Beethoven, Klaviersonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate", CD (DVD)-Renzensionen und Vergleiche (2017)

  • Diese Aufnahme ist sehr schwach ausgesteuert, und es sind knisternde Störungen zu vernehmen. Dennoch denke ich, dass Berman das dynamisch partiturgerecht gemacht hat.

    Lieber Willi,


    diese Berman-Mitschnitte aus Mailand sind ungemein wertvoll, aber klanglich (tontechnisch) natürlich nicht das Gelbe vom Ei. Man kann aber doch nachvollziehen, dass Berman dynamisch hier ungeheure Kräfte freigesetzt hat. Das muss ein ungemein ungemein eindrucksvolles Konzerterlebnis gewesen sein. Aber letztlich fehlt ihm dann doch der letzte Sinn für die Logizität dieses späten Beethoven. Da liegen ihm die "Appassionata" oder die "Pathetique" weit mehr, finde ich. Badura-Skoda kenne ich leider gar nicht! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger


  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Alfred Brendel, Klavier
    AD: 1962
    Spielzeiten: 11:04-2:32-16:47-12:31 --- 43:00 min.


    Alfred Brendel geht in seiner ersten Aufnahme dynamisch sogleich kraftvoll zu Werke und spielt auch frappierende Ritartandi. Auch die 1. Phase des Seitensatzes spielt er bestrickend. In der 2. Phase besticht wieder sein "poco ritartando - a tempo". In der 3. Phase fällt neben seinem allgemein hervorragend fließendem Spiel wiederum seine große dynamische Spannweite auf. Im 1. Gedanken der Schlussgruppe verlangsamt er deutlich und spielt ein großartiges Cantabile dolce ed espressivo, und im 2. Gedanken zieht er wiederum stark die dynamischen Zügel an.
    Natürlich wiederholt auch er die Exposition. Seine temporale Behandlung der <Partitur und sein dynamischer Zugriff haben mich bisher am meisten positiv überrascht- grandios!
    Diesen hervorragenden Eindruck setzt er in der Einleitung der Durchführung fort, und auch das Fugato breitet er so klar und deutlich vor dem Hörer aus, dass es eine reine Freude ist. Auch im zweiten Teil des Durchführungskern, in dem der Auftakt in den verschiedenen Tonarten durchgeführt wird, gerät hervorragend, einschließlich des berückenden Diminuendo-poco ritartando ab Takt 198, dem sogenannten "Stillstand".
    Auch das anschließende Espressivo spielt er hervorragend, ebenso wie den letzten Durchführungsteil mit den großen Intervallen.
    Auch die Reprise mit der einleitenden Modulation spielt er auf dem gleichen hohen Niveau mit bestechenden temporalen Rückungen, kantablen Sequenzen und dynamischen Steigerungen. Vor allem die Sequenz mit den Oktavakkorden Takt 251, 253 und 255 ist mitreißend, wieder um auslaufend in einem atemberaubenden Diminuendo-ritartando, und in der Rückleitung und im dreiteiligen Seitensatz lässt er die Spannung und das hohe Niveau nicht eine Sekunde sinken. Auch die kontrastreiche Schlussgruppe und die fabelhafte Coda spielt er auf höchstem Niveau.
    Temporal ist er nur unmerklich langsamer als Lasar Berman, aber natürlich deutlich schneller als Daniel Barenboim.


    Auch das Scherzo spielt Brendel dynamisch sehr hochstehend, in einem m. E. etwas oberhalb des Piano liegenden Grundton, mit ungeheurem Zug un mit grandiosen Akzenten auf der Phrasen-Mitte.
    Das Trio spielt er ebenfalls sehr prägnant mit deutlichen dynamischen Kurven und ebenso deutlichen Achteltriolen. Temporal ist er hier etwas langsamer als Berman, aber deutlich schneller als Barenboim. Das Presto spielt er m. e. unglaublich mitreißend.
    Das anschließende Tempo I (keine reine Wiederholung des Scherzos)spielt er auf gleich hohem Niveau, wobei auch bei ihm die zusätzliche Achtel im Alt klar zu vernehmen ist. Grandios auch der Presto-Tempo I-Schluss.


    Im Adagio ist er etwas schneller als Berman und somit sehr deutlich schneller als Barenboim, jedoch etwas langsamer als Badura-Skoda.. Sofort fällt auf, dass er dynamisch größere Ausschläge spielt als mancher Andere. Es ist mehr dynamische Bewegung und somit mehr Leidenschaft im Spiel. Der erste Legato-Boden Takt 14/15 ist wie von einem anderen Stern, desgleichen der zweite Bogen Takt 22/23. In beiden Bögen liegt der dynamischen Kulminationspunkt partiturgerecht auf dem 2. Takt.
    Ganz erstaunlich ist der Takt 26, wo er das "espressivo" durch dynamische Reduktion erreicht. Zu Beginn des "con grand' espressione" ab Takt 27 hält er sich als einer der wenigen an die Partiturvorschrift und spielt die hohen Sechzehntel in Takt 27 staccato. Dadurch, dass er nach dieser Einleitung den Spannungs- und auch den Dynamikbogen nicht wieder fallen lässt, erhöht er auch hier die Eindringlichkeit seines Spiels.
    Die Deutung der überirdischen Überleitung zum Seitenthema macht mich vollends fassungslos, und ich muss erst wieder runterkommen, von dem, was ich da gehört habe. Das ist absolut herausragend.
    Welche himmlische Ruhe senkt sich über das Geschehen, als Brendel das Seitenthema anstimmt. Die Klarheit seines Spiels macht es, diesseitig und jenseitig zugleich-ungeheuerlich!! Auch seine weiterhin sehr deutlichen dynamischen Bewegungen machen die überragende Position dieser Interpretation aus.
    Ich muss doch eine kurze Pause machen. ich hatte an dieser Stelle nicht mit einer derart überragenden Interpretation Brendels, meines Lieblingspianisten, gerechnet, aber das freut mich um so mehr.
    Die Qualität dieser Aufnahme ist auch nicht zuletzt durch die exakte Beachtung der Partiturvorschriften zu erklären, einem Umstand, auf den ich in meinen nunmehr über 750 Rezensionen immer wieder zu sprechen gekommen bin.
    Durch Brendels konsequente Behandlung des dynamisch-temporalen Gefüges gewinnt auch die Durchführung an Intensität. An Stellen wie diesen (Takt 79 bis 86) vernehme ich bereist impressionistische Töne- welche weise Voraussicht!
    Diese kontinuierliche Spielweise öffnet den Blick auf die wunderbare Reprise mit ihren eindringlichen Zweiunddreißigstelfiguren. Und Brendel spielt das wiederum dynamisch sehr fordernd, nicht im Pianissimo versinkend, allerdings nur bis zum Takt 99: da geht er derart in das pp(ppp), dass einem der Schauer über den Rücken läuft. Dennoch vollzieht er auch in dieser Sequenz die notwendigen dynamischen Bewegungen.
    Grandios auch hier das lange Ritartando (ab Takt 107).
    Auch im "a tempo" ab Takt 113spielt er das grandios, und, wie es in der Partitur heißt, "con grand'espressione" und bewegt sich dann wieder auf das überirdische Seitenthema zu. Was mich zudem beeindruckt, ist die Präzision, mit der er hier spielt und außerdem die dynamische Bewegung, die hier ins einem Spiel demonstriert, wie lebendig dieser Satz ist.
    Auch die Coda spielt Brendel herausragend. ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich glaube, das ist das Beste, das ich jemals von Alfred Brendel gehört habe, jedenfalls von den Beethovensonaten. Was mich hier besonders fasziniert hat, stets sein ungeheuer exakter Umgang mit dem dynamischen Verlauf ,der letztendlich diese überragende Interpretation zustande gebracht hat.


    Im Largo, der Einleitung, des Finales, behält Brendel das besonnene Tempo bei, desgleichen im ersten Allegro.
    Die Exposition in B-dur, den I. Abschnitt der Fuge, spielt er mit weiterhin konsequentem Tempokonzept und mit eine bisher selten gehörten Klarheit.
    Auch die Exposition der Schlussfuge spielt e in der Exposition in B-dur rhythmisch exakt und dynamisch zutreffend, ebenso wie die thematische Vergrößerung in es-moll. Brendel spielt das immer so, dass man weiß, wo man ist. Durch seine Temporeduktion verschafft er dem Hörer größere Klarheit der musikalischen Strukturen.
    Im III. Abschnitt, dem Rücklauf in h-moll, und im IV. Abschnitt, der Themenumkehrung in G-dur, , lässt e die thematischen Figuren schön ineinanderlaufen. Diese fugative Geflecht fließt ganz natürlich an unsrem Ohr vorbei und endet vor der großen Atempause in Takt 249.
    Diese Durchführung des 2. Themas in D-dur spielt Alfred Brendel nicht zu langsam, um dort keine musikalischen Bruch zu verursachen.
    Er spielt diese Stelle konsequent so zu Ende, wie Beethoven sie komponiert hat und lässt diese Sequenz auch in einem wunderbaren Ritartando auslaufen .Auch die zweifache Präsentation des 1. Themas und die wundersame Coda spielt Alfred Brendel absolut herausragend.


    Welcxh eine grandiose Einspielung!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    ohne Dir vorgreifen zu wollen, möchte ich ein paar wenige Zeilen zu einer anderen Brendel-Aufnahme schreiben. Brendel hat op. 106 insgesamt viermal aufgenommen - und er ist einer der wenigen, der die Sonate gleich zweimal live eingespielt hat. Denn neben seiner letzten Aufnahme aus Wien, die im Rahmen der digitalen Gesamteinspielung entstand, gibt es noch eine zweite Live-Einspielung. Diese war lange Zeit vergriffen und ist erst jetzt wieder in der großen Brendel-Box aufgetaucht. Sie wurde im Februar 1983 in London aufgenommen. Anfang der 80er stand Brendel meines Erachtens auf dem Höhepunkt seines Könnens. Leider gibt es aus dieser Zeit nur wenige Live-Aufnahme, die Klavierkonzerte mit Levine vesprühen den gleichen lebendigen und auch ein bisschen unberechenbaren Geist. Brendel hat ja durchaus einige Live-Aufnahmen veröffentlicht, meiner Meinung nach aber hat er dabei zu sehr auf die Ausgewogenheit und Perfektion geachtet. So ist es bspw. sehr schade, dass seine Schubert-Live-Aufnahmen aus den 90ern stammen. Ich habe ihn Mitte der 80er damit gehört und das war wesentlich aufregender. Einiges davon müsste in den Rundfunkarchiven schlummern und vielleicht haben wir ja Glück. Im Febraur 83 jedenfalls spielte Brendel in London op. 106. Der erste Satz beginnt etwas verhallt, aber schon bald ist man gefangen von Brendels Spiel. Er spielt mit dem meines Erachtens unbedingt nötigen Zug nach vorne den ersten Satz in unter 11 Minunten. Die Durchführung ist atemberaubend. Und auch in der finalen Fuge ist er aufregender und schneller als die meisten. Hier kann man hören, dass Brendel auch technisch absolut unfehlbar sein konnte. Aber es war ihm wohl nicht so wichtig. Das ist für mich beglückendes Klavierspiel, das einer Entdeckungsreise gleicht und das Kunststück fertigbringt, die Musik im Augenblick wie neu entstehen zu lassen. Der eigentliche Höhepunkt aber ist der langsame Satz, der sich hier immer weiter steigert und dabei in unbekannte Regionen vorstößt, auch wenn man die Musik zu kennen glaubt. So zwingend habe ich das nie mehr gehört. Auch Brendels zweite Live-Aufnahme kam da nicht mehr heran, sie wirkt auf mich kontrollierter, aber auch langweiliger. Das glückliche Momentum des 'Gerade-Entstehens' entfällt.


    Diese Aufnahme ist für mich eine Sternstunde. Solltest Du sie nicht haben, helfe ich gerne weiter.


    Viele Grüße
    Christian



    Hier noch die Zeiten:
    1. Satz: 10:40
    2. Satz: 2:26
    3. Satz: 17:50
    4. Satz: 12:02 (inkl. Applaus!)

