Die Schönheit der Avantgarde

  • Nichtsinnliche Schönheit könnte allenfalls die vorgebliche "Schönheit", die man mathematischen Beweisen nachsagt, sein. (Für mich ist das ein eher zu weiter Begriff von Schönheit, ich würde in der Mathematik eher von Eleganz sprechen, was jedoch auch nicht besser ist. Man meint wohl am ehesten etwas wie eine überraschende Klarheit oder Knappheit im Ggs. etwa zu einer "langweiligen" umständlichen Beweisführung, die zwar ihr Ziel erreicht, aber eben mühselig.)


    Aber alle erklingende Musik ist entweder sinnlich schön, oder eben nicht schön. Und zwar in dem einfachsten und urprünglichen Sinn von sinnlich, der auf die Sinne der Wahrnehmung bezogen ist. (Nicht in dem etwas verquasten, in dem "sinnlich" für "sinnenfreudig" oder "erotisch" steht.) Alles andere stiftet nur Verwirrung bzw. müsste derjenige, der von "unsinnlicher Schönheit" spricht, dann erst einmal erklären, warum etwas, was hautpsächlich mit dem Hörsinn wahrgenommen wird, unsinnlich schön sein kann.
    Und "Wahrheit" ins Spiel zu bringen, hilft m.E. auch nicht weiter, weil sehr schwierig zu verstehen ist, wie ein Musikstück "wahr" sein kann, während unmittelbar klar ist, dass es schön sein kann (wie und warum genau, es schön sein kann, ist etwas anderes, aber dass manche schön sind, bestreiten wohl niemand). Unser Musterbeispiel für Schönheit sind Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung, besonders visuelle und akustische. Unsere Musterbeispiele für Wahrheit sind wahre Aussagen oder Urteile. Zwar verstehen wir auch andere Verwendungsweisen von Wahrheit ("wahrer Freund"), aber die "Wahrheit" in einem Musikstück ist auch von denen noch ziemlich weit entfernt. D.h. man müsste sehr viel in eine Klärung der "Wahrheit" von Kunstwerken investieren, sonst stiftet das auch erstmal nur Verwirrung, weil diese Verwendungsweise so weit von der üblichen entfernt ist.)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Nichtsinnliche Schönheit könnte allenfalls die vorgebliche "Schönheit", die man mathematischen Beweisen nachsagt, sein. (Für mich ist das ein eher zu weiter Begriff von Schönheit, ich würde in der Mathematik eher von Eleganz sprechen, was jedoch auch nicht besser ist. Man meint wohl am ehesten etwas wie eine überraschende Klarheit oder Knappheit im Ggs. etwa zu einer "langweiligen" umständlichen Beweisführung, die zwar ihr Ziel erreicht, aber eben mühselig.)


    Das sehe ich auch so. Der Begriff von Schönheit, wie er in der Mathematik oder auch Physik gebraucht wurde (nach dem man auch eine Komposition ganz unabhängig vom Hörerlebnis als quasi-mathematische Konstruktion schön nennen könnte), hilft uns hier nicht weiter. Die Schönheit oder Hässlichkeit, die wir hier doch wohl meinen, beruht auf Empfindungen des Gefallens oder der Abneigung, der Lust oder Unlust beim Hören eines Musikstücks. Inwieweit Urteile über Schönheit rein subjektiv sind, ist eine alte Streitfrage. Kant meinte beispielsweise, dass Geschmacksurteile Anspruch auf "subjektive Allgemeinheit" haben, ohne den man darüber ja auch gar nicht sinnvoll diskutieren könnte. Das Geschmacksurteil erhebt den Anspruch, "für jedermann zu gelten"; es wird hier ein Gefühl der Lust "jedermann zugemutet". Wenn ich also sage "Alban Bergs Violinkonzert ist schön", dann meine ich nicht nur: "Ich empfinde beim Hören Lust oder Wohlgefallen" sondern: "Jeder, der es unter den richtigen Voraussetzungen hört, wird dabei Lust oder Wohlgefallen empfinden".

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Wenn ich also sage "Alban Bergs Violinkonzert ist schön", dann meine ich nicht nur: "Ich empfinde beim Hören Lust oder Wohlgefallen" sondern: "Jeder, der es unter den richtigen Voraussetzungen hört, wird dabei Lust oder Wohlgefallen empfinden".


    Und wer legt dann fest, was diese "richtigen Voraussetzungen" sind? Das funktioniert doch nicht. Es gibt musikalisch gebildete Personen, die mit Haydn und Mozart nichts anfangen können, aber Beethoven für den größten halten. Es gibt Menschen, die Wagner und seine Musik bis heute ablehnen. Boulez fand die von Dir so geschätzten Britten-Opern vermutlich unerträglich. Wo ist da der absolute Maßstab der "richtigen Voraussetzungen".

