Erfreut sehe ich, dass ich gleich zwei hochgeschätzten Tamino-Freunden, zweiterbass und Rheingold, antworten kann, und das mache ich natürlich gerne. En bloc, wenn´s gestattet ist, damit ich mich kurz fassen kann.
Also, zunächst einmal: Ich stimme euch Beiden in der Hochschätzung der Interpretation des Liedes durch Elly Ameling völlig zu. In der verhaltenen Innigkeit mit der sie, bei gleichzeitiger Binnendifferenzierung, die melodische Linie vorträgt, wird sie deren struktureller Einfachheit und Schlichtheit als Volkslied auf faszinierende Weise gerecht. Im Vergleich dazu verfährt Elisabeth Schwarzkopf geradezu deklamatorisch hochexpressiv, - in der bei Youtube zu sehenden Fassung dabei sogar da und dort an die Grenzen des Angebrachten gehend. An der Stelle „und a bissele Falsschheit“ lässt sie sich von ihrer theatralischen Gestik und Mimik geradezu hinreißen.
Und doch! Elly Ameling rührt mich mit ihrem Gesang, - mädchenhaft-innig und seelenvoll, wie er mir entgegentritt. Elisabeth Schwarzkopf aber vermag mich zu treffen, um das große Wort „erschüttern“ zu vermeiden. Als ich sie mit diesem Lied zum ersten Mal hörte, es war in der (von Rheingold erwähnten) Gesamtaufnahme der Volkslieder, die als Schallplatten-Kassete bei EMI erschien, sind mir bei den Schlussworten „und i wünsch, daß dirs anderswo besser mag gehn“ beinahe die Tränen gekommen. Schwarzkopf berücksichtigt bei ihrer Interpretation die Tatsache, dass das Mädchen in den vier Strophen ja aus einer unterschiedlichen Grundhaltung spricht und dabei eine verschiedenartige Aussage-Absicht verfolgt. Also interpretiert sie die Melodik der Strophen – und setzt sich dabei über ihre strukturelle Identität hinweg – in einer ausgeprägt differenzierten Weise. Bei der letzten Strophe ringt sich das Mädchen aus Liebe zu einem tief anrührenden Akt der Selbstlosigkeit und Selbstüberwindung durch: Sie wünscht dem Geliebten, dass es ihm bei einer anderen Frau besser gehen möge. Brahms hat vor der letzten kleinen Melodiezeile auf den Worten „besser mag gehn“ die Zweiachtel-Pause der ersten beiden Strophen um ein weiteres Achtel verlängert, - bewusst, um deren musikalische Aussage zu steigern. Elisabeth Schwarzkopf nutzt das voll aus: Sie hält die Pause auffällig lang und lässt danach ihre Stimme beim Vortrag des Sextfalls der melodischen Linie auf den Worten „i halt“ fast brechen.
Und damit bin ich bei dem Einwand von Dir, lieber zweiterbass: „ihr Vortrag ist für mich sowas von daneben - es ist ein Volkslied - und sie macht ein Kunstlied daraus“. Ich würde Dir in Deinem Urteil ja gerne beipflichten, - wenn ich die Begründung akzeptieren könnte. Das aber kann ich nicht, und dies aus sachlichen Gründen. Brahms hat mit der Beigabe eines Klaviersatzes aus der – unverändert übernommenen – Volksliedmelodie de facto ein Kunstlied gemacht. Mit den harmonischen Ausdrucksmitteln des Vorhalts und der tongeschlechtlichen Modulation und einem fast viertaktigen Zwischenspiel hat er in tiefgreifender Weise die emotional-seelische Dimension der Melodik und des ihr zugrundliegenden Textes ausgelotet. Die Anmutung von Schmerzlichkeit und Wehmut, die der Liedmusik als Anmutung innewohnt, ist ganz wesentlich dem Klaviersatz und dem Zwischenspiel mit seiner Sexten- und Terzenbetonheit zu verdanken.
Du kannst es ja an der von mir gerade erwähnten Schluss-Melodiezeile vernehmen und erkennen: Die Harmonik beschreibt hier eine Rückung vom vorangehenden cis-Moll nach fis-Moll (bei dem melodischen Sextfall), wobei das Klavier im Diskant eine Fallbewegung von Terzen erklingen lässt. Danach geht sie über die Dominante H-Dur zur Grundtonart E-Dur über und das verleiht dem Wort „gehen“ eine schicksalhafte Endgültigkeit.
Damit will ich natürlich nicht sagen, dass die Interpretation von Elisabeth Schwarzkopf der von Elly Ameling vorzuziehen sei, weil sie der Liedmusik in ihrer Aussage näher komme. So ist das ja nicht: Beide Interpretationen lassen auf ihre je eigene Weise die Schönheit und die tief berührende musikalische Aussage dieses Liedes vernehmen. Mir geht es nur darum, unter Bezugnahme auf die Faktur des Liedes zu zeigen, dass es – aus meiner Sicht - keine sachlichen Gründe gibt, es so zu interpretieren, wie Elisabeth Schwarzkopf dies tut.