  • Lieber Christian,


    schönn Dank für deinen Bericht. In der Tat habe ich nur die drei Gesamtaufnahmen. Die einzige Sonate, die ich von Brendel viermal habe, ist die Sonate Nr. 13, die er in seinem letzten Konzert gespielt hat und die gesondert erschienen ist:


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Das ist doch die o. a. Aufnahme von 1962, lieber Holger. Du kannst also doch mitreden. :D


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Das ist doch die o. a. Aufnahme von 1962, lieber Holger. Du kannst also doch mitreden. :D



    Willi :)

    Ich meinte den von Christian erwähnten Mitschnitt, lieber Willi - und der hat mich vorhin schon erreicht! ;) Ich brauche nur die Zeit zum Hören (die ich im Moment nicht habe!) :) :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Ich habe sie auch erhalten, danke lieber CVhristian. Ich habe auch schon reingehört: überwältigend!


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Alfred Brendel, Klavier
    AD: September 1970
    Spielzeiten: 11:41-2:38-19:34-12:12 --- 46:05 min.;


    Alfred Brendel hat in seiner zweiten Aufnahme doch ein etwas anderes Zeitmanagement als in der ersten, 8 Jahre zuvor entstandenen Aufnahme. So ist er in den ersten drei Sätzen langsamer als 1962, nur im Finale ist er etwas schneller.
    Dynamisch ist er auch hier sehr überzeugend, vielleicht nicht ganz so hochdynamisch wie in seiner ersten Aufnahm, aber lyrisch finde ich, hat er noch ein wenig hinzugewonnen, wohingegen mir die temporalen Verlangsamungen in der ersten Aufnahme noch etwas überzeugender erschienen.
    Klanglich erscheint mir in der 1. Phase des Seitensatzes eine noch strahlendere Schönheit auf, und in der 3. Phase steigert er kraftvoll, jedoch vielleicht nicht mit dem letzten Druck wie 1962. Dennoch halte ich die dynamische Spannweite für durchaus ausreichend.
    Im 1. Gedanken der Schlussgruppe wird deutlich, warum dieser Satz länger dauert als sein Vorgänger. Er lässt sich alle Zeit der Welt, um das Cantabile dolce ed espressivo auch wirklich so zu spielen- grandios! Im 2. Gedanken liefert er den entsprechenden dynamischen Kontrast. Selbstverständlich wiederholt er auch die Exposition.
    Die Einleitung der Durchführung spielt er aus einem bestrickenden Pianissimo heraus, und das Fugato spielt er sehr deutlich auch dynamisch im 2. Einsatz Takt 147 mit Auftakt im piu crescendo bis hin zum letzten Einsatz im Forte in Takt 167. Ausdrucksmäßig noch gesteigert erscheint mir der viermalige Auftakt des Fugatothemas in den verschiedenen Tonarten, und auch dynamisch geht die Steigerung wunderbar durch bis zum Stillstand in dem sehr anrührenden Diminuendo-poco ritartando und dem anschließenden Cantabile Espressivo einschließlich des originellen letzten Durchführungsteils ab Takt 215 mit Auftakt, der in die Reprise führt.
    Hier spielt er in der Modulation (ab Takt 233) ein großartiges Ritartando und anschließendes a tempo. Daran schließt er die übrigen Abschnitte der Expositionswiederholung adäquat an, hier wieder in einem sehr überzeugenden Diminuendo-Ritartando auslaufend. Über die Rückleitung zieht noch einmal der wunderbar musizierte Seitensatz an uns vorüber, dann die prächtige Schlussgruppe,
    und schließlich präsentiert uns Brendel auch die unglaubliche Coda auf dem Silbertablett.


    Auch im Scherzo ist Alfred Brendel etwas langsamer al 1962, aber immer noch deutlich schneller als z. B. Sokolov. Brendel spielt das hier dynamisch sehr ausgewogen, akzentuiert deutlich die Phrasenmitten an den Taktübergängen.
    Das Trio musiziert er sehr sorgfältig, die Achteltriolen in den wechselnden Oktaven transparent hervorhebend und mit dem Presto rhythmisch und dynamisch sehr kontrastreich zum Tempo I zurückkehrend. Und im Scherzo II tritt auch hier die zusätzliche Achtel im Alt deutlich hervor. Auch hier betont er die rhythmischen Feinheiten einschließlich der wiederum abschließenden Prestos ab Takt 168.


    Den deutlichsten Tempounterschied gib t es im Adagio. hier ist Alfred Brendel knapp drei Minuten langsamer als 1962, aber das ist zunächst einmal für mich eher ein Positivum. Aber Brendel blieb in dieser Hinsicht sein Leben lang ein Suchender, wie die beiden Aufnahmen von 1983 und 1995 noch zeigen werden.
    Hier muss ich sagen, nimmt mich das Adagio mit seinem tiefen Zauber der Brendelschen Lesart buchstäblich gefangen. So eine Schlüsselstelle wie der kurze Bogen in Takt 14/15 blüht durch kleine dynamische Bewegungen förmlich auf. Das macht Brendel meisterhaft. Fast noch stärker empfinde ich das im nächsten Bogen (Takt 22/23) mit der Oktavierung. Auch in der Behandlung der nächsten Phrase, dem Espressivo Takt 26 und dem "con grand' espressione" Takt 27/28 kann ich mich nur meinen Ausführungen in der ersten Rezension (Beitrag nur 32) nur anschließen. In dieser ganzen Passage erreicht er durch eine großzügige Auslegung der Crescendi eine ungeheuere schier dramatische Wirkung, die dann in die überirdische Überleitung zum himmlischen Seitenthema führt. Wie er diese Überleitung spielt, macht mich fassungslos, und ich kann für den Moment nicht weiter schreiben.
    Es kann mir doch keiner erzählen, dass ein Pianist, der den gleichen satz um ein Drittel schneller spielt, die gleiche emotionale Tiefe erreichen kann, wie Brendel es hier vermag.
    Und wenn er dann in dem gleichen gemessenen Tempo geradezu majestätisch geheimnisvoll in das Seitenthema hinein gleitet, da scheint die Zeit still zu stehen. Und Brendel gerät hier nicht etwa ins esoterische Säuseln, sondern treibt nach wie vor die Crescendi auf die Spitze. Durch die dynamische Bewegung wird jeder Eindruck eines Auseinanderfallens der Musik im Keim erstickt. Auch am Übergang zur Durchführung spielt Brendel ein starkes Crescendo, geht aber genauso stark zurück. Dieses Auf und Ab macht diesen Satz auch so spannend. Wunderbar auch die Behandlung der aufsteigenden Sechzehntelfiguren in der Durchführung, nebenbei gesagt, in einem exzellenten, strahlenden Klang, weitere Bewegung ab dem Forte "tutte le corde" Takt 81, bestrickend das Diminuendo-smorzando in Takt 85/86.
    Ein Höhepunkt schließlich ist auch diese Reprise mit der unvergleichlichen Zweiunddreißigstel-Sequenz, von Brendel wiederum hochdynamisch gespielt: allein achtmal erscheint expressiv verbis in diesem Abschnitt die Beethovensche Aufforderung "Crescendo". Ab er spielt halt auch die Diminuendi, und so ist man vom ersten bis zum letzten Takt dieser Sequenz gefesselt. Auch das lange Ritartando -Takt 107 bis 112 ist ein Glanzpunkt Brendelscher Pianistik. Auch das wiederkehrende a tempo, diesmal in der höheren Lage und ohne die einleitenden Staccati, spielt er sehr ausdrucksstark, mit wiederum viel dynamischer Bewegung, wie es auch die zahlreichen neuerlichen Dynamikanweisungen Beethovens bezeugen, die uns dann wieder ins paradiesische Seitenthema geleiten. Auch hier lässt Brendel am Ende des Seitenthemas das Geschehen durch langestreckte Crescendi wieder aufblühen, m alt einen weiteren wunderbaren Bogen in Oktaven in Takt 143 und lässt das Ganze dann in gegenläufigen p-pp-Zweiunddreißigstel-Figuren wieder auslaufen.
    Auch in der wiederum außergewöhnlichen Coda lässt Beethoven das Seitenthema noch einmal aufblitzen, hier aber nur kurz, sich dann auflösend in einem beispiellosen Crescendo, dem ein wiederum überlanges Ritartando folgt, das nach einem letzten Crescendo in einem Diminuendo langsam verdämmert. Brendel spielt auch das auf absolut höchstem Niveau.


    Brendel spielt auch das den Schlusssatz einleitende Largo mit dem gebotenen langsamen Tempo und mit den dynamischen Bewegungen, die der Partitur innewohnen. Im "Un poco piu vivace" zieht er moderat an, um dann im Allegro das schnelle Tempo aufzunehmen, bevor es im tenuto noch einmal etwas zurück geht.
    Die Exposition in B-dur spielt Brendel sehr transparent, so dass man als >Laie den musikalischen Verlauf gut verfolgen kann. Dabei trägt er auch den vielen rhythmischen Feinheiten der Partitur Rechnung. Allein in diesem ersten Abschnitt des Allegro risoluto sind reichlich Triller und Sforzandi sowie Synkopen vorhanden.
    Im II. Abschnitt, der Themenvergrößerung in es-moll, wird dem Pianisten durch eine vielfache Anzahl an Trillern und Sforzandi allerdings auch ein Vielfaches abverlangt. Dem trägt Brendel durch kontrolliertes Spiel Rechnung.
    Im dritten Abschnitt, dem Rücklauf in h-moll, und dem anschließenden IV. Abschnitt, der Themenumkehr in G-dur, einem durchführungsähnlichen Abschnitt, indem sich fließende und rhythmisch heikle Abschnitte abwechseln, zielt Brendel durch eine famose Steigerung in der Sechzehntelsequenz und den abschließenden Triller-Intervallen auf einen dynamischen Höhepunkt im Fortissimo in Takt 248.
    Der V. Abschnitt, die Durchführung des 2. Themas in D-dur, hat ähnlich wie im Finale der 1. Sonate f-moll op. 2 Nr. 1, eher den Charakter eines Seitenthemas, in seinem "sempre dolce cantabile". Alfred Brendel trifft auch hier den richtigen Ton. Dieser Abschnitt gehört ins einer Interpretation zu den introvertiertesten des ganzen Stückes- welch ein Kontrast!
    Der erste Teil des dreiteiligen VI. Abschnittes, dass gleichzeitige Spielen des 1. und 2. Themas, ist gekennzeichnet durch wechselnde kurze und längere Sechzehntelfiguren in beiden Oktaven, die Brendel hier sehr präzise vorträgt. Dies wird im zweiten Teilabschnitt noch intensiviert, in dem das 1. Thema in B-dur zweifach vorgetragen wird. Auch dies spielt Brendel so klar und rhythmisch prägnant, dass mir das Folgen keine Schwierigkeiten bereitet. Nach dem dritten Teilabschnitt, der Schlussankündigung der Durchführung in B-dur kommen wir schließlich zur letzten Coda, zwar kurz, aber vom musikalischen Gehalt her auch nahezu ohne Beispiel, hier ebenfalls meisterhaft interpretiert. Auf so kurzem Raum von gerade einmal 34 Takten so vielen musikalische Klippen einerseits zu komponieren, andererseits im Spiel meisterhaft zu umschiffen. Ist eine große Kunst. Hier ist sie zu erleben!
    Alfred Brendel hat zwar hier nicht ganz den dynamischen Impetus seiner ersten Aufnahme entwickelt, aber dafür hat mir die Tiefe seiner musikalischen Ausdruckskraft, vor allem im unvergleichlichen Adagio, hier noch etwas mehr imponiert. Ohne Zweifel ebenfalls Referenz!!!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Alfred Brendel, Klavier
    AD: Februar 1983, London, live
    Spielzeiten: 10:42-2:25-17:51-11:23 --- 42:21 min.;


