Johannes Brahms. Seine Lieder, gehört und betrachtet im Bemühen, ihr Wesen zu erfassen

  • Wehe, Lüftchen, lind und lieblich,
    Um die Wange der Geliebten,
    Spiele zart in ihrer Locke,
    Eile nicht, hinweg zu fliehn!
    Tut sie dann vielleicht die Frage,
    Wie es um mich Armen stehe,
    Sprich: „unendlich war sein Wehe,
    Höchst bedenklich seine Lage;
    Aber jetzo kann er hoffen,
    Wieder herrlich aufzuleben,
    Denn du, Holde, denkst an ihn.“


    (Georg Friedrich Daumer, nach Hafis)


    Das ist das erste von insgesamt fünf Liedern, die das Opus 47 ausmachen. Es wurde 1868 bei Simrock publiziert. Die Entstehungszeit der Lieder ist nicht genau zu bestimmen. Sie reicht vom Jahr 1858 (hier wurde das letzte Lied komponiert) bis zum Jahr 1868, in dem die ersten drei Kompositionen entstanden. Die zugrundliegenden Texte stammen von G. F. Daumer („Botschaft“, „Liebesglut“), Uhland („Sonntag“), Paul Flemming („O liebliche Wangen“) und Goethe („Die Liebende schreibt“).


    Das Gedicht „Botschaft“ ist eine Art Nachdichtung Daumers im Geist des persischen Dichters Hafis, die sich in dem 1852 in Nürnberg erschienenen Werk „Hafis. Neue Sammlung persischer Gedichte“ findet. Das lyrische Ich spricht den Wind an, er möge um die Wangen der Geliebten wehen, zart in ihren Locken spielen und, falls sie nach ihm fragen sollte, ihr mitteilen, dass es ihm jetzt wieder besser gehe, eben weil sie offensichtlich wieder an ihn denkt. Es ist ein subtiles Gedankenspiel, das Daumer lyrisch entfaltet. Dem lyrischen Ich geht es eigentlich schlecht, es ist in „bedenklicher Lage“, da es bei der Geliebten kein Gehör findet. Und nun gaukelt es sich dieses Bild mit „lauen Lüftchen“ vor, überlässt sich imaginativ einer Fiktion, so dass die Behauptung vom „herrlichen Wieder-Aufleben“ nicht so ganz ernst zu nehmen ist.


    Und genau so hat Brahms diese Verse offensichtlich gelesen. Man meint aus all der Terzenseligkeit des Klaviersatzes, in der die Melodik sich entfaltet, ein wenig zu viel Begeisterung und Beglückung beim lyrischen Ich herauszuhören. Auffällig ist, dass die melodische Linie bei den Worten „Tut sie vielleicht die Frage“ nach ihrem Quint- und Sekundsprung nach dem Wort „vielleicht“ abreißt und eine Pause von drei Achteln folgt, bevor sie ihr Bewegung fortsetzt. Und angesichts der nachfolgenden, ein wenig jämmerlich wirkenden Klage mit ihrer gedehnten Aufgipfelung auf den Worten „mich Armen“ wirkt die in mehrfachen Wiederholungen sich steigernde Emphase der Liedmusik auf den Schlussvers tatsächlich ein wenig wie das Sich-Hineinsteigern des lyrischen Ichs in eine Fiktion. Nicht dass Brahms einen ironischen Bruch in die Verse Daumers hineingelesen hätte. Das ist nicht seine Art: Musikalischen Spott, wie er sich etwa bei Hugo Wolf findet, meidet er. Aber er hat den lyrischen Text ganz offensichtlich mit Humor gelesen, und das wäre nun noch ein wenig detaillierter aufzuzeigen.


    Dem Lied liegt ein Neunachteltakt zugrunde, der ihm eine gewisse innere Beschwingtheit verleiht, und es soll „grazioso“ vorgetragen werden. Schon das ist wohl ein Hinweis darauf, dass Brahms bei der gesanglichen Interpretation des Mittelteils die Klage über „höchst bedenkliche“ Lage des lyrischen Ichs nicht in übertriebener Weise vorgebracht wissen wollte. Er will, und das zeigt die durchweg ungebrochene klangliche Schönheit der Liedmusik, diesen Gesellen durchaus ernst genommen wissen. Freilich setzt er musikalische Mittel ein, um die Lage zu beleuchten, in der dieser sich befindet. Das sind: Die Harmonik, die Struktur der melodischen Linie und die Wiederholung melodischer Passagen nach dem Prinzip der entwickelnden Variation.


    Was die Harmonik anbelangt, so lässt schon das recht lange, nämlich siebentaktige Vorspiel, in dem die Singstimme auftaktig einsetzt, ein wesentliches Merkmal der Faktur des Liedes erkennen: Die Harmonik pendelt hier, in b-Moll einsetzend, über mehrere harmonische Modulationen zwischen den Tongeschlechtern Dur und Moll hin und her, und das ist im ganzen nachfolgenden Lied der Fall, wobei sich das Geschlecht Dur aber immer mehr durchsetzt. Im Notentext sind fünf „Bs“ als Vorzeichen vorgegeben, Des-Dur dominiert aber nicht, vielmehr macht die Harmonik mehrfach Rückungen in die Parallele b-Moll und andere Moll-Tonarten. Aber das Vorspiel verweist auf noch eine weitere Eigenart des nachfolgenden Liedes: Es ist seine sich auf der Grundlage eines terzenbetonten Klaviersatzes entfaltende kantable und klanglich einschmeichelnde Melodik, der ein beschwingter Geist innewohnt. Schließlich beschreiben die Terzen des Vorspiels eine nach oben drängende und dabei permanent harmonisch modulierende Aufwärtsbewegung.


    Man begegnet ihr schon in den ersten Melodiezeilen. Die Beschwingtheit, in der sie sich entfaltet, ist keine vordergründige, man empfindet sie, und das macht ihren spezifischen Zauber aus, als Ausdruck eines emotional beflügelten lyrischen Ichs. Daher dieses wellenartige Auf und Ab der Vokallinie, in dem sich kurze Schritte mit Dehnungen ablösen und sich mehrfach wie aus einem Anlauf hervorgehende Aufgipfelungen ereignen, - so bei den Worten „um die Wange“ und „zart in ihrer Locke“. Das Klavier begleitet mit einer Folge von Figuren, die aus zwei Terzen gebildet sind, zwischen denen sich ein Fall zu einem Achtel-Einzelton ereignet. Die innere Bewegtheit der melodischen Linie wird durch ihre Harmonisierung verstärkt, denn diese rückt von einem anfänglichen Ges-Dur über Des- und As-Dur und weder zurück nach Ges-Dur.


    Die Liedmusik folgt, auch wenn sie sich vom kantablen Gestus der Melodik leiten lässt, dem lyrischen Text, und da es sich dabei um die Ansprache an ein „lindes Lüftchen“ handelt, wandelt sich mit den Worten „Eile nicht, hinweg zu fliehn“ die Struktur der melodischen Linie, ohne freilich, und das macht ja gerade die Eigenart der Brahmsschen Liedmusik aus, in einen rhetorischen Gestus zu verfallen. Vielmehr treten Pausen in die Vokallinie, wodurch sie in kleine Zeilen untergliedert wird, die den Aufforderungscharakter dieser Worte zum Ausdruck zu bringen vermögen, wobei das Mittel der Wiederholung zum Einsatz kommt. Aus der Fallbewegung in Achteln, die anfänglich auf den Worten liegt, wird ein zweimaliger Aufstieg in punktierten Vierteln, wobei die tonale Ebene um eine ganze Quinte angehoben ist. Die Aufforderung an das „Lüftchen“ erhält auf diese Weise starken Nachdruck. Und bei der Wiederholung des ganzen Verses am Ende liegt dann auf den Worten „eile nicht“ ein aus einer Tonrepetition hervorgehender und dadurch noch expressiverer Quintsprung zu einem hohen „As“, von dem aus die melodische Linie in einen langsam Fall übergeht, der der Aufforderung den Charakter der – lieblich vorgetragenen – Bitte verleiht. Auf dem Quintsprung liegt freilich eine harmonische Rückung von „Des-Dur“ nach „Ges-Dur“, der dem Wort „nicht“ ein starkes Gewicht verleiht.


    Nach einem viertaktigen Zwischenspiel, in dem das Klavier die Terzenmotive des Vorspiels erklingen lässt, wandelt sich der Ton der Liedmusik. Melodische Linie und Klaviersatz neigen zunächst dazu, auf der jeweiligen tonalen Ebene zu verharren: Dieser in Gestalt von einem repetierenden Aufs und Abs von Achteln im Diskant auf der Ebene eines „As“, das sich erst bei den Worten „mich Armen“ im Intervall erweitert und tonal in die Höhe steigt; jene ebenfalls in Form von zum Teil gedehnten Tonrepetitionen in mittlerer tonaler Lage. Darin drückt sich, so meint man zu vernehmen, das „vielleicht“ aus, das die lyrische Aussage beherrscht. Der Geselle gibt sich hier ja einem Wunschtraum hin. Bei den Worten „um mich Armen stehe“ beschreibt die melodische Linie dann aber eine in hohe Lage ausgreifende und weit gedehnte bogenförmige Bewegung, in der sich das ganze seelische Elend des lyrischen Ichs ausdrückt. Die Worte werden sogar noch einmal wiederholt, dieses Mal aber in Gestalt einer etwas weniger (um eine Sekunde) hoch ausgreifenden und dann bei dem Wort „Armen“ mit einem Sextfall verbundenen melodischen Bewegung. Das klingt noch gar kläglich, auch deshalb, weil die Harmonik nun vom anfänglichen Ges-Dur über C-Dur in bei dem Wort „Armen“ ein f-Moll rückt und erst bei dem melodischen Sekundfall bei dem Wort „stehe“ am Ende dieser Melodiezeile wieder zum C-Dur zurückfindet.


    Mit der Aufforderung „sprich“, die auf einem fast den ganzen Takt einnehmenden „Des“ in oberer Mittellage deklamiert wird, kehrt die Liedmusik – nach einer zweitaktigen Pause – gleichsam zu ihrer Anfängen zurück. Bis zu den Worten „wieder herrlich aufzuleben“ wiederholt Brahms mit nur geringen Variationen melodische Figuren des Liedanfangs. Da er aber auch lyrischen Text wiederholt, nämlich die Worte „höchst bedenklich seine Lage“, fügt er, um diese Aussage in ihren verschiedenen lyrischen Dimensionen auszuloten, Varianten ein, und zwar bei den Worten „seine Lage“. Beim ersten Mal beschreibt die melodische Linie einen gedehnten Terzfall in hoher Lage, bei der Wiederholung wird daraus, um der Botschaft Nachdruck zu verleihen, ein leicht gedehnter Sekundsprung in mittlerer Lage.


    Aber alles strebt hier auf die Emphase zu, die die Liedmusik bei den Schlussworten „Denn du, Holde, denkst an ihn“ entfaltet. Es ist ein Wunschtraum, den das lyrische Ich in seinen Phantasien zu einer imaginativen Realität werden lässt, und die Liedmusik reflektiert dies mit einer Melodik, die in Gestalt von kleinen, Textelemente wiederholenden Zeilen zwei Mal erst über eine Terz, dann über eine Quinte zu einem hohen „As“ hinauf springt, um sich von on dort Fallbewegungen zu überlassen. Und diese sind nicht nur höchst ausdrucksstark, sondern auch vielsagend, zumal das Klavier jeweils dazu seinen ganz eigenen Beitrag liefert. Die Worte „du Holde“ werden drei Mal deklamiert. Beim ersten Mal liegt auf ihnen ein schlichter Sekundfall mit Tonrepetition auf dem Wort „Holde“. Das Klavier begleitet in Des-Dur mit dem Auf und Ab von Achteln, wobei sich das Intervall fallend erweitert. Bei der ersten Wiederholung wird aus dem Sekundfall ein veritabler Oktavfall von einem hohen zu einem As in mittlerer Lage, und das Klavier begleitet mit fallenden Oktaven im Diskant und ebenfalls fallenden Achteln im Bass.


    Bei der zweiten Wiederholung schließlich wird aus den Fallbewegungen ein Sprung. In Umkehrung ihrer bisherigen Bewegungen steigt die melodische Linie über das Intervall einer Quinte wieder zu ihrem hohen „As“ empor und geht von dort in eine ruhige, in Gestalt von zwei Dehnungen auf dem Wort „denkst“ weit gespannte Fallbewegung bei den Worten „denkst an ihn“ über, die mit einem Sekundsprung auf dem Grundton „Des“ endet. Das Klavier hat dabei von seinen expressiven fallenden Oktavketten zu ruhigeren Figuren aus bitonalen Akkorden und aufsteigenden Achteln zurückgefunden.


    Hier wird auf eindrucksvolle Weise vernehmlich und erlebbar, in welch kunstvoller Weise Brahms das liedkompositorische Mittel der Wiederholung einsetzt und handhabt. Alle semantischen Dimensionen des Schlussverses werden auf diese Weise liedmusikalisch erschlossen. Die „Holde“ ist ja für das lyrische Ich nicht nur das Objekt seines Begehrens, sie ist auch ein Wesen, das sich diesem Begehren verweigert und diesbezüglich angesprochen wird. Es ist eine Ansprache, die sich in immer größere, Bewunderung und Verehrung ausdrückende Emphase steigert, am Ende aber, beim auf einem hohen „Ges“ ansetzenden gedehnten Quintfall auf der Wiederholung des Wortes „denkst“, zu einer regelechten Beschwörung wird. Es ist eben eine Fiktion, in die sich das lyrische Ich hineinsteigert. Und die Liedmusik bringt das, darin weit über den lyrischen Text hinausgehend, auf höchst beeindruckende Weise zum Ausdruck.

  • Dieses Lied gibt Einblick in eine Seite des Menschen und Komponisten Johannes Brahms, die gemeinhin verdeckt wird von dem Bild des schwermütigen Melancholikers: Es ist die des feinsinnigen Humoristen. Ich meine, sie hier zu vernehmen und möchte deshalb, weil ich diesen Aspekt des Liedes bei seiner obigen Besprechung nicht berücksichtigt habe, diesen Nachtrag machen.


    Zu vernehmen ist er für mich in der Steigerung der Emphase, wie sie sich im letzten Teil des Liedes ereignet, einsetzend mit den Worten „Sprich: Unendlich war sein Wehe…“. Brahms lässt hier die Worte „höchst bedenklich seine Lage“ wiederholen, wobei die melodische Linie beim ersten Mal in Terzen und Quarten über eine ganze Oktave zu einem hohen „F“ ansteigt und sich dann bei dem Wort „bedenklich“ dort einer Dehnung überlässt. Diese wird dann beim zweiten Mal erneut in unveränderter Weise deklamiert, und das, so meine ich, lässt vernehmen, dass Brahms dieses lyrische Ich nicht ganz so ernst nimmt, ist doch seine „Lage“ nicht wirklich „bedenklich“, da er ja nur endlich von seiner „Holden“ erhört werden möchte.


    In der Interpretation des Liedes durch Hans Hotter kann man das sehr schön vernehmen. Hotter deklamiert diese Worte in einer, wie ich finde, ein wenig gezierten Art und Weise:


    https://www.youtube.com/watch?v=ZCrncEMmNu4

  • Ich muss noch einmal auf diese - oben als Link eingegebene - Hotter-Interpretation des Liedes zurückkommen. Denn sie hat mich beschäftigt. Ich kannte sie nicht, liegt doch meinen Brahms-Liedbetrachtungen ja eigentlich der Notentext zugrunde, und dies verbunden mit seiner gesanglichen Realisierung durch Dietrich Fischer-Dieskau und – wenn dieser infolge „Frauenlied“ – ausfällt, durch Juliane Banse. Auf andere gesangliche Interpretationen greife ich – mit Ausnahme von Andreas Schmidt, weil der mit Juliane Banse die „Complete Edition“ der Brahms-Lieder bei cpo bestreitet - gar nicht zurück.


    Und jetzt stelle ich fest, dass das ein Fehler ist, - und ich Abstand von dieser methodischen Verfahrensweise nehmen sollte. Hans Hotter hat mir tatsächlich erst die Augen geöffnet für den subtil-unterschwelligen Humor, der diesem Brahms-Lied innewohnt: Indem er ihn, deutlicher als Fischer-Dieskau, wie ich finde, vernehmlich werden lässt. Man höre nur einmal, wie er – neben der bereits erwähnten Deklamation der Worte „höchst bedenklich seine Lage“. – die melodische Linie auf den Worten „tut sie dann vielleicht“ deklamatorisch gestaltet, - das Wort „vielleicht“ geradezu behutsam sprachlich behandelnd. Oder wie er ein leicht übertriebenes Pathos in den Bogen auf den Worten „mich Armen stehe“ legt.
    Das ist große, weil die Liedmusik reflektierende und damit höchst bewusst ausgeführte Lied-Interpretation.

  • So hab´ ich doch die ganze Woche
    Mein feines Liebchen nicht gesehn,
    Ich sah es an einem Sonntag
    Wohl vor der Türe stehn:
    Das tausendschöne Jungfräulein,
    Das tausendschöne Herzelein,
    Wollte Gott, ich wär´ heute bei ihr!


    So will mir doch die ganze Woche
    Das Lachen nicht vergehn,
    Ich sah es an einem Sonntag
    Wohl in die Kirche gehen:
    Das tausendschöne Jungfräulein,
    Das tausenschöne Herzelein,
    Wollte Gott, ich wär´ heute bei ihr!


    (Volkslied)


    Diesen lyrischen Text fand Brahms in der Volksliedsammlung vor, die Ludwig Uhand 1844 herausgegeben hatte. Dietrich Fischer-Dieskau vermutet, dass die Komposition bereits 1859/60 entstanden sein könnte, da sie sich in dem Verzeichnis noch ungedruckter Stücke findet, das Brahms 1860 angelegt hatte. Wie auch immer das Lied zu datieren sein mag, - es tritt seinem Hörer als geniale kompositorische Adaption des Volksliedtons entgegen. Denn es stellt, auch wenn es alle konstitutiven Merkmale eines Volksliedes aufweist – strophischer Aufbau, Einfachheit der Struktur in Melodik und Klaviersatz und modulatorischer Schwerpunkt im Raum von Tonika, Dominante und Subdominante – ein liedkompositorisches Kunstwerk dar. Das genauere Hinhören und der Blick in seine Faktur verraten das. Aber die Genialität des künstlerischen kompositorischen Schaffensaktes besteht eben darin, dass er sich in seinen Resultaten als solcher zu verbergen weiß.


    Die Melodik ist in ihrer Struktur, ihrer Phrasierung und ihrer Harmonisierung auf Kantabilität angelegt. Sie ist im genuinen Sinne volksliedhaft, gleichwohl aber reflektiert sie die Semantik des lyrischen Textes. Da artikuliert sich ein lyrisches Ich, das ein „Liebchen“ hat, das für ihn ein „tausendschönes Jungfräulein“ ist und ihn bei der sonntäglichen Begegnung so beglückt hat, dass ihm die ganze nachfolgenden Wochentage zum Lachen zumute ist. Die Liedmusik von Brahms ergeht sich freilich nicht in einem vordergründigen Jubilieren, sie lässt daraus, und das macht ihren Zauber aus, ein inniges Beglückt-Sein werden. Auffällig ist, dass die melodische Linie stark von dreischrittigen Fallbewegungen in Intervallen von Terzen und Sekunden geprägt ist. Und es sind gerade die lyrisch zentralen Worte, auf denen solche melodischen Figuren liegen: „Jungfräulein“, „Herzelein“, „wollte Gott“ und „heute bei dir“. Zwar tritt bei dem Wort „Jungfräulein“ ein Crescendo in die melodischen Linie, und bei „tausendschöne Herzelein“ steigert sich die Dynamik gar in den Forte-Bereich, aber dieser Ausbruch der Liedmusik in einen Jubelton hält nicht lange an. Schon beim zweiten „wollte Gott“ stellt sich ein Decrescendo ein, und der Wunsch „ich wär´ heute bei ihr“ wird im Piano vorgetragen.


    Es ist ein stilles, inniges Glück, das sich hier liedmusikalisch ausdrückt, und der zugrunde liegende Dreivierteltakt verleiht dem dazu noch eine innere Beschwingtheit. Schon die erste Melodiezeile, die die beiden ersten Verse der Strophen umfasst, vermittelt klanglich den Eindruck eines innigen, eher introvertierten als nach außen gerichtetes Beglückt-Seins. Zwar setzt die melodische Line ohne Vorspiel mit einer Art Aufschwung in Gestalt einer Kombination aus Quart- und Sekundsprung ein, aber sie tut das piano, und das Klavier setzt diesem melodischen Aufstieg im Bass einen Fall aus Achteln entgegen. Danach beschreibt die melodische Linie zwar bei den Worten „die ganze“ einen Quartsprung in obere Mittellage, aber auf dem Wort „Woche“ liegt schon der erste Fall, der sie wieder in die Ausgangslage (ein tiefes C) zurückführt. Und bemerkenswert ist, dass die Worte „Liebchen nicht gesehn“ auf zwei melodischen Fallbewegungen deklamiert werden.


    Ist dieses lyrische Ich ein wenig betrübt, weil es sein „Liebchen“ die ganze Woche nicht gesehen hat? Die Melodik mutet klanglich so an, auch wenn die erste Zeile ganz und gar in Dur harmonisiert ist (F-Dur). Aber schon in die zweite schleicht sich, Indiz für den artifiziellen Charakter dieser Komposition, ein Moll ein: Bei den Worten „Ich sah es an einem Sonntag wohl vor der Türe stehen“. Die melodische Linie weist im übrigen auch den gleichen Grund-Gestus auf wie die erste: Es ist der einer fallenden Linie, die erst am Ende eine Aufwärtstendenz aufweist. Aber besonders auffällig ist: Bei den Worten „an einem Sonntag“ geht die melodische Linie wieder einen Fall in die tiefe Lage eines „D“ über, das gerade mal eine Sekunde über ihrem Ausgangspunkt am Liedanfang liegt. Und die Harmonik rückt an dieser Stelle vom vorangehenden C-Dur nach d-Moll. Es ist das einzige Mal, an dem die Harmonisierung der melodischen Linie in das Tongeschlecht Moll tritt. Warum aber?


    Man kann es wohl so verstehen, dass dem lyrischen Ich in der Erinnerung an den vergangenen Sonntag bewusst wird, dass es die Gegenwart seines Liebchens in diesem Augenblick entbehren muss. Daher der klangliche Anflug von Schmerzlichkeit in der melodischen Linie, der die Subtilität der Textinterpretation durch die Brahmssche Liedmusik vernehmen und erkennen lässt. Diese Stelle lässt dann auch die Innigkeit des Liedschlusses, dieses mehrfache „wollte Gott“ umso verständlicher werden. Und sie erklärt die Emphase, die nun mit den Worten „das tausendschöne Jungfräulein“ in die melodische Linie kommt. Das geschieht über eine höchst reizvolle und eindringliche Steigerung in ihrer Entfaltung. Sie beschreibt zwei Mal eine ähnlich strukturierte Bewegung, die aus einem anfänglich Sprung über ein großes Intervall, einem nachfolgenden Auf und Ab auf der damit erreichten tonalen Ebene und einem nachfolgenden Fall in zwei Terzschritten besteht.


    Bei der Wiederholung der Worte wird aus dem anfänglichen Sextsprung nun aber einer über eine veritable None, so dass sich die nachfolgenden melodischen Bewegungen auf einer höheren tonalen Ebene abspielen. Und da dies zudem noch mit einer Rückung von C-Dur nach B-Dur verbunden ist, hat das Ganze eine Steigerung der Expressivität dieses Lobpreises der Geliebten zur Folge. Diese Rückung über zwei harmonische Stufen ist wiederum ein Indiz für den – über die Volksliedharmonik hinausgehenden – artifiziellen Charakter der Komposition. Noch deutlicher und ausgeprägter begegnet einem dieser im sechstaktigen Zwischenspiel, das zugleich als Nachspiel fungiert. In der Fallbewegung aus Achtel-Terzen, - Quarten und –Sexten ereignet sich eine hochkomplexe harmonische Modulation auf der Basis der Grundtonart F-Dur im Raum von verminderter Harmonik („B“ und „F“), B-Dur, d-Moll und schließlich über den Septimakkord der Dominante zum abschließenden F-Dur.


    Beim Schlussvers setzt Brahms wieder das – von ihm so gern und häufig verwendete – kompositorische Mittel der Wiederholung ein. Den melodischen Bewegungen wohnt dabei ein ganz besonderer klanglicher Zauber inne, weshalb sie Brahms auch unvariiert wiederkehren lässt. Von dem Fall über eine Terz und eine Sekunde bei den Worten „wollte Gott“, der sich eine Terz tiefer ja noch einmal wiederholt, geht die Anmutung großer Innigkeit aus, - auch deshalb weil sich hier ja eine harmonische Rückung von der Subdominante in die Tonika ereignet. Und geradezu kompositorisch raffiniert wirkt, dass diese Fallbewegung sich bei den Worten „ich wär heute bei ihr“ in gleicher Struktur, nun aber in der ruhigen Bewegung von Viertelnoten in tieferer Lage wiederholt, - darin gleichsam aufgefangen und zur Ruhe gebracht wird. Das ist wahrlich große, sich in volksliedhafter Einfachheit verbergende Kompositionskunst.

  • Das ist eines von den Brahms-Liedern, in denen man dem Wesen seiner Liedmusik in ihrem elementaren klanglichen Kern begegnet: Der vom Geist des Volksliedes inspirierten, von ihm beflügelten und in ihrer Gestalt geprägten Melodik. Man liest die ersten lyrischen Worte irgendwo, und schon stellt sich die Melodie dazu ein, Und man vermag sie mühelos und ohne auch nur einen Augenblick ins Stocken zu geraten weiter und zu Ende zu singen.


    Der Grund dafür ist in einer vollkommenen Verschmelzung von lyrischem Text und melodischer Linie zu finden. Vollkommen ist sie, weil diese Verschmelzung nicht von einer aufgesetzten interpretatorischen Intention gestört wird. Vielmehr fügt sich die Melodik der lyrischen Sprache in ihrer Struktur und ihrer Semantik ein, dies allerdings unter Wahrung ihrer auf Gebundenheit der deklamatorischen Schritte hin angelegten Phrasierung. Und gerade dadurch vermag sie, mehr als eine Melodik, die auf eine Erschließung des lyrischen Subtextes abzielt, deren lyrisch-sprachlichem Wesen gerecht zu werden, - eben diese Einheit zustande zu bringen.