  • Ich habe auch Zweifel, dass eine Grundsatzdiskussion hier so viel weiterhilft. Denn während ich einräumen würde, dass es manche Kunstwerke des 20.+21. Jhds. gibt, die traditionelle Ästhetik (bzw. mehr noch eine traditionelle Vorstellung eines Kunstwerks) radikal in Frage stellen, etwa "ready-mades", manche Dada-Kunst usw. gehören Schönberg, Messiaen, Boulez oder Stockhausen m.E. nicht zu solchen Richtungen. Bei denen stehen z.B. das Kunstfertige und Kunstvolle, also ein offensichtlicher professioneller Anspruch und entsprechende Fertigkeiten im Ggs. zu mancher Dada-Provokation völlig außer Frage. Deren Musik mag alle möglichen hergebrachten Normen erschüttern, aber die Besonderheit eines Kunstwerks als etwas, das nicht-alltäglich ist und dessen Herstellung hohe Kunstfertigkeit verlangt, wird selbstverständlich vorausgesetzt.


    Oder etwas anders gewendet: Erst einmal sollte man davon ausgehen, dass jemand, der ein Stück von Bach und eines von Boulez schön nennt, in beiden Fällen ungefähr dasselbe meint. Wenn jemand meint, das sei anderes, müsste man versuchen, zu erklären, worin sich die Verwendungsweisen von schön in den beiden Fällen unterscheiden.

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  • Erst einmal sollte man davon ausgehen, dass jemand, der ein Stück von Bach und eines von Boulez schön nennt, in beiden Fällen ungefähr dasselbe meint.


    Es geht doch hier nicht um die Aussage, dass jemand ein Stück schön "findet", sondern dass eine Stück schön "ist". Holger sagt nicht, er findet Pli selon pli schön (was ich ihm gerne zugestehe), sondern es ist schön. Und wer das nicht erkennt, hat bei sich ein Defizit zu suchen.
    Was bedeutet das in Bezug aufs Boulez' Bemerkung, dass die Musik Schostkowitschs ein dritter Aufguss von Mahler sei. Muss Boulez bei sich ein Defizit suchen (was er natürlich nicht mehr kann) oder ist die Musik von Schostakowitsch tatsächlich drittklassig. Oder sind wir hier in der Erkenntnis weiter als Boulez?

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  • Und wer legt dann fest, was diese "richtigen Voraussetzungen" sind? Das funktioniert doch nicht. Es gibt musikalisch gebildete Personen, die mit Haydn und Mozart nichts anfangen können, aber Beethoven für den größten halten. Es gibt Menschen, die Wagner und seine Musik bis heute ablehnen. Boulez fand die von Dir so geschätzten Britten-Opern vermutlich unerträglich. Wo ist da der absolute Maßstab der "richtigen Voraussetzungen".


    Boulez hätte aber den Britten-Opern ziemlich sicher nicht abgesprochen, musikalische Kunstwerke zu sein. Vielleicht drittklassige oder misslungene Musikstücke usw., aber nicht behauptet, es sei eine Art Kinderlärm, wie der hier im Thread schon wieder zu beobachtende Vulgärsubjektivismus.
    Du scheinst hier die verbreitete Argumentationsfigur, nur weil sich eine bestimmte Frage nicht mit mathematischer Präzision und Allgemeingültigkeit klären ließe, bliebe nur eine rein subjektive Geschmacksäußerung als Alternative, zu verwenden. Offensichtlich lassen sich außerhalb von Mathematik, Logik, Physik u.ä. nur sehr wenige Fragen mit solcher Präzision und Allgemeingültigkeit klären. Es kann also nicht der richtige Maßstab sein, weil man sonst nur zu sehr wenigen Fragen überhaupt begründet Stellung nehmen könnte.


    Man wird auch in harten Wissenschaften oft einzelne Experten, die von der Mehrheitsmeinung abweichen, finden. Daraus folgt aber keine Beliebigkeit. Und insgesamt wird man auch in der Bewertung von Kunstwerken sehr viel mehr Einigkeit finden, als zu erwarten wäre, wenn diese Bewertung völlig willkürlich nach ganz zufällig verteilten subjektiven Präferenzen geschehen würde. D.h. der radikale Geschmacks-Subjektivismus entspricht nicht nur nicht dem Selbstverständnis, wonach wir nämlich durchaus zwischen subjektiven Präferenzen (Vanille- oder Schokoladeneis) und z.B. ästhetischen Urteilen (Beethoven ist besser als Czerny) unterscheiden, sondern er erklärt auch nicht das Phänomen relativer Einigkeit der Experten (wenn auch in der Musik nicht in dem Maße wie in der Chemie).

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  • Es geht doch hier nicht um die Aussage, dass jemand ein Stück schön "findet", sondern dass eine Stück schön "ist". Holger sagt nicht, er findet Pli selon pli schön (was ich ihm gerne zugestehe), sondern es ist schön. Und wer das nicht erkennt, hat bei sich ein Defizit zu suchen.


    Wo hat denn der, der Bach nicht schön findet, ein Defizit zu suchen? (Außerdem schrieb ich nicht "finden", sondern "nennen"; das kann man genauso gut so lesen, dass er zu Recht behauptet, dass beide Stücke schön *sind*.)
    Mir ging es hier nur darum, dass es nicht weiterhilft, zu sagen, man müsse den Begriff der Schönheit revidieren oder weiter fassen, um Boulez' Musik überhaupt gerecht zu werden.


