkeit sind große Themen der Brahmsschen Liedkomposition. Das lyrische Ich versteigt sich in diesem Leiden in skurril anmutende Phantasien einer Begegnung der Geliebten mit ihm über die Tränen, die sich aus den Kränzen, die er damit benässt hat, auf „ihres Hauptes goldene Pracht“ ergießen. Das ist schlechte Lyrik. Aber Brahms macht daraus – wie das so oft bei ihm der Fall ist – große Liedmusik.


    Ihr spezifischer klanglicher Reiz besteht in dem Neben- und Ineinander von kurzschrittig-rhetorisch strukturierter Melodik und solcher, die in weitausgreifend phrasierte Emphase ausbricht. Sie reflektiert darin die beiden Ebenen des lyrischen Textes, auf denen sich Ansprache („Hier … seid befestiget, ihr Kränze“) und ein affektiv aufgeladenes Sich-Ergehen in phantastischen Situations-Entwürfen ereignet („und sie empfinde, daß es Tränen sind“). Nicht nur die melodische Linie der Singstimme – und ihre Harmonisierung! – ist in ihrer Struktur Niederschlag dieser zwei Ebenen, auf der sich der lyrische Text entfaltet, auch der Klaviersatz ist es. Er weist vier Grundfiguren auf: Die Kombination aus zwei Terzen mit einer Brücke aus zwei Achteln und einer halben Note, wie sie im Vorspiel aufklingt; die Terz im Wert einer halben Note, der ein Anlauf aus zwei Achteln vorausgeht; der triolische Aufstieg von Achteln aus dem Bass in den Diskant; und die wie ein Schreiten wirkende Aufeinanderfolge von Figuren aus Achtel-Akkord und Einzel-Achtel. Und in all diesen Figuren reagiert das Klavier auf die verschiedenen Haltungen des lyrischen Ichs, wie sie sich im lyrischen Text jeweils niederschlagen.


    Schon das viertaktige Vorspiel verweist auf das, was sich in der nachfolgenden Liedmusik immer wieder ereignet: Das Ausbrechen des lyrischen Ichs aus dem Gestus der Ansprache in den der emotional aufgeladenen Emotion. Im zweiten Takt ereignet sich in der Grundfigur des Klaviersatzes aus Terzen mit Achtel-Brücke mit einmal Mal ein Anstieg aus Terzen und einer Quarte in Bass und Diskant. Und genau diese Bewegung vollzieht die melodische Linie der Singstimme bei den Worten „seid ihr befestiget“ am Anfang nach, vom Klavier mit eben dieser Figur aus dem Vorspiel begleitet. Schon in der ersten Strophe überlässt sich das lyrische Ich seinen Emotionen. Die melodische Linie bringt das immer wieder mit ihrem Aufstieg in hohe Lage zum Ausdruck, dem, je nach Intensität der emotionalen Imagination, ein kleinschrittiger Abstieg oder einer in Gestalt eines weitgespannt-gedehnten Falls nachfolgt.


    Bei den Worten „von meines Auges schmerzlichem Erguß“ vernimmt man eine Fallbewegung, die die große Subtilität der Brahmsschen Melodik erkennen lässt. Auf dem Wort „Auges“ lieg ein Quintfall, der in des-Moll harmonisiert ist und all die seelischen Schmerzen zum Ausdruck bringt, von dem sich das lyrische Ich gepeinigt fühlt. Danach beschreibt die melodische Linie zwar einen Terzsprung, der dient aber nur als Anlauf zu einer neuerlichen Fallbewegung. Und die hat es in sich. Denn der Sekundfall geht auf der letzten Silbe des Wortes „schmerzlichem“ mit einem Mal von Vierteln zu halben Noten über, die für den Vortrag mit einem Staccato-Akzent versehen sind. Das Wort „Erguß“ erhält auf diese Weise einen starken melodischen Akzent.


    Beim letzten Vers der ersten Strophe lässt das lyrische Ich dann seinen Gefühlen freien Lauf. Aus einer sehr langsamen, vorwiegend in halben Noten sich vollziehenden Fallbewegung geht die melodische Linie bei den Worten „der Liebe“ in einen bis zu einem hohen Ges“ ausgreifenden und weit gespannten Bogen über, der sich auf der letzten Silbe in einem gedehnten Sekundschritt noch einmal aufrichtet. Das Klavier begleitet diese Melodiezeile zunächst mit jener Figur, die aus Terzen mit einem Vorlauf aus zwei ansteigenden Achteln bestehen, und bei der emphatischen Aufgipfelung der melodischen Linie geht es zu triolisch aus dem Bass in den Diskant aufsteigenden Achteln über. Die Harmonik vollzieht hier eine Rückung von Es-Dur nach As-Dur.