    Nicht begreiflich, und wie an ein Wunder grenzend, ist freilich, wie das möglich ist: Eine Melodik, die sich auf den lyrischen Text einlässt, seine Aussage erfasst und reflektiert, und gleichzeitig ihr Eigensein bewahrt, als ein in sich stimmiges und in seinen deklamatorischen Schritten zu formaler Geschlossenheit findendes melodisches Gebilde. Vor diese Frage sieht man sich bei Brahms immer wieder gestellt, wie das sonst eigentlich in dieser Häufigkeit und Intensität nur noch bei Schubert der Fall ist. Ich vermag keine wirklich überzeugende und hinreichend fundierte Antwort darauf zu finden und sollte mich vielleicht begnügen damit, dass es so ist, und mich daran erfreuen.
    Aus diesem Grund ein Link zu einer gesanglichen Interpretation, die – wie ich finde – dieser Liedmusik gerecht wird:


    https://www.youtube.com/watch?v=noGlGnEIeoo

  • Johann Wolfgang v. Goethe: „Die Liebende schreibt“


    Ein Blick von deinen Augen in die meinen,
    Ein Kuß von deinem Mund auf meinem Munde,
    Wer davon hat, wie ich, gewisse Kunde,
    Mag dem was ander´s wohl erfreulich scheinen?


    Entfernt von dir, entfremdet von den Meinen,
    Führ´ ich stets die Gedanken in die Runde,
    Und immer treffen sie auf jene Stunde,
    Die einzige: Da fang´ ich an zu weinen.


    Die Träne trocknet wieder unversehens:
    Er liebt ja, denk´ ich, her in diese Stille,
    Und solltest du nicht in die Ferne reichen?


    Vernimm das Lispeln dieses Liebewehens,
    Mein einzig Glück auf Erden ist dein Wille,
    Dein freundlicher zu mir; gib mir ein Zeichen!


    In diesem Sonett Goethes kreisen die Gedanken und die Gefühle des lyrischen Ichs, „entfernt“ dem Geliebten und den Seinen, um „jene Stunde“, in der sich der „Blick“ aus den Augen und der „Kuß“ vom Mund desjenigen ereignete, dessen „Wille“ sein „einzig Glück auf Erden“ ist. Die Vergegenwärtigung dieses Augenblicks der Begegnung mit dem Geliebten ereignet sich in einem Akt des Schreibens, und er löst Tränen aus. Der Glaube, dass die Liebe des Anderen bis hierher in die eigene Stille und Einsamkeit reicht, beflügelt diese Frau zu der Hoffnung, dass auch sie mit all dem, was sie zu sagen hat, in die Ferne, bis hin zum Geliebten zu reichen vermag. Und all das mündet in den Appell: Gib mir ein Zeichen.


    Brahms hat das Lied auf diese Verse 1858 in Göttingen für Agathe von Siebold komponiert, jene junge Frau, die er wohl so innig liebte, dass er eine Verlobung mit ihr einging, die er allerdings alsbald wieder löste. Joseph Joachim nannte sie übrigens Brahms´ „Amati-Geige“. Die Komposition weist einen Sechsachteltakt auf, steht in Es-Dur als Grundtonart, und die Vortragsanweisung lautet: „Non troppo lento“. Da sie später hinzugefügt wurde, vermutet D. Fischer-Dieskau, dass das Lied anfänglich für Brahms zu langsam vorgetragen wurde.


    Und tatsächlich würde ein zu langsamer Vortrag die spezifische musikalische Aussage des Liedes nicht voll zur Geltung kommen lassen. Diese Frau fühlt sich, da sie ganz in seiner Liebe lebt, fremd in ihrer Lebenswelt, ist „entfremdet“ von den Ihren und sehnt eine Botschaft von dem Geliebten herbei, die ihr Gewissheit verschafft, dass ihre Liebe erwidert wird. Die innere Erregung, die mit der völligen Hingabe an ihre Liebe und die Erinnerungen daran verbunden ist, wird von der Liedmusik in beeindruckender Weise eingefangen. Das Besondere daran ist dabei, dass sie sich, wie das ja generell bei Brahms der Fall ist, aus dem emotionalen Kern des lyrischen Textes entfaltet und entwickelt, gleichzeitig aber dessen formale Gestalt, die des Sonetts also, gewahrt bleibt. Darin unterscheidet sich diese Komposition von den Vertonungen durch Felix Mendelssohn und Franz Schubert (D 673). Eine vergleichende Betrachtung soll hier nicht vorgenommen werden. Was Mendelssohn anbelangt, so sei auf Thread „Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Lieder“ (Beiträge 71 und 72, vom 12. / 14. Juni 2012) verwiesen.


    Die große innere Erregung, die das lyrische Ich bei seinem Sich-Hingeben an die Vergegenwärtigung der Begegnung mit dem Geliebten erfasst hat, bringt Brahms liedmusikalisch damit zu Ausdruck, dass er in den ersten beiden Strophen (den Quartetten) auf jeden Vers eine Melodiezeile legt, die durch eine Viertelpause von der nachfolgenden Zeile abgegrenzt ist. Dadurch, dass die Vokallinie am Ende in allen Fällen jeweils in die Aufeinanderfolge von einer Viertel- und einer Achtelnote mündet und eben diese Pause nachfolgt, stellt sich klanglich die Anmutung einer gewissen Atemlosigkeit ein. Diese wird dadurch verstärkt, dass die Harmonik von Zeile zu Zeile eine Rückung vollzieht: Die erste steht in Es-Dur, die zweite in f-Moll, die dritte setzt in B-Dur ein und geht in Es-Dur über, die vierte schließlich ist im Fall der ersten Strophe in As-Dur harmonisiert, das am Ende nach G-Dur (!) rückt. Die beiden Quartette weisen bei den ersten drei Versen eine identische melodische Linie auf, beim letzten Vers setzt Brahms das Prinzip der entwickelnden Variation ein. Im Klaviersatz verfährt er bei der zweiten Strophe vom ersten Vers an so.


    Von ihrer inneren Anlage her bringt die melodische Linie in den ersten beiden Zeilen der Strophe Entzücken zum Ausdruck, von der dritten an geht sie langsam in die Anmutung von Wehmut über, und bei der letzten Zeile wird daraus bei der zweiten Strophe der Ausdruck von seelischem Schmerz. Und das Wunderbare, und für das Brahmslied Typische dabei ist, dass die melodische Linie allemal ihre eingängig-kantable Struktur wahrt, - auch dort, wo sie Schmerz zum Ausdruck bringt. In den ersten beiden Zeilen beschreibt die melodische Linie durchgängig die gleiche Bewegung: Aus einer Tonrepetition in Gestalt einer Folge von einem Viertel und einem Achtel vollzieht sie einen Sprung über eine Quarte oder eine Terz und fällt dann über einen Zwischenschritt in tiefe Lage ab. Diese melodische Figur ist es, die die Anmutung von Verzückung aufweist.


    Während die ersten beiden Zeilen in einer Tonrepetition auf der tonalen Lage eines hohen „Es“ und eines „F“ enden, beschreibt die melodische Linie beim dritten Vers der ersten Strophe am Ende (Bei dem Wort „Kunde“) hingegen einen Quartfall. Das verwundert zunächst einmal, denn das Wort „Kunde“ beinhaltet ja eine erfreuliche Erfahrung. Der Schlüssel zum Verständnis liegt wohl im nächsten, dem vierten Vers. Er beinhaltet die Frage, ob dem Menschen, der solches Glück erfahren hat, noch etwas anderes erfreulich scheinen könne. Und die melodische Linie beschreibt hier eine Fallbewegung über das große Intervall einer Septe, bevor sie am Ende, bei dem Wort „erfreulich“ mit einem Sextsprung wieder in obere Mittelage aufsteigt, - verbunden mit der harmonisch bemerkenswerten Rückung von As-Dur nach G-Dur. Man darf das wohl so verstehen, dass die Liedmusik hier das Empfinden des lyrischen Ichs reflektiert, in seiner Lebenswelt nun im Getrennt-Sein vom Geliebten nichts mehr vorfinden zu können, was ihm wirkliche Freude bereitet.


    Auch wenn für Brahms, von seinem Volkslied-Ideal her, das Prinzip der Wiederholung von großem liedkompositorischem Gewicht ist, so weicht er, weil die Verpflichtung der lyrischen Aussage gegenüber das höhere Prinzip ist, ganz konsequent davon ab, wo das vom lyrischen Text her geboten ist. Aus diesem Grund nimmt in der zweiten Strophe – bei zunächst sich wiederholender melodischer Linie - nicht nur der Klaviersatz eine andere Gestalt an, er entfaltet nämlich durch Verzicht auf akkordische Grundstruktur und den Übergang zur Abfolge von bitonalen Achtel-Figuren deutlich mehr klanglichen Fluss, auch die melodische Linie des letzten Verses erfährt eine höchst markante Variation. Die Worte „Da fang´ ich an zu weinen“ gebieten es für Brahms zwingend. Und er setzt dieses Gebot auf liedkompositorisch geniale Weise um. Dieses Mal gibt es keine Viertelpause zwischen den Melodiezeilen mehr. Und nicht nur das: Die eine, die auf dem dritten Vers, schwappt geradezu ungehalten in die andere, den vierten Vers beinhaltend, über, - so groß und mächtig sind die Emotionen. Auf dem Wort „Stunde“ beschreibt die melodische Linie einen Sekundanstieg in hoher Lage, und der setzt sich ohne Pause bei den Worten „die einzige“ fort, geht aber noch darin in einen rapiden, nämlich doppelten Terzfall über. Und diese Fallbewegung bleibt, nur vorübergehend durch Tonrepetitionen aufgehalten, bis zu Ende der Melodiezeile erhalten.


    Auch in der Harmonik schlägt sich die lyrische Aussage dieses letzten Verses nieder. Sie vollzieht, von Es-Dur her kommend, dort, wo sich dieses so expressive Überschwappen der melodischen Linie ereignet, eine ausdrucksstarke Rückung erst nach C-Dur, dann aber, bei den Worten „fang ich an“, nach f-Moll. Aber der große Harmoniker Brahms belässt es nicht dabei. Weil es hier um die Expression von seelischem Schmerz geht, lässt er die melodische Linie bei dem Wort „weinen“ einen verminderten Sekundfall beschreiben und die Harmonik von f-Moll nach es-Moll rücken. Und das Klavier, das die Aufgipfelung der melodischen Linie bei den Worten „die einzige“ in Gestalt von dreistimmigen Akkorden mitvollzogen hat und nun bei den Worten „da fang ich an zu weinen“ zu einer wie stockend wirkenden Begleitung mit auf einen Vorschlag im Bass folgenden Achtelfiguren übergeht, folgt damit der Fallbewegung der melodischen Linie nicht nur, es setzt sie in der fast zweitaktigen Pause für die Singstimme sogar noch fort.


    In den beiden Terzetten kommt ein anderer Ton in die melodische Linie. Die Anmutung, die von ihr ausgeht, weist eher in Richtung Wehmut. Zwar gibt es immer noch die Sprünge aus einer Tonrepetition heraus, sie sind aber eingebettet in fallende Linien. Und vor allem: Die Enden der Melodiezeilen weisen nun alle eine Fallbewegung auf und gehen ohne Pausen in die nachfolgende Zeile über. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme freilich: Der exponierten kleinen Melodiezeile auf den Worten „gib mir ein Zeichen“, die nach einer Pause im Wert von fünf Achteln erklingt und auch aus diesem Grund hohe Expressivität entfaltet. Es ist immer ein aus einer Folge von einem punktierten und einem vollen Viertel bestehender Sekundfall, der sich an den Enden der Melodiezeilen ereignet, - bei den Worten „unversehens“, „Stille“, „reichen“ und „Wille“ also. Und darin gründet ganz wesentlich der klangliche Eindruck von Wehmut, der von der Melodik dieser Terzette ausgeht.


    Nur bei „zu mir“ ist das anders: Hier beschreibt die melodische Linie einen kleinen Sekundfall aus einem Achtel und einem nachfolgenden punktierten Viertel. Das aber hat einen guten Sinn: Es stellt die Eröffnung zur exponierten Schlusszeile dar. Und in dieser ist – wieder einmal – zu erfahren und zu erleben, worin letztendlich der singuläre Zauber der Brahmsschen Liedkomposition gründet. Mit nur fünf melodischen Schritten gelingt es ihm, klanglich den Inbegriff der Innigkeit einer Bitte zu evozieren. Die melodische Linie senkt sich zweimal über eine Sekunde ab, geht dann in einen Terzfall über, der freilich ein verminderter ist, und erhebt sich davon wieder um eine kleine Sekunde.


    Das mutet melodisch simpel an, und das ist es auch, wenn nur die Struktur der Melodik betrachtet. Dabei übersieht man aber zweierlei, und das ist das letztlich Relevante: Die harmonische Modulation und die Einbettung der Schlusszeile in den liedmusikalischen Kontext. Bei den vorangehenden Worten „Mein einzig Glück auf Erden ist dein Wille, dein freundlicher zu mir“ geht die melodische Linie aus einer Tonrepetition bei dem Wort „Wille“ nach einen Terzsprung in eine langsame Fallbewegung in Sekunden über, die klanglich Zärtlichkeit ausstrahlt, weil sie sich, nachdem das Wort „Wille“ gerade in c-Moll-Harmonik gebettet war, in reinem As-Dur ereignet und am Ende in einen verminderten Sekundfall mündet. Die kleine Schlusszeile greift dieses As-Dur auf, aber da es sich dabei um die Subdominante handelt, ereignet sich bei dem letzten melodischen Schritt, eben jenem kleinen Sekundsprung, eine Rückung in die Tonika. Der Ton aber, auf dem die Melodik endet, stellt die Quinte dazu dar.
    Das ist melodisch ein offener Schluss, in dem sich die innere Haltung der Bittenden ausdrückt: Innigkeit und Hoffnung auf Erfüllung.

  • In der Besprechung des Liedes von Mendelssohns Lied auf dieses Goethe-Gedicht meinte ich:
    „Vielleicht reflektiert es die Trennung von der Geliebten Delphine. Dafür spricht, dass die Komposition eine tiefe Einfühlung in den lyrischen Text hören und erkennen lässt, - deutlich stärker von einem subjektiven Angesprochen-Sein geprägt, als dies in den Liedern von Schubert und Brahms auf dieses Gedicht zu vernehmen ist.“
    Und nun lese ich bei Dietrich Fischer-Dieskau in seinem Brahms-Buch dazu:
    „Brahms vertonte es (das Goethe-Gedicht) 1858 in Göttingen und übertraf damit Mendelssohns Fassung, die er sehr schätzte, um einige Grade an Verinnerlichung und in seiner Treue zur Form des Sonetts.“


    Und er hat recht damit. Das ist wieder mal ein typischer Beleg dafür, dass man bei einem Vergleich zwischen Liedern leicht zu einem schiefen Urteil kommen kann, wenn man sich nicht bei beiden auf eine gründliche Beschäftigung mit der Liedmusik stützen kann. Als ich über Mendelssohns Vertonung schrieb, kannte ich das Brahms-Lied zwar, aber eben nur vom einfachen Höreindruck her.
    Nun stellt sich mir der Vergleich ganz anders dar.
    Für an einem solchen vergleichenden Hören Interessierte hier die entsprechenden Links:


    https://www.youtube.com/watch?v=uJ97CyMmNtk


    https://www.youtube.com/watch?v=N5uJE3nZUfA

  • Es glänzt der Mond nieder,
    Ich sollte doch wieder
    Zu meinem Liebchen,
    Wie mag es ihr gehn?


    Ach weh, sie verzaget
    Und klaget, und klaget,
    Daß sie mich nimmer
    Im Leben wird sehn!


    Es ging der Mond unter,
    Ich eilte doch munter,
    Und eilte, daß keiner
    Mein Liebchen entführt.


    Ihr Täubchen, o girret,
    Ihr Lüftchen, o schwirret,
    Daß keiner mein Liebchen,
    Mein Liebchen entführt.


    (Aus dem Böhmischen)


    Bei diesem Lied handelt es sich um das erste der insgesamt sieben „Lieder und Gesänge mit Begleitung des Pianoforte, op.48“, die 1868 bei Simrock, Berlin veröffentlicht wurden. Dieses Opus hat von den zugrunde liegenden Texten her einen deutlichen Schwerpunkt auf dem Volkslied. Bei den Titeln „Der Gang zum Liebchen“, „Der Überläufer“, „Liebesklage des Mädchens“, „Gold überwiegt die Liebe“ und „Vergangen ist mir Glück und Heil“ handelt es sich um Kompositionen auf Volksliedtexte. Diesen stehen gegenüber ein Lied auf ein Gedicht von Goethe („Trost in Tränen“) und eines, für das Adolf Friedrich von Schack die Textgrundlage geliefert hat („Herbstgefühl“). Die Datierung der Lieder ist nicht in allen Fällen gesichert. Überwiegend entstanden sie deutlich vor 1868, so „Der Überläufer“ zum Beispiel bereits 1853. Von den Liedern im Volksliedton soll hier nur auf das erste eingegangen werden.


    Dem Lied, „Der Gang zum Liebchen“, liegt ein Text zugrunde, den Brahms der Sammlung „Slawische Volkslieder, übersetzt von Jos. Wenzig, Halle 1830“ entnahm. Er hatte sich ihm zuvor schon kompositorisch gewidmet, und zwar in Gestalt eines Quartetts, das bereits 1864 als op.31, Nr.3 publiziert wurde. Er muss sich also durch diese Verse stark angesprochen gefühlt haben, drücken sich in ihnen doch in sprachlich schlichter, direkter, ohne kunstvolle Metaphorik auskommender und aus diesem Grund unmittelbarer Weise die Gefühle und Empfindungen eines Menschen aus, der sich einem anderen in Liebe verbunden fühlt.
    Es handelt sich um eine Strophenlied-Komposition dergestalt, dass sich die Liedmusik der ersten und der zweiten Strophe auf der dritten und vierten wiederholt. Die erste und die zweite Strohe unterscheiden sich zwar in Melodik und Klaviersatz, Brahms wahrt jedoch den Volksliedcharakter, indem er Strukturelemente der Melodik des ersten Satzes in der zweiten wiederkehren lässt, vor allem in Gestalt der Sprungbewegungen. Die zweite Strophe hebt sich allerdings von der ersten deutlich durch ihren ausgeprägt tänzerischen Charakter ab. Das Lied, das in e-Moll als Grundtonart steht und einen Dreiviertalt aufweist, soll „con grazia“ vorgetragen werden, für die zweite (und damit auch die vierte) gilt die Vorschrift „animato“.


    Eine gewisse Grazie, wie die Vortragsanweisung das verstanden haben will, ist der Liedmusik sehr wohl eigen und macht ihren ganz spezifischen Reiz aus. Und das geht nun freilich über den Volksliedcharakter, den die Komposition von ihrer Verpflichtung dem Text gegenüber sehr wohl zu wahren weiß, deutlich hinaus. Die melodische Linie ist zwar in ihrer Struktur und ihrer Phrasierung auf Einfachheit und Kantabilität hin ausgerichtet, und die Wiederholung von einzelnen Bewegungsfiguren verstärkt die Anmutung von Volksliedhaftigkeit, gleichwohl führt ihre Nähe zum lyrischen Text dazu, dass sie den Gestus üblicher Volkliedmelodik transzendiert. Das gilt sowohl für die erste, wie auch in noch ausgeprägterer Weise für die zweite Strophe. Und es gilt nicht nur für ihre Struktur, sondern auch für ihre Harmonisierung. Im übrigen bietet auch der Klaviersatz dem analytischen Blick nicht das Bild schlichter Volksliedhaftigkeit. Aber das – typische – Brahmssche Wunder ist für den Hörer erneut: Er (oder sie) vermeint ein Volkslied zu hören und ist entzückt.


    Was man immer wieder mit Erstaunen erfährt, ist die Tatsache, dass die Liedmusik bei Brahms bei all ihrer Ausrichtung auf das Strophenlied-Konzept und das ihm inhärente Prinzip der Wiederholung gleichwohl die Aussage des lyrischen Textes reflektiert. Auf welche Weise das geschieht, kann man bei diesem Lied wieder einmal auf exemplarische Weise erkennen: Die Liedmusik wird vom Kern der lyrischen Aussage her kompositorisch konzipiert. Hier ist es der Mensch, der in seinem – tatsächlichen oder imaginierten – nächtlichen Gang zu seinem „Liebchen“ all die Emotionen durchlebt, die Liebe so mit sich bringt. Und die melodische Linie der ersten Strophe reflektiert sowohl die Situation des Aufbruchs, wie auch die der gedanklichen und emotionalen Introversion. Bei den Worten „Es glänzt der Mond nieder“ beschreibt sie eine Aufstiegsbewegung aus tiefer Lage, bei „ich sollte doch wieder geht sie in ein obere Mittelage erreichendes Auf und Ab über, und bei der Frage „Wie mag es ihr gehn?“ überlässt sie sich einem besinnlich wirkenden Fall über eine Terz und zwei Sekunden, der sie wieder in tiefe Lage zurückführt.


    Klaviersatz und Harmonik folgen diesem Gestus der melodischen Linie auf subtile Weise. Das Klavier lässt vom Bass in den Diskant aufsteigende Achtelfiguren erklingen, die auf der Grundlage des Dreivierteltaktes beschwingt anmuten und klanglich diese Aufbruch-Stimmung suggerieren. Bei der Fallbewegung der melodischen Linie am Ende gehen die Achtel im Diskant ebenfalls in einen Fall über und erweitern sich klanglich einen Moment lang sogar mit dem Bass zusammen zu einem dreistimmigen Akkord. Die Harmonik setzt mit e-Moll ein, rückt jedoch beim Auf und Ab der melodischen Linie nicht nur in die Subdominante a-Moll, sondern – ganz und gar unvolksliedhaft – zweimal (bei „ich sollte doch“ und „Liebchen“) nach D-Dur. Das ist das, was mit dem Wort „subtil“ gemeint ist: Der Gedanke an das „Liebchen“ lässt die Harmonik vom Tongeschlecht Moll, das die Einsamkeit des lyrischen Ichs reflektiert, ins Tongeschlecht Dur rücken. Kurz freilich nur, denn die Melodiezeile mündet in ein e-Moll.


    Ein Zwischenspiel folgt nach. Zwischenspielen kommt eine große Bedeutung in diesem Lied zu, - auch das ein das Volkslied transzendierendes liedkompositorisches Faktum. Das sechstaktige Zwischenspiel zwischen der ersten und zweiten und der dritten und vierten Strophe wiederholt mit den aufsteigenden Dreier-Achtelfiguren der Begleitung die letzten Bewegungen der melodischen Linie, und das achttaktige Zwischenspiel, das zwischen die zweite und die dritte Strophe eingelagert ist, lässt mit den Begleit-Figuren der zweiten Strophe die ganze melodische Linie derselben noch einmal erklingen. Diese Figuren unterscheiden sich von denen, die den Klaviersatz der ersten (und der dritten) Strophe prägen. Nun artikuliert das Klavier im Diskant eine Figur aus drei fallenden und drei steigenden Achteln und im Bass einen Walzertakt aus einem Viertel und zwei bitonalen Viertelakkorden. Das verleiht der Liedmusik einen markant-tänzerischen und beschwingten Charakter.


    Eigentlich will das, möchte man meinen, so recht nicht zum Inhalt der zweiten Strophe passen, die ja mit einem Ach weh“ einsetzt und in der das lyrische Ich sich ausmalt, dass das Liebchen verzagt darüber klagt, dass es den Liebsten vielleicht nicht mehr sehen könne. Wahrscheinlich hat sich Brahms eher von der letzten Strophe zu dieser Modifikation des Tones der Liedmusik im Sinne tänzerischer Beschwingtheit animieren lassen, aber es ist ohnehin zu bedenken, dass sich alle lyrische Aussagen in monologischer Weise ereignen. Das Liebchen weint ja nicht wirklich, und es ist auch nicht in Gefahr, entführt zu werden. All das spielt sich in der Phantasie des nächtlich Dahingehenden ab. Und so weist denn auch die melodische Linie im wesentlichen die gleiche Grundstruktur auf wie die der ersten Strophe. Deutlich hebt sie sich von dieser nur durch den Anfang ab: Sie setzt bei den Worten „Ach weh“ nicht mit einer Aufstiegsbewegung aus tiefer Lage ein, sondern mit einer Tonrepetition in mittlerer Lage (einem „H“) und geht nach einem Quartfall dann in ein ähnliches Auf und Ab über wie auch in der ersten Strophe. Am Ende ereignet sich ebenfalls eine Fallbewegung, die auf dem Grundton „E“ endet. Sie ist nun allerdings leicht rhythmisiert, weil sie mit einem punktierten Viertel einsetzt, dem ein Achtel folgt, und sie fällt rascher ab, weil sich ein Quart-Intervall darin findet.


    Deutlich unterscheidet sich die Vokallinie der zweiten und der vierten Strophe von der der ersten und dritten auch durch ihre Harmonisierung. Zwar setzt sie auch über einen Dominant-Vorhalt mit in e-Moll ein, bei den Worten „klaget und klaget“ beginnt jedoch eine Folge von harmonischen Rückungen über D-Dur, G-Dur, A-Dur und h-Moll hin zu e-Moll am Ende, die zweifellos die Harmonik des Volksliedes deutlich übersteigt. Man kann sie mit gutem Grund als Niederschlag der heftigen Gemütsbewegungen vernehmen und auffassen, die sich in dem Gesellen ereignen, der nächtens gerade auf dem Weg zu seiner Geliebten ist.

  • J. W. v. Goethe: „Trost in Tränen“


    Wie kommt´s, daß du so traurig bist,
    Da alles froh erscheint?
    Man sieht dir´s an den Augen an,
    Gewiß, du hast geweint?