    Zitat


    Was bedeutet das in Bezug aufs Boulez' Bemerkung, dass die Musik Schostkowitschs ein dritter Aufguss von Mahler sei. Muss Boulez bei sich ein Defizit suchen (was er natürlich nicht mehr kann) oder ist die Musik von Schostakowitsch tatsächlich drittklassig. Oder sind wir hier in der Erkenntnis weiter als Boulez?


    Das mit dem dritten Aufguss ist ja erstmal keine Aussage über Schönheit, wenn auch wohl über Originalität und vermutlich Qualität. Wenn man die mitschwingende Wertung einklammert, ist es wohl von den historischen Einflusslinien her nicht falsch.


    In welchem Sinne "wir" hier "weiter" sein können als Boulez, wage ich nicht zu beurteilen. Klar, man kann sagen, dass Boulez sich gar keine Mühe gibt, so etwas wie einen neutralen Standpunkt einzunehmen, sondern als Komponist einer bestimmten Richtung natürlich Partei ist und eine polemische Aussage macht, und es "weiter" ist, einen nüchternen Standpunkt, weniger von bestimmten Schulen geprägt und mit mehr historischer Distanz, einzunehmen, von dem aus man selbstverständlich ein faireres Urteil fällen kann. Wobei man unterstellt, was sicher falsch ist, dass es Boulez bei so einer Aussage um ein faires Urteil gegangen wäre...


    (Was ich für eher irreführend halte, ist ein "weiter" im Sinne der empirischen und historischen Forschung. Was zur ästhetischen Beurteilung Schostakowitschs notwendig war, lag Boulez vor. Es ist nicht so, dass wir irgendwelche revidierten Manuskripte entdeckt hätten, die ein ganz anderes Licht auf die Leningrader Sinfonie werfen würden. (So etwas kann bei der Beurteilung von älterer Musik aber durchaus mal relevant sein.))

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  • So sehe ich das auch. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß die Avantarde - nicht nur in der Musik . das Schöne und "Gfällige" (das ja nicht a priori ein Negativbegriff war, sondern erst zu einem solchen umfunktioniert wurde)ZUdem greift zi implizid das bestehende bürgerliche Machtgefüge an....) Kein Wunder somit, daß sie viele Gegner hat....

    Ab diesem Beitrag haben wir das Problem, dass in diesem Thread der Begriff Avantgarde auf verschiedene Weise verwendet wird, wobei es ja mehrere gängige Avantgarde-Begriffe gibt. Ich verwende auch lieber Alfreds Variante, in der die Avantgarde eine bürgerfeindliche Provokationsbewegung war mit dem Ziel, die Lebenspraxis über Kunsteinfluss zu reformieren und zugleich die Kunst abzuschaffen (Futurismus, Dadaismus, Surrealismus). Allerdings hat die kaum Musik hervorgebracht ...


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  • Ein Beispiel, das mir hier gut zu passen scheint, ist Stockhausen, der mich überhaupt nicht interessiert hat, weil ich mit Religiosität oder Spiritualität nichts anfangen kann und mich schon Titel die mit Tierkreiszeichen zu tun haben, oder die »Donnerstag aus Licht« lauten, einfach abschrecken (warum mag ich eigentlich Bach?). Aber nachdem ich neulich nun doch einmal angefangen habe, etwas von Stockhausen zu hören (wobei da ja eigentlich nichts dabei war, das ich als atonal bezeichnen würde: Amour, Der kleine Harlekin, Wochenkreis, Gesang der Jünglinge, Kontakte), bin ich ganz begeistert. Ich höre da wunderschöne kurze Melodien, die ganz schlicht wirken, die mir aber dennoch höchst kunstvoll vorkommen.

    Kontakte ist aber schon ein klares Beispiel für atonale Musik, würde ich sagen.
    ?(

  • Ab diesem Beitrag haben wir das Problem, dass in diesem Thread der Begriff Avantgarde auf verschiedene Weise verwendet wird, wobei es ja mehrere gängige Avantgarde-Begriffe gibt. Ich verwende auch lieber Alfreds Variante, in der die Avantgarde eine bürgerfeindliche Provokationsbewegung war mit dem Ziel, die Lebenspraxis über Kunsteinfluss zu reformieren und zugleich die Kunst abzuschaffen (Futurismus, Dadaismus, Surrealismus). Allerdings hat die kaum Musik hervorgebracht ...


    Darum geht es doch gar nicht. Ich bitte sehr darum, hier keine Diskussion über den Avantgarde-Begriff zu führen, das führt vom Thema weg. Welche Richtungen der Neuen Musik ich hier meine, habe ich in meinem Eingangsbeitrag doch kenntlich gemacht: eben die, die bewusst mit der klassisch-romantischen musikalischen Tradition brechen und neue Möglichkeiten klanglicher Formen suchen und verwenden.