    Alfred Brendel war in diesem Konzert, das er in London spielte, wohl in einer Ausnahmeform, in der englischen Hauptstadt, in dessen bevorzugtem Stadtteil Hampstead er seit Anfang der 70er Jahre wohnt.
    Die ersten beiden Teile des Hauptsatzes, Takt 1 bis 34, klingen denn auch so frisch und schwungvoll, wie ich diverse Beethoven-Sonaten in zahlreichen Konzerten Brendels in den letzten 10 Jahren seiner aktiven Laufbahn live erleben durfte. Die dynamischen und rhythmischen Verläufe greifen fließend ineinander und offerieren einen kontinuierlichen Zug nach vorne. Dabei sprengte er nicht die dynamischen Formen nach Art mancher slawischer Pianisten, sondern baute ein musikalisches Gesamtgebäude von klassischen Maßen.
    In der Überleitung zum Seitenthema synkopiert er etwas akzentuierter als mancher andere und verleiht dieser Sequenz so noch etwas mehr inneren Schwung.
    Der Seitensatz mit der dreifachen Oktavierung in der 1. Phase ist in Brendels Lesart erfüllt vom Feuer eines funkelnden Diamanten- atemberaubend! In der 2. Phase kommen die temporalen Bewegungen: poco ritartando-a tempo u. Wh. so natürlich, dass es einen schauert, und in der 3. Phase lässt er die ineinander greifenden lyrischen Bögen in ordentlichem Tempo zu einer großen dynamischen Steigerung auflaufen und schwingt dann organisch in ein grandioses "Cantabile dolce ed espressivo" im 1. Gedanken der Schlussgruppe hinein, um im 2. Gedanken den dynamischen Impetus ebenso organisch zu erhöhen. Selbstverständlich wiederholt Brendel die Exposition auch in dieser seiner dritten Aufnahme.
    Auch in der Wiederholung ist an dieser Exposition m. E. nicht der geringste Makel festzustellen. Der Übergang in die Durchführung bleibt in dem rhythmisch-temporal-dynamischen Gesamtgefüge dieses Satzes, wobei er im pp ab Takt 124 etwas körperhafter bleibt als mancher andere bisher Gehörte. Dennoch, alles erscheint so richtig-
    Im Kern der Durchführung steigert er noch einmal das Tempo. Das Fugato entwickelt einen gewaltigen Zug, auch im zweiten Abschnitt nach dem 4. Einsatz des Themas, als die 4 Fugato-Auftakte in verschiedenen korrespondierenden Tonarten bearbeitet werden. Diese Sequenz spielt er absolut herausragend und läuft in einem äußerst berührenden "Stillstand" aus (Takt 197 bis 200).
    Auch das anschließende Espressivo und den letzten Durchführungsteil spielt Brendel auf diesem gleichen turmhohen Niveau.
    Auch zu Beginn der Reprise bleibt er seinem bisherigen Konzept treu, und das heißt vor allen Dingen:"Partitur". Äußerst beeindruckend sind dabei weiterhin seine akribischen Ausarbeitungen der temporalen und dynamischen Verläufe, in deren Spannungsfeld sich die rhythmischen Verbindungen von ganz allein ergeben. Vor allen in den Steigerungen des Hauptthemas II, hier mit den punktuellen Oktavierungen Takt 251, 253 und 255 und dem dann anschließenden Abschwung, auslaufend in einem wiederum überragenden Diminuendo-ritartando (Takt 264 bis 266), setzt er die Interpretation der Hammerklavier-Sonate auf höchstem Niveau fort.
    In der Rückleitung zum seitensatz bringt er hier eine überzeugende Beschleunigung an, die mit dem Crescendo einher geht.
    Auch den neuerlichen Seitensatz, im ersten Teil ohne Oktavierungen, spielt er hier mit dem gleichen klaren, diesseitigen Klang- wunderbar! im weiteren Verlauf spielt er den Seitensatz entsprechend der Exposition und geht dann organisch in den ersten, lyrischen Teil der Schlussgruppe über, bevor das kurze Crescendo in die grandiose Coda überleitet, in der er auch die dynamischen und temporalen Kontraste wunderbar zur Geltung bringt. Auch sie ist in seiner Interpretation ein großartiges Erlebnis.


    Attacca beginnt Brendel das Scherzo. Und er spielt es mit gehörigem temporalen und dynamischen Impetus. Das scheint hier nicht als Füll-Satz auf, sondern als eigenständiger Satz. Auch die dynamische Akzentuierung erscheint mir hier vorbildlich und von frappierender Leichtigkeit.
    Im Trio sind in diesem Tempo die Achteltriolen noch gut zu unterscheiden, auch das presto tritt partiturgerecht hervor und endet mit einem mitreißenden Glissando. In der Wiederholung (Tempo I) mit der Änderung der zusätzlichen Achtel im Alt tritt dieses trotz des gehörigen Tempos deutlich hervor.
    Auch hier spielt er am Ende ein mitreißendes Presto und anschließendes Pianissimo.


    Im Adagio ist Brendel signifikant langsamer als in seiner ersten Aufnahme von 1962 , aber ebenso deutlich schneller als in seiner zweiten Aufnahme von 1970, was mich zu meiner schon vorher getätigten Aussage zurück führt, dass er auch hier (nach eigener Aussage) ein ewig Suchender ist.
    Dynamisch beginnt er in einem veritablen Pianissimo, zeichnet aber die anschließenden dynamische Bewegundgen deutlich nach, steigert sie auch nach oben, sielt in den Takten 14/15 und 22/23 sehr berührende hohe Bögen.
    Im tutte le corde Takt 27 spielt er die Sechzehntel staccato, wie es gehört, und en Fortgang wunderbar im "con grand' espressivo", und man spürt schon mit jeder Faser, wie das Geschehen langsam auf die wundersamer Überleitung zum himmlischen Seitenthema zuläuft, wobei er die überführenden Takte deutlich dynamisch strukturiert ( Takt 31 bis 35), und die Überleitung ist natürlich auch bei Brendel, und vor allem auch in dieser Einspielung, überirdisch, und warum, weil er sie ganz natürlich spielt.
    Und im Seitenthema diminuiert Brendel nicht nur, er retardiert auch, und das hat in seiner Gleichzeitigkeit eine ganz ungeheuere expressive Wirkung.
    Und dann spielt Brendel das Seitenthema im Zustand völliger Entspannung, was sich auch temporal niederschlägt. So kann man das m. E. jedenfalls nur spielen, wenn man dem Kern der musikalischen Aussage schon sehr nahe gekommen ist. Und das scheint mir, nachdem ich heute schon über die dritte Brendel-Aufnahme spreche, der Fall zu sein. In der Fortschreibung ab Takt 51 steigt Brendels Ausdruckskraft noch in ein Niveau, von dem ich glaube, dass es in dieser Sequenz (Takt 54 bis 58) schwerlich zu übertreffen sein wird.
    Auch den Übergang zu Durchführung spielt Brendel unglaublich ausdrucksvoll. In die Durchführung geht Brendel mit ungeheurem Zartgefühl hinein und kostet die Sechzehntelbewegungen der Durchführung voll aus.
    Auch die wunderbare Zweiunddreißigstelsequenz der Reprise in ihrem ersten Teil spielt Brendel grandios, vor allem aber steigert er sich ausdrucksmäßig noch im zweiten Teil mit den ganzen Oktavierungen. Das ist grandiose Pianistik.
    Im a tempo führt Brendel den Bogen zurück und bewegt sich wieder auf das Seitenthema zu, wobei er die musikalischen Atempausen natürlich auch wunderbar ausnutzt. Dabei fällt auf, wie ruhig und unbeirrt er auf das Thema zusteuert. Den weiteren Verlauf spielt Brendel mit der ganzen Erfahrung seines Pianistenlebens, einfach grandios!
    So geht es auch in die Coda hinein, die Brendel mit großer Ruhe zu Ende spielt.


    Im Finale ist Brendel etwa gleich schnell wie 1970, also etwas schneller als 1962. Auch hier spielt wer wieder das Largo in, wie ich finde, richtigem gemessenen Tempo, und auch hier tritt wieder der brillante Klang dieses Flügels hervor, den er da in London spielt. Im "Un poco piu vivace" kann ich nur das Gleich konstatieren wie in der Aufnahme von 1970 (s. o. Beitrag Nr. 39). Das Gleiche gilt für den Allegro-Abschnitt Takt 3 bis 7.
    Atemberaubend finde ich auch sein Tenuto ab Takt 9 mit der Trillertreppe in Takt 10 un dem Prestissimo im gleichen Takt sowie der neuerlichen Trillertreppe zu Beginn des Allegro risoluto in Takt 11, diesmal jedoch in der ganz hohen Oktave.
    Die ausgreifende über 70 Takte messende Exposition in B-dur spielt er in raschem Tempo, rhythmisch und dynamisch präzise, klanglich transparent und mitreißend.
    Dann lässt er die II. Sequenz, die Themenvergrößerung in es-moll folgen und kann die rhythmischen und dynamischen Windungen dieses Abschnitts mühelos nachvollziehen. Nach den dynamisch-rhythmischen vertrackten Windungen der ersten Hälfte in den Achteln spielt er auch die zweite Hälfte in den Sechzehnteln ab Takt 131 mit Auftakt glänzend.
    Im III. Abschnitt, dem Rücklauf in h-moll,, in dem vor allem die erste Themenhälfte variiert wird, stellt er wiederum die Zweiteilung mit der cantablen Linie in den wechselnden Oktaven in der ersten Hälfte un den gegenläufigen Sechzehntelfiguren in der zweiten Hälfte sehr deutlich heraus.
    Der vierte Abschnitt, die Umkehrung des Themas in G-dur, tritt unter den Händen Brendels auch in seltener Klarheit hervor. Vor allem die Trillerintervalle in den abschließenden Takten 243 bis 246 habe ich noch nicht so eindringlich gehört, auch nicht in seinen ersten beiden Einspielungen. Nun muss ich allerdings auch dazu sagen, dass ich mich mit jeder Rezension etwas mehr einfinde in die atemberaubenden Strukturen dieses einzigen Neuntausenders unter einer Reihe von Achttausendern in der Klaviersonatenliteratur.
    Der V. Abschnitt, die Durchführung des 2. Themas in D-dur, hier im Charakter eines hochlyrischen Seitenthemas spielt Brendel herausragend. Doch dieser Abschnitt ist nur einem Atempause, keine Durchführung alten Schlages.
    Gewichtiger ist da die dreiteilige VI. Sequenz, zuerst die Verarbeitung des 1. und 2. Themas gleichzeitig, dann die zweifache Verarbeitung des 1. Themas und schließlich die Schlussankündigung der Durchführung, alle drei Teile in B-dur, dynamisch, rhythmisch und temporal auf höchstem pianistischen Niveau, von Brendel ebenfalls so gespielt- herausragend.
    Dem schließt sich die unglaubliche, zeitlich kurze, aber von ihrer Bedeutung her grandiose Coda an.
    Allein, wie das Ritartando Takt 378 bis 380 langsam aus dem Basstriller auftaucht- Gänsehaut!