    »Und hab´ ich einsam auch geweint,
    So ist´s mein eigner Schmerz,
    Und Tränen fließen gar so süß,
    Erleichtern mir das Herz.«


    Die frohen Freunde laden dich,
    O komm an unsre Brust!
    Und was du auch verloren hast,
    Vertraue den Verlust.


    »Ihr lärmt und rauscht und ahnet nicht,
    Was mich, den Armen, quält.
    Ach nein, verloren hab ich´s nicht,
    So sehr es mir auch fehlt.«


    So raffe denn dich eilig auf,
    Du bist ein junges Blut.
    In deinen Jahren hat man Kraft
    Und zum Erwerben Mut.


    »Ach nein, erwerben kann ich´s nicht,
    Es steht mir gar zu fern.
    Es weilt so hoch, es blinkt so schön,
    Wie droben jener Stern.«


    Die Sterne, die begehrt man nicht,
    Man freut sich ihrer Pracht.
    Und mit Entzücken blickt man auf
    In jeder heitern Nacht.


    »Und mit Entzücken blick ich auf
    So manchen lieben Tag;
    Verweinen laßt die Nächte mich,
    Solang ich weinen mag.«


    Auf dieses Lied soll vorwiegend unter Aspekt der Rolle eingegangen werden, die Schubert für die Liedkomposition von Johannes Brahms spielte. Vorab ist festzustellen: Diese Komposition steht ganz offensichtlich unter dem Einfluss derjenigen, die Schubert im November 1814 schuf (D 120). Sie ist im Thread "Schubert und Goethe" ( http://tamino-klassikforum.at/…age=Thread&threadID=16269 )vorgestellt und besprochen (Beiträge 38/39 vom 14.8.2013). In Zusammenfassung der Ausführungen dazu meinte ich, dieses Lied sei ein repräsentatives Beispiel für die Fähigkeit Schuberts, volksliedhafte Einfachheit auf kunstvolle Weise neu zu generieren. Die kompositorische „Kunst“ besteht hier in der Art und Weise, wie das Spiel mit den Tonarten und dem Tongeschlecht benutzt wird, um die Hintergründigkeit dieses lyrischen Dialogs zwischen zwei Partnern auf der Basis einer strukturell relativ einfachen Melodik musikalisch auszuleuchten. Als zusätzliche musikalische Komponente wird dabei der Rhythmus eingesetzt. Person A deklamiert eine melodische Linie, die in F-Dur harmonisiert ist und zwar an einer Stelle eine chromatische Eintrübung aufweist (bei dem Bild „Gewiss du hast geweint“), ansonsten aber durchweg die klare klangliche und rhythmische Frische aufweist, die Schubert ihr zuordnet. Der Sechsachteltakt, der dem Lied zugrunde liegt, ist in dieser Strophe kaum zu vernehmen. Es dominieren gehaltene Akkorde und rhythmisch wenig markante Bewegungen von Vierteln auf akkordischer Grundlage.


    Ganz anders ist dies bei dieser leicht sentimental-weinerlichen Person B. Hier dominiert klanglich das f-Moll , und rhythmisch kommt der wiegende Sechsachteltakt durch die Struktur des akkordischen Klaviersatzes nun voll zur Entfaltung. Kompositorisch überaus kunstvoll ist dabei, wie Schubert die Verliebtheit dieser Person B in ihren eigenen Seelenschmerz durch eine Modulation nach einem ausdrucksstarken, weil harmonisch weitab liegenden As-Dur zum Ausdruck bringt. Und als wäre des Artifiziellen noch nicht genug, wird diese melodische Linie danach, um eine Terz erhöht, noch einmal wiederholt. Dieses Mal ist sie aber in das für diese Person typische harmonische Bett des f-Moll zurückgekehrt, - womit ihr klanglich positiver Zauber gleichsam zurückgenommen und relativiert wird. Und wenn dann am Ende, nun in reinem F-Dur, behauptet wird, diese Tränen erleichterten dem lyrischen Ich das Herz, so soll das wohl „cum grano salis“ genommen werden, - eben auf dem klanglichen Hintergrund des f-Moll, in dem dieses sich in diesem Lied melodisch artikuliert.


    Brahms muss dieses Lied gekannt haben. Die Parallelen in der Grundstruktur seines Liedes auf dieses Goethe-Gedicht sind auffällig. Er verwendet die gleiche Form des Wechselstrophen-Liedes, der Liedmusik liegt ebenfalls ein Sechsachteltakt zugrunde und die Harmonik pendelt wie bei Schubert in den Dialogstrophen zwischen den Tongeschlechtern Dur (hier E-Dur) und Moll (hier e-Moll) hin und hier. Überdies lassen sich auch in der Melodik Anklänge an Schubert vernehmen.


    Dietrich Fischer-Dieskau meint zu diesem Lied: „Die Vertonung von Goethes >Trost in Tränen< übertrifft die Vorgänger Reichardt, Schubert und Ehler bei weitem.“ Was den Vergleich mit Schubert anbelangt, so kommt Christiane Jacobsen in ihrer Arbeit über „Das Verhältnis von Sprache und Musik in Liedern von Johannes Brahms“ (Hamburg, 1975) zu einem ganz anderen Urteil. Sie sieht Brahms „durch den Einfluß der Schubertschen Vertonung gehemmt. Er übernimmt viele Elemente, ohne sie eigenständig, d.h. im Sinne einer überzeugenden melodischen Formung zu verwenden. Fast durchgehende Syllabik und die Trennung in Melodieteile in der Mollstrophe verhindern lyrisch-liedgenuines Singen. Deklamierendes Sagen und mangelnde Sprachbezogenheit überwiegen.“ Und sie geht noch weiter, indem sie Brahms vorhält: „Seine eigene liedästhetische Forderung, alles müsse >notwendig< sein und klingen, erfüllt er hier nicht.“


    Dieses Urteil von Christiane Jacobsen gründet sich auf eine ausführliche und sehr ins Detail gehende vergleichende Betrachtung, so dass man, wenn man ihm widersprechen möchte, in eine ebenso am Detail ansetzende ausführliche Argumentation eintreten müsste. Das ist natürlich hier nicht zu leisten. Aus diesem Grund soll nur auf einige in diesem Zusammenhang relevante kompositorische Strukturmerkmale verwiesen werden, die einen sehr wohl dazu bewegen können, dem Urteil Fischer-Dieskaus zuzustimmen.


    Grundsätzlich fällt bei einem Vergleich beider Lieder auf: Brahms lässt sich mit seiner Liedmusik – viel ausgeprägter als Schubert – auf die seelischen Dimensionen dieses lyrischen Dialogs ein. Es ist für ihn einer, der sich um ein tief reichendes seelisches Leiden dreht, und wenn der eine Gesprächspartner den Eindruck hat, dass der andere „traurig“ sei und dieser dann von einem „Schmerz“ spricht, davon dass „Tränen fließen“ und es ihm nicht möglich sei, dem Ruf der „frohen Freunde“ zu folgen, so ist das für Brahms ein überaus ernst zu nehmender, weil eine existenzielle Grundbefindlichkeit ansprechender Dialog: Traurigkeit und Melancholie. Man darf hier sogar einen biographischen Hintergrund vermuten. Brahms datierte das Lied auf „Detmold, Im Winter 1858“, und das legt nahe, dass da ein Zusammenhang mit den seelischen Problemen und Konflikten bestehen könnte, die sich für Brahms in seiner damaligen Beziehung zu Agathe von Siebold auftaten.


    Nun setzt die – freilich von ihm selbst gewählte – Form des strikten, also nicht variierten Strophenlieds der musikalischen Auslotung lyrisch-sprachlicher Semantik enge Grenzen, und es hat – wie ich finde – wenig Sinn, dies Brahms kritisch vorzuhalten, wie Christiane Jacobsen das tut. Brahms unterwarf sich in seiner Komposition dem rigiden A-B-Strophenschema, wie er es bei Goethe vorfand. Fast möchte man vermuten, dass es ihn geradezu reizte, mit seiner Musik die semantischen Dimensionen des lyrischen Textes interpretatorisch zu gut und so weitgehend wie möglich zu erfassen. Und das dürfte ihn wohl auch gelungen sein.


    Die melodische Linie vermag natürlich im Modus der stereotypen Wiederholung in gar keiner Weise die semantische Vielfalt der einzelnen Strophen zu erfassen. Was sie kann, das ist die Grundhaltung der beiden Dialogpartner zu reflektieren. Und in diesem Zusammenhang setzt Brahms auch den Faktor Harmonisierung ein, und das in einer das musikalische Aussage-Potential der Melodik erheblich ausweitenden Form. Darin liegt letzten Endes die kompositorische – sie über Schubert hinaushebende – Größe des Liedes.


    Die Person A artikuliert sich melodisch in einem Gestus, der eine rational-sachliche Grundhaltung und ein davon geprägtes Interesse am Gesprächspartner B vernehmen lässt. Verräterisch diesbezüglich ist die Einleitung all seiner Fragen und Ansprachen an das Du mit den Worten „Wie kommt´s“. Die melodische Linie reflektiert das. Sie ist, wie gleich am Anfang vernehmlich ist, stark von Tonrepetitionen und unvermittelten Sprüngen über größere Intervalle geprägt: Eine zweimalige Repetition auf dem Ton „Cis“, ein Sprung über eine Quarte zu einem „Fis“, eine dreimalige Repetition darauf, ein Fall über eine Quinte zurück auf ein „H“ und erneut eine dreimalige Repetition daselbst. Person A nimmt natürlich auch Anteil am Du und dem, was es an dessen Augen ablesen zu können vermeint. Die melodische Linie reflektiert das mit Fallbewegungen. Dies zweimal über große Intervalle, nämlich bei den Worten „alles froh erscheint“ und „den Augen an“, und mit einem Melisma bei den Worten „du hast geweint“.


    Brahms setzt bei dieser A-Strophe zwei kompositorische Elemente ein, um die Grenzen, die ihm das Strophen-Schema im Bereich der Melodik setzt, zu durchbrechen: Die Harmonik und das Nach- bzw. Zwischenspiel. Grundsätzlich ist der Person A Dur-Harmonik zugeordnet, und zwar eine, die zwischen der Tonika E-Dur, der Dominante H- und der Subdominante A-Dur moduliert. Bei der Fallbewegung, die die melodische Linie von einem hohen „E“ hinunter zu einem „Gis“ bei den Worten „alles froh erscheint“ beschreibt, rückt die Harmonik nach cis-Moll und von dort nach Gis-Dur. Und das lässt vernehmen, dass die Anteilnahme der Person A am ihm begegnenden Du doch keine ist, die sich auf rein rationaler Ebene ereignet. Und das bestätigt das fast zweitaktige Nachspiel zu dieser Strophe. Das Klavier, das in dieser Strophe die Singstimme durchgehend mit vorwiegend bitonalen Akkorden im Bass und dreistimmigen im Diskant begleitet, lässt hier im Diskant eine Akkordfolge erklingen, die aus der Dur-Dominante in die Moll-Variante der Tonika abfällt und lotet damit die seelische Dimension der melodischen Linie mit ihrem Melisma auf den Worten „gewiss, du hast geweint“ aus.


    Ganz anders ist die Melodik angelegt, die der Person B, jenem so tief traurigen und unter seiner Melancholie leidenden Gesprächs-Gegenüber zugeordnet ist. Tonrepetitionen gibt es hier zwar auch, und Brahms hat sie, so möchte man vermuten, in die melodische Linie eingefügt, um den liedmusikalischen Kontext zu wahren, die eine Melodik also in ihrem klanglichen Charakter nicht allzu stark in einen Gegensatz zur anderen zu bringen. Da sprechen ja doch immerhin zwei miteinander. Und doch ist es eine wesenhaft andere Melodik, die der B-Strophe zugeordnet ist. Und auch der Klaviersatz ist strukturell und klanglich ein anderer. In der melodischen Linie gibt es nun keine Sprünge mehr. Höchstens in Gestalt eines Auftaktes, aber keinesfalls als Auf und Ab über ein größeres Intervall, wie das in der ersten Strophe der Fall ist. Stattdessen dominiert die Fallbewegung, und das sogar noch in einer intensivierten, die klangliche Anmutung von Schmerzlichkeit steigernden Gestalt: Unter Einbeziehung der kleinen Sekunde und der Tonrepetition auf ihr. Auf den Worten „einsam auch geweint“ ereignet sich ein Fall in deklamatorischen Sekundschritten von einem hohen „E“ zu einem „H“ in mittlerer Lage. Er ist e-Moll harmonisiert, das dann, bei den Worten „so ist´s mein eigner Schmerz“ in gis-Moll übergeht. Hier beschreibt die Melodik ein Auf und Ab über das Intervall von Terzen und endet in einem Quartfall. Das lyrische Ich trifft gleichsam eine Feststellung, so dass hier keine Fallbewegung angebracht ist und beim dem Quartfall am Ende gar eine kurze Rückung nach H-Dur erfolgt.


    Bei den Worten „Und Tränen fließen gar so süß“ kehrt die melodische Linie dann aber wieder zu der für die B-Strophe typischen Bewegung zurück, und das in noch konsequenterer Form: Ein wieder in Moll (h-Moll) harmonisierter Fall aus hoher Lage in kleinen repetierenden Sekundschritten. Er weist nun allerdings nicht die klangliche Anmutung von schmerzlicher Klage auf, vielmehr ist es eine, die zwischen Schmerz und Lieblichkeit changiert. Dazu trägt wesentlich die Klavierbegleitung bei, die nun nicht mehr, wie in der ersten Strophe, in akkordischer Gestalt erfolgt, sondern aus Figuren besteht, die aus zwei bitonalen Achtel-Akkorden mit eingelagertem Einzelton gestaltet sind.


    Die Worte „erleichtern mir das Herz“ werden auf einer eigenständigen, durch eine eintaktige Pause abgesetzten kleinen Melodiezeile deklamiert, bei der die Vokallinie zwar wieder einen Fall über das Intervall einer Sexte beschreibt, aber auch ihr wohnt kein großer Klageton inne. Es wäre von der lyrischen Aussage her auch nicht angebracht. Ähnlich wie bei der vorangehenden Melodiezeile ist der letzte deklamatorische Schritt mit einer Rückung aus Moll-Harmonik hin zum Tongeschlecht Dur verbunden: Dort (Bei „so süß“) eine Rückung von h-Moll nach H-Dur, hier (bei „das Herz“) eine von a-Moll nach E-Dur.


    Bei allen Einschränkungen, die die Form des Strophenliedes für den freie kompositorische Gestaltung der Liedmusik mit sich bringt, kann man sehr wohl feststellen, dass Brahms in diesem Lied der lyrischen Aussage gerecht wird. Die These von Christiane Jacobsen, dass „die Übernahme einzelner Stilelemente (von Schubert)“ Brahms zu „hemmen“ scheine, „sich das Gedicht wirklich zu eigen zu machen und dann auch eigenständig zu vertonen“ (S.219), ist für mich nicht nachvollziehbar.

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  • Adolf Friedrich v. Schack: „Herbstgefühl“


    Wie wenn im frost´gen Windhauch tödlich
    Des Sommers letzte Blüte krankt,
    Und hier und da nur, gelb und rötlich,
    Ein einzles Blatt im Windhauch schwankt:


    So schauert über mein Leben
    Ein nächtig trüber, kalter Tag,
    Warum noch vor dem Tode beben,
    O Herz, mit deinem ew´gen Schlag!


    Sieh rings entblättert das Gestäude!
    Was spielst du, wie der Wind am Strauch,
    Noch mit der letzten, welken Freude?
    Gib dich zur Ruh! Bald stirbt sie auch.


    Dieses Gedicht von A. F. Schack muss Brahms in seinem Lebensgefühl ganz unmittelbar angesprochen, ja regelrecht in seinem Kern getroffen haben. Vergänglichkeit ist ja eines der zentralen Themen seiner Liedkomposition, wie das bereits in den oben vorgestellten Liedern „Wie rafft´ ich mich auf in der Nacht“ (Beitrag 78) und „Der Strom der neben mir verrauschte“ (Beitrag 88) deutlich geworden sein dürfte. Hier aber verrät die Liedmusik in ihrer hochexpressiv-düsteren, Depression zum Ausdruck bringenden Klanglichkeit einen ganz besonderen Grad an existenzieller Betroffenheit. Es sagt viel, wenn Clara Schumann bekannte, dass ihr jedes Mal beim Anhören dieses Liedes die Augen übergegangen seien. Das ist zweifellos eine der großen Liedkompositionen von Johannes Brahms, die Dietrich Fischer-Dieskau zu dem Ausruf animierte: „Wenn Brahms´ melancholisches Tonpoem (…) nur öfter gesungen würde.“ Und er fügt (in seinem Brahms-Buch) mit dem Ausdruck des Bedauerns hinzu: „Umsonst machte Philipp Spitta später dringend darauf aufmerksam; es blieb eine wenig gesungene Trouvaille.“


    Diese Klage ist zweifellos berechtigt. Das Lied vermag seine Hörer auf tief reichende Weise unmittelbar anzusprechen, und seine Größe als musikalisches Werk gründet ganz wesentlich darin, dass Brahms dies mit auffallend sparsam eingesetzten kompositorischen Mitteln erreicht hat. Ein Dreivierteltakt liegt zugrunde, die Grundtonart ist fis-Moll, und darin setzt das viertaktige Vorspiel auch ein. Pianissimo und langsam, weil in der Aufeinanderfolge von halber und Viertelnote, senken sich Terzen pro Takt um eine Sekunde ab, wobei die Harmonik von fis-Moll nach Cis-Dur und dann nach cis-Moll moduliert. Der Rhythmus, der dabei entfaltet wird, prägt die ganze erste und auch die dritte Strophe, denn dort wiederholt sich die Liedmusik bis hin zu den Worten „Gib dich zur Ruh!“, bei denen sie eine neue Gestalt annimmt. Das Lied weist also von seiner äußeren Form her eine strophische Gliederung nach dem Schema „A-B-A`“ auf. Es ist ein stockend-schleppender, Müdigkeit ausstrahlender Rhythmus, der dem Lied durch den Klaviersatz verliehen wird und dem sich die melodische Linie voll unterwirft: Auch sie entfaltet sich fast durchgehend in deklamatorischen Schritten von einer halben und einer Viertelnote pro Takt. Zusammen mit der dominant wirkenden Moll-Harmonisierung wirken diese Schritte müde, wie von einer schweren Last beschwert.


    Verstärkt wird dieser Eindruck zusätzlich durch die Fallbewegungen, die den einzelnen Melodiezeilen ihr Gepräge geben. Schon bei den beiden ersten, die jeweils die beiden ersten Verse der ersten und der dritte Strophe umfassen, wird das sinnfällig. Bei der ersten setzt die melodische Linie mit Tonrepetitionen (eines „Cis“ in oberer Mittellage) ein und bei den Worten „frost´gen“, „Windhauch“ und „tödlich“ ereignet sich jeweils ein Fall, wobei sich das Intervall Schritt für Schritt ausweitet: Erst über eine Sekunde, dann über eine Terz und schließlich über eine Quarte. Und da die deklamatorischen Schritte infolge der halben Note am Anfang höchst gewichtig wirken, gewinnen die lyrischen Worte ihrerseits ein Gewicht, das sie vom lyrischen Text her gar nicht haben. Wie wichtig Brahms die klangliche Anmutung, die von dieser ersten Melodiezeile für die musikalische Gesamtaussage des Liedes gewesen sein musste, wird daran ersichtlich, dass sich bei der zweiten Zeile deren Struktur wiederholt: Wieder eine Tonrepetition, nun allerdings eine Terz tiefer, und erneut eine – nun nur zweifache – Fallbewegung, bei der sich das Intervall nun von der Sekunde zur Quarte vergrößert.


    Bedeutsam in diesem Zusammenhang auch der Aspekt der Harmonisierung der melodischen Linie. Die harmonischen Modulationen und Rückungen setzen markante Akzente im Sinne der musikalischen Aussage. So setzt die erste Melodiezeile in Anknüpfung an das Vorspiel in cis-Moll ein, bei dem Wort „Windhauch“ ereignet sich aber eine erste Rückung nach dem harmonisch nicht gerade nahen h-Moll, und das Wort „tödlich“ erhält einen noch deutlich stärkeren harmonischen Akzent durch die geradezu kühn anmutende Rückung nach D-Dur. Die zweite Zeile, die nach eine fast zweitaktigen Pause – auch das ein für die Schwere und Müdigkeit der Liedmusik bedeutsames Element der Faktur – auf die erste folgt, ist ebenfalls anfänglich in diesen D-Dur harmonisiert, aber die beiden Fallbewegungen auf den Worten „letzte Blüte“ machen aus Gründen der Anbindung an die vorangehende Zeile eine Rückkehr zum Tongeschlecht Moll erforderlich, und so vollzieht die Harmonik in dieser Zeile eine Rückung von D-Dur über fis-Moll und cis-Moll nach fis-Moll bei dem Wort „krankt“ am Ende.


    Wieder folgt eine Pause im Wert von drei Vierteln, die, wie bei allen Pausen der beiden Strophen, in keiner Weise vom Klavier aus mit Klanglichkeit gefüllt wird, - was ihre retardierende Wirkung deutlich steigert. Das wird bei dem nachfolgenden dritten Vers zu einer klanglich tief beeindruckenden Erfahrung, - Merkmal der liedkompositorischen Größe dieses Liedes. Die melodische Linie setzt, in fis-Moll harmonisiert, bei den Worten „und hier und da nur“ mit einem Auf und Ab über das Intervall einer kleinen Sekunde und einer Quarte in mittlerer Lage ein, darin das „hier und da“ reflektierend. Dann aber geschieht Bemerkenswertes. Zu dem Wort „gelb“ hin ereignet sich ein verminderter Terzsprung zu einem „Gis“, das eine Dehnung trägt. Die Harmonik macht dabei eine ausdrucksstarke Rückung nach cis-Moll. Und obgleich der lyrische Text die Worte „gelb“ und „rötlich“ mit einer Konjunktion verbindet, zwingt Brahms sie mit einer Pause von einem halben Takt auseinander, lässt sie auf einer Kombination von Sekundsprung und Terzfall in tiefer Lage deklamieren, wobei die Harmonik wieder die starke Rückung von cis-Moll nach D-Dur macht. Man kann lyrischen Worten kaum stärkeres musikalisches Gewicht verleihen, als dies hier geschieht, - und damit, über den lyrischen Text weit hinausgehend, tief anrührend machen.


    Und das setzt sich ja fort. In ähnlicher Weise wird die lyrische Aussage des Verses „Ein einzles Blatt im Windhauch schwankt“ mit musikalischen Mitteln in ihrem evokativen Potential stark angereichert und in ihrer Wirkung gesteigert. Auf dem Wort „einzles“ liegt eine lange Dehnung in Gestalt eines „A“ in mittlerer Lage, das auf der letzten Silbe in einen Terzfall übergeht. Der ist aber nur das Bindeglied zu dem neuerlichen Terzfall zu dem Wort „Blatt“ hin, das mit einer Dehnung auf einem tiefen „D“ belegt ist. Wieder ereignet sich diese harmonisch so ausdrucksstarke Rückung von cis-Moll nach D-Dur, und wieder folgt eine relativ lange Pause nach, dieses Mal im Wert von drei Vierteln. Und dann greift das Wort „schwankt“ in die Struktur der melodischen Linie ein. Sie beginnt ihrerseits zu schwanken. Auf dem Wort „einzles“ liegt eine weit gespannte bogenförmige Dehnung, und bei den Worten „im Windhauch schwankt“ geht die melodische Linie in ein mehrschrittiges Auf und Ab über, das deshalb die Anmutung von „schwanken“ aufweist, weil sie, die sich ansonsten ja immer in der Kombination von halber und Viertelnote pro Takt entfaltet, dies nun ausnahmslos in Vierteln tut. Überdies liegt, diesen Effekt verstärkend, auf dem Wort „im“ – ungewöhnlicherweise! – eine Dehnung im Wert einer punktierten halben Note. Das Klavier begleitet hier mit lang gehaltenen vierstimmigen Akkorden, und die Harmonik moduliert wieder zwischen cis-Moll und Dur.


    Mit der zweiten Strophe kommt ein neuer, sich deutlich von der ersten Strophe abhebender Ton in das Lied. Melodische Linie und Klaviersatz, die sich bislang durchweg im dynamischen Bereich des Pianissimos entfalteten, ohne dass es irgendwo ein Crescendo gegeben hätte, setzen nun forte ein und sie gehen zu einem neuen Gestus über. Die für die erste Strophe so typische schleppend-müde Rhythmik wirkt wie weggeblasen. Die melodische Linie bewegt sich bei den ersten beiden Versen ausschließlich in deklamatorischen Schritten von Viertelnoten, und das Klavier lässt im Diskant eine Abfolge von Viertel-Tönen erklingen, die sich mal über ein großes Intervall auf und ab bewegen und ein anderes Mal nach einer dreischrittigen Aufwärtsbewegung in einen Fall übergehen. Die Harmonik verbleibt im Bereich von d-Moll und rückt bei den Worten „nächtig trüber“ nach Es-Dur und g-Moll.


    Die melodische Linie weist in allen, jeweils einen Vers beinhaltenden Zeilen die gleiche Grundstruktur auf: Sie setzt in hoher Lage an und geht in eine aus kleinen Intervallen bestehende Fallbewegung über. Das Klavier folgt ihr dabei mit Akkorden und Oktaven im Bass, und die Anmutung, die hier von der Liedmusik ausgeht, ist die einer überaus schmerzlichen Klage. Und diese steigert sich in dem Augenblick, wo sich das lyrische Ich die Frage nach dem Warum stellt: „Warum noch vor dem Tode beben?...“. Nun geht die melodische Linie wieder in ihren Gestus der Folge von halben und Viertelnoten über und überlässt sich mehr und mehr langen Dehnungen. Auf den Worten „dem Tode beben“ liegt ein drei Takte überspannender Fall der melodischen Linie über das Intervall einer verminderten Quarte, bei dem sich eine Rückung von d-Moll nach B-Dur ereignet. Und auch die Worte „ewigen Schlag“ erhalten einen starken musikalischen Akzent durch einen fast drei Takte einnehmenden Fall der melodischen Linie im Intervall einer kleinen Quarte. Die Melodik entfaltet hier auch deshalb eine so eindringliche Expressivität, weil sie das Klavier mit einem permanenten Auf und Ab von Achteln im Diskant begleitet, in das Akkorde und Einzeltöne im Bass markante Akzente setzen. Etwas Insistierendes wohnt dieser Begleitung inne, und es mutet deshalb auch ganz konsequent an, dass sie noch fünf Takte weiter- und ausläuft, nachdem die Singstimme zu einer Pause übergegangen ist.