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  • Ab diesem Beitrag haben wir das Problem, dass in diesem Thread der Begriff Avantgarde auf verschiedene Weise verwendet wird, wobei es ja mehrere gängige Avantgarde-Begriffe gibt. Ich verwende auch lieber Alfreds Variante, in der die Avantgarde eine bürgerfeindliche Provokationsbewegung war mit dem Ziel, die Lebenspraxis über Kunsteinfluss zu reformieren und zugleich die Kunst abzuschaffen (Futurismus, Dadaismus, Surrealismus). Allerdings hat die kaum Musik hervorgebracht ...


    Vielleicht können wir hier die Wikipedia Definition anführen:


    Als musikalische Avantgarden gelten Stilrichtungen in der E-Musik bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts, hier wurden sie oft unter dem Schlagwort Neue Musik zusammengefasst. Gemeinsam ist ihnen der Bruch mit traditionellen Hörgewohnheiten, etwa durch die breite Verwendung von Dissonanzen und unregelmäßigen Rhythmen sowie durch Atonalität. Beispiele für musikalische Avantgarden sind die Musik des Expressionismus, die Zwölftonmusik, später die Serielle Musik, die Aleatorische Musik, die Klangkomposition, die Minimal Music und die aus aufgenommenen Klängen zusammengesetzte Musique concrète. Seit der Nachkriegszeit entstanden auch außerhalb des Bereichs der E-Musik avantgardistische Formen, hier stellen Genres wie der Free Jazz, die daraus weiterentwickelte frei improvisierte Musik sowie Industrial und Noise mit die bedeutendsten musikalischen Avantgarden dar.

  • Darum geht es doch gar nicht. Ich bitte sehr darum, hier keine Diskussion über den Avantgarde-Begriff zu führen, das führt vom Thema weg. Welche Richtungen der Neuen Musik ich hier meine, habe ich in meinem Eingangsbeitrag doch kenntlich gemacht: eben die, die bewusst mit der klassisch-romantischen musikalischen Tradition brechen und neue Möglichkeiten klanglicher Formen suchen und verwenden.

    Ich habe das nur geschrieben da Alfred den antibürgerlichen Aspekt genannt hat. Der ist mit der Musik, die Du meinst, nicht zwingend verbunden. Trotzdem kann man schwer sagen, dass er nicht Recht hätte, da Avantgarde in der engeren Begriffsverwendung sehr wohl in diese Richtung geht.

  • Vielleicht können wir hier die Wikipedia Definition anführen:


    Als musikalische Avantgarden gelten Stilrichtungen in der E-Musik bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts, hier wurden sie oft unter dem Schlagwort Neue Musik zusammengefasst.

    Das ist die weit gefasste Version des Begriffs, unter der aber dann leider auch Debussy und Hindemith laufen.
    8-)

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  • Ich empfinde viele zwölftönige und serielle Musik als sehr angenehm, abstrakt, und eindeutig "schön" in einem ganz unverkrampften Sinne. Im Gegensatz etwa zu Verdi-Opern fehlt eine emotionale Aggressivität, die im sentimentalen 19. Jahrhundert recht fordernd ist für den Zuhörer.


    Bei Musik, die an die Nieren gehen will, ist es dann mit der "Schönheit" etwas verkrampfter. Aber das ist eigentlich keine auf das 20. Jahrhundert beschränkte Sache - nur kann die "Avantgardemusik", wenn sie will, schon besonders "heftig" werden.

  • Das ist die weit gefasste Version des Begriffs, unter der aber dann leider auch Debussy und Hindemith laufen.


    Beispiele für musikalische Avantgarden sind die Musik des Expressionismus, die Zwölftonmusik, später die Serielle Musik, die Aleatorische Musik, die Klangkomposition, die Minimal Music und die aus aufgenommenen Klängen zusammengesetzte Musique concrète.


    Also da finde ich jetzt Debussy nicht wieder, Hindemith nur am Anfang (Expressionismus). Aber letztendlich weiß jeder was gemeint ist und die Beispiele illustrieren das ja auch. Pli selon pli wird nun niemand NICHT zur Avantgarde zählen wollen.

  • Also da finde ich jetzt Debussy nicht wieder, Hindemith nur am Anfang (Expressionismus). Aber letztendlich weiß jeder was gemeint ist und die Beispiele illustrieren das ja auch. Pli selon pli wird nun niemand NICHT zur Avantgarde zählen wollen.

    Ich würde Pli selon pli nicht zur Avantgarde zählen ...
    Im Wikipedia-Eintrag zu "Neue Musik" ist Debussy sehr wohl dabei.
    Ich will den Thread nicht zerschießen, im Eröffnungsbeitrag steht, worum es gehen soll, aber die beiden Avantgarde-Begriffe, die ich kenne (und die etwa auch im Neuen Handbuch der Musikwissenschaft erläutert sind), decken sich damit nicht.