    In der zweiten Strophe geht die melodische Linie wieder zu ihrem stark rhetorische geprägten Gestus über. Gleichwohl drücken sich auch darin die Empfindungen des lyrischen Ichs aus. Bei den Worten „nicht allzu frühe träufet es herab“ geht das anfängliche Auf und Ab der melodischen Linie in Sprünge über ein größeres Intervall über, und am Ende folgt ein Fall über eine Septe, dessen einzelne Schritte in der gesanglichen Ausführung markant vorgetragen werden sollen. Die Harmonik vollzieht hier eine Rückung vom anfänglichen cis-Moll und fis-Mol nach E-Dur und H-Dur. Das lyrische Ich findet von der Schmerzlichkeit seiner Empfindungen bei den Gedanken an die Tränen zu einer Art Nüchternheit bei der Anweisung, diese erst dann herb fallen zu lassen, wenn die Geliebte sich mit ihrem „Grazenschritte“ „der Schwelle naht“. Und hier kommt prompt wieder Emphase in die melodische Linie. Schon bei dem Wort „Grazienschritte“ beschreibt sie einen aus einem Quintsprung hervorgehenden gedehnten Fall über eine Sexte, und das Klavier, das bislang mit jenen Figuren begleitete, die, weil sie, aus einem in einen Einzelton übergehenden Achtel-Akkord bestehen und markant angeschlagen werden sollen, wie Schritte anmuten, geht nun wieder zu seinem triolisch ansteigenden Achteln über, die es immer dann erklingen lässt, wenn das lyrische Ich in die melodische Emphase verfällt. Und das ist auch bei der weit gespannten und hoch ausgreifenden bogenförmigen Dehnung der Fall, die die melodische Linie am Ende der Strophe bei den Worten „die mir so ungelind“ beschreibt. Die Harmonik vollzieht hier, darin der Schmerzlichkeit der Aussage entsprechend, eine Rückung von Fis-Dur nach cis-Moll.


    Die Liedmusik der dritten Strophe ist stärker als die der beiden vorangehenden Strophen vom emotionalen Sich-Aussprechen des lyrischen Ichs geprägt. Hier fehlt im lyrischen Text der Gestus der Ansprache ja ganz und gar. Das lyrische Ich ergeht sich monologisch in der Imagination jenes Ereignisses, das es sich mit seinem Benetzen der Kränze mit den eigenen Tränen herbeisehnt. Und so bewegt sich die melodische Linie schon vom zweiten Vers an in wellenförmigem Auf und Ab in mittlerer tonaler Lage, und das Klavier begleitet mit nun fallend angelegten Dreierfiguren aus Achteln. Der Auslöser für die emphatische Kulmination der Liedmusik am Ende sind die Worte „daß es Tränen sind“. Das lyrische Ich ist von ihnen so berührt, dass es sie im zweitletzten Vers noch einmal aufgreift und sich nun mit Leib und Seele in seinen Seelenschmerz hineinsteigert, der sich bei der Vergegenwärtigung der vergangenen „kummervollen Nacht“ einstellt. Aus dem melodischen Bogen, den die Vokallinie bei diesen Worten beschreibt, geht sie nach einer Viertelpause wieder zu jener emphatischen Aufgipfelung über, die sie schon einmal am Ende der ersten Strophe bei dem Wort „Liebe“ vollzog. Auf dem Wort „entflossen“ liegt ein aus einem Sekundsprung hervorgehender weit gespannter und auf einem hohen „Ges“ aufgipfelnder Bogen, der über einen Quintfall in einen gedehnten Sekundanstieg mündet. Die Harmonik rückt dabei von der Dominante As-Dur nach der Tonika „Des“.


    Im achttaktigen Nachspiel lässt das Klavier mit den Terzen-Figuren des Vorspiels den Seelenschmerz des lyrischen Ichs nach- und ausklingen. Das ist klanglich tief anrührend, weil die Terzen in ihrer Auswärtsbewegung zweimal in eine hohe Sexte münden, bevor sie langsam, nun in Kombination mit Oktaven, in tiefe Basslage absinken.