    Der Schluss des Liedes, der nach der Wiederholung der Liedmusik der ersten Strophe mit den Worten „Gib dich zur Ruh“ einsetzt, entfaltet eine suggestive Klangmagie. Ein Sechsvierteltakt tritt an die Stelle der drei Viertel, - Ruhe und Langsamkeit sind musikalisch angesagt. Und die tritt auch ein, auf höchst beeindruckende Weise. Die melodische Linie beschreibt bei diesen Worten eine überaus langsame, nämlich nur aus punktierten halben Noten bestehende Fallbewegung in tiefer Lage, die sie in schweren Sekundschritten von einem „Fis „ zu einem tiefen „D“ führt. Das Klavier lässt nur noch lang gehaltene, ebenfalls ausschließlich aus punktierten halben Noten bestehende vier- bis fünfstimmige Akkorde erklingen, wobei die Harmonik von D-Dur über A-Dur nach G-Dur moduliert. Zwar setzt die melodische Linie bei den Worten „bald stirbt sie auch“ noch einmal in oberer Mittellage an, sie behält aber den Gestus der schwer fallenden Schritte bei, wiederholt dabei die Worte „bald stirbt“, indem sie auf das Wort „bald“ eine den ganzen Takt einnehmende Dehnung setzt und geht dann am Ende über eine Dehnung in Gestalt eine triolischen Viertelnoten-Melismas, bei dem sich eine kurze Rückung nach Cis-Dur ereignet, zur endgültigen Ruhe auf dem Grundton „Fis“ in tiefer Lage über.


    Das so tief berührende Ersterben der Musik in unendlicher Lebensmüdigkeit setzt sich im dreitaktigen Nachspiel in Gestalt von in die Tiefe sinkenden vier- und fünfstimmigen fis-Moll-Akkorden fort.

  • Dietrich Fischer-Dieskau meint, dieses Brahms-Lied "klinge" "mit seinen zitternden Terzen bewusst an Schuberts >Im Herbst< an". Es handelt sich um das 1828 entstandene Schubert-Lied auf einen Text von Ludwig Rellstab (D 945), das allerdings nicht "Im Herbst" heißt, sondern schlicht mit "Herbst" betitelt ist.


    Es kann schon möglich sein, dass Brahms in Kenntnis des Schubert-Liedes komponiert hat, schließlich war er ein Kenner und Bewunderer des Liedkomponisten Schubert und hat sich - wie ja gerade vorangehend aufzuzeigen versucht wurde - mit ihm sogar kompositorisch auseinandergesetzt. Seinem Schüler Jenner empfahl er die intensive Beschäftigung mir dem Schubertlied mit den Worten: "Es gibt kein Lied von Schubert, aus dem man nicht etwas lernen kann."
    Für mich liegen die Lieder "Herbstgefühl" und "Herbst" aber so weit auseinander, dass ich nur schwerlich "Anklänge" zu vernehmen vermag.
    Wer sich selbst einen Höreindruck verschaffen und ein Urteil dazu bilden möchte, dem seien hier die beiden Links dazu angeboten:


    https://www.youtube.com/watch?v=kdSWDd2rGgk


    https://www.youtube.com/watch?v=n4_yJOVlR9Y

  • Ich vernehme, höre und empfinde dieses Lied als tiefen, und darin exemplarischen, Ausdruck der Melancholie, die, nach allem, was man weiß, Wesensmerkmal des Menschen Johannes Brahms war. Er sagte einmal von sich selbst: "Ich müßte bekennen, daß ich nebenbei ein schwer melancholischer Mensch bin, daß schwarze Fittiche beständig über uns rauschen...".
    Man meint sie hier rauschen zu hören, diese "schwarzen Fittiche". Und darin unterscheidet sich diese Liedkomposition von Brahms fundamental von der Schuberts mit dem Titel "Herbst". Hier vernimmt man tief anrührende wehmütige Klage über Vergänglichkeit, wie sie die Erfahrung von "Herbst" mir sich bringen kann.
    Im Lied von Brahms ist es mehr: Schmerzlicher Ausdruck eines erschütternden Wissens um die Vergänglichkeit als Wesensmerkmal menschlicher Existenz.
    Dieser bei jedem der Worte "frostgen Windhauch tötlich" Schritt für Schritt sich im Intervall erweiternde Fall in der melodischen Linie, von der Sekunde über die Terz bis hin zur Quarte, und das mit nachfolgender ganztaktiger Pause, - so etwas gibt es in diesem - zweifellos auf seine Weise großen, bedeutenden und schönen - Lied von Schubert nicht.

  • Am Sonntag Morgen zierlich angetan,
    Wohl weiß ich, wo du da bist hingegangen,
    Und manche Leute waren, die dich sah´n
    Und kamen dann zu mir, dich zu verklagen.
    Als sie mir´s sagten, hab´ ich laut gelacht
    Und in der Kammer dann geweint zur Nacht.
    Als sie mir´s sagten, fing ich an zu singen,
    Um einsam dann die Hände wund zu ringen.


    (Paul Heyse)


    Das ist der erste der „Fünf Lieder mit Begleitung des Pianoforte op.49“, die 1868 bei Simrock erschienen. Sie sind, anders als die des Opus 48, alle im Zeitraum von 1867/68 entstanden. Auf den ersten Blick wirken die Lieder thematisch divergent, es lassen sich aber sehr wohl thematische Anklänge erkennen, auf die anlässlich der beiden letzten Lieder kurz verwiesen werden soll. Hier kann nur auf drei von ihnen näher eingegangen werden: „Am Sonntag Morgen“, „Wiegenlied“ und „Abenddämmerung“, - dies deshalb, weil es sich dabei um herausragende Liedkompositionen von Johannes Brahms handelt. Nicht berücksichtigt werden können – dies aber nur, weil es nun einmal den Zwang zur Auswahl gibt – die Lieder „An ein Veilchen“ (auf einen Text von Hölty) und „Sehnsucht“ (Text aus dem Böhmischen).


    Für dieses Lied „Am Sonntag Morgen“ entnahm Brahms den Text der 1860 erschienenen Sammlung „Italienisches Liederbuch“ von Paul Heyse, der sich bekanntlich Hugo Wolf in ausführlicher Weise liedkompositorisch gewidmet hat. Aber dieser systematisch-gründliche Zugriff auf einen Autor oder eine Lyrik-Sammlung ist nicht die Sache von Johannes Brahms. Er notierte sich in seinen sogenannten „Taschenbüchern“ Gedichte, die ihn bei der Lektüre unmittelbar ansprachen, um sie irgendwann später einmal (oder auch gar nicht) in Liedmusik zu verwandeln. Und hier, bei diesem Gedicht aus dem Italienischen, ist es – geht man von der Liedmusik darauf aus – ganz offensichtlich das geradezu klassische Thema der Diskrepanz von äußerlichem Schein und innerem Sein in der Art und Weise der Präsentation eines Menschen seiner Außenwelt gegenüber. Brahms traf bei diesem Text auf ein lyrisches Ich, das durch einen geliebten Menschen innerlich tief verletzt wurde, dies aber seiner Außenwelt gegenüber verbirgt, um alsdann den seelischen Schmerz „im stillen Kämmerlein“ umso tiefer auszuleben. Und er griff dieses Thema liedkompositorisch in der für ihn typischen Weise auf: Auf dem Weg der Einfühlung in die Situation dieses lyrischen Ichs, mit dem Ziel, diesen Vorgang für den Rezipienten seiner Liedmusik nachvollziehbar zu machen. Es wurde eine zweifellos grandiose, weil in der Erfahrung des musikalischen Kontrasts in Melodik, Harmonik und Rhythmik tief berührende Komposition daraus.


    Das Lied steht in e-Moll als Grundtonart, es soll „Andante espressivo“ vorgetragen werden, und ein Zweivierteltakt liegt ihm zugrunde. Aber weil es hier um eine fundamentale Diskrepanz zwischen Außenwelt und seelischer Innenwelt geht, können diese formalen Vorgaben der Komposition nicht stabil sein: Das „Andante espressivo“ wird um die Dimension „animato“ bereichert, und der Zweivierteltakt wird an der entscheidenden Stelle, dort, wo es um die Expression des seelischen Leidens geht, um ein Viertel erweitert. Weil mit den Worten „Als sie mir´s sagten“ melodische Linie und Klaviersatz eine andere Struktur annehmen, stellt sich der Eindruck einer Zweigliedrigkeit der Komposition ein. Gleichwohl kann man nicht von zwei Teilen oder Strophen sprechen, denn nach dem Wort „klagen“ folgt für die Singstimme gerade einmal eine Achtelpause, und die wird von Klavier mit einer nach oben laufenden und geradezu wie eine Hinführung zur gesteigerten Expressivität der Liedmusik wirkenden Folge von Terzen überbrückt.


    Das Lied beginnt zögerlich: Mit einem eintaktigen Vorspiel, das nur aus einer Folge von einem Einzelton und einem bitonalen Sekunde besteht, worauf die melodische Linie auftaktig mit demselben Ton (einem „H“ in mittlerer Lage) einsetzt. Sie verbleibt zunächst auf dieser tonalen Ebene, bevor sie dann einen Quartsprung zu dem Wort „zierlich“ hin beschreibt, dem eine Fallbewegung über eine Sekunde und zwei Terzen folgt. Diese Tonrepetition ereignet sich danach noch weitere drei Mal, und das deshalb, weil sich die Melodiezeilen auf den ersten beiden Versen auf den Versen drei und vier wiederholen. Es ist eine Anmutung von verhaltener Klage aus, die von der Melodik hier ausgeht, und es ist vor allem das viermalige Verharren auf der jeweiligen tonalen Ebene mit nachfolgender Fallbewegung, die sie bewirkt.


    In einem klanglich auffälligen Gegensatz zu dieser melodischen Verhaltenheit steht der Klaviersatz. Er besteht in diesem ersten Liedteil aus Sechzehntel-Terzen, -Quarten und Sexten, die paarweise im Wechsel von Bass und Diskant aufeinander folgen, - und dies staccato, was eine feingliedrige Rhythmisierung zur Folge hat. Man möchte darin eigentlich den klanglichen Niederschlag des ersten lyrischen Bildes vernehmen: Dem Dahinschreiten des „zierlich angetanen“ Mädchens auf dem Weg zu einem Anderen. Aber der Klaviersatz erschöpft sich nicht in diesem rhythmischen Staccato-Gestus. Die Terzen gehen mehrfach in Fallbewegungen über, darin die innere Befindlichkeit des lyrischen Ichs reflektierend. Besonders markant ausgeprägt ist dies bei den Worten „kamen dann zu mir, dich zu verklagen“, wo sich der Fall der Terzen im Wechsel von Bass und Diskant ereignet. Er geht allerdings dann bei dem Wort „verklagen“ selbst in eine Aufwärtsbewegung über, die die zweite Phase des Liedes einleitet.


    Hier ereignet sich in allen Bereichen der Liedmusik – der Melodik, dem Klaviersatz und der Harmonik - deutlich mehr als in der ersten Phase: Das lyrische Ich geht aus seiner introvertierten Verhaltenheit heraus und zur Schilderung seines realen Verhaltens über: Nach außen hin lacht es und singt, in der Kammer weint es und ringt die Hände vor Seelenschmerz. Dieser Kontrast schlägt sich auch in der Liedmusik nieder, und von daher ihre größere Komplexität in der Faktur. Die melodische Linie, die sich im ersten Teil durchweg in mittlerer Lage bewegte, durchmisst nun lebhaft größere tonale Räume und gipfelt sogar in hoher Lage auf. Zweimal steigt sie in einem fast schon dramatisch anmutenden Gestus mit deklamatorischen Sechzehntel-Schritten aus mittlerer in hohe Lage empor und gipfelt dort in Gestalt einer Dehnung (punktiertes Achtel) auf: Das erste Mal – bei dem Wort „laut“ – auf einem hohen Fis“, das zweite Mal sogar noch eine Sekunde höher – bei dem Wort „an“ – auf einem hohen „G“. Was jeweils melodisch nachfolgt, wirkt wie ein kraftloses Erschlaffen.


    Bei den Worten „in der Kammer geweint zur Nacht“ geht die melodische Linie in eine Fallbewegungen in Sekunden über und hält bei dem Wort „geweint“ in Gestalt eines klanglich ausdrucksstarken Anstiegs über kleine Sekunden mit Dehnung am Ende inne, bevor sie dann bei den Worten „zur Nacht“ einen durch seine Exponiertheit höchst bedeutsamen verminderten Sextfall beschreibt. Das Klavier begleitet all das mit ihrerseits expressiven Akkordfolgen im Diskant über triolischen Sechzehntel-Sprungfiguren im Bass. Und auch harmonisch ereignet sich Außergewöhnliches, - nämlich eine Rückung von e-Moll über F-Dur und – beim verminderten Sextfall auf den Worten „zur Nacht“ – von C-Dur nach H-Dur. Das sind geradezu kühne melodische und harmonische Ereignisse, die man als Ausdruck all der tiefen seelischen Schmerzen vernimmt und auffasst, denen sich das lyrische Ich ausgeliefert sieht.


    Und am Ende erfährt die Liedmusik darin sogar noch eine Steigerung. Bei den Worten „Um einsam dann die Hände wund zu ringen“ beschreibt die melodische Linie zunächst wieder eine Fallbewegung in Sekunden, die das Klavier mit Terzen und terzbetonten Akkorden im Diskant über triolischen Sechzehntel-Sprungfiguren im Bass mitvollzieht. Die Harmonik rückt dabei von e-Moll nach a-Moll. Auf dem Wort „Hände“ ereignet sich dann ein hoch expressiver Septsprung zum höchsten Ton des Liedes (einem „A“), von dem aus die melodische Linie in einen gedehnten Sekundfall zur zweiten Silbe des Wortes hin übergeht, der sich bei den Worten „wund zu ringen“ in Gestalt eines verminderten Terzfalls mit nachfolgendem Anstieg über eine kleine Sekunde fortsetzt. Der Zweivierteltakt geht dabei für einen Takt in einen von drei Vierteln über, was über die damit verbundene rhythmische Irritation dem Wort „Hände“ einen zusätzlichen musikalischen Akzent verleiht. Und das wird auch durch die Harmonik unterstützt, indem sie wieder die kühnen Rückungen von H-Dur über e-Moll nach F-Dur vollzieht. Bei dem Wort „ringen“ kehrt dann die Liedmusik wieder zu ihrem Zweivierteltakt zurück, und die Harmonik überlässt sich der klassischen Kadenz-Rückung von der Dominante H-Dur nach e-Moll.


    Das ist tief anrührender liedmusikalischer Ausdruck von seelischem Schmerz, - freilich ein typisch Brahmsscher. Denn er ereignet sich nicht in vordergründiger klanglicher Expressivität, vielmehr in Gestalt hochgradig gesteigerter Intensität der Entfaltung von Melodik, Harmonik und Klaviersatz. Und so darf das Lied auch ausklingen, indem das Klavier in Gestalt von Terzen und Sextakkorden die letzten Bewegungen der melodischen Linie noch einmal nachvollzieht, dies einschließlich der so markanten harmonischen Rückung aus dem Kreuzton-Bereich in den der B-Harmonik (F-Dur), und am Ende mit Einzeltönen langsam in die Tiefe sinkt.

  • Wenn man die Verse Heyses sozusagen unbefangen liest, also ohne die Liedmusik von Brahms darauf im Hinterkopf zu haben, und sich danach diese auf der Grundlage des gerade Gelesenen noch einmal ganz bewusst anhört, dann wird einem das Wesen des Brahms-Liedes – das dieser Thread ja zu erfassen versucht – auf beeindruckende Weise bewusst.
    Brahms gibt sich nicht damit zufrieden, lyrischen Text in seiner Oberfläche, seiner prosodischen Faktizität, seiner sprachlichen Struktur und seiner Semantik in Liedmusik umzusetzen, er will das evokative Potential seiner Metaphorik und das affektiv-emotionale, wie es die Aussagen eines lyrischen Ichs in sich bergen, mit den Mitteln der Musik ausloten und vernehmlich werden lassen und auf diesen Weise den lyrischen Text um eine ihm inhärente Aussage-Dimension bereichern.


    Dieses Lied bezieht aus dieser – hier genial umgesetzten - liedkompositorischen Intention seine so tief beeindruckende musikalische Größe. Die tiefe existenzielle Zerrissenheit, die sich als unbewältigtes Nebeneinander von nach außen zur Schau gestelltem unbekümmertem Frohsinn und verborgenem seelischem Leid im Innern lyrisch darstellt, wird eben so in nur einer melodischen Phrase unvermittelt nebeneinander gestellt: In einer erst beschwingt anmutenden und sich in Dur Harmonisierung aufschwingenden, danach aber in schmerzlich-dissonantem Moll versinkenden und nun wie gebrochen wirkenden melodischen Linie, - wie man das in diesem Lied gleich zwei Mal erfahren und erleben kann.


    Dietrich Fischer-Dieskau spricht in diesem Zusammenhang von einer „nicht zu überbietenden Meisterung einer Chanson-Idee, die schon Ockeghem in >Ma bouche rit et ma pensée pleure< andeutete“.

  • Guten Abend, gut Nacht,
    Mir Rosen bedacht,
    Mit Näglein besteckt
    Schlupf unter die Deck´:
    Morgen früh, wenn Gott will,
    Wirst du wieder geweckt.


    Guten Abend, gut Nacht,
    Von Englein bewacht,
    Die zeigen im Traum
    Dir Christkindleins Baum:
    Schlaf nun selig und süß,
    Schau im Traum´s Paradies.


    (Aus „des Knaben Wunderhorn, Strophe zwei: Georg Scherer)


    Dieses Lied hat einen geradezu riesigen Bekanntheitsgrad erreicht. Das Erstaunliche dabei ist, dass seine Publizität, die bis zur Version für Drehorgeln und Spieluhren reicht, ihm nicht wirklich schaden konnte. Der Text stammt aus „Des Knaben Wunderhorn“, - genauer: Nur die erste Strophe. Die zweite wurde auf Wunsch des Verlages, der Komposition hinzugefügt. Sie wurde dem Buch von Georg Scherer „Alte und neue Kinderlieder“ (1849) entnommen, - und das hätte man besser unterlassen.


    Die Vorgeschichte seiner Entstehung bedarf einer Erwähnung. Das Lied trägt die verschlüsselte Widmung „An B. F. in Wien“. Dahinter steht die Wienerin Berta Porubszky die Brahms im Hamburger Frauenchor kennengelernt hatte und von deren Charme er regelrecht in Bann geschlagen war. Das ist für die Betrachtung des Liedes insofern von Bedeutung, als Brahms von dieser jungen Frau das populäre Walzerlied „Du moanst wohl, du glabst wohl, die Liab laßt si zwinge“ gehört hatte. Genau dieses ist aber in den Klaviersatz des Wiegenliedes eingearbeitet, - gleichsam als Huldigung an sie. Denn sie hatte inzwischen geheiratet, und Brahms sandte dem Ehepaar anlässlich der Geburt des ersten Kindes dieses „Wiegenlied“ auf einem Doppelblatt mit der Widmung zu: „Wiegenlied für Arthur und Berta Faber zu allzeit fröhlichem Gebrauch. Juli 1868. Mit Grazie ad infinitum.“ In dem beiliegenden Brief (15.7.1868) findet sich die Bemerkung: „Frau Berta wird nun gleich sehen, daß ich das Wiegenlied gestern ganz bloß für ihren Kleinen gemacht habe; sie wird es auch, wie ich, ganz in Ordnung finden, daß, während sie Hans in Schlaf singt, der Mann sie ansingt und ein Liebeslied murmelt.“


    Was die zweite Strophe anbelangt, auf deren Einbeziehung der Verlag Simrock bestand, so bereitete sie Brahms ziemliche Probleme. Er musste die Schlussverse ändern. Aus der ursprünglichen Fassung „Droben im Paradies / Schlaf nun selig und süß“, die er in seiner melodischen Linie nicht unterbringen konnte, machte er die vorliegende Wortfolge, wobei ihn das sprachliche Gebilde „Traum´s Paradies“ sehr störte. Aber auch Hermann Levi, den er um Rat fragte, wusste keine Lösung, so dass er wohl oder übel dabei bleiben musste.


    Einfacher geht’s´ kaum mehr, denk man, wenn man in die Noten blickt. Und zugleich stellt sich die Verwunderung darüber ein und Fragen drängen sich auf: Woher kommen die hohe Eingängigkeit des Liedes und der klangliche der Zauber, der von ihm ausgeht? Warum führte diese Einfachheit in der Faktur nicht zur alsbaldigen Abnutzung? Um zunächst auf den Aspekt „Einfachheit“ einzugehen. Diese ist in allen Bereichen der Faktur gegeben: Die Melodik ist in kompromissloser Weise auf Sangbarkeit angelegt; der Klaviersatz entfaltet sich im Diskant im wesentlichen in Gestalt einer Abfolge von Terzen und Sexten, und dies auf der Grundlage einer geradezu verblüffend simplen Figur im Bass, die durchgehend aus drei auf und ab angeschlagenen Vierteln im Dreivierteltakt besteht. Und die Harmonisierung der melodischen Linie bewegt sich in bester Volksliedmanier ausschließlich zwischen der Tonika Es-Dur, der Dominante B-Dur und der Subdominante As-Dur. Nicht die Spur einer Moll-Trübung ist zu vernehmen. Von Chromatik gar nicht zu reden. Zwischen- und Nachspiele weist dieses Strophenlied nicht auf. Auch das ein bemerkenswerter Sachverhalt.


    Aber ein Vorspiel gibt es, - ein dreitaktiges, in dem die Singstimme auftaktig einsetzt. Und mit diesem kommt ein strukturelles Moment in das Lied, das die Einfachheit seiner Faktur zu einem vordergründigen Schein werden lässt, - wie typisch für Brahms. Es besteht, neben dem Auf und Ab von drei Einzeltönen im Bass, aus einer Vierergruppe von Terzen im Diskant, die eine Kombination aus Terzfall und Sprung beschreiben, wobei die ersten beiden Terzen durch Legato-Bindung den Wert einer Dreiachtel-Note haben, die dritte Terz den eines Achtels aufweist und die vierte den eines Viertels. Das ist also eine synkopische Figur, die dem Lied seinen Grundrhythmus auf der Basis eines Dreivierteltaktes verleiht. Aber das unter dem Aspekt des Rhythmus wirklich Bedeutsame ist, wie sich die melodische Linie der Singstimme dazu deklamatorisch entfaltet. Sie tut es rhythmisch divergent, und das ist eine der Quellen des klanglichen Zaubers, - und überdies ein Faktum, das den artifiziellen Charakter dieser sich so volkstümlich schlichten Komposition bedingt. Es gibt noch einen weiteren Sachverhalt, und der ist in der Struktur des Klaviersatzes zu finden.


    Zuvor aber ein Blick auf die Struktur der melodischen Linie und ihre Divergenz zur Rhythmik des Klaviersatzes. Das Lied weist eine bemerkenswerte Eigenart in der Grundstruktur seiner Melodik auf: Sie setzt sich im Grunde aus Varianten einer einzigen Grundfigur zusammen, die gleichsam ihre melodischen Pflöcke bilden. Es ist die, die am Anfang zwei Mal aufklingt: Die Tonrepetition mit nachfolgendem Terzsprung und Rückkehr zur tonalen Ausgangslage bei den Worten „Guten Abend, gut Nacht“. Bereits hier ereignet sich allerdings die erste Variation, insofern bei der Wiederholung nur der Terzsprung übrig bleibt. Bei den Worten „Mit Rosen bedacht“ beschreibt die melodische Linie dann eine bis zu einem hohen „Es“ ausgreifende Bogenbewegung, aber die nachfolgenden Sprungbewegungen auf den Worten „mit Näglein bedacht“ empfindet man wie eine Wiederkehr der anfänglichen melodischen Figur mit kleineren Intervallen und in der Dominante harmonisiert. Und so geht das weiter: Ein melodisches Bindeglied, wie auf den Worten „schlupf unter die Deck“ , und danach der Oktavsprung auf den Worten „morgen früh“, der wie eine intervallmäßige Erweiterung des Sprungs der Grundfigur auf den Worten „Guten Abend“ wirkt. Ein neuerliches melodisches Bindeglied auf den Worten „wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“, wobei auch dieses eine mit Vorschlag versehene Sprungbewegung am Ende aufweist, dann erneut der Oktavsprung auf der Wiederholung der Worte „morgen früh“, und dann am Ende eine Art Ausklingen der melodischen Linie auf dem Weg hin zum Grundton „Es“.


    Wenn man sich die Frage stellt, worin die Gründe für die so hochgradige Eingängigkeit der melodischen Linie zu finden sind, dann dürfte man die Antwort in eben dieser ihrer Struktur der Entfaltung aus einer einzigen Grundfigur und ihren Varianten finden. Aber der klangliche Zauber hat seine maßgebliche Quelle dann darin, wie sich diese melodische Linie auf der Grundlage eines synkopisch rhythmisierten Klaviersatzes entfaltet. Diese Entfaltung ist nämlich – und das ist Niederschlag hochgradig artifizieller Komposition – ihrerseits synkopisch angelegt. Man sieh es am Einsatz der melodischen Linie. Dieser erfolgt nämlich vor dem dritten Erklingen der Terzenfigur des Vorspiels, und der gedehnte Terzfall übergreift den, den diese Figur an ihrem Ende beschreibt. Und dieses Hinübergreifen der deklamatorischen Schritte über die Rhythmik des Klaviersatzes ereignet sich nun in der Folge permanent und bewirkt die so einzigartige wiegende Klanglichkeit, die den Zauber dieses Liedes ausmacht.


