Die Entführung aus dem Restaurant oder Ein Alptraum nach Noten

  • Tatort: Opernhaus Zürich, 2.12.2016


    Schauplatz: Ein Restaurant mit 14 Zweiertischen, weiße Tischtücher, Leuchter, Wein trinkende Paare.


    Osmin als befrackter Oberkellner, Bassa Selim als stummer notgeiler Wollüstling, Belmonte und Pedrillo als geklontes Zwillingspaar, Konstanze und Blondchen ebenso ein Doppelpack.


    Der Chor der Janitscharen schwarz vermummte Mekkapilger.


    Die Szenenwechsel werden durch wummernd beklemmende Töne einer Stalinorgel untermalt.


    Dialoge gibt es keine. Gesprochen wird nur marginal. Während der Ouvertüre wird Konstanze von Belmonte gefragt, ob sie den Bassa liebt, worauf sie ihm ihren Glasinhalt ins Gesicht schüttet und in der Damentoilette verschwindet.
    Später frägt Belmonte sein optisches Ebenbild: "Pedrillo?" worauf dieser den Kopf schüttelt. Weiter: "Belmonte?" was ein Kopfnicken auslöst. Soviel zum Gesprochenen.


    Die Restaurantgäste werden durch Osmin während seiner Arie "Solche hergelauf'ne Laffen" verjagt, indem er von Tisch zu Tisch geht und theatralisch das Tischtuch von der Platte reißt, worauf jedes Paar fluchtartig das Weite sucht.


    Irgendwann würgt Belmonte den Bassa zu Tode, dieser verschwindet in der Besucherritze des Riesenbetts im Harem, um darauf frisch geschniegelt auferstanden aus dem Badezimmer zu erscheinen.
    Konstanzes Martern-Arie gerät zum Ringkampf zwischen ihr und Belmonte. Sie verwechselt ihn mit dem Bassa.


    Weitere Verwechslungen: Blonde sucht ihren Pedrillo, findet stattdessen Belmonte und macht sich sofort an dessen Gemächt zu schaffen, während sie ihre Arie "Welche Wonne, welche Lust" intoniert.


    In Pedrillos "Frisch zum Kampfe" bekommt er plötzlich von seinem Alter Ego Belmonte Verstärkung, so wird aus der Arie ein Duett. Weltneuheit.


    Osmins große Szene "O wie will ich triumphieren" findet im Hintergrund des Restaurants statt, wo das Auge des Betrachters durch ein geöffnetes Fenster hingeführt wird. Aus dem befrackten Kellner wird kurz ein langbärtiger Haremswächter mit Pluderhosen, Turban, Säbel, der zum Ende seiner Arie mit einem Säbelstreich die beiden Paare niederstreckt. Sie liegen eine Weile unbeweglich, dann kommt es ganz schlimm:
    Das eigentlich ergreifende Todesduett vor der vermeintlichen Hinrichtung gerät derart zur Farce, da die zuvor Getöteten plötzlich zu singen beginnen. Natürlich wieder über Kreuz: Belmonte besingt die Blonde und Konstanze den Pedrillo. Dabei wälzen sie sich abwechselnd lustvoll auf dem Boden. Vom ursprünglichen Inhalt dieses Duetts bleibt so nichts übrig.


    Hernach geht es ganz schnell: Bassa hilft den Vieren nacheinander beim Aufstehen und geleitet sie an ihre angestammten Restaurantplätze. Symbol der Freilassung.


    Letztlich das Vaudeville und ein weiterer Glasinhalt Konstanzes landet in Belmontes Gesicht. Darauf verschwindet sie wieder mal im Damenklo. Endgültig. Vorhang. Applaus.


    Zum Verrücktwerden das Ganze. Und zum Davonlaufen. Eigentlich. Wäre da nicht die beseelte Musik von Wolfgang Amadeus Mozart. Die Musiknummern allesamt Ohrwürmer, bei dieser Produktion wie Perlen aneinandergereiht. Sie ergeben nur dann einen Sinn, wenn man die Oper in ihrer "Normalform" kennt. Ansonsten nichts als Fragezeichen.