    Das ist sicherlich meine neue Referenz!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Alfred Brendel, Klavier
    AD: Februar 1995, Wien, Musikverein, live
    Spielzeiten: 11:12-2:39-17:48-12:18 --- 43:57 min.;


    Kommen wir wieder zu den wirklich wichtigen Dingen des Lebens zurück, z. B. der Rezension von Beethoven-Sonaten.
    Über die genauen Satzzeiten kann ich allerdings erst nach dem Hören etwas sagen, da dies auch eine Live-Aufnahme ist. Allerdings gefällt sie mir auch in ihrem klaren, kraftvoll-diesseitigem Klang außerordentlich, zumindest im Hauptsatz. Auch die Tempomodifikationen sind überzeugend.
    Überleitung und 1. Phase des Seitenthemas sind m. E. genauso ausdrucksvoll wie in der Live-Aufnahme aus London 12 Jahre zuvor. Ebenfalls kommen in der 2. Phase wieder die Tempomodifikationen und in der 3. Phase die kürzeren Oktavwechsel in der hohen Oktave. Die Schlussgruppe beginnt er mit einem atemberaubenden "Cantabile dolce ed espressivo und steigert dann über den langen Triller zu einem veritablen Schlusscrescendo. Selbstverständlich wiederholt er auch danach die Exposition, und ich habe noch einmal Gelegenheit, vor allem im Hauptthema II ab Takt 17 die inneren Schwungelemente in den jeweils zweitaktigen Phrasen, jeweils im 2., dem Pianoteil zu bewundern, desgleichen sein atemberaubendes Auslaufen im Diminuendo-ritartando ab Takt 31 und danach den Schönheiten des Seitensatzes und seines dynamischen Kontrastreichtums zu lauschen.
    Nach den abermaligen wunderbaren Stimmungskontrasten der Schlussgruppe geht es in die wundersame Durchführung, die Brendel mit einer kernigen Sforzandotreppe beginnt, dann über ein pp-sempre pp-crescendo in den Durchführungskern eintaucht.
    Die vier Einsätze spielt er mit kontinuierlicher dynamischer Steigerung, was gleichzeitig den Eindruck einer moderaten temporalen Steigerung hervorruft.
    Mit dem gleichen Impetus geht er die vier Einsätze des Fugato-Auftaktes in den verschiedenen Tonarten an, auch hier kontinuierlich steigernd und nach dem letzten Einsatz in Es-dur ab Takt 189 aus einem kraftvollen Fortissimo im sogenannten "Stillstand" ab Takt 197 in ein sehr berührendes Diminuendo-Ritartando eintaucht und daran ein ebenso berührendes Cantabile-espressivo anschließt, dem im letzten Durchführungsteil die auffälligen Dynamikwechsel und die abschließenden vier glissando-ähnlichen Takte (223 bis226) folgen. Bis hierhin hat mich Brendel auch in dieser Einspielung restlos überzeugt. Ich habe ihn ja in den letzten zehn Jahren seiner aktiven Laufbahn regelmäßig in seinen Konzerten live erlebt und dabei erfahren, zu welchen singulären Konzertauftritten er fähig war. Nicht umsonst waren seine Konzerte stets ausverkauft.
    Auch zu Beginn der Reprise erlebe ich, dass er die Ritartandi in Beethovens Sonaten mindestens genauso liebt wie ich. Das erinnert mich an seine Aussage, dass sich in Beethovens sonaten jede einzelne Note und jede einzelne Satzvorschrift aus sich selbst heraus rechtfertigten. Wie wahr!
    Auch in und nach der Modulation spielt er den Hauptsatz m. E. mit dem gleichen Zug nach vorn wie in den vorherigen Aufnahmen, auch wie in der berühmten 1983 Aufnahme aus London.
    Dann, am Ende des Hauptsatzes, wieder ein traumhaftes Diminuendo-Ritartando. Und es sei auch mal gesagt: auch eine gespielte Pausen-Fermate kann durchaus überzeugen, wenn sie so gewissenhaft "gespielt" wir wie hier von Brendel In Takt 268 auf der Zwei.
    Noch einmal zieht der grandiose dreiteilige Seitensatz an uns vorüber, bevor die stimmungsvolle Schlussgruppe und endlich die sagenhafte Coda erreicht sind, die er, wie ich finde, durchaus noch auf dem Höhepunkt seines pianistischen Könnens spielt, denn er ist ja gerade einen Monat vorher erst 64 Jahre alt geworden.


    Das Scherzo spielt er auch, wie ich finde, mit dem nötigen Vivace, auch mit den richtigen Akzenten jeweils in den Taktwechseln. Vielleicht ist in der Wiederholung der Abschnitt Takt 31 mit Auftakt bis Takt 34) eine Dynamikstufe zu groß ausgefallen, im Überschwang des Live-Konzertes. Das Trio spielt er mit der schon gewohnten Klarheit und Transparenz, die die Achteltriolen deutlich hervortreten lässt, und auch das Presto und das abschließende Prestissimo können vollends überzeugen.
    Im Tempo I spielt er das Thema so klar wie auch zu Beginn und lässt die zusätzliche Achtel im Alt klar hervortreten. Wiederum fällt in den Piani ab Takt 144 die Dynamik etwas zu stark aus. Der Schluss mit dem Presto und dem Tempo I ist wieder im Lot.


    Im Adagio ist er nahe bei seiner Satzzeit von 1983, wie nahe genau, wird das Satzende zeigen. Er beginnt dynamisch tief im Pianissimokeller, zeichnet von Anfang an die dynamischen Bewegungen aufmerksam nach, spielt einen atemberaubenden ersten Bogen Takt 14/15 und einen ebensolchen in Takt 22/23. Das ist ganz große Pianistik.
    Auch in seiner letzten Aufnahme bleibt er seiner Linie treu, auch scheinbar kleine Merkmale der Partitur zu beachten, hier die drei Staccato-Achtel in Takt 27 (später in der Reprise fällt das weg). Schon die "con grand' espressione" - Sequenz spielt er mit überzeugenden dynamischen Bewegungen, was dem inneren dramatischen Puls dieses Adagios entspricht.
    Und dann spielt er eben auch in dieser Aufnahme die überirdische Überleitung zum paradiesischen Seitenthema mit der schier unerschöpflichen Tiefe seines lyrischen Ausdrucksvermögens, desgleichen das Seitenthema selbst. Die Ausdrucksstärke steigert er noch dadurch, dass er das Tempo im Thema noch etwas absenkt. Das wirkt wie ein Doppelpunkt.
    Die dynamische Belebung des Seitenthemas hält er durch ständiges Changieren aufrecht. Ein ausdrucksmäßiger Höhepunkt ist m. E. die Stelle "una corda" ab Takt 57, wo die musikalische Bewegung fast zum Erliegen zu kommen scheint, bevor in den Zweiunddreißigsteln im Diminuendo der Schwung erneuert wird. Das macht Brendel hier grandios. Am Ende der Exposition Takt 62 ff. senkt er das Tempo wieder ab- grandios! Das geht so aus der Partitur nicht hervor, ist aber m. E. genial.
    Auch die Durchführung hält er unter diesem temporalen Bogen. Auch die Sechzehntelbewegungen atmen die Ruhe, die Brendel vorgibt. Wunderbar spielt er auch die Wendung ab Takt 76 sehr eindrucksvoll, steigert hier wieder die dynamische Bewegung und endet die Durchführung mit einem anrührenden Diminuendo-smorzando.
    Die gerade in ihrer fast durchgehenden Zweiunddreißigstel-Form, die mit zahlreichen Tempo- und Dynamik-Modifikationen einhergeht, spielt Brendel mit großer Expressivität und gehörigem Zug nach vorne. Eigentlich hat diese Sequenz m. E. noch durchaus durchführungshaftige Züge. Und gerade den Kern dieser Passage, die Zweiunddreißigstel-Oktavwechsel in der oberen Oktave spielt Brendel hier mit höchstem Ausdruck, wie ich finde. Im neuerlichen "con grand' espressione " findet Brendel erneut zu höchstem musikalischen Ausdruck und nähert sich mit einer elysischen Überleitung erneut dem himmlischen Seitenthema. Auch hier kitzelt Brendel das, was an dynamisch-dramatischen Impetus den Noten innewohnt, an die Oberfläche. Welch eine "Unruhe" brodelt doch in diesem langsamen Satz, dem sogenannten Ruhepol, unter der Oberfläche. Auch in diesem Abschnitt kommt der "Furor" ab Takt 140 wieder hoch, bevor Beethoven (und Brendel) ihn wieder einfangen und im Pianissimo der nächsten wundersamen Coda zustreben, vor deren unmittelbarem Beginn das musikalische Geschehen wieder zum Stillstand zu kommen scheint. Die beschleunigte Bewegung am Beginn der Coda geht einher mit einem letzten Aufblitzen des Seitenthemas, das in dieser Steigerung jedoch schnell zerfasert wird, und Brendel langt dynamisch kräftig zu, um gleich nach der Steigerung Takt 157ff. im Takt 166 wieder in tiefstes Pianissimo zurückzufallen- grandios! Ein letztes Mal tauchen die lyrischen Bögen auf und geben dann den Weg frei in das tiefe Morendo-Tal. Brendel spielt das herausragend.


    Für das einleitende Largo des Finales kann ich im Grunde das Gleiche sagen wie in der Rezension der Aufnahme aus London 1983. Auch hier spielt er mit maßvollem Tempo, der Partitur entsprechend.
    Auch rhythmisch gefällt mir das Ganze ausnehmend.
    Den ersten Abschnitt des Allegro risoluto, die Exposition in B-dur, spielt Brendel mit weiterhin gehörigem temporalen Impetus, angesichts der dichten musikalischen Strukturen doch sehr transparent und rhythmisch sehr gekonnt.
    Im zweiten Abschnitt, der Themenvergrößerung in es-moll, vermeine ich eine noch akzentuiertere Rhythmik zu vernehmen als schon gehört. Den musikalischen Fortgang breitet Brendel sehr transparent für den Hörer aus.
    Daran schließt sich der Rücklauf in h-moll an. Auch er ist hier gut zu verfolgen. Besonders eindringlich empfinde ich die Sechzehntelläufe im zweiten Teil ab Takt 177 mit Auftakt.
    Auch die Umkehrung des Themas in G-dur spielt Alfred Brendel hier so klar, dass man jeden Takt verfolgen kann. Auch den rhythmisch höchst virtuosen Ablauf stellt er, wie ich meine, jederzeit adäquat dar.
    Dann die Durchführung des 2. Themas in D-dur- mit welcher Ruhe und mit welchem tief empfundenen Ausdruck spielt Brendel dies. Danach das 1. und 2. Thema gleichzeitig, wie den Rest in B-dur: hier hat man sich schon eingeübt in das Hören der Strukturen und kann tatsächlich in diesen 16 Takten beiden Themen gleichzeitig vernehmen. Auch der ausgedehntere zweite Abschnitt ist gut zu verfolgen, auch, weil Brendel es so prägnant spielt. Das gilt auch für den kurzen dritten Abschnitt, die Schlussankündigung in B-dur und für die "letzte" wundersame Coda, in der auf gedrängtem Raum noch einmal alles aufgerufen ist, was das Herz des Pianisten und des Klavierfreundes erfreut.
    Brendel spielt auch dies herausragend.
    Ich kann in dieser seiner letzten Einspielung, die sicherlich auch eine Summe seiner pianistischen Erfahrung mit Beethovens Sonaten darstellt, keinen Qualitätsunterschied zu seiner vorletzten Aufnahme erkennen.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    vielen Dank für Deine genauen Brendel-Besprechungen! Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, die Noten für diese Sonate rauszuholen und habe gerade auch nicht besonders viel Zeit. Brendels Live-Aufnahme aus Wien habe ich im Vergleich zur genialischen Aufnahme aus Londeon etwas kontrollierter, akademischer und weniger inspiriert in Erinnerung. Sie ist gewiss sehr gut, aber die Aufnahme aus London ist ein Sonderfall an Bravour, Risikobereitschaft, Übersicht und vor allem Inspiration aus dem Augenblick heraus. Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass Brendel damit von einem sehr schwierigen Werk gleich zwei Live-Aufnahme vorgelegt hat, die völlig fehlerfrei sind und gleichzeitig vom Tempo der Ecksätze her - vor allem in der 83er Aufnahme - zu den schnellsten und riskantestens Annäherungen zu zählen sind. Ich betone das, weil ihm gerne technische Grenzen nachgesagt werden. Ich habe in München schon einige Supervirtuosen erlebt, die sehr viele Fehler gemacht haben, auch Gavrilov damals in seiner besten Zeit. Bei Brendel fasziniert mich aber natürlich vor allem, dass er im Detail im direkten Vergleich oft gar nicht so überzeugend ist, es ihm aber gelingt, von einem Werk auch eine 'emotionale Vorstellung' zu vermitteln, die über Details weit hinausgeht. Deswegen greife ich immer wieder gerne zu seinen Aufnahmen.


    Mein Favorit von op. 106 ist damit jedenfalls schon besprochen, aber es erwarten uns sicher noch tolle Entdeckungen.


    Übrigens höre ich diese Sonate demnächst auch live. Murray Perahia spielt sie in ca. zwei Wochen in München! Und auch Evgeny Kissin hat sie in sein neues Programm aufgenommen (das er aber leider nicht in München gibt).