  • Zurück zum Thema.
    Es stellt sich für mich heraus, dass es extrem schwierig oder wohl unmöglich ist, den Begriff der Schönheit bei Neuer Musik/Avantgarde in irgendeiner Form zu objektivieren. Bei zahlreichen Stücken aus der tonalen Epoche gibt es eine Art Konsens der Musikliebhaber, welche Stücke besonders "schön" oder "bedeutend" sind. Diesen Konsens kann es bei Neuer Musik gar nicht geben, da eine Mehrheit der Musikliebhaber diese Musik ablehnt. Die Musikkritiker sind da - wie wir gesehen haben - auch nicht besonders hilfreich, weil sie auch nur meist einer Denkrichtung angehören und dementsprechend argumentieren. Und wenn ich hier jetzt zehn avantgardistische Stücke von verschiedenen Neutönern einstelle, wird mir vermutlich niemand begründen können, warum das eine "schön/bedeutend" und das andere "unschön/unbedeutend" ist.

  • Bei zahlreichen Stücken aus der tonalen Epoche gibt es eine Art Konsens der Musikliebhaber, welche Stücke besonders "schön" oder "bedeutend" sind. Diesen Konsens kann es bei Neuer Musik gar nicht geben, da eine Mehrheit der Musikliebhaber diese Musik ablehnt.

    Den Bruch sehe ich nicht. Ein paar besonders bedeutende Stücke der Neuen Musik wären z.B.:


    Debussy: Jeux
    Webern: Bagatellen für Strqu
    Schönberg: Pierrot lunaire
    Ives: Concord Sonata
    Strawinsky: Le sacre du printemps
    Berg: Wozzeck
    Schostakowitsch: Lady Macbeth
    Bartók: Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta
    Messiaen: Oiseaux exotiques
    Boulez: Le marteau sans maitre
    Stockhausen: Gesang der Jünglinge
    Cage: Klavierkonzert
    Ligeti: Atmosphère
    Penderecki: Threnos
    Reich: Piano Phase
    Berio: Sequenzen für Soloinstrumente


    ... da sollte es nicht so viele Gegenstimmen geben (ich meine natürlich nicht die Musikliebhaber ...)
    Die Stücke sind alle älter als 50 Jahre und seit Jahrzehnten im "Kanon".

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  • Zitat

    Und wenn ich hier jetzt zehn avantgardistische Stücke von verschiedenen Neutönern einstelle, wird mir vermutlich niemand begründen können, warum das eine "schön/bedeutend" und das andere "unschön/unbedeutend" ist.


    Ich glaube schon, daß man das kann, aber es wird jeweils von der betreffenden Person abhängen, die darüber urteilt.


    Wenn ich aber richtig verstanden habe, dann möchte Bertarido Stücke als Beispiele angeführt haben, die völlig mit der Tradition und Tonalität brechen und DENNOCH den Begriff der "Schönheit" für sich beanspruchen können., wobei er - zumindes scheint es mir so - das Wort "Avantgarde" nur als "Platzhalter" benutz - als Mangel einer präziseren Definition.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich würde Pli selon pli nicht zur Avantgarde zählen ...


    oh je, dann hat Holger ein falsches Beispiel gewählt.


    Die Stücke sind alle älter als 50 Jahre und seit Jahrzehnten im "Kanon".


    das führt jetzt weg und wäre Titel eines eigenen threads, aber auch hier habe ich Einwände. Man müsste erst einmal definieren, was "Kanon" ist. Du hast Stücke dabei, die jeder kennt und von denen es 30+ Einspielungen kennt und solche, die kaum einer kennt und von denen es nur ein, zwei Einspielungen gibt.

  • Wenn ich aber richtig verstanden habe, dann möchte Bertarido Stücke als Beispiele angeführt haben, die völlig mit der Tradition und Tonalität brechen und DENNOCH den Begriff der "Schönheit" für sich beanspruchen können., wobei er - zumindes scheint es mir so - das Wort "Avantgarde" nur als "Platzhalter" benutz - als Mangel einer präziseren Definition.....


    Genauso ist's! :thumbup:


    Und Pli selon pli ist für mich ein Musterbeispiel dafür.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Ich habe gestern die erste der drei Aufnahmen von Boulez gehört, die als DLP in meiner Sammlung steht, und da singt eine Halina Lukomska. Mag sein, dass die Sängerinnen in den späteren Aufnahmen besser sind, aber ich wage zu bezweifeln, dass das mein Unwohlsein kuriert.

    Die Aufnahme kenne ich nicht, lieber Lutz. In der Erato-Einspielung von Boulez selbst (auch klangtechnisch ist die einsame Spitze, in Bezug auf Hifi eine meiner Lautsprecher Testplatten!) singt Phyllis Bryn-Julson mit ihrem glockenreinen Sopran - ganz ausgezeichnet und wirklich schön.


    http://www.peabody.jhu.edu/conservatory/faculty/bryn-julson/


    Christine Schäfer müsste ich mir im Vergleich anhören, bei den Hörschnipseln schien mir, dass sie vielleicht noch etwas flexibler, differenzierter artikuliert.

    Aber wenn mir etwas physisch Unwohlsein bereitet (tut übrigens der eine oder andere barocke Ziergesang auch), dann kann ich keine Schönheiten entdecken, es sei denn die "Schönheit des Zahnbohrers".