    Zu den Darstellern:


    Bassa Selim Sam Louwyck, macht aus seiner stummen "Sprechrolle" einen tänzelnden Gestikulierer mit homo- und heterophilen Neigungen.
    Konstanze Olga Peretyatko ist keine Mozartsängerin. Ihre Stimme wirkte kraftvoll, die Koloraturen perlten jedoch nicht, sondern waren schrille Trommelfeuer. Lyrische Töne vermisste man gänzlich.
    Blonde Claire de Sévigné kam da besser weg. Sie sang und agierte im Einklang mit ihrer Rolle, wenn man mal von ihrer Masturbationseinlage im zweiten Akt absieht.
    Belmonte Pavol Breslik hatte nicht seinen besten Tag erwischt. Die Stimme klang eng und angestrengt, was durch seine (für mich überflüssigen) Fiorituren noch verstärkt zum Ausdruck kam. Er hatte am Vorabend noch Schuberts schöne Müllerin gesungen, was ihn wohl an die Grenze seiner Möglichkeiten gebracht hatte.
    Pedrillo Michael Laurenz klang forsch und höhensicher, er wäre an dem Abend der bessere Belmonte gewesen.
    Osmin Nahuel Di Pierro agierte nach Vorgabe. Als Spielbass hatte er zwar die tiefen Töne drauf, aber nicht die Schwärze der bekannten Vertreter seiner Zunft. Doch dazu hat der junge Argentinier noch Zeit.


    Es spielte, sang und agierte:
    Orchestra La Scintilla
    Zusatzchor der Oper Zürich
    Statistenverein am Opernhaus Zürich
    Musikalische Leitung Maxim Emelyanychev


    Die "Kreatoren" dieser "Inszenierung" erwähne ich nicht. Zu groß war die Enttäuschung.

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Das ist genau die Art von extremstem Regietheater, die eigentlich im Opernhaus nicht mehr tolerabel ist, sondern als szenischer Kommentar einer bekannten Oper auf eine Studiobühne gehört.
    Leider ist die "Entführung" neben dem "Freischütz" ein weiteres Lieblingsobjekt extremster "Interpretation" geworden (um es mal ganz vorsichtig auszudrücken), was auch, aber nicht nur mit ihrem Charakter als Dialogoper zu tun hat.
    An kaum einem großen Opernhaus kann man sich noch eine Entführung ansehen, bei der die Szene sinnvoll mit Text und Musik korrespondiert, die Dialoge werden kaum noch auch nur ansatzweise original wiedergegeben.
    Die Neuproduktion an der Deutschen Oper Berlin muss ebenfalls ein Desaster gewesen sein (übrigens - zumindest in der zweiten Serie, die wohl auch schon die letzte Serie war und von gähnender Leere im Zuschauerraum geprägt gewesen sein soll - mit der gleichen ungeeigneten Konstanze).


    Wie schön war es da für mich, letzte Woche eine richtige Klasse-Inszenierung dieser Oper in Cottbus zu erleben. Um nicht missverstanden zu werden: auch hier fand durch Regisseur Martin Schüler Deutung und Interpretation statt, teilweise auch so, dass ich nicht mit allem einverstanden war, zum Beispiel ist das Verhältnis zwischen Konstanze und dem Bassa so gezeigt worde, dass sie ihrem Rollennamen nur noch bedingt Ehre gemacht hat, und doch war es ein gewinnbringender schöner Abend, weil er Atmosphäre, Witz und auch die nötige Seriosität in der Interpretation hatte und man nie das Gefühl hatte, man will hier das Stück zertrümmern oder dem Publikum ins Gesicht spucken. Es war ein Ringen um das Stück, mit 80 - 90% Erfolg, was heute schon verdammt viel ist!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Zu Siegfrieds Bericht, dem ich DANKE sage, fällt mir nur ein Spruch von Dieter Hildebrandt ein (naturgemäß konnte ich ihn nicht mehr fragen, ob ich seinen Gedanken hier posten darf):
    Da kann man sich nur an den A.... fassen, denn der Kopf ist zu schade dafür.


    X(

    .


    MUSIKWANDERER

  • Man kann das alles als groben Unsinn darstellen, so wie es Siegfried getan hat. Man kann aber auch sehr viel Sinn darin sehen wie der - gleichwohl keineswegs kritiklose - Rezensent der NZZ: http://www.nzz.ch/feuilleton/b…reite-konstanze-ld.126996 Wer Recht hat, das muss man selber herausfinden, indem man sich die Aufführung anschaut. Mich schreckt das hier Geschriebene jedenfalls keineswegs ab, und ich kann auch nichts "Extremes" darin sehen.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Alptraum oder Albtraum?


    Lieber Siegfried,


    dein Alp(b)traum ruft in mir einen ebensolchen wach: Nachdem ich für mein Erstlingsbuch "Traum und Alptraum Oper" endlich einen Verlag gefunden hatte, belehrte mich der Verleger bei der Lektorierung, dass es "Albtraum" heißen müsse. Meinen Einwand, beides sei möglich, ließ er nicht gelten. Er saß am längeren Hebel - und änderte die Schreibweise auf dem Umschlag und beim Innentitel.


    Beim Empfang der ersten Lieferung stellte sich heraus, dass die Änderung auf dem Buchrücken unterblieben war! Ein fragwürdiger später Triumph.