    Viele Grüße
    Christian

  • Ich habe gerade mal im Internet gegoogelt, da spielt er am 5. 6. in Hamburg, zwar auch Beethoven, aber ein anderes Programm als in München, wo er Mozart, Schubert und Beethoven spielt. In Hamburg jedoch spielt er Haydn, Mozart, Beethoven und Brahms. Kein Pianist der Welt spielt Brahms, wenn er vorher die Hammerklaviersonate gespielt hat, höchstens Sokolov. der hat in seinem Konzert am 5. 6. 2013 in Berlin erst 5x Rameau und dann Brahms, Intermezzo b-moll op. 117 Nr. 2 als 6. Zugabe!!! gespielt, nach dem er vor der Pause erst die Schubert-Inpromptus D.899 und die Klavierstücke D.946 und nach der Pause die "Hammerklaviersonate" gespielt hatteIch habe der Veranstalter angerufen, aber auch der wusste das genaue Programm nicht.
    In Köln hat er letztes Jahr am 29. Februar die Hammerklaviersonate gespielt, aber aus irgendeinem Grund hatte ich damals das Konzert garnicht auf dem Schirm. Also bleibe ich zu Hause und freue mich auf zweimal Sokolov mit Beethovens op. 90 und op. 111 sowie Mozarts KV 457, 475 und 545.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Rudolf Buchbinder, Klavier
    AD: 1982
    Spielzeiten: 10:26-2:16-20:26-12:23 --- 45:31 min.;


    Rudolf Buchbinder gehört im Kopfsatz nicht zu den Langsamsten, ist schneller als Brendel in allen vier Aufnahmen, beginnt kraftvoll und rhythmisch aufmerksam, könnte aber für meinen Geschmack gleich das erste Ritartando in Takt 8 deutlicher spielen. Das darauffolgende Crescendo poco a poco spielt er sehr imposant, desgleichen das zweite Crescendo in den Doppeloktavgängen ab Takt 25 mit Auftakt spielt aber auch das zweite Ritartando am Ende dieser Sequenz Takt 32/34 m. E. auch zu wenig aus. Dabei sind diese Ritartandi, wenn man so sagen darf, für die Atmung der Musik in diesem satz ungeheuer wichtig. Ich bin mal gespannt, was ich bei den Pianisten erleben werde, die in diesem Satz unter die 10 Minuten oder sogar unter die 9 Minuten gehen.
    Jedenfalls ist bei ihm dynamisch alles im Lot, jedenfalls bis hierhin, und auch die Bögen, hier in der 1. Phase des Seitensatzes, spielt er wunderbar aus, wiederum aber die beiden "poco ritartando" in Takt 65/66 und 68/69 nicht, so dass man den Unterschied zum jeweils unmittelbar darauf folgenden "a tempo" kaum merkt. Das sind von Beethoven bewusst komponierte temporale Wellenbewegungen.
    Die die Exposition abschließende Schlussgruppe mit dem erste kantablen Gedanken und dem zweiten dynamisch höchst kontrastreichen gehört wieder zu seinen starken Eingebungen. Natürlich wiederholt er auch die Exposition. In der Wiederholung kann ich allerdings die poco Ritartandi in der 2. Phase des Seitensatzes Takt 64 bis 70 besser erkennen.
    Auch die hochdynamische Einleitung der Durchführung ist mitreißend musiziert, und was man generell sagen kann, ist auch seine Lesart des Kopfsatzes von einem kontinuierlichen Zug nach vorne gekennzeichnet. Auch das Fugato, dass in den Einsätzen gut abgesetzt ist, bewegt sich unaufhaltsam nach vorn mit einem deutlichen, kleinschrittigen Crescendo im ersten Einsatz ab Takt 144. und nahtlos geht es in den2. Teil des Durchführungskerns mit dem viermaligen Themenauftakt in den verschiedenen Tonarten über, in dem auch dieser unaufhaltsame Impetus vorherrscht und auch vor dem "Stillstand" ab Takt 197 nicht so recht Halt macht. Da ist immer noch mehr Bewegung drin als bis einen bisher besprochenen Kollegen. Also das Ritartando ist bis jetzt Buchbinders stärkste Seite noch nicht. Doch das anschließende Cantabile espressivo und der letzte Durchführungsteil mit den vier glissandoähnlichen Takten am Schluss sind wieder sehr stark musiziert.
    In der Reprise, Takt 233/234, erlebe ich es zum ersten Mal, dass er das Ritartando in der richtigen Verzögerung spielt. Das ist dann sofort ein "Aha"-Erlebnis. Nach dem Cantabile e ligato spielt er ein starkes "crescendo poco a poco" und ein grandioses Hauptthema II mit den explosiven Oktavierungsakkorden in den Takten 251, 253 und 255. In den drängenden, vorwärts stürmenden Sequenzen ist der damals 36jährige offenbar noch heimischer als in den lyrischen, ruhigen, aber nichts destodweniger ausdrucksstarken Abschnitten, siehe das neuerliche, nicht genügend retardierte Diminuendo-Ritartando in den Takten 265 mit Auftakt bis 267, wo er nur die letzte Viertel zusammen mit er folgenden Dreiachtel-Fermate retardiert. Die ganzen eineinhalb Takte davor fehlen mir. Die Rückleitung und die 1. Phase des Seitensatzes spielt er wieder ansprechend, allerdings auch nicht so ausgesungen (ohne die Oktavierungen) wie in der Exposition. Wenigstens stimmt hier das oktavierte "poco ritartando" Takt 296 bis 298, auch das zweite in Takt 301. Auch in der 3. Phase des Seitenthemas mit den langen Oktavierungen und den brillanten Crescendi ist er wieder ins einem Element und spielt eine herrliche Schlussgruppe, erst lyrisch verträumt dann rhythmisch akzentuiert in die grandiose Coda hinüber stürmend, die auf 55 gedrängten Takten den ganzen Kosmos dieses titanischen Kopfsatzes noch einmal widerspiegelt. In den letzten Takt erhöht er nochmals das Tempo wesentlich stärker als seine Kollegen.
    Eine Kopfsatz mit Licht und Schatten!


    Im Scherzo ist Buchbinder bisher der schnellste, aber ich kann nicht sagen, dass mir das zu schnell wäre, zumal er auch präzise in den Taktübergängen akzentuiert. Das passt genau zu den Feststellungen aus dem Kopfsatz, wo ihm auch die schnellen, rhythmischen Passagen mehr lagen. Auch dynamisch ist hier alles im Lot.
    Allerdings hat er im Trio Probleme, weil er das hohe Tempo, zumindest im ersten Teil durchspielt. Dadurch sind die Achteltriolen (Takt 48 mit Auftakt bis Takt 80) nicht zu unterscheiden, sondern sind verhuscht. Das zweite Problem sehe ich darin, dass er das Tempo im "Presto" im Gegensatz zum Tempo im Trio (Allegro) so stark abbremst, dass es kein Presto mehr ist. Da ist kein innerer Tempobogen mehr vorhanden.
    Allerdings scheinen diese Problem im Tempo I ab Takt 113 mit Auftakt (anstelle es sonst üblichen Da Capo) wie weggewischt, weil er da so überragend spielt, dass die zusätzliche Achtel im Alt (Unterstimme in er hohe Oktave) mühelos zu vernehmen ist. Da hat er durchaus gezaubert. Und der Rest des Scherzo II ist auch herausragend gespielt.


    Im Adagio, in dem er temporal um so vieles näher an Sokolov heranreicht, als er im Kopfsatz und vor allem im Scherzo von ihm entfernt ist, vermeinen wir, was Ausdruck und Tempo betrifft, auf einem ganz anderen Planeten zu sein und einem ganz anderen Pianisten zu lauschen. Aber es ist weiterhin Buchbinder, und er spielt schon die ersten zwölf Takte so, wie Beethoven es vorschreibt: "Appassionato e con molto sentimento". Er schaut auf alles, was da steht, jede dynamische Regung, jeden Bogen. Schon im ersten Bogen Takt 14/15 lässt er jede Note sanft fallen und erreicht so ein herrliches musikalisches Leuchten. Und durch den klaren, diesseitigen Klang und die weiterhin wunderbar erfassten dynamischen Bewegungen erreicht er einen Ausdruck, der mich an ein immerwährendes Feuer erinnert, das sich in einer immerwährenden Vorwärtsbewegung befindet.
    Allerdings spielt er zu Beginn des Taktes 27 die drei oberen Sechzehntel-Oktavakkorde nicht staccato, wie es vorgeschrieben ist. Ich weiß nicht, ob er seinen Legatofluss nicht unterbrechen wollte, ich will das auch nicht herabmindernd bemerken, sondern nur feststellen. Ansonsten spielt er das Hauptthema im weiteren Verlauf grandios.
    Und dann kommt die überirdische Überleitung zum himmlischen Seitenthema- unglaublich- herausragend. Buchbinder straft mich innerhalb weniger Takte Lügen, was seine Prämissen in dieser Sonate betrifft. Andererseits wiederum bestätigt er mich auch in dem, was ich von Anfang an gesagt habe, dass dieses Adagio das absolute musikalische Zentrum der Hammerklavier-Sonate ist: drei schnelle Sätze um einen monumentalen langsamen Satz herum, in dem die Zeit manchmal still zu stehen scheint. Dennoch lässt er auch nicht in der dynamischen Bewegung nach, wenn dies von Nöten ist, wie z. B. im Crescendo Takt 41, kurz vor dem Einsätzen des Seitenthemas.
    Eine weitere Überraschung offeriert er uns direkt mit einsetzen des Seitenthemas, das er temporal noch einmal reduziert dabei aber den Spannungsbogen keinen Moment nachlassend- überragend!
    Mit dieser Tempogestaltung reiht er sich m. E. in die Reihe der ganz großen Interpreten dieses größten langsamen Satzes ein und trägt zu der Überzeugung bei, dass man diesen Satz nicht mathematisch bestimmen kann. Nur muss man das auch durchhalten und jeden Aspekt in diesem Riesensatz beachten, wie z. B. das aus dem Pianissimo entstehend kleine Crescendo im Bass im Takt 68, das wie eine kleine Leuchtkugel nach oben steigt, von zwei Sechzehnteltriolen befeuert.
    Als Buchbinder die Durchführung beginnt, finde ich auch, nach den vier Brendel-Interpretationen, und nachdem die anfänglichen Sokolov-Interpretationen schon etliche Wochen zurück liegen, dass in diesem Tempo die aufstrebenden Sechzehntelfiguren in beiden Oktaven, beginnend ab Takt 72, wieder mehr Gewicht erlangen und hier so wunderbar den Pulsschlag der Musik vorgeben. Buchbinder macht aus der mit 18 Takten kurzen Durchführung dennoch durch sein großartiges Spiel einen gewichtigen Satzabschnitt, keinen flüchtigen Übergang.
    Auch die wundersame Reprise, in den ersten 17 Takten von den Zweiunddreißigsteln der oberen Oktave bestimmt, strahlt weiterhin dieses geheimnisvolle, von innen heraus glühende Feuer aus, das diese Satz zusammenhält, und über das wunderbare "diminuendo poco a poco" seine langsame, aber unheimlich intensive Reise durch den zaubrischen Beethovenschen Sonatenkosmos weiter beibehält, mit bestimmender Ruhe und unverbrüchlicher Spannung weiter fortsetzt, dabei dieses einmalige Ritartando in den Takten 107 bis 112 voll auskostend. Er weiß also schon, wie es geht.
    Wunderbar auch seine Lesart des Melodieteils des Hauptthemas, das wir schon aus der Exposition kennen, das sich wieder ganz natürlich aus den basstiefen in die hohen Oktaven erhebt, einen inneren Schwung ziehend aus den Sechzehnteltriolen in der hohen Oktave, , die schon wieder den Blick frei machen auf das nicht mehr allzu ferne Seitenthema, und dieses spielt er wieder absolut herausragend.. Ebenso schließt er die grandiose Coda an. Er spielt dieses Adagio in jeder Beziehung in einem derart krassen Kontrast zu den ersten beiden Sätzen, wie ich es bisher noch nicht erlebt habe. Auch hier leuchtet das Geschehen nach dem neuerlichen Erscheinen des Seitenthemas wieder dunkelgolden auf, auch wenn hier dass Leuchten nur von kurzer Dauer ist, verursacht von Beethovens Verkürzungsprinzip, das dieses Leuchten in einem heftigen Crescendo in Zweiunddreißigstelquartolen und -sextolen ersterben lässt.
    Una corda geht es dann mit dem Hauptthema dem Ende zu, im letzten Abschnitt hält Buchbinder aber den Gesamtbogen über diesem Größten aller Sonatensätze aufrecht.
    Dieser Satz war sicherlich mit weitem Abstand der Beste in den zahlreichen Aufnahmen, die ich von Buchbinder bisher gehört und rezensiert habe.