  • Ludwig Hölty: „An die Nachtigall“


    Geuß nicht so laut der liebentflammten Lieder
    Tonreichen Schall
    Vom Blütenast des Apfelbaums hernieder,
    O Nachtigall!
    Du tönest mir mit deiner süßen Kehle
    Die Liebe wach;
    Denn schon durchbebt die Tiefen meiner Seele
    Dein schmelzend Ach.


    Dann flieht der Schlaf von neuem dieses Lager,
    Ich starre dann
    Mit nassem Blick und totenbleich und hager
    Den Himmel an.
    Fleuch, Nachtigall, in grüne Finsternisse,
    Ins Haingesträuch,
    Und spend im Nest der treuen Gattin Küsse;
    Entfleuch, entfleuch!


    Dieses Lied steht in einem starken klanglichen Gegensatz zu dem vorangehenden mit dem Titel „Die Schale der Vergessenheit“, dem ebenfalls ein Text von Hölty zugrundliegt. Brahms wollte es nicht veröffentlichen, da er es als „wüst“ erachtete. Angeblich hat ihn Julius Stockhausen von diesem Entschluss abgebracht, indem er ihm das Lied bei einem Morgenbesuch vorsang Der Eindruck, den Brahms mit dem Wort „wüst“ wiedergab, ist allerdings nicht ganz unberechtigt. In einem Brief, den er am 1. März 1869 an Brahms richtete, charakterisierte es Philipp Spitta mit den Worten „Ein brennender fieberhafter Schmerz wühlt darin. Im gleichen Brief geht er auch auf das Lied „An die Nachtigall“ ein und meint darin eine „süße, berückende Melancholie“ zu vernehmen.


    Und das ist eine in der Tat höchst treffende Beobachtung, was das Wesen dieses Liedes anbelangt, - im übrigen auch ein schöner Beleg dafür, dass wohl kaum ein Zeitgenosse die Musik von Johannes Brahms besser verstand als der Musikwissenschaftler Philipp Spitta, dem Brahms erstmals im Sommer 1864 in Göttingen begegnete und mit dem er danach anlässlich seiner Komposition „Ein deutsches Requiem“ in einen höchst intensiven und in einem umfangreichen Briefwechsel dokumentierten Dialog über musikalische Themen, Fragen und Probleme trat. „Süß“ ist die Musik dieses Liedes in der Zartheit ihrer Melodik und „berückend“ in deren Harmonisierung und der Klanglichkeit des Klaviersatzes. Mit dem Begriff „Melancholie“ schließlich spricht Spitta ein allgemeines, fundamentales Wesensmerkmal der Musik von Johannes Brahms an, das letztendlich seine Wurzel in seiner menschlichen Grundhaltung hat. In einem Brief (an Vincenz Lachner, August 1879) bekannte er einmal: „Ich müßte bekennen, daß ich nebenbei ein schwer melancholischer Mensch bin, daß schwarze Fittiche beständig über uns rauschen...“.


    Das Gedicht von Hölty lieferte ihm sozusagen die Vorlage für die liedmusikalische Expression von Melancholie, und dies in dem ihm liebsten Ton von „süßer“ und „berückender“ Klanglichkeit. Und all das wirkt in gar keiner Weise aufgesetzt, ist vielmehr durch den lyrischen Text vorgegeben. Das lyrische Ich erfährt den nächtlichen Gesang der Nachtigall in seinem die Tiefe der Seele anrührenden „Ach“ als Erweckung von Liebesgefühlen, denen eine Erfüllung versagt ist, so dass es „totenbleich“ den nächtlichen Himmel anstarren muss. Daher der Appell „Fleuch, Nachtigall, in grüne Finsternisse“, verbunden aber auch – und das ist der Quell der Melancholie – mit der Bitte, der treuen Gattin im Nest „Küsse“ zu spenden, - eine beglückende Geste, die ihm versagt bleiben muss. Unerfüllte Liebe und monologisch-melancholische Klage darüber, - ein Ur-Thema von Johannes Brahms, das ihn in höchst persönlicher Betroffenheit zu diesem Gedicht von Ludwig Hölty greifen ließ.