    Da kommen wir der Sache doch ein wenig mehr auf den Grund mit Deinem Vergleich mit dem Barock. Unter dem Einfluß von Rousseau hat schon die Empfindsamkeit des 18. Jhd. den barocken Gesang als gekünstelt gewertet - und die Romantik dann das schlichte einfache Kunstlied bevorzugt. Dahinter steht letztlich die Auseinandersetzung Kunstschönes versus Naturschönes. Wie der barocke Gesang ist auch der bei Boulez hoch artifiziell. Das passt aber letztlich perfekt zu Stephane Mallarme, denn Mallarme gehört ja zur literarischen Dekadenz, welche - ausdrücklich gegen die "Natürlichkeit", welche sie geradezu verabscheut - die Künstlichkeit zum Ideal erhebt, ein "artifizielles Paradies" schaffen will. Wenn man natürlich als Hörer von der romantischen Tradition geprägt ist, dann sucht man im Gesang das Naturschöne und entsprechend wertet man dann dieses Kunstschöne als unschön. :D

    Nichtsinnliche Schönheit könnte allenfalls die vorgebliche "Schönheit", die man mathematischen Beweisen nachsagt, sein. (Für mich ist das ein eher zu weiter Begriff von Schönheit, ich würde in der Mathematik eher von Eleganz sprechen, was jedoch auch nicht besser ist. Man meint wohl am ehesten etwas wie eine überraschende Klarheit oder Knappheit im Ggs. etwa zu einer "langweiligen" umständlichen Beweisführung, die zwar ihr Ziel erreicht, aber eben mühselig.)

    Worauf Du hinweist, das finde ich in diesem Zusammenhang doch sehr erhellend, ist, dass die "ästhetische" Auffassung des Schönen ja eigentlich sehr modern ist. Ästhetik kommt von "aisthesis", und das heißt Wahrnehmung. Man muss das Schöne natürlich nicht ästhetisch auffassen, aber bei der Musik ist es letztlich nicht anders möglich. Kant kritisiert Baumgarten, der die Ästhetik als Disziplin erfunden hat, weil er als Rationalist das Schöne mit dem Vollkommenen gleichsetzt. Kant war also Baumgartens Auffassung des Schönen noch nicht ästhetisch genug. Ein mathematischer Beweis kann "Vollkommenheit" verkörpern und man mag das schön nennen - aber dann ist "schön" eben nicht im ästhetischen Sinne gemeint.

    Aber alle erklingende Musik ist entweder sinnlich schön, oder eben nicht schön. Und zwar in dem einfachsten und urprünglichen Sinn von sinnlich, der auf die Sinne der Wahrnehmung bezogen ist. (Nicht in dem etwas verquasten, in dem "sinnlich" für "sinnenfreudig" oder "erotisch" steht.)

    So denke ich auch.

    Und "Wahrheit" ins Spiel zu bringen, hilft m.E. auch nicht weiter, weil sehr schwierig zu verstehen ist, wie ein Musikstück "wahr" sein kann, während unmittelbar klar ist, dass es schön sein kann (wie und warum genau, es schön sein kann, ist etwas anderes, aber dass manche schön sind, bestreiten wohl niemand).

    Der Ausdruck eines Musikstücks kann natürlich "wahr" sein im Sinne von wahrhaftig. Beim Schönen finde ich auch macht das keinen Sinn. Kunst muss und soll letztlich auch nicht ausschließlich ästhetisch betrachtet werden. Die Bedeutung eines großen Kunstwerks (wie einer Beethoven- oder Mahler-Symphonie) erschöpft sich natürlich bei weitem nicht in der Wahrnehmung eines Schönen.

    Das sehe ich auch so. Der Begriff von Schönheit, wie er in der Mathematik oder auch Physik gebraucht wurde (nach dem man auch eine Komposition ganz unabhängig vom Hörerlebnis als quasi-mathematische Konstruktion schön nennen könnte), hilft uns hier nicht weiter. Die Schönheit oder Hässlichkeit, die wir hier doch wohl meinen, beruht auf Empfindungen des Gefallens oder der Abneigung, der Lust oder Unlust beim Hören eines Musikstücks.

    Das Problem bei Kant ist natürlich, lieber Bertarido, dass er den ästhetischen Charakter des Schönen etwas einseitig sensualistisch und wirkungsästheitsch auffasst. Aber das ist eine komplizierte philosophische Frage. Wir schreiben ja doch das Schöne dem Objekt zu und betrachten es nicht nur als einen Empfindungszustand in uns. (Kant betont natürlich auch den Bezug auf eine ästhetische Idee, damit nur keine Mißverständnisse aufkommen! ;) )


    Es geht doch hier nicht um die Aussage, dass jemand ein Stück schön "findet", sondern dass eine Stück schön "ist". Holger sagt nicht, er findet Pli selon pli schön (was ich ihm gerne zugestehe), sondern es ist schön. Und wer das nicht erkennt, hat bei sich ein Defizit zu suchen.
    Was bedeutet das in Bezug aufs Boulez' Bemerkung, dass die Musik Schostkowitschs ein dritter Aufguss von Mahler sei. Muss Boulez bei sich ein Defizit suchen (was er natürlich nicht mehr kann) oder ist die Musik von Schostakowitsch tatsächlich drittklassig. Oder sind wir hier in der Erkenntnis weiter als Boulez?