    Im Schlusssatz spielt Buchbinder Den Takt 1, Largo und den Beginn von Takt 2, in ähnlich zutreffendem Tempo wie Brendel in allen seinen Aufnahmen. Für das "Un poco piu vivace" kann man das auch sagen. Auch im Allegro Takt 3 übt er vornehme Zurückhaltung, hält also die temporalen Verhältnisse im Lot, legt dafür aber in den Sechzehnteln im "a Tempo" in Takt 10 los wie die Feuerwehr, so dass auch das Ritartando (eine meiner wichtigsten Satzbezeichnungen) am Ende von Takt 10 gnadenlos untergeht. Da fällt er wieder in alte Fehler zurück.
    Dagegen geht er die Exposition in B-dur, den ersten Abschnitt des Allegro risoluto, durchaus moderat, und wie ich finde, richtig an. Auch die ganze Exposition spielt er sehr übersichtlich, und wird, wie ich finde, auch hier schon mit den rhythmischen Vertracktheiten gut fertig.
    Im zweiten Abschnitt, der Themenvergrößerung in es-moll, setzt er dieses klare und transparente Spiel for, obwohl sich hier die musikalische Struktur verdichtet und die gegeneinander laufenden Sechzehntelfiguren dichter werden.
    Der dritte und vierte Abschnitt, der Rücklauf in h-moll und die Themenumkehrung in G-dur, nehmen weiter an Dichte zu, wobei aber in Buchbinders Spiel die Struktur noch weiterhin zu erkennen ist. In der zweiten Hälfte des vierten Abschnitts lichtet das thematische Feld wieder, wobei dann aber das rhythmische Geschehen zunimmt. Buchbinder spielt auch das so transparent, dass man gut folgen kann. Besonders bemerkenswert spielt er die Trillerintervalle Takt 243 bis 246.
    Im fünften Abschnitt, der Durchführung des zweiten Themas in D-dur, ist er wieder im Bannkreis des langsamen Satzes, und hier vergisst er auch das Ritartando nicht.
    In der thematischen Verdichtung im sechsten abschnitt, fast auch wieder einer durchführenden Konstruktion vergleichbar, spielt er das ruhig durch, wobei es sich nur in der hohen Oktave noch wieder thematisch variiert.
    Nach all dem Getöse ist zu Beginn der Coda Durchatmen angesagt und das grandiose Fugengetümmel beendet und ein dynamisch letzter Anstieg, dem Verlauf der ganzen Sonate angemessen, angesagt.
    Zu dieser Aufnahme war viel zu sagen, deshalb ist der Text auch so lang geworden, und die zweite Hälfte der Aufnahme hat sie m. E. zu einer großen werden lassen.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

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    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Wegen meiner akuten Erkrankung, insitierenden, zum Schluss heftigen Rückenbeschwerden und hinzugetretenen Herzbeschwerden, (ich habe heute eine Herzkatheteruntersuchung gehabt, als deren Ergebnis mir ein Stent gesetzt wurde), werde ich in den nächsten Wochen im Forum kürzer treten und mich im Wesentlichen nur um meine Erinnerungs- und Glückwunschthread kümmern.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Wegen meiner akuten Erkrankung, insitierenden, zum Schluss heftigen Rückenbeschwerden und hinzugetretenen Herzbeschwerden, (ich habe heute eine Herzkatheteruntersuchung gehabt, als deren Ergebnis mir ein Stent gesetzt wurde), werde ich in den nächsten Wochen im Forum kürzer treten und mich im Wesentlichen nur um meine Erinnerungs- und Glückwunschthread kümmern.

    Meine allerbesten Wünsche, lieber Willi, für eine gute und schnelle Besserung! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger


  • Die habe ich gerade statt für 58 Euro oder 54 Euro aus unseren Landen für 20 Euro aus das Schweiz bestellt. Das Angebot gab es vor Wochen schon mal, da habe ich nur nicht schnell genug zugegriffen. :thumbsup:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Vergangenes Wochenende hat Murray Perahia die Hammerklarviersonate in München gespielt. Er begann sehr forsch, ich hätte nicht gedacht, dass er so ein zügiges und druckvolles Tempo wählt und dann auch durchhielt. Technisch war das große Klasse, ich habe keinen Fehler gehört, allenfalls mal eine unsaubere Stelle. Die Energiestaungen und Entladungen in der Durchführung waren gewaltig. Der zweite Satz schnell und beinahe etwas gespenstisch. Etwas enttäsuchend fand ich den langsamen Satz, den Perahia meines Erachtens etwas zu schnell angelegt hat (ca. 15 Minuten), jedenfalls war das keine besonders tiefe Erkundung und deswegen bleiben die Höhepunkte zwangsläufig auch etwas flacher. Wieder ganz auf der Höhe war er dann in der finale Fuge, die er sehr schnell, aber eben auch durchhörbar und mit Zug gespielt hat. Keine Zugabe. Der Höhepunkt des Abends war für mich aber die 6. Frz. Suite, die er gleich zu Beginn vortrug. Großartiges, lichtes und immer natürliches Bach-Spiel mit einem wunderbar federnden Bass.
    Bin gespannt, ob er die Hammerklaviersonate bald auch auf CD rausbringt.
    Viele Grüße
    Christian

  • Schönen Dank für den interessanten Bericht, lieber Christian, der sich besonders in der Beurteilung des langsamen Satzes ganz mit meinen Ansichten deckt. Zur Zeit höre ich ja wegen meiner Erkrankung keine Hammerklaviersonaten bzw. rzensiere sie nicht. Erst, wenn meine Rückenschmerzen, die offenbar mit Beginn dieses Threads schlimmer geworden sind, im Griff sind, werde ich wieder rezensieren. Vielleicht nehme ich einige Exemplare mit in die Reha, mal schaun, aber dann mit einer anderen Zeiteinteilung und Spaziergängen zwischendurch.
    Ich hatte übrigens nach Ankündigung deines Konzertbesuches eruiert, ob Perahia auch auf dem Schleswig-Holstein-Musikfestival die Nr. 29 spielt. Aber das ist wohl offensichtlich nicht der Fall. Aber genau wusste das der Veranstalter auch nicht.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
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  • Deine Rückenschmerzen können doch nicht mit der Hammerklaviersonate zusammenhängen, lieber Willi?! Ansonsten hoffe ich darauf, dass das Konzert von BR Klassik noch übertragen wird. Es gab jedenfalls online ein Interview (mit dummen Fragen, leider), was daruafhin deutet, dass es eine Übertragung gibt, bzw. der BR eingebunden war. An den Mikros war auch ein rotes Signal zu erkennen. Der Gasteig war übrigens nicht besonders gut besucht und das Publikum schien mir von der Sonate auch etwas überfordert und ratlos zu sein.


    Viele Grüße und gute Besserung
    Christian

  • Zitat

    Christian B: Deine Rückenschmerzen können doch nicht mit der Hammerklaviersonate zusammenhängen, lieber Willi?!


    Doch, die hängen damit zusammen, lieber Christian, aber nicht dergestalt, dass die Musik meinem Rücken so zusetzt, sondern es liegt daran, dass so eine Hörsitzung, wie z. B. die letzte mit der Buchbinder-Aufnahme von 1982, schon mal dreieinhalb Stunden dauert oder die erste mit Sokolov sogar bald fünf Stunden, und ich sitze dann voll konzentriert am PC und höre und schreibe, und mein hinteres Fahrgestell verspannt dann langsam, aber sicher, und ich merke das erst, wenn ich aufstehe. Meine Ärzte hier im Krankenhaus haben mir das bestätigt. Ich werde deshalb, wenn ich weitermache, die Struktur dahin gehend ändern, dass ich die Hörsitzung drittele und zwischen jedem Teil (Satz 1+2, Satz 3, Satz 4) eine Pause mache und eine halbe Stunde spazieren gehe.
    Ähnliche Belastungen habe ich auch bei meinen beiden wöchentlichen Chorproben auszuhalten. Auch da muss ich mir etwas enfallen lasssen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • So, heute will ich mal wieder zu Beethoven greifen, weil mein Rücken seit einigen Tagen Ruhe hält, und der Blutdruck ist auch sehr zufriedenstellend.



    Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 „Hammerklavier-Sonate“
    Rudolf Buchbinder, Klavier
    AD: 13. 2. 2011
    Spielzeiten: 10:18 -2:23-17:02-11:34 – 41:17 min.;


    Rudolf Buchbinderi st in dieser seiner zweiten Einspielung noch einmal etwas schneller als in der ersten, und zwischen einer halben und ungefähr eineinhalb Minuten schneller als Brendel in allen seinen vier Einspielungen. Es geht schnell und zielstrebig dahin. Dynamisch lässt sich bis dahin nicht das Geringste bemäkeln, er spielt großartige Crescendi ab Takt 11 und ab Takt 24, auch die temporalen Verläufe, speziell die Ritartandi in Takt 8 und ab Takt 32 sind sehr zufriedenstellend, desgleichen das Hauptthema II und die Überleitung zum Seitenthema.
    Dieses beginnt er mit unvermindertem temporalen Impetus und spannt im Piano einen silbrig hellen Bogen über die erste Phase mit moderaten dynamischen Bewegungen, bevor er im letzten Crescendo Takt 59ff. Anlauf nimmt zur zweiten Phase, in der ihm das „poco ritartando – a tempo“ wunderbar gelingt. Auch in der 3. Phase baut er die Bögen aus dem Piano in wiederkehrenden moderaten Crescendi und wunderbar alternierenden Oktavierungen im Diskant, bevor er im Übergang zur Schlussgruppe das Seitenthema mit kraftvollen ff-Akkorden und anschließenden crescendierenden Achteltonleitern in beiden Oktaven abschließt.
    Im „cantabile dolce ed espressivo“ geht er temporal und dynamisch deutlich zurück, um nach den ersten sechs Takten im siebten über dem Triller die dynamische Kurve wieder energisch nach oben zu lenken und dynamisch kontrastreich (ff – p) in einer ausgedehnten Oktavierung im Diskant von Takt 112 bis 121 und zwei anschließenden sfp-Takten die Exposition zu beenden, die er natürlich auch wiederholt.
    Sehr gut gefallen mir, um das an dieser Stelle einmal zu erwähnen, di im hohen Tempo gespielten Synkopen in Takt 20 bis 34.
    In der Einleitung der Durchführung spielt er den dynamischen Verlauf wieder sehr aufmerksam vom ff über das subito pianissimo in das neuerliche Crescendo hinein.
    Den Kern der Durchführung eröffnet er dann mit zwei markanten ffp-Oktavakkorden und verbindet im Fugato die kuren Bögen und die Non-Legatoverbindungen flüssig miteinander. Den zweiten Teil des Durchführungskerns mit dem 4maligen Einsatz des Fugatoauftakts in zwei verschiedenen Tonarten c- moll und Es-dur sowie ihren Dominanten schließt er im gleichen Rhythmus an, wobei er diese Sequenz mit allem gebotenen dynamischen Kontrast spielt und zum Ende hin ab Takt 187 ein grandioses Crescendo spielt, dem er einen verklärenden Stillstand (Takt 197 bis 200) und a tempo ein berückendes „cantabile – espressivo folgen lässt und anschließend einen dynamisch höchst kontrastreichen letzten Durchführungsteil. Mit einem letzten beeindruckenden Crescendo ab Takt 221 langt er an der Reprise an.
    Diese spielt er mit ihren auch leicht geänderten musikalischen Figurationen gleich zielstrebig nach vorne wie Exposition und Durchführung. Auch hier achtet er sorgfältige auf die temporalen und dynamischen Bewegungen und endet den Hauptsatz abermals mit einem berückenden Ritartando.
    Über die raffiniert synkopierte Rückleitung mit einem wiederum sehr schön gespielten Crescendo-Diminuendo kommt er zum Seitensatz, hier ohne Oktavierungen in der 1. Phase, wodurch sie sofort einen anderen, männlicheren Charakter erhält. Die 2. und 3. Phase spielt er in gleicher Weise wie in der Exposition kraftvoll und zugleich mit einer souveränen Leichtigkeit, worauf sich die eminente Schlussgruppe und daran hier die wundersame Coda (wie von einem anderen Stern) anschließt.
    Wie Buchbinder hier den 1. Satz gespielt hat, das ist schon phänomenal, und das hätte ich ihm so nicht zugetraut, weil in den vorangegangenen 16 Sonaten mir häufig seine Erstaufnahmen von 1982 besser gefallen haben. Speziell in diesem Kopfsatz scheint mir die spätere Aufnahme um eher zwei Klassen über der früheren zu stehen.