    Die Komposition steht in E-Dur als Grundtonart, ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, und sie soll „ziemlich langsam“ vorgetragen werden. Das Lied ist zwar durchkomponiert, gleichwohl bleibt Brahms seinem Prinzip treu, so viel Strophenliedcharakter wie irgend möglich zu bewahren. Aus diesem Grund wiederholt sich die Bewegung der melodischen Linie auf dem ersten Vers der ersten Strophe beim ersten Vers der zweiten, und auch die Struktur der melodischen Linie auf dem fünften Vers der zweiten Strophe („Fleuch, Nachtigall, in grüne Finsternisse“) ist mit der auf dem fünften Vers der ersten („Du tönest mir mit deiner süßen Kehle“) identisch. Aber schwerer wiegt für ihn die Verpflichtung, die Liedmusik die Aussage des lyrischen Textes reflektieren zu lassen. Und so kommt, dass er beim ersten Vers der zweiten Strophe die melodische Linie mit den gleichen Schritten beginnen lässt, den Sekundsprung, der dort auf den Worten „so laut“ liegt, nun aber nicht wiederholt. Die Aussage „Dann flieht der Schlaf von neuem dieses Lager“ ist als Bekenntnis des lyrischen Ichs zu schmerzlich. Also ereignet sich nun auf den Worten „der Schlaf“ statt eines großen ein kleiner Sekundsprung, verbunden mit einer Rückung nach fis-Moll.


    Diese kleine, aber klanglich bedeutsame, weil die lyrische Aussage reflektierende Variation erfolgt dann in der ersten Melodiezeile der zweiten Strophe noch einmal: Aus dem kleinen Sekundfall auf dem Wort „Lieder“ in der ersten Strophe wird nun ein großer auf dem Wort „Lager“. Und wie subtil Brahms dieses Prinzip der Variation melodische Strukturen in der Anbindung an den lyrischen Text handhabt, wird gleich in der zweiten Melodiezeile der beiden Strophen sinnfällig. Bei den Worten „vom Blütenast“ (dritter Vers, erste Strophe“) beschreibt die melodische Linie eine Kombination aus kleinem Terzfall und Terzsprung, der ein in eine Dehnung mündender kleiner Sekundsprung auf der Silbe „-ast“ nachfolgt. Zugrunde liegt der Liedmusik hier die Aufforderung an die Nachtigall, vom Apfelbaum nicht mehr die „liebentflammten Lieder“ hernieder klingen zu lassen. In der zweiten Strophe geht es aber im dritten Vers um etwas ganz anderes: Das lyrische Ich starrt „mit nassem Blick“ und „totenbleich“ in den Himmel. Brahms kann diese melodische Figur aus der ersten Strophe bei den Worten „mit nassem Blick“ nur beibehalten, wenn er die nun gänzlich anders geartete lyrische Aussage in Gestalt einer Variation berücksichtigt. Und das tut er, indem er aus den kleinen Intervallen große macht, was mit einer Rückung vom E-Dur der ersten Strophe nach e-Moll in der zweiten verbunden ist.


    Aber dieses klanglich so „süße“ und „berückende“ Lied soll hier nicht durch in Details vordringende analytische Betrachtungen seiner Faktur zerpflückt und beschädigt werden. Sie erschienen erforderlich, um zu zeigen welch subtile liedkompositorische Kunst bei Brahms hinter der volksliedhaft anmutenden Einfachheit der Liedmusik steht, - denn das ist ja der Regelfall und ein konstitutives Merkmal seiner Liedkomposition. Und der klangliche Zauber, der ihr so oft eigen ist, gründet wesentlich darin, dass sich die Liedmusik bei all ihrem Sich-Einlassen auf den lyrischen Text nicht in dessen prosodischen Fakten verliert und verstrickt, sondern an seinen Bildern und seinen affektiven Dimensionen ansetzt, und dies unter Wahrung des Primats der Kantabilität in der Struktur der melodischen Linie.