    Aber da ist noch der in seiner Struktur so einfach anmutende Klaviersatz. Auch da täuscht der vordergründige Blick in die Noten. Dem genaueren bietet sich ein anderes Bild, denn was das Klavier zur melodischen Linie beizutragen hat, erschöpft sich nicht in der schieren Begleitung ihrer Bewegungen. Das ist allein schon deshalb nicht der Fall, weil in den Klaviersatz die Melodie des Wiener Walzerliedes eingearbeitet ist. Und so beschreibt er denn auch mit seinen Terzen und Sexten mehrfach Bewegungen, die denen der melodischen Linie entgegenlaufen und ihnen auf diese Weise einen besonderen Akzent verleihen. Bei den Worten „mit Rosen bedacht“ steigen die Terzen zwar mit den melodischen Linie in hohe Lage empor, sie verbleiben dort zunächst aber und gehen dann bei den Worten „mit Näglein besteckt“ – im Gegensatz zur melodischen Linie – in eine zweifache Fallbewegung über, wobei sie jeweils in eine Sexte münden. Den Worten „Morgen früh“ wird ein den Oktavsprung der melodischen Linie verstärkender Akzent dadurch verliehen, dass sich aus einem dreistimmigen Septimakkord in der Subdominante zwei aufsteigende Terzen lösen. Und schließlich bewegen sich bei den Worten „wirst du wieder geweckt“ Terzen in einem Auf und Ab in die Tiefe, während die melodische Linie eine Aufstiegsbewegung beschreibt.
    Man hat es bei diesem Lied also tatsächlich mit einem kompositorisch höchst kunstvollen kleinen Werk zu tun, das aber in geradezu überwältigender Bescheidenheit daherkommt.

  • Den für ein Kunstlied geradezu unfasslichen Grad an Popularität, den dieses Lied erreicht hat, kann man sehr schön erleben, wenn man bei YouTube den Titel eingibt. Man bekommt eine regelrechte Flut von Aufnahmen angeboten. Mit dem Zählen habe ich bei 30 aufgehört.


    Eine interessante Erfahrung habe ich jedoch beim Reinhören in diverse Aufnahmen gemacht: Ich begegnete einer unterwarteten Breite in der gesanglichen Interpretation. Unerwartet deshalb, weil ich davon ausging, dass man einem musikalisch so schlichten Lied interpretatorisch keine sonderlich großen Varianten abgewinnen kann.
    Das war natürlich naiv. Ich hatte das nicht bedacht, was ich bei der obigen Besprechung herauszuarbeiten versuchte: Den hochgradig artifiziellen Charakter dieser Komposition. Und der ist es natürlich, woran eine gute gesangliche Interpretation ansetzt.


    Wie stark die gesanglichen Interpretationen differieren können, das sei an vier Beispielen aufgezeigt, wobei ich die Aufmerksamkeit besonders auf Elisabeth Schwarzkopf lenken möchte. Hier zeigen sich die Unterschiede und Differenzen sogar bei einer Interpretin selbst, - und dies in bemerkenswert ausgeprägter und tiefgreifender Weise.


    Bernarda Fink überlässt sich ganz dem Ruhe ausstrahlenden wiegenden Ton der Musik, wählt deshalb ein langsames Tempo, um die melodische Linie in ihrer Klanglichkeit voll zur Entfaltung kommen zu lassen, bringt zum Beispiel in den Bogen auf den Worten "mit Rosen bedacht" eine ausgeprägte Dehnung und lässt sogar zarte Portamenti in den Vortrag einfließen (vor dem Wort „Deck“).


    https://www.youtube.com/watch?v=Zf08JdggV2w


    DietrichFischer-Dieskau scheint das Lied nicht, wie Bernarda Fink, als tatsächliches „Wiegenlied“ zu nehmen, vielmehr gleichsam als artifizielles Zitat eines Wiegenliedes, als Kunstlied also, was es ja auch ist. Daher sein ungewöhnlich rasches Tempo und den geradezu frisch wirkenden deklamatorischen Ton, den er anschlägt.


    https://www.youtube.com/watch?v=Dt_R6xOg6Jw


    Elisabeth Schwarzkopf trägt das Lied in dieser alten Aufnahme mit Edwin Fischer in einer ausgeprägt wortorientierten Weise vor, dabei davon ausgehend, dass es sich hier ja um ein den Schlaf bechwörendes Ansprechen eines Kindes handelt. Jedes Wort wird in seiner sprachlichen Gestalt und in der Melodik, in die Brahms es gesetzt hat, deklamatorisch gleichsam wie ein kostbares Gebilde behandelt.


    https://www.youtube.com/watch?v=uXnrlKFu6ps


    Ganz anders das interpretatorische Konzept bei der Aufnahme mit Gerald Moore von 1962. Hier wird, in deutlich langsamerem Tempo, das Lied – ähnlich wie bei Bernarda Fink – ganz im Vertrauen auf das klangmagische Potential der Liedmusik und insbesondere der melodischen Linie vorgetragen.


    https://www.youtube.com/watch?v=kPRPnHPL7wM

  • Adolf Friedrich Graf von Schack: „Abenddämmerung“


    Sei willkommen, Zwielichtstunde!
    Dich vor allen lieb´ ich längst,
    Die du, lindernd jede Wunde,
    Unsre Seele mild umfängst.


    Hin durch deine Dämmerhelle,
    In den Lüften, abendfeucht,
    Schweben Bilder, die der grelle
    Schein des lauten Tags gescheucht.


    Träume und Erinnerungen
    Nahen aus der Kinderzeit,
    Flüstern mit den Geisterzungen
    Von vergangner Seligkeit.


    Und zu Jugendlust-Genossen
    Kehren wir ins Vaterhaus;
    Arme, die uns einst umschlossen,
    Breiten neu sich nach uns aus.


    Nach dem Trennungsschmerz, dem langen,
    Dürfen wir noch einmal nun
    Denen, die dahingegangen,
    Am geliebten Herzen ruhn;


    Und indes zum Augenlide
    Sanft der Schlummer niederrinnt,
    Sinkt auf uns ein sel'ger Friede
    Aus dem Land, wo jene sind.


    Der lyrische Text artikuliert Gedanken und Emotionen, die Brahms stark angesprochen haben müssen. Eines der zentralen Themen, um die seine Lieder kreisen, ist: Vergänglichkeit und die imaginative Beschwörung vergangener Zeit. In Schacks Gedicht geschieht dies in Gestalt von zwar epigonalen, aber evokativ durchaus starken Bildern, deren Grundton Wehmut ist. Und eben da setzt Brahms Liedmusik an. Sie begegnet ihren Hörern als klangliche Evokation der Wehmut, die sich einstellt, wenn in „Träumen und Erinnerungen“ eine vergangene Welt eine phantasmagorische Vergegenwärtigung erfährt, die man als erfüllt erfahren zu haben meint. Dieses phantasmagorische Schweifen der Erinnerung in vergangenen Welt der Kindheit und Jugend und der Gemeinsamkeit mit längst verstorbenen Menschen greift die Liedmusik von Brahms mit dem klanglichen Element auf, das dieses Lied fast durchgängig – mit Ausnahme der vierten und fünften Strophe nämlich – prägt: Es sind die schweifend sich bewegenden und entfaltenden Terzen-Vierergruppen in Gestalt von Sechzehnteln. Sie entfalten eine fast magisch wirkende Klanglichkeit und lassen das Lied zu einer der großen Kompositionen von Brahms werden. Seltsam freilich: Bei Clara Schumann erregte das Lied eben wegen dieser Terzen-Betontheit regerechten Anstoß.


    Das Lied ist auf den „6. Mai 1867“ datiert. Es ragt nicht nur durch seine Faktur, sondern auch durch seinen Umfang deutlich unter den anderen des Opus 49 heraus. Ulrich Mahlert meint (in einem 1992 publizierten Aufsatz), dass es eben deshalb, und auch wegen seines umfangreichen Vorspiels, „die Dimension eines Epilogs“ habe, was freilich auch beinhaltet, dass es unter den Liedern des Opus 49 einen inneren thematischen Bezug gibt. Tatsächlich kann man einen solchen in ihnen vernehmen. So könnte man sich etwa vorstellen, dass sich das lyrische Ich, das eben gerade sein Kind mit einem Wiegenlied in den Schlaf gesungen hat, sich nun den wehmütigen Erinnerungen an die eigene Kindheit hingibt.


    Dem Lied, das es dabei singt und das den Titel „Abenddämmerung“ trägt, liegt ein Dreivierteltakt zugrunde, die Grundtonart ist E-Dur, und die Vortragsanweisung lautet „Ruhig“. Ein langes, nämlich siebentaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der Singstimme voraus, und das hat seinen guten Sinn. Hier nämlich können sich die schweifenden Sechzehntel-Terzen lange ausleben, modulatorisch die Tonika, die Subdominante und die Dominante bis hin zur Tonart „Fis“ durchstreifen, dabei immer wieder in den Bereich verminderter Septimen vorstoßen und auf diese Weise, durch den Ausbruch in die klangliche Chromatik des Septimakkords, die klangliche Atmosphäre schaffen, in der sich die Singstimme dann den „Träumen und Erinnerungen“ hingeben kann, wie sie die „Abenddämmerung“ zu wecken vermag. Brahms zeigt sich hier wieder als ein Liedkomponist, der bei all dem Primat, den er der – sangbaren – Melodik einräumt, gleichwohl ihrer Harmonisierung ein ebenso großes Gewicht beilegt, weil die melodische Linie nur darin ihr wahres Ausdruckspotential zu entfalten vermag.


    Brahms setzt das Gedicht von Schack wieder nach seinem Grundprinzip in Liedmusik um: Sein lyrisch-sprachlicher strophischer Charakter muss vernehmlich bleiben, freilich in der Weise, dass der jeweiligen lyrischen Aussage der Strophen musikalische Gerechtigkeit widerfährt. Und das hat eine Binnengliederung des Liedes nach dem Prinzip der Wiederholung in entwickelnder Variation zur Folge. In diesem Fall führt das zu einer strophischen Gliederung nach dem Schema „A-B-A´-C-C´-A´´“. Die Liedmusik der ersten Strophe bildet also nicht nur den Rahmen des Liedes, sie fungiert auch als Bindeglied zwischen der zweiten Strophe und der vierten und fünften, die zusammen eine Einheit bilden. Dies nicht nur durch den von dem der anderen abweichenden Klaviersatz, sondern auch durch die Struktur der melodischen Linie und schließlich auch die Tatsache, dass sie nicht durch ein Zwischenspiel voneinander abgesetzt sind, sondern lediglich durch eine Viertelpause für die Singstimme. Die innere Einheit des Liedes wird freilich nicht nur durch die Funktion gewährleistet, die der ersten Strophe zukommt, vielmehr bleibt der Grund-Gestus der melodischen Linie in allen Strophen unverändert: Die Figuren, die sie in den einzelnen Strophen beschreibt, begegnen einem in vielerlei Varianten an anderen Stellen wieder.


    Dieser Gestus der melodischen Linie stellt ein eigenartiges Zusammenspiel zwischen überaus ruhiger Bewegung und geradezu sanfter Emphase in Gestalt von Sprüngen über ein größeres Intervall dar. Die Melodik der ersten (A-)Strophe lässt das deutlich vernehmen. Gleich am Anfang lieg auf dem Wort „willkommen“ ein Quartsprung mit nachfolgendem Sextfall, der aber sofort wieder (bei „Zwielichtstunde“) in einen verminderten Quintsprung mit daran sich anschließender Fallbewegung übergeht. Das ist ein Ansprache-Gestus, der allerdings auch die Semantik des lyrischen Textes reflektiert, denn die Absenkung des – leitergemäßen – „Dis“ zu einem „D“, die mit einer Rückung in den Septimakkord verbunden ist, suggeriert klanglich das „Zwielicht“ von dem hier lyrisch die Rede ist. Auf den Worten „lieb´ ich längst“ liegt eine aus kleinem Sekundsprung und Sextfall gebildete melismatische Figur, dann aber, bei den Worten „lindernd jede Wunde, unsre Seele mild umfängst“, beschreibt die melodische Linie wieder zwei Mal einen Sprung, erst über eine Septe, dann sogar über eine Oktave, bevor sie am Ende in eine geradezu zärtlich wirkende, lang gedehnte Fallbewegung hin zum Grundton „Es“ übergeht.


    In allen Fällen meint man zu vernehmen: Diese Sprungbewegungen sind einerseits eine Folge der Ansprache-Haltung, die das lyrische Ich hier einnimmt, zugleich freilich stellen sie einen Faktor gesteigerter Expressivität im Sich-Aussprechen des lyrischen Ichs dar. Die Variation in der Melodik besteht allerdings interessanterweise gerade darin, dass die Sprungbewegungen bei der Variante „A´“ reduziert sind und erst bei der Schlussstrophe in vollem Umfang wiederkehren. Grundsätzlich aber gilt: Sie stören in gar keiner Weise die Ruhe in der Entfaltung der melodischen Linie, die dabei von den sich leicht wiegend (Dreivierteltakt) auf und ab bewegenden Terzen getragen wird. Zu dieser großen Ruhe trägt auch bei, dass die Harmonik in dieser A-Strophe ausschließlich zwischen Tonika, Dominante und Subdominante moduliert.


    Erstmals lässt das Klavier bei den ersten beiden Versen der zweiten Strophe von der Artikulation seiner Terzen-Vierergruppen ab und geht zu aus dem Bass in den Diskant aufsteigenden Sechzehntel-Dreiergruppen über. Das im Zentrum der Strophe stehende lyrische Bild von den „Bildern“, die in der „Dämmerhelle“ durch „Lüfte“ schweben, ist die Ursache dafür, genauso wie für die Melodik, die sich gleichsam schwebend auf der tonalen Ebene eine hohen „Des“ auf und ab bewegt, und schließlich die Harmonik, die hier im Bereich der Verminderung verbleibt. Dass die Liedmusik bei aller Wahrung ihres klanglichen Grund-Charakters dennoch auch die Aussage des lyrischen Textes und die sie generierenden Bilder reflektiert, wird besonders bei den Strophen vier und fünf sinnfällig. Dass ihnen eine herausragende Stellung in dem Lied zukommt, macht schon der im viertaktigen Zwischenspiel vorangehende Klaviersatz deutlich. Dort lösen sich am Ende die Sexten in Einzeltöne auf, beschreiben erst eine Wellenlinie und steigen dann in Gestalt von Vierergruppen mit Sprung- und Fallbewegungen in hohe Lage empor.


    Und mit diesen Vierergruppen von Sechzehnteln, die im Diskant Fallbewegungen, im Bass hingegen Aufstiegsbewegungen beschreiben, begleitet das Klavier nun die melodische Linie durchgehend in beiden Strophen. In ihnen ereignet sich die imaginative Vergegenwärtigung von Vergangenheit in lyrisch-konkreten Bildern: „Jugendlust-Genossen“ und Heimkehr ins „Vaterhaus“. Das macht diese Strophen zum Höhepunkt des Gedichts, und die Liedmusik von Brahms reflektiert dies mit einer gesteigerten Expressivität in Melodik und Klaviersatz, die allerdings nicht mit einem Bruch in ihrem Grundton einhergeht. Der Klaviersatz geht nun freilich von seinen durch die ersten drei Strophen mit ihrer durch die zentralen lyrischen Worte „Zwielichtstunde“, Dämmerhelle, „Träume und Erinnerungen“ generierten schweifenden Terzen-Folgen ab und zu einer Klanglichkeit über, die der Konkretion der Bilder gerecht wird, auf die in den vorangehenden Strophen gleichsam hingeführt wird. Und das geschieht in Gestalt einer nicht mehr unbestimmt schwebenden Terzen-Klanglichkeit, sondern einer eher impressionistisch anmutenden Folge von punktuellen Einzeltönen im Auf und Ab der Dreier-Figuren in Bass und Diskant.


    Auch in Melodik und Harmonik kommt ein höherer Grad an Expressivität. Die melodische Linie durchmisst in ihren – freilich immer noch ruhigen – Bewegungen größere tonale Räume und dies auch in Gestalt von Sprüngen, wie gleich am Anfang vernehmlich wird. In dem Wort „Jugendlust-Genossen“ ereignet sich am Ende eine Kombination aus Sextsprung und Quintfall, und bei den Worten „kehren wir ins Vaterhaus“ steigt die melodische Linie in Sekundschritten wieder in die hohe Lage empor, die sie gerade mit dem vorangehenden Sextsprung erreicht hatte, und dies über eine Dehnung auf dem Wort „wir“, die der emotionalen Dimension dieser lyrischen Aussage einen starken Akzent verleiht. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass bei dem Bild von den „Armen, die uns einst umschlossen“ eine kurze Achtelpause in die melodische Linie tritt, bevor sie mit den Worten „breiten neu sich nach uns aus“ in eine wehmütig anmutende Fallbewegung übergeht.


    Hier hat die Expressivität der Liedmusik, die freilich dabei allemal eine verhaltene des Pianissimos bleibt, ihren Höhepunkt erreicht, was auch dazu führt, dass die Harmonik in die Bereiche von Fis-Dur und Cis-Dur ausbricht. Ähnliche harmonische Ausbrüche aus dem Bereich von Tonika, Dominante und Subdominante ereignen dann noch einmal in der fünften Strophe. Es handelt sich um solche in den Bereich von D-Dur, Gis-Dur und Cis-Dur. Und auch hier ist das im Zentrum stehende lyrische Bild von den „Dahingegangenen“ und dem imaginativen „Ruhen“ an ihrem „geliebten Herzen“ liedkompositorisch dafür verantwortlich, - genauso wie für die Struktur der melodischen Linie. Diese beschreibt bei den Worten „Trennungsschmerz, dem langen“ noch einmal einen expressiven Sprung und Fall und geht dann zu einer ruhigen und von kleinen Dehnungen geprägten Bewegung in oberer Mittellage über, die auf dem Grundton der Subdominante endet, womit über ein Zwischenspiel zum E-Dur der letzten Strophe übergeleitet wird, die ja eine nur unwesentlich variierte Wiederkehr der ersten ist.
    Dieses klanglich so faszinierende Lied hat sich damit geschlossen. Seltsam, dass Clara Schumann seine Größe und Schönheit nicht erfasst hat.

  • Wenn du nur zuweilen lächelst,
    Nur zuweilen Kühle fächelst
    Dieser ungemeßnen Glut –
    In Geduld will ich mich fassen
    Und dich alles treiben lassen,
    Was der Liebe wehe tut.


    (G. F. Daumer, nach Hafis)


    Dieses Lied gehört als zweites dem Opus 57 von Brahms an, das 1871 bei J. Rieter-Biedermann (Leipzig) unter dem Titel „Lieder und Gesänge von G. F. Daumer für eine Singstimme und Klavier op.57“ erschien. Und dieser Titel verrät schon, dass es sich hier um eine Besonderheit handelt. Außer in seinen zyklischen Werken op. 33 und op. 121 hat Brahms nur ein einziges Mal ein Lied-Opus einem einzigen Dichter gewidmet, wie hier Georg Friedrich Daumer. Bei den Gedichten handelt es sich z.T. um Nachdichtungen, in diesem Fall entnahm Brahms das Gedicht der von Daumer herausgegebenen Anthologie „Hafis, eine Sammlung persischer Gedichte“, Hamburg 1852. Alle lyrischen Texte kreisen um das Thema „unerfüllte Liebe“, - und wurden deshalb von Brahms ausgewählt. Es handelt sich um insgesamt acht Lieder: „Von waldbekränzter Höhe“, Wenn du nur zuweilen lächelst“, „es träumte mir“, „Ach wende diesen Blick“, In meiner Nächte Sehnen“, „Strahlt zuweilen auch ein mildes Licht“, „Die Schnur, die Perl` an Perl`“ und „unbewegte laue Luft.“ Auf vier von ihnen soll hier näher eigegangen werden.


    Brahms setzt mit seiner Vertonung dieses kleinen Gedichts an dessen zentraler Aussage an: Der. Aus Liebe kommenden und von ihre getragenen, Bereitschaft des lyrischen Ichs, alles hinzunehmen, was von dem geliebten Menschen ihm entgegengebracht wird, - auch wenn es „der Liebe wehe tut“. Und so setzt er denn das kompositorische Mittel der Wiederholung ein, um diese Haltung des lyrischen Ichs musikalisch auszuloten und ihr den gebührenden Ausdruck zu verschaffen: Er wiederholt die Worte „dieser ungemeßnen Glut“, „in Geduld“, das Wort „alles“ gleich zwei Mal und am Ende des Liedes den ganzen letzten Vers. Und dass es sich bei diesen Wiederholungen nicht um vordergründige Effekthascherei oder gar schlichte Streckung der Liedmusik handelt, wird besonders beim letzten Vers sinnfällig, ist aber auch ansonsten unmittelbar ersichtlich.


    Das Lied steht in Es-Dur als Grundtonart, weist einen Neunachtel-Takt auf und soll „poco Andante“ vorgetragen werden. Es setzt ohne Vorspiel ein, und alsbald erweist sich beim genaueren Hinhören, dass die melodischen Figuren, die auf den anfänglichen Worten „was du nur“ und „nur zuweilen lächelst“ liegen, zu einer Art Keimzelle werden, aus denen sich melodische Linie und Klaviersatz entwickeln und speisen. Zunächst beschreibt die melodische Linie einen Terzsprung mit nachfolgendem Sekundfall, der leicht rhythmisiert ist, weil hier ein punktiertes Verteil auf ein Achtel folgt. Nach einer Viertelpause, und dennoch an die vorangehende Figur anschließend, ereignet sich eine in hoher Lage ansetzende Fallbewegung, die silbenbezogen erfolgt. Die melodische Bewegung auf den nachfolgenden Worten „nur zuweilen Kühle fächelst“ wirkt wie eine Wiederkehr dieser melodischen Figuren in umgekehrter Folge und einer etwas komplexeren Gestalt.


    Immer wieder begegnet man im Folgenden Varianten dieser melodischen Figuren, so etwa bei den Worten „dieser ungemeßnen Glut“ oder bei der lang gestreckten Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten „was der Liebe wehe tut“ (in der Erstfassung). Diese überaus kunstvolle, weil variantenreiche Wiederkehr von melodischen Motiven verleiht nicht nur der Melodik eine innere Einheit, sie steigert auch die Intensität der liedmusikalischen Aussage. Hinzu kommt, dass auch der Klaviersatz als aus dem ersten melodischen Motiv entwickelt erscheint: Im Bass besteht er durchgängig aus einer Folge von Dreier-Figuren, in denen Achtel einen Sprung mit nachfolgendem Fall über wechselnde Intervalle beschreiben. Im Diskant folgen überwiegend zweistimmige Akkorde im Wert eines Viertels aufeinander, zwischen die ein Achtel eingelagert ist, was eine Rhythmisierung ergibt, wie sie die ersten melodische Figur aufweist. In den Pausen vor und nach dem melodischen Sekundfall auf den Worten „in Geduld“ erklingt im Diskant eine aus zwei Terzen mit einem zwischengeschalteten Achtel gebildete Figur, die ebenfalls dieser Keimzelle des Liedes nachgebildet wirkt. Und diese fungiert als Element des Klaviersatzes in der Begleitung der melodischen Linie bis einschließlich zum zweitletzten Vers hin.


    Es ist ein eindringliches Ineinander von Innigkeit und leiser Klage, die von der Melodik des Liedes in ihrem Zusammenspiel mit dem durchaus eigenständigen Klaviersatz ausgeht. Und darin reflektiert die Liedmusik ja die Haltung des lyrischen Ichs, die im Grunde eine sich in Liebe und Demut dem Du hingebende ist. Die Emotionen kommen darin gleichwohl zum Ausdruck. Neben die lieblich wirkende Fallbewegung auf den Worten „zuweilen lächelst“ tritt der gleichsam rapide wirkende, aus einem Quartsprung hervorgehende Fall auf dem Wort „ungemeßne Glut“. Die in hoher Lage ansetzende Fallbewegung über eine Quarte, eine Terz und eine kleine Sekunde wird wiederholt. Und hier zeigt sich in der Art der Wiederholung, welchen Sinn diese in ihrer funktionalen Einbindung in den Kontext der Liedmusik hat. Die melodische Figur erhält nämlich eine deutliche Dehnung auf den beiden letzten Silben des Wortes „ungemesßnen“, was diesem einen starken Akzent verleiht. Und der erfährt eine zusätzliche Steigerung durch die Harmonik: Die Rückung von g-Moll nach D-Dur, die sich im ersten Fall ereignet, wird nämlich umgewendet, indem die Harmonik nun vom anfänglichen g-Moll über ein kurzes D-Dur wieder nach g-Moll zurück moduliert.


    Ähnlich ist die Wiederholung der Worte „in Geduld“ liedmusikalisch angelegt, - und mit dem gleichen Ziel der Akzentuierung der musikalischen Aussage im Sinne der Auslotung der Psyche des lyrischen Ichs. Im zweiten Fall wird die Dehnung in Gestalt eines punktierten Viertels, in die der melodische Sekundfall mündet, um ein weiteres Viertel ausgeweitet, und die Harmonik rückt von B-Dur nach Es-Dur, was, da es sich hier um die Grundtonart handelt, der Wiederholung zusätzliches musikalisches Gewicht verleiht.


    Ohnehin kommt der Harmonik – bei Brahms nicht verwunderlich – in diesem Lied gerade im Zusammenhang mit den Wiederholungen große Bedeutung zu. Am markantesten tritt das in der Liedmusik des letzten Verses zutage, der ja in Gänze wiederholt wird. In der ersten Fassung senkt sich die melodische Linie bei den Worten „Was der Liebe wehe tut“ aus hoher Lage, wo sie sich beim vorangehenden Vers bewegte, über einen anfänglichen verminderten Terzsprung langsam in – zum Teil kleinen – Sekundschritten in mittlere Lage ab. Das Klavier folgt ihr dabei mit dreistimmigen Akkorden im Diskant. Und da hier das lyrische Ich in einen zwar verhaltenen, aber doch schmerzerfüllten Klageton ausbricht, vollzieht die Harmonik weit in den B-Bereich ausgreifende Modulationen: Von einem anfänglichen c-Moll am Ende der vorangehenden Melodiezeile über „Ces“- und Des-Dur nach es-Moll am Ende.