    Im Scherzo, das mit den Halben = 80 erheblich langsamer vorgeschrieben ist als der Kopfsatz mit Halben = 138, geht er trotzdem zügig zu Werke, nur geringfügig langsamer als in seiner früheren Aufnahme, aber immer noch erheblich schneller als Brendel in dreien seiner Aufnahmen. Nur in seiner Londoner Aufnahme (1983) ist Brendel bei Buchbinder. Auch hier spielt er im Trio leider so schnell, dass die Achteltriolen nicht zu unterscheiden sin. Wer oder was treibt ihn bloß?
    Doch auch hier ist im Tempo I die zusätzliche Achtel wieder zu vernehmen, weil er hier wieder etwas langsamer spielt. Brendel, der in seiner Londoner Aufnahme nur 2 Sekunden langsamer ist, spielt diesen Satz wegen des ausgewogeneren Tempos in allen drei Satzteilen Scherzo-Trio/presto-Tempo I besser. Sein großen Plus sind die im Trio sehr wichtigen hörbaren Achteltriolen.


    Das Adagio spielt er um über drei Minuten schneller als 1982, und nur Brendel 1962 ist hier etwas schneller. Anscheinend ist Buchbinder ähnlich wie sein Landsmann Brendel auch auf der Suche nach dem richtigen Tempo im Adagio und im Schlusssatz, während er ein den ersten beiden Sätzen über einen Zeitraum von 29 Jahren das Tempo gehalten hat. Wir werden später noch sehen, wie es beim Salzburger Zyklus 2014 ausgesehen hat.
    Auch Buchbinder sieht ähnlich wie Brendel das Adagio hier dynamisch sehr bewegt. Die dynamische Kurve ist immer in Bewegung. Auch er spielt den ersten hohn Bogen Takt 14/15 mit hohem Ausdruck und glasklarem Klang. Auch den zweiten Bogen spielt er ergreifend und bleibt aber beim Espressivo (Takt 26) bei der gleichen Dynamik, was aber dennoch eine ähnliche Wirkung hat wie Brendel bei seiner Reduktion. Allerdings spielt er die drei Sechzehntel in Takt 27 nicht staccato wie Brendel, der hier gewissenhafter im Umgang mit dem Notentext ist. Im con grand espressione (ab Takt 28) bemüht er sich wieder mit Erfolg um Selbigen, auch durch nicht nachlassende dynamische Aktivität uns nähert sich der überirdischen Überleitung zum himmlischen Seitenthema, und er spielt sie mit einfachem geradeaus führenden Spiel ähnlich herausragend wie in seiner ersten Aufnahme, ebenso das Seitenthema selbst, zuerst im Originalgewand, dann, in der Wiederholung , mit der inneren Beschleunigung in der gegenläufigen Sechzehntelsequenz ab Takt 53 mit dem Crescendo ab 55 und der weiter steigenden inneren Beschleunigung mit den Zweiunddreißigstelschwüngen in Takt 59 und 60, bevor es „una corda“ ganz organisch wieder abflaut und sich ein letztes Mal in die oberen Oktaven erhebt, zur Durchführung hin.
    Diesen kürzesten Satzabschnitt mit seiner ständig wechselnden Mehrstimmigkeit spielt Buchbinder mit den ebenfalls ständig wechselnden Auf- und Abwärtsbewegungen höchst ausdrucksvoll.
    In der Reprise, die zur Hälfte von den Zweiunddreißigsteln in der hohen Oktave geprägt wird, spielt er mit höchstem Ausdruck auf höchstem Niveau und spielt auch das 9-taktige Ritartando, allerdings nicht ganz so mitreißend wie in seiner ersten Aufnahme. Das a tempo ab Takt 113 allerdings ist wieder von höchstem Ausdruck in seinem kristallklaren Spiel in der hohen Oktave und den riesigen Sechzehntelintervallen in der Begleitung, und der ansatzlose Übergang in die überirdische Überleitung in das neuerliche Seitenthema gelingt ihm hier noch drängender als in der Exposition.
    Das Seitenthema selbst gehört wieder zu den herausragend gespielten. Das ist einfach Himmelsmusik. Auch die im Thema folgende Sechzehntelsequenz mit den darüber liegenden Achteln, Viertel und Dreiachteln führt durch die um eine Terz höhere Lage nochmals auch in Buchbinders Spiel, zu einer nochmaligen Ausdruckssteigerung, auch mit den abschließenden Aufhellungen und Verdichtungen der musikalischen Faktur und den dynamischen Bewegungen.
    Die Coda, in der das Hauptthema und das Seitenthema in gedrängter Form noch einmal auftauchen, spielt er mit großen dynamischen Kontrasten und erreicht im Crescendo ab Takt 162 nochmal eine grandiose dynamische, ja dramatische Steigerung- grandios! Hier schließt er „una corda“ eine ebenso großartiges Ritartando an, das in einen atemberaubenden Morendo-Schluss mündet.
    Ähnlich wie Brendel mit ähnlich dynamisch-rhythmischen Mitteln gelangt Buchbinder auch in diesem Adagio zu einer überragenden Leistung.


    Im Finale ist Buchbinder um etwa eine dreiviertel Minute schneller als 29 Jahre zuvor. Das merkt man schon am Largo, wo das von Beethoven vorgeschriebene Tempo (1/16 = 76) ganz gewiss nicht mehr aufgeht. Im Allegro (Takt 3 bis 7) legt er ein Tempo vor, das im Quervergleich zum Scherzo (1/2=80) eher wie ein Presto anmutet. Den mit Prestissimo überschriebenen Takt 10 spielt er dagegen kaum schneller als vorher das Allegro. Vielleicht lag diese extreme Tempowahl ja auch an dem Umstand, dass es sich um eine Liveaufnahme handelte.
    Den ersten Abschnitt der Fuge (1/4 = 144), die Exposition in B-dur, Takt 16 bis 84, spielt er nun jedoch sehr klar und temporal sehr ausgewogen, sodass man auch die rhythmischen Feinheiten, das teilweise von Pausen durchfurchte Geschehen und die dynamischen Linien verfolgen kann, die Buchbinder nach meiner Ansicht zu einem organischen Ganzen formt.
    Der zweite Abschnitt, die Vergrößerung in es-moll, Takt 85 bis 152, die dem Solisten noch Größeres abverlangt, vor allem in dynamischer Hinsicht, aber auch technische durch die vielschichtigen Triller, habe ich so auch als gekonnt empfunden.
    Im dritten Abschnitt, dem Rücklauf in h-moll, Takt 153 bis 207, kehrt etwas Truhe in das Geschehen ein, die rhythmischen Strukturen, sind durch regelmäßig wiederkehrende Achtelpausen zunächst in der oberen, dann in der unteren Oktave, jeweils nach den Sechzehnteln, vor der Viertel am Ende jedes Taktes, wodurch der Rhythmus etwas Sprunghaftes erhält, besser zu erkennen.
    Der vierte Abschnitt, die Umkehrung des Themas in G-dur, Takt 208 bis 249, der geprägt ist von häufig in beiden Oktaven gegeneinander oder parallel laufenden Sechzehnteln, stellt durch seine musikalische dichteren Strukturen und die großen Intervalle und erhöhten rhythmischen Schwierigkeiten wieder noch höhere Ansprüche an den Pianisten, dem Buchbinder aber, wie ich finde durchaus gerecht wird.
    Trotzdem wird er sich aber, ebenso wie der Hörer (und Rezensent) über die kurze, 28-taktige Atempause, dem fünften Abschnitt, der Durchführung des 2. Themas in D-Dur, freuen, die mir hier in der Lesart Buchbinders, in seinem klaren Klang und schreitenden Rhythmus, (zum ersten Mal) wie ein Choral vorkommt- mein Gott, und das zu Ostern, und wie es sich gehört, mit einem feierlichen Ritartando endend.
    Als wenn das Nichts wäre, ertönen dann im sechsten Abschnitt zuerst beide Themen gleichzeitig, Takt 279 bis 293, bevor ab Takt 294 bis 348 die Originalgestalt und Umkehrung des 1. Themas gleichzeitig aufscheinen. So kompliziert es sich anhört, umso einfacher ist es doch zu verfolgen, denn auch hier taucht als strukturierendes Element die Achtelpause wieder auf.
    Schließlich schließt die fast bizarr erscheinende Fuga, die zum Schwierigsten gehört, was der Sonatenkosmos überhaupt zu bieten hat, mit der Schlussankündigung in B-dur, kurze 18 Takte lang, aber nochmal voller Schwierigkeiten, bevor mit der 34-taktigen Coda eine letzte schwierige Hürde vor Pianist und Hörer aufgebaut ist, die aber beide bestens bewältigen.


    Ohne die Fragezeichen im Trio des Scherzos und im Anfang des Finales wäre auch diese Einspielung referenzverdächtig gewesen.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

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    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 „Hammerklavier-Sonate“
    Aldo Ciccolini, Klavier
    AD: 1997
    Spielzeiten: 11:45-2:50-19:38-12:28 --- 46:51 min.;


    Aldo Ciccolini ist im Kopfsatz deutlich langsamer, aber mindestens ebenso präzise im Rhythmus und in der Dynamik und auch noch etwas deutlicher in den dynamischen Abstufungen und in Ritartandi in Takt 8 und im Diminuendo-Ritartando in Takt 32 am Ende des Hauptthemas II.
    Und in der Überleitung zum Seitenthema tritt die Struktur, vor allem in der Begleitung noch etwas deutlicher hervor.
    Der Seitensatz ist wunderbar natürlich musiziert, auch in diesem Tempo sehr angemessen, Ciccolinis Legato in der 1. Phase vorbildlich und in der kurzen 2. Phase die häufigen Tempomodifikationen poco-ritartando-a tempo-poco ritartando-a tempoinnerhalb von nur sieben Takten grandios. Auch die 3. Phase, erst im letzten Drittel wieder vom Legato zum Non-Legato wechselnd, musiziert er mitreißend, hier wie in der 1. Phase wieder mit den Oktavierungen im Diskant und in den hochdynamischen Non-Legato-Takten zur Schlussgruppe hin auslaufend.
    Im 1. Gedanken der Schlussgruppe, dem „cantabile dolce ed espressivo“, reduziert er deutlich das Tempo und erlangt in diesen 12 Takten dadurch höchsten Ausdruck im Verein mit seinem klaren, natürlichen Spiel. Im 2. Gedanken lässt er die Exposition nach dem Dynamikgewitter der Takte 112 mit Auftakt bis 121 in den Takten 122 mit Auftakt und 124 mit Auftakt in einem deutlichen Subito Fortepiano und wieder reduziertem Tempo enden. Hierdurch setzt er nach der langen Exposition (3:37 min.) einen deutlichen Schlusspunkt, und wir dürfen die mitreißende Exposition natürlich noch einmal hören.
    Die Einleitung der Durchführung spielt er volltönend und wiederum dynamisch sehr kontrastreich und präzise. Im Kern der Durchführung stuft er sehr fein den Beginn des Themas im Bass, erst sempre pp, dann crescendo, ab und spielt dann im zweiten und dritten Einsatz die Melodienlinien in aufsteigend wiederholter Form sehr deutlich strukturiert, und auch im letzten Einsatz die zweiten Themenhälfte in den Oktaven wechselnd sehr schön fließend, da sie sich ja immer im letzten Ton überschneiden.
    Auch der zweite Teil des Kerns mit dem viermaligen Auftakt des Fugatothemas mit den Achtelsekunden in der oberen Stimme des Diskants in den beiden Tonarten c-moll und Es-dur, mit ihren Dominanten wechselnd, spielt er ganz hervorragend, auch in der langen Oktavierung bis hin zum Stillstand, auch der außergewöhnlich mit dem abschließenden „poco ritartando“, an das er ein sehr berührendes „cantabile espressivo“ anschließt, bevor er im letzten Durchführungsteil die dynamisch sehr kontrastreichen großen Intervallsprünge in mitreißender Form die Durchführung abschließt.
    Auch die Reprise mit der Modulation, wiederum mit einem vorbildlichen Ritartando begonnen und einem anrührenden „cantabile e ligato“ gefällt mir ausnehmend, auch der zweite Teil mit den oktavierten dissonanten oktavierten halben-Oktav-Akkorden in mächtigem Forte, die großen dynamischen Gegensätze bis hin zum unglaublichen wiederholten dreitaktigen Diminuendo-Ritartando (Takt 264 bis 266)spielt er absolut meisterhaft.
    Weiter geht es auf gleichem hohen Niveau mit der grandios gespielten Rückleitung mit den Oktavakkorden im Diskant und den begleitenden großen Achtel/Dreiachtel-Intervallen im Bass zum Seitensatz, wo Ciccolini nochmals seine große lyrische Ausdrucks- und Legatofähigkeit unter Beweis stellt, wiederum gespickt mit dynamischen Auf- und Ab-Bewegungen, seine herausragenden Ritartandi und im letzten Teil wiederum die legato-Abwärtsbewegungen in der hohen Oktave mit den zusätzlichen Oktavierung im Diskant- das ist schon große Pianistik, auch die lyrische und im 2. Teil kontrastreiche Schlussgruppe, von der phänomenalen 60-taktigen Coda ganz zu schweigen.
    Ein herausragend gespielter Satz mit einem großen Ende.