    Bei diesem Lied vernimmt man das auf beeindruckende Weise. Die melodische Linie entfaltet sich von Anfang an in ruhigen, alle sprunghaften Bewegungen und inneren Brüche meidenden Bewegungen, ganz der lyrischen Grundsituation eines in nächtlicher Meditation sich monologisch artikulierenden lyrischen Ichs entsprechend. Die Emotionen, die in diesem durch die Erfahrung des Nachtigallen-Gesangs ausgelöst werden, reflektiert die Liedmusik hierbei durchaus, aber sie tut es in verhaltener, gleichsam introvertierter Weise. Die Melodiezeilen weisen häufig die gleiche Grundstruktur auf: Dem ruhigen deklamatorischen Auf und Ab der Vokallinie in Gestalt von vorwiegend Viertelnoten folgt eine sie gleichsam abschließende melodisch gedehnte Fallbewegung, in der die Emotionen des lyrischen Ichs stärkeren Ausdruck suchen. Aber das ist keiner von hoher Expressivität. Er verbleibt im Gestus introvertierter Verhaltenheit, der das ganze Lied auf so charakteristische Weise prägt.


    Die erste Melodiezeile, den ersten Vers der ersten Strophe beinhaltend, ist diesbezüglich durchaus repräsentativ. Und das nicht nur hinsichtlich der Struktur der melodischen Linie, sondern auch für den Klaviersatz. Dieser weist ebenfalls eine gewisse Regelmäßigkeit auf. Er entfaltet sich aus zwei Grundfiguren. Da ist einerseits die Figur, die im zweittaktigen Vorspiel aufklingt: Aus einem bitonalen oder dreistimmigen Akkord im Wert eines Viertels löst sich im Legato-Fall über ein größeres Intervall ein Achtel. Ein wenig hat das die klangliche Anmutung eines Nachtigallen-Schlagens, und es begleitet die melodische Linie der Singstimme bis hin zu dem affektiv gesteigerten Appell „Fleuch, Nachtigall“ in der zweiten Strophe immer dann, wenn sich das lyrische Ich melodisch in ruhig-meditativer Weise seinen Gedanken und Emotionen hingibt. Dort aber, wo sich die verhaltenen melodischen Ausbrüche ereignen, in den kadenzhaft gedehnten Schlüssen der Melodiezeilen, lässt das Klavier begleitend seine zweite Grundfigur erklingen: Es sind synkopische Akkord-Repetitionen, erstmals vernehmlich bei dem gedehnten (halbe Noten) Fall der melodischen Linie auf den Worten „tonreichen Schall“.


    Immer wieder nimmt der Hörer dieses Liedes Anteil an diesem gedehnten Beschluss der einzelnen Melodiezeile, - und fühlt sich angerührt davon, weil er ihn einerseits als ein Zur-Ruhe-Kommen der melodischen Bewegung erfährt, andererseits aber auch als einen behutsam gemäßigten Ausbruch des lyrischen Ichs aus der Melancholie seines still-introvertierten Monologs. Zu erfahren ist das bei den Worten „tonreichen Schall“, „Nachtigall“, „dein schmelzend Ach“, „ich starre dann“, „den Himmel an“, und „ins Haingesträuch“. In diesen kadenzhaften Schlüssen der Melodiezeilen gründet ganz wesentlich der Zauber dieses Liedes, denn von ihnen geht klangliche Anmutung von Versöhnlichkeit aus, - Versöhnlichkeit des lyrischen Ichs mit seinem Schicksal der unerfüllten Liebe.


    Bemerkenswert ist, dass die Melodiezeilen-Schlüsse nicht alle über die Dominante in die Tonika münden. Brahms verfährt auch hier in differenzierter Weise. Bei dem gedehnten melodischen Fall auf den Worten „tobreichen Schall“ ereignet sich eine Rückung von a-Moll über Gis-Dur nach H-Dur. Im nachfolgenden kurzen Zwischenspiel ereignet sich aber in Gestalt von aufsteigenden dreistimmigen Akkorden eine Rückung in die Tonika „E“. Wie subtil Brahms die Harmonik handhabt und als musikalisches Ausdrucksmittel einsetzt, das ist am Schluss der ersten Strophe und an dem des ganzen Liedes zu vernehmen. Auf den Worten „dein schmelzend Ach“ liegt eine melodische Fallbewegung, die auf einem hohen „G“ ansetzt und über die Intervalle einer Sekunde, einer Quarte und einer Terz zu einem „A“ in mittlerer Lega führt, die das Klavier mit Akkorden begleitet und im nachfolgenden Zwischenspiel nach unten hin weiterführt. Hier ereignet sich eine harmonisch ausdrucksstarke Rückung von E-Dur nach F-Dur. Bei der Wiederholung dieser Worte verbleibt die harmonische Linie hingegen zunächst in Gestalt einer langen Dehnung auf der tonalen Ebene eines „C“ und eines „B“ und geht dann in einen vierfachen, in einer Dehnung bei dem Wort „Ach“ endenden Sekundfall über. Hier begleitet das Klavier nun mit gegenläufigen, also aufsteigenden Akkorden, die diesem melodischen Fall einen lieblichen Ton verleihen, und die Harmonik unterstützt das mit einer Modulation von der Subdominante über die Dominante zur Tonika-Dur.