    Nicht nur Regisseure... meint ein erfahrener Sixtus

  • Lieber Siegfried,


    man glaubt es nicht, aber es gibt tatsächlich noch Steigerungen des Schwachsinns und der Unverfrorenheit von Regisseuren und Intendanten. Auf welche Spitze wird man wohl derartige Idiotien noch treiben wollen? Gab es denn auch Applaus für das Regieteam, das diese geistesgestörte Inszenierung verbrochen hat, oder ließ sich das gar nicht erst sehen? Ein Solcher würde für die Unbedarftheit vieler im Publikum zeugen und ich kann mir nicht denken, dass du das mitgemacht hättest. Applaus für die Sänger war sicherlich angebracht, die sich durch diesen völlig gegen jede Vernunft, ja auch gegen ihre Rolle und Stimme gerichteten Irrsinn (man findet schon keine passenden Worte mehr dafür) gezwungenermaßen hindurchwürgen mussten. Also wieder eine Oper to go (zum Weglaufen).


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Lieber Gerhard,


    du vermutest richtig: vom "Regieteam" war niemand anwesend und das aus gutem Grund.
    Der Beifall wurde einzig den Künstlern auf der Bühne und im Orchester gezollt.


    Lieber Sixtus: Laut Duden Jacke wie Hose, warum also Wind um die Chose? ;)


    Frage an die Administration: Ist der Beitrag in der richtigen Rubrik gelandet? Ich wollt ursprünglich in "Gestern in der Oper" rein.

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Lieber Siegfried,


    wieder ein Beispiel, wo der Versuch, eine der bekanntesten, beliebtesten Opern extrem neu zu inszenieren gründlich daneben gegangen ist. Offensichtlich war der Bogen in jeder Hinsicht überspannt. Darin liegt vielleicht das Tröstliche ein Bogen der ständig überspannt bricht. Die Kräfte und Stimmen, die sich gegen misslungene Operninszenierungen wenden nehmen ständig zu. Das heißt, irgendwann wird das Pendel zurückschwingen und wir werden eine geläuterte Opern-Ästhetik erleben. Der Prozess einer "Götterdämmerung" mit neuem Leben, das aus den Ruinen blühen wird hat m. E. bereits begonnen und wird durch Publikumsrückzug dramatisch verstärkt.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!


  • Frage an die Administration: Ist der Beitrag in der richtigen Rubrik gelandet? Ich wollt ursprünglich in "Gestern in der Oper" rein.


    Lieber Siegfried,


    jetzt ja... ;)


    Viele Grüße


    Norbert als Moderator

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Zitat

    Und dennoch, wenn man die Rezensionen liest, versuchen noch Einige in dieser völlig verhunzten und sinnentleerten Inszenierung eines Meisterwerks (armer Mozart) irgend einen Schwachsinn hineinzudeuten. Wenigstens eine Rezension ist in ihrer Überschrift so ehrlich, zu sagen: Die Entführung ohne Serail, aber mit Mozart. Da weiß wenigstens jeder Opernfreund, welche Verunstaltung ihn da erwartet. Wenn die Häuser wenigstens so mutig wären, solche Machwerke bereits im Angebot (auch als Warnung für die Abonnenten) als "frei nach...." oder ganz neu zu titulieren, wie es dem Inhalt entspricht! Aber da müssen sie befürchten, dass die Zuschauerzahl gering ist. Also wird eine Mogelpackung kreiert. Wer nach der Schilderung des Bühnengeschehens noch behauptet, dies habe irgend etwas etwas mit dem Werk von Mozart zu tun, muss schon reichlich verwirrt sein. Es wäre wünschenswert, käme der Gedanke von Operus, dass eines Tages der Bogen überspannt ist und bricht, zum Tragen. Aber wann ist dieser endlich überspannt, wenn nicht in solchen Inszenierungen wie dem "Freischütz" in Hannover oder dieser "Entführung" (die gar keine ist) in Zürich??


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

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  • Ich stimme Siegfried in seiner Kritik zu, ich war aber trotz Missfallens später noch mal in einer Wiederaufnahme, um Brenda Rae als Konstanze und Daniel Behle als Belmonte zu erleben. War um einiges besser, aber die absurden Ideen der Regie habe ich auch beim zweiten mal nicht verstanden.

  • die absurden Ideen der Regie habe ich auch beim zweiten mal nicht verstanden.

    ….. ich bin überzeugt, daß die Regie sie auch nicht verstanden hat. Das war auch gar nicht beabsichtigt, denn so wie Siegfried das beschreibt, ist es nichts anderes als reine Provokation. Fürs Aus- und Durchhalten müßte es eigentlich Schmerzensgeld geben.


    Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).