    Im Scherzo, das er in seinem moderaten Tempo dem temporalen Verhältnis zum Kopfsatz anpasst, beachtet er sehr sorgfältig die in kürzesten Abständen auf- und abschwellenden dynamischen Verläufe und spielt wieder mit großem dynamischem Kontrast, durchaus bis zum Fortissimo.
    Dabei spielt er allerdings in der Wiederholung (ab Takt 23, teilweise in der tiefen, aber auf jeden Fall in der hohen Lage, Takt 25/26 u. a. die Pianissimi eindeutig zu laut, teilweise sogar forte.
    Dafür ist das Trio dynamisch durchaus richtig, zumal nur am Schluss vor dem Presto ein pp angegeben ist. Und vor allem die leidigen Achteltriolen sind äußerst transparent, auch das Presto gefällt mir ausnehmend in seinem dynamisch/temporalen Impetus.
    Im Tempo I spielt er nur einmal in der Höhe zu laut, sonst ist das in Ordnung, im letzten Teil ab Takt 159 wieder großartig.


    Das Himmlische Adagio spielt er, wie ich finde, im durchaus richtigen, langsamen Tempo, etwas langsamer als Ashkenazy und etwas schneller als Arrau, wiederum mit vollem, sonoren Klang und dynamisch durchaus bewegt, wobei er im Aufwärtsgang in Takt 19 wieder zu viel Gas gibt. Da ist er mühelos bei mf, es steht aber ein p notiert. Auch in der Wiederholung des 2. Und 3. Melodieteils ist er mehrfach, vor allem im hohen Bogen und Oktavgang ab Takt 22, zu laut, teilweise im Forte. Das klingt zwar schön und strahlend in der Höhe, ist aber so nicht notiert.
    Im nächsten Abschnitt, der mit Crescendo beginnt, ab Takt 27, spielt er korrekt, auch die nächsten Takte, und dann, ab Takt 36 mit Auftakt, am Fuße des ausdrucksmäßigen „Mount Everest“, spielt er wieder unglaublich. Da läuft es mir wieder den Rücken rauf und runter.
    Auch das Thema spielt er so herausragend, als hätte es die vorhergehenden Dynamik-Irritationen nie gegeben. Da spielt er jede dynamische Bewegung und steigert erst wieder signifikant mit dem Crescendo ab Takt 68.
    Auch die Kurze Durchführung mit den wunderbaren Sechzehntelfiguren spielt er mit großer Sorgfalt, lässt die Musik fließen und spielt auch dynamisch wieder, wie es gehört.
    Die Reprise, beginnend mit dem unglaublichen Zweiunddreißigstel-Teil, spielt er grandios mit sorgfältiger Behandlung der Dynamik. Dieser Teil, bis Takt 103, gehört mit zum Ergreifendsten, was ich bisher im gesamten Sonatenkosmos gehört habe, und Ciccolini spielt ihn ergreifend und schließt ein berührendes Ritartando an (Takt 107 bis 112).
    Im a tempo-Teil spielt er die Zusammenhänge der großen Intervall-Abstände zwischen den Sechzehntel-Figuren im Bass und den herrlichen Melodielinien im Diskant mit großem Ausdruck (con grand espressione). Wenn man das so spielt wie Ciccolini, Arrau, Sokolov und einige Andere, dann geht das meines Erachtens mit dem langsamen Tempo mehr in die Tiefe als mit schnellem Tempo.
    Durch die Tonart fis-moll gelangt Beethoven und mit ihm ein so großartiger Pianist wie Aldo Ciccolini zu großem Ausdruck, wie es hier zu hören ist, und wir gelangen zum zweiten Mal zum himmlischen Seitenthema, das Ciccolini wiederum sehr ergreifend spielt.
    Und ganz organisch gelangt Ciccolini in die Coda- welch ein Prachtstück von fortgesetzter Expression auf höchstem Niveau gespielt, nicht nur mit einem leidenschaftlichen Crescendo, sondern auch mit einer inneren Beschleunigung, von Achtel/Sechzehntel in den Takten 162 bis 164 zu Sechzehntel/Zweiunddreißigstell in Takt 165: grandios komponiert und grandios gespielt- dann der einstimmige Abschwung mit dem verkürztem Thema im Piano, wieder mit unglaublichem Ritartando, im „a tempo“ wieder aufflackernde Dynamik für drei Takte, bis schließlich die Musik wie eine Kerze erlischt.
    Bis auf die dynamischen Irritationen am Anfang eine herausragende Interpretation.


    Im Largo liest Ciccolini das Tempo wesentlich besser als Buchbinder in der 12 Jahre später entstandenen Aufnahme, desgleichen im Allegro und im anschließenden Tenuto. Auch im „a tempo“ Takt 10, hält er sich an die Tempovorschrift, einschließlich „accelerando-Prestissimo-ritartando“.
    Das Allegro risoluto spielt er ebenfalls langsamer als Buchbinder. Alles andere hätte ja auch keinen Sinn gemacht.
    Den I. Teil der Fuga, die Exposition, Takt 16 bis 84, spielt Ciccolini so klar und geradlinig, dass ich optimal die Struktur lesen kann und die Verläufe beider Stimmen sehr gut verfolgen kann. Auch die zahlreichen dynamischen Wendungen mit den vielen Sforzandi, Forti und Trillern bietet er sehr transparent zu Gehör.
    Es folgt der II. Teil, die Vergrößerung des Themas in es-moll, Takt 85 bis 152, den Ciccolini ebenso transparent spielt, obwohl der musikalische Fluss zunehmend durch Pausen und Triller in den verschiedensten Ebenen, allein 10 verschiedene Triller in den Takten 117 bis 127 in 7 verschiedenen tonalen ebenen, wenn ich richtig gezählt habe, unterbrochen wird und schwerer zu verfolgen ist.
    Im III. Teil, Takt 153 bis 207, dem Rücklauf in h-moll, und im IV., Takt 208 bis 249, der Umkehrung des Themas in G-dur, führt Ciccolini weiter sicher durch das Geschehen, durch die regelmäßig wiederkehrenden Sechzehntelfiguren, im ersten Teil durch ruhigeres Fahrwasser (cantabile) , dann durch gut zu vernehmende gegenläufige Sechzehntel-Tonleitern, dann durch viele kurze hohe und tiefe Triller, im letzten Abschnitt durch längere, immer wieder auf- und abstre3bende Sechzehntelfiguren, bevor am Ende der Pianist noch die kurzen, verbunden Achtel-Intervalle mit Trillern überwinden muss, die aber so auffällig sind, dass spätestens da der geneigte Hörer den Faden wieder erhascht. Diese eigenartigen Takte 243 bis 246 weisen durch ihre fremdartige Rhythmik weit in die romantische Zukunft voraus.
    Im V. Teil, der Durchführung des 2. Themas in D-dur, Takt gleicht diese wunderbare „sempre dolce cantabile“-Atempause fast einem Rückschritt gegenüber dem zuvor Gehörten bis in Bachs Zeit hinein, dem Barock, und wie einfach, wie natürlich spielt Ciccolini dies.
    Im VI. Teil, Takt 279 bis 293, spielt Ciccolini das erste und zweite Thema gleichzeitig, in B-dur, dann in Takt 294 bis 348 das 1. Thema gleichzeitig original und umgekehrt, schließlich ab Takt 349 bis 366 das Thema noch mal durchgeführt, ebenfalls in B-dur. Diese letzten beiden Abschnitte verlangen vom Pianisten und vom Hörer noch einmal volle Konzentration bei teilweise sehr ausladenden Intervallen.
    Mit der kurzen, aber in ihrer Faktur als krönenden Abschluss zu bezeichnenden Coda schließt Aldo Ciccolini seine großartige Leistung ab.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Ich möchte demnächst hier die Aufnahme des französisch-kanadischen Pianisten Louis Lortie einstellen, dem ich mich heute zufällig etwas näher widmete, beovor ich entdeckte, dass er auch heute Geburtstag. Er wird 58 Jahre alt,im Erinnerungs- und Geburwtstags-Gratulationsthread habe ich ihm schon gratuliert, und er hat in seiner Diskographie u. a. diese Gesamtaufnahme:



    Ich habe schon die langsamen Sätze der Sonate Nr. 27 e-moll op. 90 und der Hammerklavier-Sonate probegehört, und war total begeistert. Die Sonate Nr. 27 werde ich gleich noch besprechen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Das hatte ich mir schon gedacht, lieber Holger, und ich hatte sie auch schon ins Visier genommen. Gestern habe ich noch op. 90 reznsiert und war davon äußerst angetan, vor allem von seiner Werktreue und seinem lyrischen Ausdrucksvermögen. Das wird sich ja auch auf die anderen Sonaten und auf die Années auswirken.


    Einen schönen Restfreitag und ein schönes Wochenende wünsche ich dir.


    Willi :)

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  • Wie schön, dass es hier weitergeht! Nachdem vor kurzem Murray Perahia die Sonate op. 106 in München gespielt hat, hat sie nun Evgeny Kissin am 11.3.2018 im Programm. Vermutlich wird es also von beiden noch Aufnahmen geben, Perhaia bringt ja auch die Noten in einer neuen Ausgabe (Urtext) heraus. Das beeindruckende Perahia-Konzert war ja leider nicht komplett ausgebucht, ich hoffe, dass Kissin besser zieht. Der Veranstalter ist über diese abermals sehr fordernde Programmauswahl wohl nicht sehr glücklich, hat aber keinen Einfluss darauf. Aber Kissin spielt nach der Pause zumindest Rachmaninoff Preludes.
    Buchbinder finde ich vom Ton her immer etwas zu hart, aber ich muss mir seine neue Aufnahme noch anhören. Auch die Aufnahme von Lortie kenne ich noch nicht, seine letzten CDs waren sehr gut (differenziert, lyrisch, virtuos), die Beethoven-Aufnahmen sind aber schon etwas älter. Glücklicherweise habe ich eine Funktion entdeckt, mit der man von youtube-Videos nur den Ton herunterladen kann, so dass ich jetzt sehr gespannt auf das Yuja Wang-Konzert in der Carnegie Hall bin. Das Bild lenkt mich einfach zu sehr ab und ich mag auch nicht eine Stunde vor dem Monitor sitzen. Ein paar Schwergewichte kommen ja noch (Gilels, Serkin, Richter), auch auf die Aufnahme von Paul Lewis bin ich gespannt.


    Viele Grüße
    Christian

  • Wie schön, dass es hier weitergeht! Nachdem vor kurzem Murray Perahia die Sonate op. 106 in München gespielt hat, hat sie nun Evgeny Kissin am 11.3.2018 im Programm. Vermutlich wird es also von beiden noch Aufnahmen geben, Perhaia bringt ja auch die Noten in einer neuen Ausgabe (Urtext) heraus. Das beeindruckende Perahia-Konzert war ja leider nicht komplett ausgebucht, ich hoffe, dass Kissin besser zieht.

    Lieber Christian,


    das hoffe ich auch! :) Erst gestern habe ich übrigens den Brendel gebrannt, so dass ich ihn nächste Woche wohl endlich hören kann, d.h. wenn der zeitfressende Job es erlaubt. :hello:


    Herzliche Grüße zum Wochenende
    Holger

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