    Es kann ja auch sein, dass ich z.B. bei außereuropäischer Musik deren außergewöhnliche Schönheit mangels kulturellem Background nicht erfasse. "Defizit" ist insofern nicht das richtige Wort - es gibt bestimmte Vorprägungen einer Rezeptionshaltung, die Zugänge ermöglichen oder auch verschließen. Das meine ich ganz wertfrei.

    Und insgesamt wird man auch in der Bewertung von Kunstwerken sehr viel mehr Einigkeit finden, als zu erwarten wäre, wenn diese Bewertung völlig willkürlich nach ganz zufällig verteilten subjektiven Präferenzen geschehen würde. D.h. der radikale Geschmacks-Subjektivismus entspricht nicht nur nicht dem Selbstverständnis, wonach wir nämlich durchaus zwischen subjektiven Präferenzen (Vanille- oder Schokoladeneis) und z.B. ästhetischen Urteilen (Beethoven ist besser als Czerny) unterscheiden, sondern er erklärt auch nicht das Phänomen relativer Einigkeit der Experten (wenn auch in der Musik nicht in dem Maße wie in der Chemie).

    Dass ästhetische Urteile unterschiedlich ausfallen können, heißt eben, dass man sie analysieren muss. Die Behauptung der Beliebigkeit ist da einfach vorschnell.

    Ich verwende auch lieber Alfreds Variante, in der die Avantgarde eine bürgerfeindliche Provokationsbewegung war mit dem Ziel, die Lebenspraxis über Kunsteinfluss zu reformieren und zugleich die Kunst abzuschaffen (Futurismus, Dadaismus, Surrealismus). Allerdings hat die kaum Musik hervorgebracht ...

    Danke für den Buch-Hinweis! :)

    Darum geht es doch gar nicht. Ich bitte sehr darum, hier keine Diskussion über den Avantgarde-Begriff zu führen, das führt vom Thema weg.

    Ein Kunstverständnis von "Avantgarde" hatte zum Beispiel Richard Wagner, wenn er von "Zukunftsmusik" gesprochen hat. Das ist das Bewußtsein, seiner Zeit voraus zu sein. Das hat aber mit dem Begriff "Neue Musik" letztlich nichts zu tun, da hast Du völlig Recht.

    Es stellt sich für mich heraus, dass es extrem schwierig oder wohl unmöglich ist, den Begriff der Schönheit bei Neuer Musik/Avantgarde in irgendeiner Form zu objektivieren. Bei zahlreichen Stücken aus der tonalen Epoche gibt es eine Art Konsens der Musikliebhaber, welche Stücke besonders "schön" oder "bedeutend" sind.

    Warum soll es schwieriger sein einen solchen Konsens bei Neuer Musik zu finden? Es gibt so lustige Dinge schon im ausgehenden 19. Jhd., dass "Formalisten" Wagners Chromatik als unschön gewertet haben. Wir teilen diese Auffassung heute natürlich nicht, wenn wir den "Tristan" als schöne Musik empfinden. Beliebig sind auch diese ästhetischen Urteile keineswegs, wenn man sie nun wiederum genau analysiert. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Ja zweifellos, lieber lutgra, - in diesem Ligeti-Streichquartett begegnet man ihr!
    Und ich sehe mich in meiner anfänglich hier geäußerten These bestätigt: Musikalische Schönheit ist ein genuin sinnlich-klangliches Phänomen, dessen konstitutiver Kern aus tonaler Harmonie besteht. Die kann immer wieder einer Dekonstruktion ausgesetzt werden, und das ist ja die kompositorische Grund-Intention der Musik der Moderne in ihrer Suche nach musikalisch-künstlerischer Wahrheit. Aber Dekonstruktion darf nicht zu Destruktion und Annullierung werden. Dann ist es aus mit der musikalischen Schönheit. Was freilich nicht bedeutet, dass es auch mit der künstlerisch-musikalischen Wahrheit aus ist. Diese kann, wie ein anderes hier zitiertes Beispiel (Boulez, "Pli Selon Pli") zu zeigen vermochte, sehr wohl gegeben sein. Nur für "musikalische Schönheit" ist es nicht in Anspruch zu nehmen, - wie ich - sicher subjektiv - finde und wie es die Reaktionen hier darauf zumindest teilweise gezeigt haben.


    Hier, bei dem von Dir gebrachten Beispiel, kann man das in exemplarischer und höchst beeindruckenden Weise erleben. Im ersten Satz ein höchst subtiles und aus dem Fundus der Musik des neunzehnten Jahrhunderts schöpfendes Spiel mit dem klanglichen Potential von Quinten und Terzen. Danach, im zweiten Satz die Dekonstruktion mit primär punktuell sich artikulierender und die Tonalität negierender Klanglichkeit. Dies aber in Gestalt einer immer wieder partielll sich ereignenden Rückkehr zur Tonalität.
    Ja, das ist ein wirklich überzeugender Beleg für die These dieses Threads: Dass es das das gibt, - die "Schönheit der Avantgarde".