    Aber das lyrische Ich kann es bei diesem Gestus des leisen Vorwurfs nicht belassen. Es muss, so wie Brahms den lyrischen Text gelesen und interpretiert hat, zur Haltung des demütigen Hinnehmens dessen, was vom geliebten Du kommt, zurückfinden. Und hier zeigt sich erneut der liedkompositorische Sinn der Wiederholung. Nun beschreibt die melodische Linie eine ganz andere Bewegung, und auch ihre Harmonisierung ist eine andere. Um es vorweg zu nehmen: Hier ereignet sich ein Zur-Ruhe-Kommen der Liedmusik im Sinne eines Sich-Einfindens des lyrischen Ichs in seine Situation als liebendes und leidendes Wesen. Nun beschreibt die melodische Linie zwar auch wieder eine Fallbewegung, diese ereignet sich aber nicht in ununterbrochenen Abwärts-Schritten, sondern in Gestalt von zwei mit einem kleinen Sekundsprung neu ansetzenden und überdies gedehnten Abwärtsbewegungen, die auf der Terz zum Grundton zur endgültigen Ruhe kommen. Und die Harmonik bewegt sich hier nun ausschließlich im Bereich von Tonika und Dominante.


    Mit einer kleinen chromatischen Eintrübung freilich. Das Wort „wehe“ fordert auch in der Wiederholung sein Recht. Der Sprung, den die melodische Linie zu ihm hin macht, ist einer von „B“ nach „Ces“. Und so kann denn auch der Dominant-Vorhalt nach der endgültigen Rückung der Harmonik in die Tonika des Liedschlusses kein harmonisch reiner, sondern nur ein kurzfristig gebrochener sein. Aber am Einvernehmen des lyrischen Ichs mit seiner existenziellen Situation, wie sie sie Liedmusik in der Wiederholung des letzten Verses zum Ausdruck bringt, ändert das nichts. Im Gegenteil: Die musikalische Aussage wird glaubwürdiger.

  • Gerade sehe ich: In der Besprechung des Liedes hatte ich auf den Sachverhalt hingewiesen, dass die melodischen Figuren, die auf den anfänglichen Worten „wenn du nur“ (ich hatte versehentlich "was du nur" geschrieben und bitte das zu entschuldigen) und „zuweilen lächelst“ liegen, zu einer Art Keimzelle werden, aus denen sich die melodische Linie und der Klaviersatz entwickeln und speisen, ohne dies allerdings in hinreichender Weise aufzuzeigen und zu konkretisieren. Nun dachte ich zunächst, ich hole das hier nach, - nicht nur aus einer Art Pflichtgefühl heraus, sondern vor allem, weil sich hier ein Wesensmerkmal der Brahmsschen Melodik zeigt: Ihre Entwicklung und Entfaltung aus einer Grundfigur heraus. Das ist es, was so oft ihren hohen Grad an Eingängigkeit bewirkt.


    Vielleicht ist es aber besser – und diesem Thread dienlicher -, nun nicht erneut in die analytische Betrachtung der Faktur einzusteigen, sondern einen Link zu einer gesanglichen Interpretation hier einzustellen, denn man kann ja tatsächlich hören, wodurch die Melodik dieses Liedes maßgeblich geprägt ist. Immer wieder vernimmt man den in eine kleine Dehnung mündenden, weil aus der Aufeinanderfolge von einem Achtel und einem punktierten Viertel bestehenden Sekundfall, wie er erstmals auf den Worten „du nur“ erklingt. Er gewinnt seine Eindringlichkeit dadurch, dass er zumeist mit einer harmonischen Rückung verbunden ist – hier zum Beispiel von Es-Dur in die Dominante oder bei dem Wort „Glut“ von g-Moll nach D-Dur – und man kann ihn durchaus als Ausdruck der schmerzlichen Wehmut hören und verstehen, aus der heraus dieses lyrische Ich sich hier äußert.
    Hier der Link:


    https://www.youtube.com/watch?v=RyT1d0rT9uA

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  • Es träumte mir,
    Ich sei dir teuer;
    Doch zu erwachen
    Bedurft´ ich kaum.
    Denn schon im Traume
    Bereits empfand ich,
    Es sei ein Traum.


    (Daumer, aus dem Spanischen)


    Diesen kurzen lyrischen Text entnahm Brahms der Gedicht-Sammlung Daumers mit dem Titel „Polydora“. Er soll spanischer Lyrik nachempfunden sein. Das lyrische Ich träumt, davon, dass es dem oder der Geliebten „teuer“ sei, spürt aber unbewusst, dass es sich dabei einem Traum hingibt, dem in der Realität nichts entspricht. Da die lyrische Aussage im Imperfekt getroffen wird, ist das, wovon sie handelt, ganz und gar der Sphäre des Unbewussten, des Traumes also zugehörig. Und Brahms legt seine Liedmusik auf diesen Text so an, dass mit klanglichen Mitteln, also über den Klaviersatz, eine träumerisch-unbestimmte, schwebende Atmosphäre geschaffen wird, in der sich die Singstimme in einem von wehmütigem Scherz eingefärbten Klageton entfaltet. Ein klanglich zauberisches Lied ist dabei herausgekommen. Um die intendierte musikalische Aussage zustande zu bringen, muss er zu Textwiederholungen greifen. Da diese aber in Gestalt von Modifikationen der melodischen Linie und des Klaviersatzes erfolgen, sind es, liedkompositorisch betrachtet, eigentlich keine Wiederholungen, sondern neue musikalische Aussagen. Wiederholt werden die Worte „Es sei ein Traum“ und die beiden letzten Verse, wobei Brahms das Wort „bereits“ durch ein „ach“ ersetzt und die Worte „es sei ein Traum“ erneut wiederholt.


    Dem Lied liegt ein Sechsachteltakt zugrunde, und es soll „sehr langsam“ vorgetragen werden. H-Dur ist zwar als Grundtonart vorgegeben, in der Harmonisierung der melodischen Linie und im Vor-, Zwischen- und Nachspiel ereignen sich aber vielerlei Modulationen und Rückungen in entlegene Bereiche von z.T. verminderter Harmonik. Das ist das eine kompositorische Mittel, um die klangliche Atmosphäre von Traum und träumerischer Entrücktheit zu schaffen, das andere ist der Klaviersatz. Mit nur zwei Ausnahmen – bei den Worten „Es träumte mir, ich sei dir teuer“ und „Ach, im Traum empfand ich“ – besteht er im Bass aus einer Figur von sechs über einen großen tonalen Raum aufsteigenden Sechzehnteln, die in dieser Bewegung jeweils am Ende in einen zwei- oder dreistimmigen Akkord münden, der, da er den Wert eines punktierten Viertels hat, so wirkt, als würde er die Sechzehntel-Bewegung auffangen und zur Ruhe kommen lassen.


    Welche geradezu faszinierende klangliche Wirkung diese Figur des Klaviersatzes zu entfalten vermag, lässt sich gleich am Anfang im viertaktigen Vorspiel vernehmen. Die zwei- und dreistimmigen Akkorde wirken, als würden sie im Hervorgehen aus der aufsteigenden Folge von Sechzehntel gleichsam in klangliches Schweben versetzt und gingen dann, verbinden mit einer harmonischen Rückung – hier von einem verminderten Fis zu einem H-Dur – in einen weiteren bitonalen Akkord über, aus dem heraus sich dann im Bass die nächste Sechzehntel-Kette löst, um erneut in einen – nun dreistimmigen – Akkord zu münden, - auf dass sich dieser Prozess so fortsetzt. Schon nach dem ersten Akkord stellt sich der Eindruck eines klanglichen Schwebens ein, und es ist nur konsequent, dass sich die Singstimme mit den Worten „Es träumte mir, ich sei dir teuer“ im vierten Takt wie in einem Gestus des Sich-Einschmeichelns in die letzte Sechzehntel-Kette einfügt, um die erste Melodiezeile erklingen zu lassen.


    Sie beschreibt eine für dieses Lied ganz typische Bewegung: Es ist ein überaus ruhiges, wellenartiges Auf- und Absteigen im Intervall von Sekunden, das am Ende, bei den Worten „dir teuer“, in eine weit gespannte bogenförmige Dehnung in Gestalt von legato auszuführenden deklamatorischen Einzelschritten übergeht. Das ist gleichsam die Schlüssel-Aussage für all das, was lyrisch nachfolgt. Und aus diesem Grund geht das Klavier nun für die Dauer dieser Melodiezeile von seiner Grundfigur ab. Es begleitet hier die Singstimme mit einer Folge von langsam sich absenkenden dreistimmigen Viertel- und Achtelakkorden, die im Bass in dieser Fallbewegung von Einzeltönen begleitet werden. Und es hat durchaus einen tiefen Sinn, dass sich das bei den von Brahms als Textwiederholung in die Liedkomposition eingebrachten Worten „ach im Traum bereits empfand ich, es sei ein Traum“ wiederholt. Die melodische Linie beschreibt wieder, vom Klavier mit Akkorden begleitet, diese wellenartige Bewegung, die am Ende in eine bogenförmige Dehnung mündet, die nun aber noch weiter gespannt ist, erst nach einer recht langen Pause für die Singstimme einsetzt und überdies nun von der Grundfigur begleitet wird. Diese Wiederholung nach dem Prinzip der entwickelnden Variation – ein kompositorisches Grundprinzip bei Brahms – gründet in der semantischen Anbindung an die Schlüsselaussage des Liedanfangs: Das, was das lyrische Ich träumte, enthüllt sich als bloßer Traum, dem in der Realität nichts entspricht.


    Die aus mit einem Auftaktsprung einsetzende ruhige Bewegung der melodischen Linie auf der eingenommenen tonalen Ebene und das Einmünden dieser Bewegung in eine weit gespannte bogenförmige Dehnung wiederholt sich in diesem Lieder in verschiedenen Varianten immer wieder. Sie ist ein melodisches Grundmuster, dem die Anmutung von Schweben eigen ist und das insofern ganz und gar dem Charakter des Klaviersatzes entspricht, von dem sich die melodische Linie in ihrem Schweben gleichsam tragen und beflügeln lässt. Nur bei den Worten „Denn schon im Träume / Bereits empfand ich“ nimmt die melodische Linie einen anderen Gestus an. In den mit einem Quart- und einem Quintsprung einsetzenden Tonrepetitionen und in der Unterbrechung dieses Vorgangs durch eine Dreiachtelpause ist es ein gleichsam konstatierender Gestus. Und er ist ja, auch wenn er sozusagen ein wenig aus dem melodischen Rahmen fällt, durchaus motiviert: Schließlich bricht hier die Erkenntnis, die ja eigentlich nur eine „Empfindung“ ist, in die wohlige Welt des Traumes von der Treue des geliebten Menschen ein. Bezeichnenderweise bricht hier ein h-Moll in die Harmonisierung der melodischen Linie ein, das dann allerdings eine Rückung nach Fis-Dur vollzieht, mit dem die Faktizität dieser „Erkenntnis“ harmonisch akzentuiert wird.


    Auf den Worten „Es sei ein Traum“, die immerhin vier Mal deklamiert werden, liegt drei Mal ein weit gespannter, in Legato-Schritten sich entfaltender und in einen Fall mündender melodischer Bogen. Er bildet, nicht allein wegen seiner Häufigkeit, sondern vor allem wegen der Variationen, die er in der melodischen Struktur, dem begleitenden Klaviersatz und der Harmonisierung durchläuft, das Zentrum des Liedes. Und dass dies so ist, zeigt, wie sehr Brahms in seinen Vertonungen von lyrischen Texten nicht von deren sprachlicher Gestalt, sondern vom lyrischen Zentrum ausgeht. Die Variation ist dabei ein kompositorisches Instrument von fundamentaler Bedeutung. Man sieht es hier an den Varianten der Worte „Es sei ein Traum“. Bei der ersten Wiederholung im ersten Liedteil gipfelt der melodische Bogen um eine Sekunde tiefer auf, senkt sich danach aber in tiefere Lage ab und mündet in verminderte Fis- und Gis-Harmonik, was der musikalischen Aussage einen schmerzlich-resignativen Anflug verleiht.


    Bei der Wiederholung dieser Worte im zweiten Liedteil, der nach einem fünftaktigen Zwischenspiel einsetzt, in dem die Figuren des Vorspiels noch einmal erklingen, liegt erstmals kein melodischer Bogen mehr auf diesen Worten. Vielmehr setzt die melodische Linie nun nicht mit einem Sprung, sondern mit einem verminderten Sekundfall ein und senkt sich in Gestalt zweier langer, dieses Mal auf der tonalen Ebene verbleibender Dehnungen von einem hohen „Eis“ zum Grundton „H“ in mittlerer Lage langsam ab. Und das geschieht, was die Harmonisierung dieser melodischen Bewegung anbelangt, in Gestalt einer Rückung von zunächst klanglich höchst dissonant-schmerzlich anmutender verminderter Gis-Harmonik über ein Fis-Dur nach der Tonika „H“.


    Aber es ist kein H-Dur, es ist der Septimakkord der Tonika, in dem die melodische Linie ausklingt. Und hier begegnet man wieder dem großen Harmoniker Brahms. Erst im siebentaktigen Nachspiel findet die Harmonik des Liedes über Modulationen, die in den Bereich von E-Dur und Cis Dur ausgreifen, ganz am Ende, im Schlussakkord nämlich, zu Tonika H-Dur. Jetzt endlich, was die letzte melodische Variation der Worte „Es ist ein Traum“ ja schon vernehmen ließ, zur endgültigen Einsicht und dem Einverständnis damit: Ja, das war wirklich nur ein Traum!

  • Dietrich Fischer-Dieskau meint in diesem "Notturno" eine gewisse Nähe zu Wagners Tristan zu vernehmen. Und das ist durchaus berechtigt, nutzt doch Brahms die Harmonik in Gestalt permanenter und z.T. kühner Rückungen in verminderte Tonarten, um die Unwirklichkeit der Traum-Atmosphäre klanglich zu imaginieren. Als kühn, weil nicht zu erwarten kann man z.B. die Rückung empfinden, die er in Takt 20 im Übergang zu Takt 21 vornimmt. Dort erklingt im Bass die Tonfolge G-D-Eis-H, mündend in die Terz H-D, und nach der Fermate, statt der erwarteten harmonischen Auflösung dieses Akkords, die Folge Fis-E-Fis-A, nun mündend in die Terz A-Cisis.
    Und so singt er das Lied, begleitet von Hertha Klust, - wunderbar, wie ich finde.


    https://www.youtube.com/watch?v=ao04BgeG8gE

  • Ach, wende diesen Blick, wende dies Angesicht!
    Das Inn´re mir mit ewig neuer Glut,
    Mit ewig neuem Harm erfülle nicht!


    Wenn einmal die gequälte Seele ruht,
    Und mit so fieberischer Wilde nicht
    In meinen Adern rollt das heiße Blut –


    Ein Strahl, ein flüchtiger, von deinem Licht,
    Er wecket auf des Wehs gesamte Wut,
    Das schlangengleich mich in das Herze sticht.


    (G. F. Daumer)


    Es sind hochgradig expressive Worte und Bilder, in denen das lyrische Ich von sich selbst und seiner Seelenlage spricht, wie sie sich mit seiner Liebe zum Du und dessen Verhalten ihm gegenüber einstellt. Da ist von „Glut“ die Rede, von „fieberischer Wilde“ mit der das Blut durch die Adern rollt, und von einem „Weh“, das „schlangengleich“ ins Herz sticht. Brahms greift diese so starken lyrischen Worte und Bilder mit einer ebenso hoch expressiven Liedmusik auf, die ohne Vorspiel unmittelbar losbricht und sich in zwei Strophen ungehemmt entfaltet, - zwei Strophen deshalb nur, weil die Komposition als Strophenlied nach dem Schema „A-B-A´“ angelegt ist. Die dritte Strophe ist, bis auf unwesentliche Variationen, mit der ersten in Melodik und Klaviersatz identisch.


    Dietrich Fischer-Dieskau spricht von dieser Komposition zu Recht als von einem „der schönsten und tiefst gehenden Lieder von Brahms“ und verweist darauf, dass es zur Zeit seiner Publikation (also 1871) in der noch ganz und gar vom Biedermeier geprägten Hausmusik wohl völlig fehl am Platze war. Dem Urteil von Fischer-Dieskau wäre hinzufügen, dass die Größe und Bedeutung dieses Liedes vor allem in der – für Brahms ungewöhnlichen – Radikalität liegt, in der mit expressiven liedmusikalischen Mitteln ein von Liebesschmerz gequältes, ja zerrissenes Herz in all seinen Dimensionen ausgelotet wird.


    Mit zwei Fallbewegungen in Sekundschritten, die mit einem Terzsprung eingeleitet werden, setzt das Lied unmittelbar ein. Die mit einem schmerzlichen „Ach“ vorgebrachte Aufforderung des lyrischen Ichs an das Du erhält hier ein großes expressives Potential dadurch, dass die zweite Fallbewegung um eine Terz höher ansetzt, aber auf dem gleich Ton endet wie die erste, wobei jeweils eine als Vorhalt wirkende harmonische Rückung von der Subdominante b-Moll nach f-Moll erfolgt. Der nachfolgende, partiell gedehnte und nun in Schritten im Wert von Viertelnoten – statt wie zuvor in Achteln – erfolgende Sekundfall auf dem Wort „Angesicht“ wirkt wie ein kurzes Zur-Ruhe-Kommen der melodischen Linie nach diesem Ausbruch, den sie am Liedanfang tätigte. Das Klavier begleitet die Bewegung der melodischen Linie mit in gleicher Weise fallenden Achteln im Diskant, geht aber dann, bei dem Wort „Angesicht“, zu länger gehaltenen bitonalen Akkordfolgen über.


    Es ist kein wirkliches Zur-Ruhe-Kommen der melodischen Linie, was sich da am Ende der einleitenden Melodiezeile ereignet. Obwohl das Lied „ziemlich langsam“ vorgetragen werden soll, geht von der Melodik der ersten – und auch vom zweiten Teil der zweiten und der dritten – Strophe eine starke Unruhe aus. Es ist eine innere, die sich nicht in raschen deklamatorischen Schritten ausdrückt, sondern vielmehr in immer wieder sich ereignenden und forte ausgeführten Aufstiegen zu bogenförmigen Dehnungen in hoher Lage, wobei die vorangehenden melodischen Schritte wie ein Anlauf dazu wirken. Schon auf den Worten „mit ewig neuer Glut“ liegt eine aus einem Sextsprung hervorgehende Dehnung in hoher Lage, wobei die Harmonik eine Rückung von c-Moll nach g-Moll macht. Die melodische Linie auf den Worten „Mit ewig neuem Harm erfülle nicht“ wirkt wie eine Steigerung dessen, was sich melodisch da gerade ereignet hat. Jetzt steigt die melodische Linie mit zwei Terzschritten zu einem hohen „Ges“ empor, verbleibt in dieser Lage und senkt sich dann über einen lang gedehnten verminderten Terzfall auf dem Wort „erfülle“ und einem Sekundfall auf ein hohes „C“ hin ab. Aber erst bei der Wiederholung dieser Worte, bei der die melodische Linie anfänglich in die hohe Lage zurückkehrt, die sie bei den Worten „neuem Harm“ erreicht hat, kommt eine leichte Zurücknahme der Expressivität in die Liedmusik. Dies in Gestalt eines ähnlichen gedehnten Sekundfalls der melodischen Linie, wie er sich auch am Ende der ersten Melodiezeile ereignete.


    Wie die Melodik, so ist auch der ganz und gar eigenständige Klaviersatz auf hohe Expressivität hin angelegt. In Diskant und Bass besteht er überwiegend aus lebhaft sich entfaltenden und oft triolisch angelegten Steig- und Fallbewegungen von Achteln, die da und dort in Akkorde münden. Da die melodische Linie durch die vielen Dehnungen in hoher Lage ja durchaus Phasen der Ruhe aufweist, wirken die permanenten Achtelbewegungen im Klaviersatz als Faktor klanglicher Unruhe und reflektieren darin die seelische Aufgewühltheit des lyrischen Ichs. Auch in der Harmonik schlägt diese sich nieder: Sie moduliert permanent zwischen der Tonika f-Moll, der Dominante c-Moll, der Subdominante b-Moll und greift sogar einmal nach g-Moll aus.


    Nur eine kurze Pause von anderthalb Takten ist der Singstimme vor der zweiten Strophe gegönnt. Bei den Worten „Wenn einmal die gequälte Seele ruht“ entfaltet sich die melodische Linie in deutlichem Kontrast zur ersten Strophe in tiefer Lage in Gestalt von ruhigen deklamatorischen Schritten. Sogar eine Viertelpause hebt den Anfang auf den Worten „wenn einmal“, auf dem eine einfache Kombination von kleinem Sekundsprung und –fall liegt, von der Weiterführung der melodischen Linie ab, bei der die Worte „gequälte“ und „Seele“ zwar mittels einer Dehnung mit einem Akzent versehen sind, dies allerdings in Gestalt einer schlichten Fallbewegung über ein kleines Intervall in tiefer Lage. Auch der Klaviersatz wirkt hier in seiner klanglichen Expressivität zurückgenommen: In Diskant und Bass verbleiben die Akkorde und Achtel in ihrer Bewegung auf der tonalen Ebene, die sie eingenommen haben. Und schließlich hebt sich auch die Harmonik von der der ersten Strophe deutlich ab: An die Stelle des dominanten Tongeschlechts Moll dort ist nun ein Des-Dur getreten, das am Ende über Ges-Dur nach As-Dur moduliert.


    Der Klaviersatz behält diese Grundstruktur des Verharrens auf der tonalen Ebene bei, nun allerdings in vorwiegend akkordischer Gestalt, aber das lyrische Bild von dem „heißen Blut“ das in „fieberischer Wilde“ in den Adern „rollt“ lässt es nicht zu, dass die melodische Linie in ihren Bewegungen bei dem Gestus bleibt, den sie am Anfang dieser Strophe eingenommen hat. Er war ja initiiert von dem Wort „ruht“, das den entsprechenden lyrischen Vers dominiert. Bei den Worten „und mit“ beschreibt sie zwar noch ein ruhiges, weil in Gestalt von Viertelnoten erfolgendes Auf und Ab in Sekunden, schon bei dem Wort „fieberisches“ geht sie aber zu nervösen Achtel- und Sechzehntel-Bewegungen über, und bei „Wilde“ folgt dann eine erste Aufgipfelung in Form eines gedehnten Bogens, - allerdings erst einmal in oberer Mittellage.


    Und nun kommt wieder ein Steigerungs-Effekt in die Melodik. Sie vollzieht auf den Worten „in meinen“ („Adern“) eine ähnliche Bewegung wie auf „fieberischer“, nun aber in der tonalen Lage um eine Terz angehoben und nicht mehr in Dur, sondern in Moll (b-Moll) harmonisiert, und verfolgt diesen Gestus weiter, indem sie noch weiter in hohe Lage aufsteigt und schließlich bei den Worten „Adern rollt“ eine hoch expressive, lang gedehnte Kombination aus vermindertem Quartfall und Terzsprung beschreibt. Und hier geht das Klavier auch wieder zu seinen aus tiefer Basslage in hohe aufsteigenden Achteln über. Am Ende kommt die melodische Linie zwar – wieder einmal – zu kurzer Ruhe in Gestalt eines leicht gedehnten Sekundfalls auf dem Wort „Blut“, aber das Klavier will es dabei nicht belassen. Es kommentiert dieses Ende der melodischen Linie der zweiten Strophe mit einem harmonisch geradezu kühnen und höchst dissonant daherkommenden Nonen-Akkord, gebildet aus den Tönen „G-B-E-D“.


    Mit der dritten Strophe kehrt das Lied mit nur unwesentlichen Variationen am Anfang und Ende zu seinen Anfängen in der ersten Strophe zurück und lebt erneut die hohe liedmusikalische Expressivität im Ausloten der Affekte aus, die das lyrische Ich in seiner unerfüllten Liebe zum Du quälen.

  • Dieses Lied kann man, hört man es im Rahmen und auf dem Hintergrund des gesamten liedkompositorischen Schaffens von Johannes Brahms, das dieser Thread ja anhand ausgewählter Lieder aufzuzeigen versucht, durchaus als Dokument des sich abzeichnenden liedkompositorischen Spätstils von Brahms auffassen. Dieser zeichnet sich durch eine wachsende Kompromisslosigkeit, ja Radikalität in der Absicht aus, die lyrische Aussage und das ihr immanente emotionale Potential in Liedmusik umzusetzen.


    Hier, in diesem Lied schlägt sich das auf vielfältige Weise in der Faktur nieder. Die Liedmusik weist durchweg einen hohen Grad an Expressivität auf, der sich zum Beispiel im unmittelbaren, das heißt ohne Vorspiel erfolgenden Einsatz einer melodischen Linie zeigt, die das Ausdruckspotential, das ihr von ihrer Struktur her eigen ist, dadurch steigert, dass die Fallbewegung auf den Worten „wende diesen Blick“ bei der Wiederholung auf den Worten „Wende dies Angesicht!“ in Gestalt eines Sekundfalls in hoher Lage auf einer um eine Terz angehobenen melodischen Linie erfolgt, die sich in tiefe Lage fortsetzt und mit einer Rückung von f-Moll, bzw. b-Moll nach Des-Dur verbunden ist.


    Aus dieser Intention geht aber nicht nur die sich in den Wiederholungen steigernde Expressivität der Aufgipfelungen der melodischen Linie hervor, oder so etwas wie der dissonante Nonenakkord, den Brahms auf die Worte „das heiße Blut“ legt. Auch die Tatsache, dass er in die melodische Linie auf den Worten „Wenn einmal die gequälte Seele ruht“ Anklänge an den Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“ einfließen lässt, ist letzten Endes darauf zurückzuführen.