    Harmonisch noch kunstvoller ist der Schluss des Liedes angelegt. Bei dem lang gedehnten, die Taktgrenze überschreitenden Quintfall auf dem Wort „Küsse“ rückt die Harmonik von E-Dur nach a-Moll, was die schmerzlichen Empfindungen vernehmlich werden lässt, die sich für das lyrische Ich mit diesem Bild verbinden: Küsse sind ihm nicht vergönnt. Das doppelte „entfleuch“ wird zunächst auf einem gedehnten Sekundsprung deklamiert, der mit einer Rückung von H-Dur nach Fis-Dur verbunden ist. Nach einer faktisch eintaktigen Pause deklamiert die Singstimme dieses Wort noch einmal auf einem gedehnten Sekundfall, nun aber in tiefer, um eine Sexte abgesenkter Lage. Und die harmonische Rückung, die sich hier eignet, mündet keineswegs in die Tonika, sondern von der Subdominante in die Dominante H-Dur. Erst im Nachspiel, das wie in der ganzen Liedmusik auf die letzten vier Verse aus triolischen Figuren von fallenden Achteln besteht, findet die Harmonik des Liedes über a-Moll zur Tonika E-Dur, die im mit einer Fermate versehenen Schlussakkord erklingt.


    Es ist kein heftiger Appell, den das lyrische Ich an die Nachtigall richtet. Seine Wiederholung in tiefer Lage, die mit einem Decrescendo verbunden ist, und die harmonische Offenheit, in die er mündet, lassen Wehmut vernehmen und muten als Ausdruck von Melancholie an. Das lyrische Ich beneidet die Nachtigall um den – imaginierten – Kuss der Gattin und leidet dabei unter seiner eigenen Situation unerfüllter Sehnsucht nach Liebe.

  • Die spezifische Eigenart der Brahmsschen Liedmusik wird einem bei diesem Lied in besonderer Weise bewusst, und dies wegen des zugrundliegenden lyrischen Textes von Hölty. Dieser bietet nämlich wegen der unterschiedlichen Länge der Verse, wie sie durch die Form der Ode bedingt ist, der Vertonung gewisse Schwierigkeiten. Wie groß die sind, wird sinnfällig, wenn man sich anhört und anschaut, wie Schubert dieses Hölty-Gedicht in Musik gesetzt hat. Das geschah am 22. Mai 1815, und das Lied trägt die Deutsch-Verzeichnis-Nummer 196. Es soll hier nicht näher darauf eingegangen werden. Bemerkenswert ist nur: Dieses: Schuberts Lied wirkt in seiner Faktur und dem klanglichen Eindruck, den es macht, weit weniger in sich geschlossen und einheitlich als das von Brahms. Es macht eher den Eindruck eines Ariosos, in dem die melodische Linie mal eher rezitativisch geprägt ist (so vor allem in der ersten und der vierten Strophe) und dann sich wieder in melodischer Gebundenheit entfaltet (so in der zweiten und dritten Strophe).


    Das liegt im Grunde daran, dass Schubert sich weitaus mehr auf die sprachliche Struktur und die Semantik des einzelnen Verses eingelassen hat als Brahms. Wie dieser bei seiner Vertonung mit den prosodischen Gegebenheiten des lyrischen Textes umging und welche liedkompositorische Intention dem zugrunde lag, wurde oben im einzelnen dargestellt. Wer sich das im Blick auf die Noten veranschaulichen möchte, dem sei die folgende Aufnahme angeboten:


    https://www.youtube.com/watch?v=wVFtYwA6wRE


    Das Schubertlied ist hier zu hören:


    https://www.youtube.com/watch?v=R8JbN_X7RD0

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