    Dietrich Fischer-Dieskau meinte ja, wie ich oben zitierte, dieses Lied sei sozusagen zur Unzeit entstanden, weil die noch stark vom Biedermeier geprägte Hausmusik dafür noch nicht reif gewesen sei und man später, als dies dann doch der Fall war, sich mehr für Hugo Wolf und Richard Strauss interessiert habe. Wie recht er damit hat, kann man daran sehen, wie Eduard Hanslick die Liedmusik von Brahms beurteilte. In einem Brief an Theodor Billroth aus dem Jahre 1877 meinte er – nicht unter Bezugnahme auf dieses Lied, sondern die Lieder von Brahms ganz allgemein betreffend -, er vermisse darin die Einfachheit der Empfindung, die Naivität, „die ich in einem Lied finden muß, wenn es mich nicht bloß als Musiker interessieren, sondern als Menschen beglücken soll“. In den Liedern von Brahms gebe es für ihn „zu viel Nebel“, „selten scheine die Sonne in ihnen so recht warm und goldig.“


    Hier ein Link zu einer vorzüglichen gesanglichen Interpretation dieses Liedes:


    https://www.youtube.com/watch?v=T7PrWZPvMxw

  • Unbewegte laue Luft,
    Tiefe Ruhe der Natur;
    Durch die stille Gartennacht
    Plätschert die Fontäne nur.
    Aber im Gemüte schwillt
    Heißere Begierde mir,
    Aber in der Ader quillt
    Leben und verlangt nach Leben.
    Sollten nicht auch deine Brust
    Sehnlichere Wünsche heben?
    Sollte meiner Seele Ruf
    Nicht die deine tief durchbeben?
    Leise mit dem Ätherfuß
    Säume nicht, daherzuschweben!
    Komm, o komm, damit wir uns
    Himmlische Genüge geben


    (G.F. Daumer)


    Das lyrische Ich erfährt in der „Gartennacht“ tiefe Ruhe der Natur, die auch das Plätschern der Fontäne nicht wirklich zu stören vermag. Zu dieser Erfahrung von Außenwelt steht die seelische Innenwelt in starkem Kontrast: Dort regt sich auf unruhige und heftige Weise die Sehnsucht nach Leben, - Leben in Gestalt einer erfüllten Liebesnacht mit dem Du, von dem das Ich sich wünscht, dass seiner „Seele Ruf“ es erreichen möge und es diesem Ruf folgt.


    Brahms hat diesen lyrischen Text in einer Weise in Liedmusik gesetzt, in der dieser Kontrast zwischen Außenwelt und Innenwelt in klanglich stark ausgeprägter Weise vernehmlich werden lässt. Mit den Worten „Aber im Gemüte schwillt“ setzt eine Liedmusik ein, die sich in allen Bereichen, Melodik, Klaviersatz, Taktgrundlage und Vortragsanweisung von der auf die ersten vier Verse in einer so extrem kontrastiven Weise entfaltet, wie einem das selten in Liedern begegnet. Und es ist ganz offenkundig, dass dies dem liedkompositorischen Grundansatz geschuldet ist ,den Brahms verfolgt: Die Liedmusik folgt nicht primär den prosodischen Eigenschaften und der Semantik der einzelnen Verse, sie setzt an den Emotionen an, die einzelne Aussagen und lyrische Bilder des Textes im Rezipienten auszulösen vermögen. Und von daher wird aus dem Wort „Aber“ das Tor zu einer den Naturbildern der ersten vier Verse kontrastiv gegenübertretenden Welt von Gedanken und Affekten, die eine eigene Liedmusik reklamiert.
    Vier Kreuze sind als Vorzeichen vorgegeben, die Grundtonart ist also E-Dur, bzw. cis-Moll, dem ersten Liedteil liegt einen Neunachtel-Takt zugrunde und er soll „Langsam“ vorgetragen werden, der zweite hingegen „lebhaft“, und dies auf der Grundlage eines Vierviertel-Takts.


    Die Liedmusik auf den ersten vier Versen fängt die die darin enthaltenen lyrischen Bilder auf klanglich faszinierende Weise ein. Dem Klaviersatz kommt dabei die maßgebliche Funktion zu. Die leitenden, das evokative Potential der Liedmusik gleichsam prägenden lyrischen Worte sind dabei ganz offensichtlich: „unbewegt“, „Ruhe“ und „plätschern“. Man begegnet ihnen in den tonmalerischen Elementen vor allem des Klaviersatzes. Aber auch die melodische Linie der Singstimme reflektiert ihre Semantik. Im zweitaktigen Vorspiel steigen im Klavierbass in großen Intervallen der E-Dur-Harmonik drei Einzeltöne über eine Duodezime auf und münden in einen verminderten Dominant-Akkord im Wert einer punktierten halben Note. Diese Figur geht mit dem Einsatz der melodischen Linie unter Beibehaltung ihrer Grundstruktur in vielen Varianten in den Diskant über und prägt die Liedmusik als „Basso ostinato“ bis zum Ende des zweiten Verses. Der klangliche Effekt, der von ihr ausgeht, ist der der Evokation von Ruhe. Dies deshalb, weil sich in ostinater Wiederholung klanglich immer wieder dasselbe ereignet: Aufstieg von Achteln, die in einen lang gehaltenen Dominant-Akkord eingehen, der von der Verminderung zur reinen Dur-Harmonik moduliert.


    Aber das ist nicht alles, was der Klaviersatz zur klanglichen Evokation der Semantik der zentralen lyrischen Worte beizutragen hat. Bevor die Singstimme zum zweiten Mal die Worte „tiefe Ruhe“ deklamiert – denn Brahms wiederholt den ganzen zweiten Vers -, senken sich im Bass Oktaven in cis-Moll-Harmonik ganz langsam in sehr tiefe Lage ab, - klanglich „tiefe Ruhe“ suggerierend. Dann aber, bevor das lyrische Bild von der „plätschernden Fontäne“ in die Liedmusik tritt, lässt das Klavier in der fast zweitaktigen Pause für die Singstimme eine Figur von aus tiefer Bass-Lage in den Diskant aufsteigen und dort in einen Triller übergehende Achtel erklingen, die tonmalerisch das nachfolgende Bild vorwegnehmen. Das bleibt dann auch die Struktur des Klaviersatzes bis zum Ende der zweiten Strophe.


    Auch von der melodische Linie der Singstimme geht die Anmutung tiefer Ruhe aus. Dafür ist nicht nur die Tatsache verantwortlich, dass sie „langsam“ vorgetragen werden soll, es ist vor allem ihre Struktur. Sie ist im ersten Liedteil in viele, z.T. sehr kleine Melodiezeilen untergliedert, die durch längere Pausen voneinander abgesetzt sind. Und überdies treten häufig melodische Dehnungen in die deklamatorischen Schritte, die bestimmten, für die lyrische Aussage relevanten Worte klangliche Akzente verleihen. Wie stark die melodische Linie auch in ihrer Binnenstruktur die Aussage des lyrischen Textes reflektiert, ist gleich am Liedanfang auf beeindruckende Weise zu vernehmen. Auf dem Wort „unbewegte“ beschreibt die melodische Linie einen aus einer Tonrepetition hervorgehenden Terzsprung, der wiederum in eine Tonrepetition mündet, bei der der erste deklamatorische Schritt aber stark gedehnt ist. Der semantische Gehalt des Wortes nimmt auf diese Weise klanglich-sinnliche Gestalt an. Auf dem Wort „laue Luft“ liegt eine melismatische Fall- und Sprungbewegung, und danach tritt erst einmal eine Pause im Wert von drei Vierteln in die melodische Linie.


    Geradezu suggestive Wirkung geht von der Melodik bei den Worten „tiefe Ruhe der Natur“ aus. Auf dem Wort „tiefe“ liegt ein leicht gedehnter (punktierte Viertel), in hoher Lage ansetzender Sextfall, der bei „Ruhe“ in einen wiederum gedehnten Sekundfall in tiefer Lage übergeht. Eine Pause von zwei Vierteln folgt. Danach deklamiert die Singstimme die Worte „der Natur“ auf einer Kombination von Sekund- und Terzfall, wobei das tiefe „E“, auf dem sie dabei endet, eine Dehnung aufweist. Erneut folgt eine Pause (im Wert von drei Vierteln). Dann wederholt die Singstimme diese Worte, und dies bei den Worten „tiefe Ruhe“ auf der gleichen melodischen Figur, bei den Worten „der Natur“ nun aber in melodisch variierter Gestalt. Nun beschreibt die melodische Linie eine – wiederum klanglich „Ruhe“ suggerierende – Dehnung in Gestalt eine Falls in tiefer Lage, der auf der zweiten Silbe von „Natur“ in einen Quintsprung übergeht. Das Plätschern der Fontäne tonmalerisch gestaltende kurze, aber immerhin fast zwei Takte einnehmende Zwischenspiel folgt.


    Was die Harmonisierung der melodischen Linie anbelangt, so weist sie nicht nur ausgeprägte Modulationen zwischen den Tonarten, sondern auch solche zwischen den Tongeschlechtern auf. Sie setzt zunächst in E-Dur ein und rückt bei „tiefe Ruhe“ nach H-Dur. Bei „der Natur“ ereignet sich aber eine Rückung nach cis-Moll, das dann, bei der Wiederholung dieser Worte nach fis-Moll rückt und über G-Dur schließlich wieder nach H-Dur moduliert. Beim zweiten Vers ereignet sich eine Modulation von H-Dur über Fis-Dur nach e-Moll am Ende der Melodiezeile auf den Worten „plätschert die Fontäne nur“. Da sich die harmonischen Modulationen und Rückungen bei den ersten beiden Versen immer wieder auf der Basis der ostinaten Bass-Figur ereignen, wirken sie, vor allem wenn sie im Bereich von verminderter und Moll-Harmonik geschehen, als eine Art Erlöschen der Helle in der Liedmusik und damit als Verstärkung der Suggestion von Ruhe, die von ihr ausgeht.


    Dann aber ereignet sich Erstaunliches. Im viertaktigen Nachspiel zum ersten Liedteil scheinen die in lange Dehnungen mündenden Grundfiguren des Klavierbasses „dimin. e ritard. molto“ in die Tiefe verminderter Harmonik zu sinken, klanglich regelrecht zu erlöschen, wobei sich ganz am Ende freilich eine Rückung in den Dur-Bereich ereignet. Der letzte tiefe Akkord, einer in E-Dur, wird lange gehalten. „Adagio“ lautet hier die Anweisung“. Das Lied scheint zu Ende zu sein. Da beginnt mit einem Mal- und tatsächlich überraschend – ein wahrer Wirbel von permanent abwärts und wieder aufwärts rauschenden Sechzehnteln. Und im zweiten Takt setzt die Singstimme mit den Worten „Aber im Gemüte schwillt“ ein, und sie tut dies im einem wahrlich arios wirkenden Gestus. Den behält sie nicht nur bis zum Ende des Liedes bei, sie steigert sich sogar noch darin. Immer wieder steigt die melodische Linie mit Achtel-Sekundschritten in hohe Lage auf und ergeht sich dort insistierend in zum Teil gedehnten Bewegungen.


    Bei den Versen, die mit der der Frage „sollten nicht…“, bzw. „sollte…“ eingeleitet werden, nimmt die Liedmusik einen besonders drängend-beschwörenden Gestus an, indem die melodische Linie lange in Gestalt von Legato-Achtelfiguren in hoher Lage verharrt, bevor sie am Ende in einen Fall über eine Septe, bzw. eine Sexte übergeht, wobei das Klavier all das mit Figuren begleitet, die aus einem aus einer Terz über ein großes Intervall fallenden Achteln bestehen und den drängenden Gestus der melodischen Linie deutlich verstärken. Moll-Harmonik gibt es hier nicht mehr. Die Harmonisierung der melodischen Linie erfolgt durchweg mit Dur-Harmonik, die allerdings bemerkenswerte Rückungen vollzieht: Von der Grundtonart E-Dur über die Dominante und die Subdominante, aber bei den Worten „Leise mit dem Ätherfuß säume nicht daherzuschweben“ auch im Bereich von F-Dur und C-Dur.


    Und dann folgt das das Lied beschließende verlockende „Komm, o komm“. Es wirkt mit seinen vielen Wiederholungen und den vielen z.T. gedehnten und forte deklamierten Aufgipfelungen der melodischen Linie in hoher Lage auf der Grundlage des hektisch wirkenden Sechzehntel-Wirbels im Diskant - und teilweise auch im Bass - tatsächlich wie das Finale einer Arie. Und die Frage ist – wie mir scheint – sehr wohl berechtigt, wie das zu der magisch-ruhigen Klanglichkeit des ersten Liedteils passen soll.

  • Als ich eben in diese Aufnahme mit Anne Sofie von Otter


    https://www.youtube.com/watch?v=qpiyRkeKNNw


    hineinhörte, sah ich mich in der Frage bestätigt, mit der ich die Besprechung dieses Liedes schloss: Wie nämlich die Liedmusik auf den Worten "Komm, o komm, damit wir uns / Himmlische Genüge geben" zu der magisch-ruhigen Klanglichkeit des ersten Liedteils passen soll. Man könnte diese Frage sogar auf den ganzen zweiten Teil des Liedes ausdehnen, den man mit dem Übergang von einem "langsamen" zu einem "lebhaften" Tempo, mit den rasanten Sechzehntel-Figuren im Klaviersatz , die ja nur vorübergehend von Achtelfiguren abgelöst werden, und schließlich - und nicht zuletzt - mit dem gänzlich neuen, gleichsam arienhaft anmutenden Gestus, in dem die Singstimme nun auftritt, durchaus als einen Bruch in der Liedmusik zu empfinden vermag.


    Brahms scheint übrigens mit diesem Teil des Liedes Anstoß erregt zu haben. Das kann man einer an ihn gerichteten brieflichen Bemerkung von Elisabet von Herzogenberg entnehmen. Sie schreibt:
    "Ich muß es schon über mich ergehen lassen, daß Sie mich für etwas prüde halten, und doch ist nichts ungerechter. O wüßten Sie, wie viele Lanzen ich für Ihre Daumerschen Lieder gebrochen habe, selbst für das vielverketzerte >Unbewegte laue Luft<".
    "Vielverketztert"! Diese doch recht deutliche Aufforderung "Komm, o komm!" müssen damals wohl einige Hörer (-innen?) als unanständig empfunden zu haben.

  • Friedrich Hebbel: „In der Gasse“


    Ich blicke hinab in die Gasse,
    Dort drüben hat sie gewohnt;
    Das öde, verlassene Fenster,
    Wie hell bescheint´s der Mond!


    Es gibt so viel zu beleuchten;
    O holde Strahlen des Lichts,
    Was webt ihr denn gespenstisch
    Um jene Stätte des Nichts!


    Bei diesem Lied handelt es sich um das sechste des Opus 58, das insgesamt acht Kompositionen enthält und wie Opus 57 im Jahre 1871 bei Rieter-Biedermann, Leipzig, publiziert wurde. Die Zusammenstellung der Lieder bietet ein sehr uneinheitliches Bild, und es hat wohl wenig Sinn, darin nach irgendeinem dahinter stehenden thematischen Konzept zu suchen. Bei den ersten vier Liedern handelt es sich um heitere Gesänge auf drei italienisch inspirierte Gedichte von August Kopisch („Blinde Kuh“, „Während des Regens“, „Die Spröde“) und ein Gedicht von Melchior Grohe („O komme, holde Sommernacht). Den Mittelpunkt bilden – und in höchst krassem Kontrast dazu stehend – drei Lieder, in denen tiefer Weltschmerz zum Ausdruck kommt: „Schwermut“ (Text von Karl Candidus), „In der Gasse“ (Text Friedrich Hebbel) und „Vorüber“ (Text ebenfalls von Hebbel). Den Beschluss macht ein erneutes Lied von der Gattung heiteres Ständchen: „Serenade“ (Text A. F. von Schack).


    Hier soll nur auf die erste von den beiden Hebbel-Vertonung näher eingegangen werden. Dies deshalb, weil es sich hier, wie auch beim zweiten Hebbel-Lied, um einen der wenigen Fälle handelt, wo Brahms sich auf bedeutsame zeitgenössische Lyrik einließ. Auch Adolf Friedrich Graf von Schack und Karl Candidus gehören zwar zu den zeitgenössischen Lyrikern, sie können aber in ihren Werken nicht den Rang beanspruchen, der Hebbel zweifellos zukommt. Brahms kannte Hebbel übrigens auch persönlich, er besuchte den Dichter im Jahre 1862 in Wien. Der Komponist und Pianist Eduard Behm (1862-1946) berichtet allerdings in seinem Aufsatz „Aus meinem Leben“ (1911), Brahms habe ihm gegenüber geäußert, die Gedichte von Friedrich Hebbel seien im Grunde nicht vertonbar.


    Den Gegenbeweis hat er freilich gleich zwei Mal selbst geliefert. Sowohl bei dem Lied „Vorüber“, wie auch bei diesem „In der Gasse“ handelt es sich um liedkompositorisch nicht nur gelungene, sondern auch bedeutsame Werke. Bedeutsam ist dieses Lied aus gleich mehreren Gründen: Es fängt die lyrische Aussage mit adäquater Klanglichkeit ein, es generiert sich dabei aus einem einzigen, seine ganze kompositorische Faktur in Melodik und Klaviersatz leitmotivisch durchziehenden Motiv, und es vermag liedmusikalisch in Bann zu schlagen, - in der Art und Weise, wie es den auf die Evokation einer bildhaften Szene ausgerichteten lyrischen Text in musikalische Szenerie zu verwandeln vermag, einschließlich, und dabei von besonderer liedkompositorischer Bedeutsamkeit, der Aussage des letzten Verses, der auf lyrisch kühne Weise vom „Nichts“ spricht.


    Es ist eine Szene, die hier lyrisch evoziert wird. Das lyrische Ich steht in der Gasse, in der das Haus seiner (oder seines) ehemaligen Geliebten steht. Der Mond scheint auf ein ödes verlassenes Fenster darin. Der Ort wird für das Ich zu einer Stätte des Nichts, und die „holden Strahlen“ des Mondes darauf kommen ihm angesichts dieser erschreckenden
    Erfahrung von Vergänglichkeit wie Hohn vor. Die Liedmusik folgt dem Vorgang, der sich hier ereignet, und der Erfahrung, die gemacht wird. Sie ist also, wie das Gedicht auch, im Kern episch angelegt. Und entsprechend kommen die für die musikalische Aussage relevanten kompositorischen Mittel zum Einsatz: In der Melodik die im Vorspiel schon aufklingende Grundfigur und die sie ergänzende, auf expressive Klage angelegte Linie, und im Klaviersatz ebenfalls die melodische Grundfigur, der Statik und Leere zum Ausdruck bringende lang gehaltene Akkord und die auf Steigerung des Klagetons angelegte Kombination aus gehaltenem Akkord und daraus hervortretenden Einzeltönen.


    Und dann ist da noch etwas, was Brahms zur musikalischen Erfassung der zentralen lyrischen Aussage einsetzt: es ist die Pause. Die Liedmusik weist auffällig viele – und zum Teil ungewöhnlich lange - Pausen auf, und vor allem solche, die an Stellen auftreten, wo das eigentlich nicht zu erwarten ist. Am Ende des Liedes erfasst die Pause auch sogar den Klaviersatz. Vier Mal schweigt das Klavier einen ganzen Takt lang, und spätestens hier wird voll vernehmlich und erfassbar, was man ohnehin von Anfang so empfunden hat: Der Einbruch der Pause in die Liedmusik ist das musikalisch-evokative Äquivalent für die Erfahrung der Leere und des Nichts, die das lyrischen Ich „in der Gasse“ macht.


    Welche Bedeutung dem melodischen Hauptmotiv zukommt, das wird schon gleich am Liedanfang deutlich. Es besteht aus einer aus einem Quartsprung hervorgehenden und leicht rhythmisierten, weil aus einfachen und punktierten Vierteln und Achteln bestehen Fallbewegung über ein Quarte und eine Quinte, verbunden mit einem zweimaligen Sekundanstieg. Im siebentaktigen Vorspiel erklingt dieses Motiv unisono in Diskant und Bass, in den nachfolgenden drei Takten unisono in der melodischen Linie der Singstimme, im Klavierdiskant und –bass. Und während die Singstimme bei dem Wort „Gasse“ zur Deklamation einer neuen melodischen Linie übergeht, lässt das Klavier das Motiv im Bass noch einmal erklingen. Das geschieht auch nach dem Ende der Melodiezeile auf den Worten „Dort drüben hat sie gewohnt.“


    Hier tritt eine dreitaktige Pause in die melodische Linie, und das Klavier artikuliert unter länger gehaltenen Terzen im Bass in sehr tiefer Lage das melodische Hauptmotiv erneut, geht dann aber zu seiner zweiten Figur über, nämlich den ganzen Takt über gehaltenen vierstimmigen Akkorden. Die lässt das Klavier erklingen, während die Singstimme die Worte „Das öde, verlassene Fenster deklamiert, - dies erneut auf der melodischen Grundfigur. Und die erklingt dann noch einmal im Bass, während die Singstimme wieder eine, nun zweitaktige Pause einlegt. Die Worte „Wie hell bescheint´s der Mond“ werden auf einer melodischen Linie deklamiert, die in zwei Mal gedehnten Schritten auf der tonalen Ebene eins „B“ in mittlerer Lage verharrt, um am Ende einen Terzfall zu beschreiben. Nach einer eineinhalbtaktigen Pause werden diese Worte wiederholt, wobei die melodische Linie nun in zwei gedehnten und zwei kürzeren Schritten in eine Fallbewegung übergeht, die am Ende aber in einen Sekundsprung mündet. Das Klavier begleitet all das mit seiner dritten Grundfigur: Gehaltenen Akkorden, in denen sich ein Fall zu einem tiefer liegenden Ton ereignet. Nun folgt ein sechstaktiges Zwischenspiel, an dessen Anfang und Ende erneut die melodische Grundfigur erklingt.


    Diese genaue Beschreibung der Faktur der Liedmusik der ersten Strophe sollte genügen, um das Wesen dieser Liedmusik zu erfassen, - damit die Komposition hier nicht unnötig zerpflückt wird. Man vernimmt und versteht die melodische Hauptfigur als musikalischen Ausdruck des Faktischen, der Szene sozusagen, in der sich die Gedanken und Gefühle des lyrischen Ichs ereignen. Daher ihre permanente Wiederkehr, die sich ja in der zweiten Strophe im Klavierbass fortsetzt und das wesentliche klangliche Element des Nachspiels bildet. Die melodische Linie weist aber daneben noch eine Bewegung auf, in der sich die Emotionen des lyrischen Ichs ausdrücken, - hier in der Beschreibung des Lichtscheins auf dem verlassenen Fenster, in deren Wiederholung die Bedeutsamkeit des Bildes für das lyrische Ich zum Ausdruck kommt. Das schlägt sich auch in der Harmonik nieder: Die moduliert nämlich zunächst zwischen d- Moll und g-Moll – dies bei den Worten „wie hell bescheint´s der Mond“, geht aber dann, bei der Wiederholung der Worte in eine Modulation zwischen C-Dur, B- Dur und F-Dur über. Hier tritt wieder die Faktizität in das Lied, vom Klavier mit seiner akkordischen Fallfigur akzentuiert.


    Die – wieder von einer Pause getrennten – Melodiezeilen auf beiden ersten Versen der zweiten Strophe wirken in ihren großschrittigen Ausbrüchen der Vokallinie in hohe Lagen wie durch einen starken expressiven Drang vergröberte und verkürzte Formen der melodischen Grundfigur. Das Klavier begleitet sie mit der in ihrer Expressivität gesteigerten Variante seiner aus Akkorden hervorspringenden Einzeltöne, und die Harmonik moduliert zwischen der Grundtonart d-Moll, B-Dur, Es-Dur und es-Moll. Mit dem dritten Vers geht die melodische Linie zunächst wieder zu ihrem Gestus des partiell gedehnten Verharrens auf mittlerer tonaler Ebene über. Der Wirbel, den das Klavier mit Achteln im Bass entfaltet, dies auf der Grundlage der melodischen Hauptfigur, deutet aber schon an, dass es in der Melodik noch einmal zu einem Ausbruch an Expressivität kommen wird.


    Und der ereignet sich dann auch in der Liedmusik auf den letzten Vers, - dies allerdings in einer komplexen Weise. Zunächst beschreibt die melodische Linie eine Aufstiegsbewegung über das Intervall eine Septe und verfällt in eine höchst ausdrucksstarke lange Dehnung in hoher Lage bei dem Wort „Nichts“. Das Klavier ist hier von seiner Grundfigur abgegangen und lässt im Bass expressive Achtel-Ketten nach oben schießen. Nach einer dieses Mal auffallend kurzen, nämlich nur ein Achtel in Anspruch nehmenden Pause, geht die melodische Linie unter Wiederholung des letzten Verses in einen extrem lang gedehnten, nämlich pro deklamatorischem Schritt einen ganzen Takt einnehmenden Fall in kleinen und großen Sekunden über, - der allerdings im letzten Moment, vor den Worten „des Nichts“ überraschend durch eine ganztaktige Pause unterbrochen wird, bevor dann, auf eben diesen letzten Worten, ein – wiederum überraschender – gedehnter kleiner Sekundsprung von einem tiefen „Cis“ zu einem „D“ nachfolgt.


    Das Klavier lässt dabei zwar weiter seine aufsteigenden Achtel-Ketten erklingen, dies aber wie stockend, nämlich drei Mal durch eine ganztaktige Pause unterbrochen. Und auch beim letzten deklamatorischen Schritt, dem von einer großen Pause abgesetzten kleinen Sekundsprung auf den Worten „des Nichts“ ereignet sich im Klaviersatz Bemerkenswertes: Bei dem Wort „des“ schweigt das Klavier, bei „Nichts“ setzt es mit dem Nachspiel ein. Und das generiert sich aus der melodischen Hauptfigur des Liedes.


    Das ist eine liedkompositorisch herausragende musikalische Umsetzung und Evokation der zentralen lyrischen Aussage, die man hier vernehmen, erfahren und erleben kann: Der Erfahrung von Vergänglichkeit und Nichts in der Begegnung mit der Leere des Ortes, an dem ein geliebter Mensch zu Hause war, den es nicht mehr gibt.

  • J. W. v. Goethe: „Dämmrung senkte sich von oben“


    Dämmrung senkte sich von oben,
    Schon ist alle Nähe fern,
    Doch zuerst empor gehoben
    Holden Lichts der Abendstern.


    Alles schwankt in's Ungewisse,
    Nebel schleichen in die Höh',
    Schwarzvertiefte Finsternisse
    Widerspiegelnd ruht der See.


    Nun am östlichen Bereiche
    Ahn' ich Mondenglanz und Glut,
    Schlanker Weiden Haargezweige
    Scherzen auf der nächsten Flut.


    Durch bewegter Schatten Spiele
    Zittert Lunas Zauberschein,
    Und durch's Auge schleicht die Kühle
    Sänftigend in's Herz hinein.


    Goethes Lyrik findet sich nicht oft als Textgrundlage eines Brahms-Liedes. Insgesamt hat er sich ihr nur sechs Mal (wenn ich recht sehe) zugewandt. Den Grund kennen wir von ihm selbst: Er hielt es nicht für sinnvoll und angebracht, lyrische Texte zu vertonen, denen er mit seiner Musik nichts mehr hinzugeben konnte, weil sie vollkommen sind, weil poetisch alles gesagt ist. Nun ist das hier freilich auch der Fall. Es handelt sich um ein spätes Gedicht Goethes, das als achtes in seine Sammlung „Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten“ Aufnahme fand. In lyrischen Bildern von hohem evokativem Potential wird die Atmosphäre des Übergangs von Tag in Nacht vergegenwärtigt, wobei sich das Verschwimmen von Konturen in der Dämmerung und das langsame Aufkommen von Mondenschein in den vier Strophen als metaphorisches Geschehen abspielt und zugleich in Bezug zum lyrische Ich tritt, indem es dieses Geschehen als sänftigende Kühle in seinem vom Tag noch bewegten Herzen empfindet.


    Was also mag Brahms bewogen haben, dieses zweifellos vollkommene lyrische Gebilde entgegen seinen liedkompositorischen Grundprinzipien zu vertonen? Vielleicht hat das ja einen ganz banalen Grund: Er sah sich dazu durch Herrmann Levi motiviert. Der hatte ihn schon 1869 auf dieses Gedicht aufmerksam gemacht und es selbst auch vertont. Angeblich soll Brahms, so berichtet Kalbeck, bei einem Besuch bei Levi die Melodie von einer Sängerin namens Johanna Schwarz vorgetragen gehört haben. Das Blatt, auf dem Levi die Melodie seiner Vertonung aufgezeichnet hatte, soll Brahms heimlich mitgenommen und drei Tage später mit seiner eigenen Vertonung an diesen zurückgeschickt haben, versehen mit der Bemerkung: „Versuchte Übersetzung des beiliegenden Palimpsestes“. Er hatte vier Takte von Levis Komposition in seine eigene übernommen.


    Das Lied ist die erste von insgesamt acht Kompositionen, die zusammen das Opus 59 bilden, das 1873 bei Rieter-Biedermann, Leipzig, erschien. Lyrische Texte von Goethe, Karl Simrock, Klaus Groth, Eduard Mörike und Georg Friedrich Daumer liegen ihnen zugrunde. Sie entstanden im Frühjahr und Sommer des Jahres 1873. Es handelt sich um ein stark variiertes Strophenlied, dem ein Dreiachteltakt zugrunde liegt. G-Moll ist die Grundtonart, und es soll „Langsam“ vorgetragen werden.


    Es ist die wohl bedeutendste unter den Brahms-Kompositionen auf lyrische Texte von Goethe. Großartig und faszinierend daran ist, wie Brahms die lyrischen Bilder auch unter Einsatz von tonmalerischen Mitteln in Liedmusik umsetzt und dabei das lyrische Geschehen und die Reaktion des lyrischen Ichs darauf klanglich Gestalt werden lässt. Das beginnt man gleich am Anfang zu erleben. Das Klavier lässt im viertaktigen Vorspiel zweistimmige, aus bitonalen Achteln bestehende und sich aufwärts bewegende Figuren erklingen, denen jeweils pro Takt eine Achtelpause folgt. Das bleibt auch die Begleitung der Singstimme bis zum Ende des zweiten Verses. Man empfindet dieses Stocken im Klaviersatz wie die klangliche Evokation des Bildes von der langsam sich senkenden Dämmerung. Auch die ruhig sich entfaltende melodische Linie beschreibt in der die beiden ersten Verse umfassenden Zeile am Ende eine Abwärtsbewegung, freilich erst nachdem sie bei den Worten „sich von oben“ in drei Schritten eine Aufgipfelung in oberer Mittellage vollzogen hat. Die Harmonik beschreibt hier mehrmals Rückungen von der Grundtonart g-Moll zur Dominante D-Dur.


    Auf das Bild vom „holden Licht des Abendsterns“ reagiert die Liedmusik in der Weise, dass die melodische Linie nach einer Absenkung in tiefe Lage bei „emporgehoben“ auf den Worten „holden Lichts“ mit einem veritablen Oktavsprung zu einer wellenartigen Bewegung in mittlerer Lage übergeht, die in einen lang gedehnten Sekundfall mit Sekund-Anhebung bei dem Wort „Abendstern“ mündet. Das Klavier lässt nun von seiner stockenden Achtel-Figur ab und geht zu einer rhythmisierten Folge von zwei- und dreistimmigen Achtelakkorden über, die zunächst repetierend auf der tonalen Ebene verbleiben, sich gegen Ende der Melodiezeile aber langsam absenken. Und auch die Harmonik wandelt sich, dem lyrischen Bild entsprechend. Sie geht von Moll zu Dur über und vollzieht eine Modulation vom anfänglichen Dominant-Septakkord „B“ zu Es-Dur und As-Dur, - freilich mit einer Rückung nach g-Moll auf der letzten Silbe des Wortes Abendstern. Das ist ein klanglicher Verweis darauf, dass das holde Licht des Abendsterns nicht der Sphäre angehört, in der sich das lyrische Geschehen ereignet. Es ist die irdische, in der alles „ins Ungewisse schwankt“ und „Nebel“ „in die Höh schleichen“.


    Am Ende der ersten Strophe geht das Klavier im Diskant in einem viertaktigen Zwischenspiel mit einem Mal zu wellenartig auf und ab fließenden Sechzehntelketten über, zu denen sich dann, wenn die melodische Linie der Singstimme einsetzt, im Bass ebensolche dazugesellen. Der Klaviersatz reflektiert damit das Bild „Alles schwankt ins Ungewisse“. Die melodische Linie, die mit diesen Worten einsetzt, ist mit der des ersten Verspaares der ersten Strophe identisch, und das gilt natürlich auch für ihre Harmonisierung. Mit den Worten „Schwarz verfärbte Finsternisse“ wandelt sich sowohl die Struktur der melodischen Linie mitsamt der Harmonisierung, wie auch die des Klaviersatzes. Auch darin greift die Liedmusik die beiden lyrischen Bilder des dritten und des vierten Verses auf. In langsamen Schritten senkt sich die Vokallinie bis zu einem sehr tiefen „G“ auf der letzten Silbe des Wortes „Finsternisse“ ab. Das Klavier, das zunächst (wie im zweiten Teil der ersten Strophe) rhythmisiert-repetierende Achtelakkorde erklingen lässt, vollzieht diese Bewegung der melodischen Linie in Gestalt von drei- und vierstimmigen Akkorden mit. Die Harmonik bewegt sich dabei im Bereich des Septimakkords von „G“. Mit den Worten „Widerspiegelnd ruht der See“ kehrt die Liedmusik wieder zu der des letzten Verses der ersten Strophe zurück.


    Die zarten und fein gezeichneten lyrischen Bilder der dritten Strophe bringen einen lieblichen Ton in die melodische Linie, die anfänglich dazu neigt, in mittlerer tonaler Lage zu verharren, dann aber, bei den Worten „Mondenglanz und Glut“, in eine Aufwärtsbewegung überzugehen und bei „Glut“ in oberer Lage aufzugipfeln und erst einmal innezuhalten. Das Klavier begleitet hier mit einer auffälligen Häufung von Terzen und Sexten im Diskant und lässt in der fast zweitaktigen Pause für die Singstimme nach der Deklamation des Wortes „Glut“ diese Terzen in tiefe Lage absinken, womit sich eine Überleitung zur Liedmusik der zweiten Strophenhälfte ereignet. Hier nun vernimmt man wieder einen klanglichen Niederschlag der lyrischen Bilder. Das „Scherzen“ der Weiden-„Haargezweige“ auf der Flut schlägt sich in einem permanenten Auf und Ab der melodischen Linie in mittlerer Lage nieder, das vom Klavier mit rhythmisierten akkordischen Achtelfiguren begleitet wird. Die Harmonik zeigt hier in ihren Modulationen ebenfalls eine gewisse Unruhe: Diese bewegen sich zwischen f-Moll. g-Moll, G-Dur und D-Dur und greifen am Ende gar nach e-Moll aus.


    Das Bild von „Lunas Zauberschein“, der „durch bewegter Schatten Spiele“ „zittert“, bringt die melodische Linie dazu, erst sich in Sprüngen über große tonale Räume auf und ab zu bewegen, wobei sie in Dominantsept-Harmonik („D“) steht, danach aber einen lieblichen Ton anzunehmen, der sich in zwei Sekundfall-Bewegungen äußert, die in eine lange, am Ende in einem Sekundsprung ansteigende Dehnung auf dem Wort „Zauberschein“ mündet. Die Harmonik vollzieht dabei eine wunderbare klangliche Aufhellung in Gestalt einer Rückung von der Dominante D-Dur über G-Dur nach C-Dur auf der letzten Silbe dieses Wortes.


    Den beiden letzten Versen, in denen sich die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs ausdrückt, verleiht Brahms das musikalische Gewicht, das ihnen im Rahmen der lyrischen Gesamtaussage zukommt. Auf sie laufen die lyrischen Bilder ja allesamt zu. Er setzt, wie er das ja oft in solchen Fällen tut, wieder das kompositorische Mittel der Wiederholung und, damit einhergehend, das Prinzip der melodischen und harmonischen Variation ein. Zunächst beschreibt die melodische Linie eine in tiefer Lage ansetzende, bei dem Wort „Kühle“ über einen Quartsprung aufgipfelnde und dann wieder in noch tiefere Lage absinkende Bewegung, wobei sie sich bei dem Wort „Herz“ einer sehr ausdrucksstarken, weil langer Dehnung auf einem tiefen „D“ hingibt. Die Harmonik vollzieht hier eine expressive Rückung von D-Dur über C-Dur zurück nach D-Dur. Bei der Wiederholung wird die anfängliche Konjunktion „und“ weggelassen und das Wort „sänftigend“ zweimal deklamiert. Wieder setzt die melodische Linie in tiefer Lage ein, nun allerdings in g-Moll harmonisiert. In einem höchst expressiven, weil durch eine Achtelpause unterbrochenen Gestus beschreibt sie eine Aufwärtsbewegung und geht danach in einen weit gespannten, in Gestalt von mehreren Absenkungen über größere Intervalle erfolgenden, aber wieder von einer Achtelpause unterbrochenen Fall über, der in der extremen Tiefe eines kleinen „G“ endet.


    Diese Bewegung begleitet das Klavier mit rhythmisierten Vierergruppen von Akkorden, und die Harmonik vollzieht bei der Wiederholung des Wortes „sänftigend“ die ausdrucksstarke Rückung von C-Dur nach c-Moll, das seinerseits wieder als Subdominante zu dem G-Dur fungiert, in dem die melodische Linie auf den letzten Worten „Herz hinein“ harmonisiert ist. Dies allerdings mit einer kurzen, den Kadenz-Charakter zum Ausdruck bringenden Modulation über die Dominante.
    Im kurzen, nur viertaktigen Nachspiel steigen Quarten und Sexten in hohe Diskantlage empor und münden in einen arpeggierten G-Dur-Akkord. Und so endet diese beeindruckende und liedkompositorisch herausragende Vertonung eines Goethe-Gedichts.

  • Dieses Goethe-Gedicht wurde auch von Othmar Schoeck vertont. Eine Besprechung findet sich in dem Thread „Othmar Schoeck und seine Lieder“ (http://tamino-klassikforum.at/…age=Thread&threadID=14833) (Beitrag 8, vom 31.7.2012). Ich stellte dort auch einen kurzen Vergleich mit dem Lied von Johannes Brahms an und meinte am Schluss:
    „Ich vermag nicht zu sagen, welche der beiden Vertonungen von Goethes Gedicht dessen Geist besser erfasst hat. Hartmut Höll bekennt, das Lied von Brahms betreffend: „Die Goethe-Vertonung >Dämmrung senkte sich von oben< gehört für mich zu seinen (Brahms´) poetischsten Schöpfungen“. Da würde ich ihm zustimmen.
    Aber: Wenn ich Goethes Verse lese, erklingt in mir die melodische Linie, die Schoeck komponiert hat.“


    Und das ist – so würde ich diese meine damalige Feststellung heute kommentieren - im Grunde auch nicht verwunderlich. Während es Brahms liedkompositorisch primär um das Erfassen des evokativen Potentials der lyrischen Bilder geht, so dass daraus eigentlich ein „Tongemälde“ hervorgeht (wie D. Fischer-Dieskau das Lied bezeichnet), verfolgt Schoeck eine ganz andere Intention. Seine Lieder sind – wie dieses auch - eine Art Synthese von Franz Schubert und Hugo Wolf. Für ihn gilt – wie auch für seine beiden großen Vorbilder – der Primat des lyrischen Textes. Aber während Wolf die Inspiration durch das lyrische Gedicht primär in den Klaviersatz einfließen lässt, ist es das Bestreben Schoecks, das Melos der lyrischen Sprache unmittelbar mit der Melodie einzufangen und damit gleichsam musikalisch zu potenzieren.
    Von daher war die Frage, die ich mir damals stellte, eigentlich unsinnig.


    Wer sich selbst ein Hörbild verschaffen und ein daraus hergeleitetes Urteil bilden möchte, dem seien diese beiden Links angeboten:


    https://www.youtube.com/watch?v=8qLMpR5_b9c


    https://www.youtube.com/watch?v=gqsxujm0eg4

  • Klaus Groth: „Regenlied“


    Walle, Regen, walle nieder,
    Wecke mir die Träume wieder,
    Die ich in der Kindheit träumte,
    Wenn das Naß im Sande schäumte!


    Wenn die matte Sommerschwüle
    Lässig stritt mit frischer Kühle,
    Und die blanken Blätter tauten,
    Und die Saaten dunkler blauten.


    Welche Wonne, in dem Fließen
    Dann zu stehn mit nackten Füßen,
    An dem Grase hin zu streifen
    Und den Schaum mit Händen greifen.


    Oder mit den heißen Wangen
    Kalte Tropfen aufzufangen,
    Und den neuerwachten Düften
    Seine Kinderbrust zu lüften!


    Wie die Kelche, die da troffen,
    Stand die Seele atmend offen,
    Wie die Blumen, düftetrunken,
    In dem Himmelstau versunken.


    Schauernd kühlte jeder Tropfen
    Tief bis an des Herzens Klopfen,
    Und der Schöpfung heilig Weben
    Drang bis ins verborgne Leben.


    Walle, Regen, walle nieder,
    Wecke meine alten Lieder,
    Die wir in der Türe sangen,
    Wenn die Tropfen draußen klangen!


    Möchte ihnen wieder lauschen,
    Ihrem süßen, feuchten Rauschen,
    Meine Seele sanft betauen
    Mit dem frommen Kindergrauen.


    Das ist die erste von insgesamt vier Kompositionen auf Gedichte von Klaus Groth in diesem Opus 59. Sie bildet mit dem nachfolgenden Lied „Nachklang“ eine Einheit, denn dieses ist aus dem gleichen melodischen Motiv entwickelt, und Brahms hatte es anfänglich auch mit „Regenlied“ überschrieben. Hier soll aber nur auf das erste und das letzte Lied mit Texten von Klaus Groth eingegangen werden („Dein blaues Auge hält so still“). Brahms lernte Klaus Groth in Kiel kennen und war ihm seitdem in enger Freundschaft verbunden. Clara Schumann war von dem „Regenlied“ so sehr beeindruckt, dass Brahms ihr dieses, zusammen mit dem zweiten des gleichen Themas, zum Geburtstag schenkte.


    Die melodische Linie liegt dem letzten Satz von Brahms´ zweiter Violinsonate A-Dur op.100 zugrunde. Als Clara Schumann die Sonate am 10. Juli 1879 erhalten und durchgespielt hatte, ließ sie Brahms wissen, wie „tief erregt“ sie sei. Theodor Billroth, der von der Sonate ebenfalls begeistert war, schrieb an Brahms (26.6.1879), dabei auch auf das „Regenlied“ eingehend: „Es ist ein sonderbares Ding, bekannte Liedermotive in Sonatenform hören zu sollen. Das Lied gehört, wie >Die Heimat< von Claus Groth, in Deiner Komposition für mich zu den schönsten poetischen Schöpfungen; über der Tiefe und dem Rührenden der Empfindung kann ich dabei Worte und Töne vergessen, die Empfindung verklärt sich zu fast abstrakter religiöser Schwärmerei. (…) Es ist mir absolut unmöglich, mir vorzustellen, welchen Eindruck diese Sonate auf Menschen macht, die das Lied nicht ganz und voll wie eine Selbstschöpfung in sich haben. Mir ist die Sonate wie ein Nachklang vom Liede, wie eine Phantasie über dasselbe.“


    „Regenlied“ ist eine nach dem Prinzip des variierten Strophenliedes angelegte Komposition, der ein Viervierteltakt zugrunde liegt und die in fis-Moll als Grundtonart steht. Sie soll „In mäßiger, ruhiger Bewegung“ vorgetragen werden. Die Melodik der ersten Strophe kehrt in der zweiten, der siebten und der achten Gedicht-Strophe in variierter Gestalt wieder. Die Strophen drei und vier bilden eine eigene liedmusikalische Einheit, ebenso Strophen fünf und sechs, wobei hier bis auf die Wiederholung des letzten Verses der sechsten Strophe liedmusikalische Identität besteht. Ähnlich ist dies auch bei der siebten und der achten Strophe. Dort setzt die Variation der Melodik der ersten Strophe jeweils beim letzten Vers, bzw. bei dessen Wiederholung ein. Es liegt also folgender Liedstrophen-Bau vor: „A-A´ - B´- B´ - A´´ - A´´´“. Woran ersichtlich wird, wie kunstvoll Brahms das von ihm so sehr geschätzte Prinzip des Strophenliedes in Gestalt der „entwickelnden Variation“ einsetzt und handhabt. Es ermöglicht ihm die Ausbildung einer starken liedmusikalisch-motivischen Identität eines Liedes bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Aussagen des lyrischen Textes in der jeweils vorliegenden prosodischen Gestalt.


    Der ganz eigene Zauber dieses Liedes, der Clara Schumann und Theodor Billroth so sehr in Bann zu schlagen vermochte, gründet vor allem in der Art und Weise, wie die Fülle der um das Thema „Regen“ kreisenden lyrischen Bilder mit einer ihnen adäquaten, gleichwohl diese in ihrer Vielfalt und Fülle gleichsam auf einen Nenner bringenden Liedmusik eingefangen wird. Es ist vor allem das melodische Grundmotiv der ersten Strophe, dem dabei, im Zusammenklang mit dem Klaviersatz, die entscheidende Rolle zukommt. Die melodische Linie reflektiert in ihrem stockenden Gestus, diesem Nebeneinander von bogenförmigen Achtel-Figuren und melodischen Ruhepolen in Gestalt von punktierten halben Noten, das Tropfen des Regens, während die aus dem Bass in den Diskant rauschenden Achtel-Figuren die klangliche Anmutung von Strömen aufweisen. Und dies alles nicht in Form einer schieren und sich selbst genügenden Tonmalerei, sondern in Gestalt einer kantablen, weit ausgreifend phrasierten und entfernt noch Volksliedhaftigkeit atmenden melodischen Linie.


    Es ist in keiner Weise verwunderlich, dass sie die klangliche Substanz eines Violinsonatensatzes zu bilden vermochte. Der Zauber, der von ihr ausgeht hat seinen Quell ganz offensichtlich in dem repetierenden Verharren auf einer tonalen Ebene, das danach in eine lieblich anmutende Bogen- oder Fallbewegung übergeht. Auf ganz besonders beeindruckende Weise kann man dies bei den Worten „die ich in der Kindheit träumte“ vernehmen. Dem lyrischen Ich kehren die Träume der Kindheit wieder, und die Liedmusik reflektiert dies mit einer überaus lieblichen melodischen Linie, die nun, in Abwendung von dem fis-Moll des Liedanfangs, in D-Dur harmonisiert ist, das am Ende, bei dem Wort träumte, gar eine Rückung nach G-Dur vollzieht. Freilich, das ist Erinnerung an schöne, aber längst vergangene Zeiten. Brahms ist das wohl bewusst, denn das ist ja eines seiner zentralen liedkompositorischen Themen. Und deshalb lässt er die Melodik dieser so wichtigen, weil den Rahmen des Liedes bildenden ersten Strophe bei den Worten „Wenn das Naß im Sande schäumte“ mit einer Vokallinie ausklingen, die aus im Ansatz gedehnten Fall- und Sprungbewegungen besteht und in einem fis-Moll harmonisiert ist, das ganz am Ende doch in ein Cis-Dur übergeht.


    Wenn die Bilder aus vergangenen Kinderzeiten ganz konkrete Gestalt annehmen, tritt Lebhaftigkeit in die Liedmusik und löst den leicht wehmütig- besinnlichen Ton der ersten beiden Strophen ab. Immer wieder beschreibt die melodische Linie die gleiche Figur aus in Terzen aufsteigenden Achteln, die danach in ein Auf und Ab übergehen: Bei den Worten „Welche Wonne“, „dann zu stehn“, „An dem Grase“, „und den Schaum“. Wie eine Steigerung dieses Gestus, den man als klangliche Evokation von jungem Leben empfindet, wirkt dann der zweifache Anstieg in Terzen bei den Worten „und den neu erwachten Düften“ (vierte Strophe), der bei den Worten „seine Kinderbrust zu lüften“ in einen emphatischen, am Ende gedehnten Fall übergeht, der in markanterer, weil nun nicht mehr rhythmisierter Form noch einmal wiederholt wird. Das Klavier beschreibt in dieser dritten Strophe des Liedes (die aus den Gedichtstrophen drei und vier gebildet ist), ebenfalls lebhafte Bewegungen in Gestalt von zwischen Akkorden erklingenden sextolischen Achtelfiguren. Aus der Harmonik ist das Tongeschlecht Moll verbannt, sie moduliert zwischen E-Dur, A-Dur, G-Dur und C-Dur.


    Die Gedicht-Strophen fünf und sechs bringen einen reflexiven Aspekt in die Vergegenwärtigung von Vergangenheit, indem die Erfahrung von Natur in einen Bezug zur Seele und zum Herzen gesetzt wird, - dies mit der sprachlichen Vergleichspartikel „wie“. Und auch dies schlägt sich in der Liedmusik nieder. Sie geht zu einem besinnlichen, fast choralhaft anmutenden Ton über, der phasenhaft die Anmutung von Verzückung aufweist, - so etwa bei der in hoher Lage ansetzenden wellenartigen Fallbewegung der melodischen Linie bei den Worten „Blumen, düftetrunken, in dem Himmelstau versunken“. Der Eindruck von Choralhaftigkeit kommt dadurch zustande, dass sich die melodische Linie in gehaltenen, gemessenen Schritten entfaltet: Auf solche im Wert von halben Noten folgen weitere in Gestalt von Vierteln, kurzschrittige Achtelbewegungen gibt es nicht. Der Klaviersatz besteht in Bass und Diskant durchgehend aus einer Folge von Akkorden, wobei diese wechselweise in Bass und Diskant erklingen und eine leichte Rhythmisierung im Sinne eines ruhigen Schreitens dadurch zustande kommt, dass die Schritte im Bass im Wert von halben Noten erfolgen. Die Harmonik verbleibt auch hier im Dur-Bereich, moduliert aber weiter ausgreifend, nämlich im Bereich von D-Dur, A-Dur, Fis-Dur und Cis-Dur. Die Rückungen von der Zwei-Kreuz-Harmonik nach der mit drei und vier Kreuzen und zurück verleiht der melodischen Linie eine deutliche Steigerung ihrer Expressivität. Auch hier greift Brahms wieder zu dem Mittel der Wiederholung: Die Worte „drang bis ins verborgne Leben“ werden auf einer aus hoher in tiefe Lage fallenden melodischen Linie noch einmal deklamiert.


    Mit der siebten und der achten Gedicht-Strophe kehrt die Liedmusik zu ihren Anfängen zurück., - in variierter Gestalt freilich. So liegt auf den Worten „Wenn die Tropfen draußen klangen“ eine neue melodische Linie, die mit ihren tonal weiter ausgreifenden Bewegungen dem lyrischen Bild gerecht wird. Die Harmonik rückt dabei von fis-Moll nach Cis-Dur am Ende. Dem Schlussvers hat Brahms - zu Recht - besonderes musikalisches Gewicht zugemessen und aus diesem Grund nicht nur die Liedmusik der ersten Strophe variiert, sondern überdies auch noch über eine Wiederholung die lyrischen Worte in ihrer ganzen Semantik ausgeschöpft. Auf den Worten „Mit dem frommen Kindergrauen“ liegt eine ruhig fallende, weil sich in Schritten von punktierten halben Noten, Vierteln und gar einer ganzen Noten bewegende melodische Linie, an deren Ende sich eine Rückung von der Dominante Fis-Dur nach Cis-Dur ereignet. Bei der Wiederholung, in der die Worte „mit den“ ausgelassen werden, bleibt die melodische Linie mit einem sehr lang, nämlich taktübergreifend gedehnten Auf und Ab zunächst wie schwebend in hoher tonaler Lage, geht aber dann mit einem Mal – auf dem Wortteil „-grauen“ – in einen verminderten Sextfall über, dem dann aber auf der Silbe „-„en“ ein kleiner, in eine Dehnung mündender Sekundsprung folgt. Dieser kurze Augenblick der klanglichen Eintrübung der Liedmusik ist verbunden mit einer Rückung in verminderte D-Harmonik, der freilich modulatorisch über Cis-Dur ein das Lied beschließendes Fis-Dur nachfolgt. Darin entfaltet sich auch wie in einem Schwerpunkt das zehntaktige Nachspiel, in dem sich das Klavier seinen Achtelfiguren hingibt, die in diesem so beeindruckenden Lied Regenrauschen suggerieren.

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