  • Und ich sehe mich in meiner anfänglich hier geäußerten These bestätigt: Musikalische Schönheit ist ein genuin sinnlich-klangliches Phänomen, dessen konstitutiver Kern aus tonaler Harmonie besteht. Die kann immer wieder einer Dekonstruktion ausgesetzt werden, und das ist ja die kompositorische Grund-Intention der Musik der Moderne in ihrer Suche nach musikalisch-künstlerischer Wahrheit. Aber Dekonstruktion darf nicht zu Destruktion und Annullierung werden. Dann ist es aus mit der musikalischen Schönheit. Was freilich nicht bedeutet, dass es auch mit der künstlerisch-musikalischen Wahrheit aus ist. Diese kann, wie ein anderes hier zitiertes Beispiel (Boulez, "Pli Selon Pli") zu zeigen vermochte, sehr wohl gegeben sein. Nur für "musikalische Schönheit" ist es nicht in Anspruch zu nehmen, - wie die Reaktionen hier darauf gezeigt haben.


    Lieber Helmut, ich glaube nun erst verstanden zu haben, was Du eigentlich schon in Deinem ersten Beitrag sagen wolltest. Du willst also zwei Begriffe musikalischer Schönheit unterscheiden? Die eine Schönheit (Schönheit I) auf klanglich-sinnlicher Grundlage ist für Dich nur in tonaler Harmonie gegeben, die andere Schönheit (Schönheit II), die dann auch in Atonalität erfahrbar wäre, soll hingegen bei musikalischen Wahrheit ansetzen (die noch zu definieren wäre)? Bei Deinem ersten Beitrag glaubte ich noch, es sei beide Male von derselben Schönheit die Rede, weil Du im zweiten Satz mit "sie" auf die Schönheit des ersten Satzes Bezug nimmst. Aber damit wären die Aussagen, wie ich erst jetzt merke, widersprüchlich:


    Musikalische Schönheit ist in ihrem Wesenskern ein eminent klanglich-sinnliches, auf tonaler Harmonie basierendes Phänomen, das als solches keineswegs, wie gerne leichtfertig behauptet wird, auf schlichter Konditionierung basiert. Sie – was durchaus zulässig ist - als in Atonalität erfahrbar definieren zu wollen ist nur zulässig, wenn man ihren Wesenskern nicht dort, also auf der Ebene klanglicher Sinnlichkeit, sondern auf der der musikalischen Wahrheit ansetzt.


    Dass ein Stück wie "Pli Selon Pli" nicht musikalisch schön in klanglich-sinnlicher Hinsicht sein könne (schön I), würde ich allerdings bestreiten. Die Reaktionen hierauf sind auch keineswegs so eindeutig, wie Du es darstellst, und können m.E. nicht als Beleg herangezogen werden. Denn zumindest Holger und ich und in Teilen auch lutgra (bis auf den Gesang) beurteilen dieses Stück durchaus als schön.


    Wenn ich Schönheit in Neuer Musik suche, finde ich sie hier:


    Danke für dieses Beispiel, das ich nicht kannte, mir aber heute Abend noch anhören werden.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Wie der barocke Gesang ist auch der bei Boulez hoch artifiziell. Das passt aber letztlich perfekt zu Stephane Mallarme, denn Mallarme gehört ja zur literarischen Dekadenz, welche - ausdrücklich gegen die "Natürlichkeit", welche sie geradezu verabscheut - die Künstlichkeit zum Ideal erhebt, ein "artifizielles Paradies" schaffen will. Wenn man natürlich als Hörer von der romantischen Tradition geprägt ist, dann sucht man im Gesang das Naturschöne und entsprechend wertet man dann dieses Kunstschöne als unschön.


    Das könnte wohl mein Problem sein. :D


  • Das könnte wohl mein Problem sein. :D


    Und es könnte ein Grund sein, warum mir sowohl der Gesang im Barock wie auch in der Moderne so gut gefällt. Zur Decadence und ihrem Ideal der Künstlichkeit habe ich schon immer eine starke Affinität gehabt, sei es in Literatur oder bildender Kunst.


    Dazu passt die Tatsache, dass nicht wenige Sänger/innen mit einem Schwerpunkt in der Moderne einen weiteren Schwerpunkt im Barock haben.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Zit.: "Die Reaktionen hierauf sind auch keineswegs so eindeutig, wie Du es darstellst, und können m.E. nicht als Beleg herangezogen werden."

    Da hast Du recht, lieber Bertarido. Und ich korrigiere mich eben gerade in meinem obigen Beitrag. Noch geht es"


    Einen Nachtrag habe ich noch zu machen, eine Stunde später, und an Dich, als Initiator dieses zweifellos hochinteressanten Threads, gerichtet:


    Ich darf mich hier eigentlich nicht beteiligen. Und das aus gleich zwei gewichtigen Gründen. Erstens kenne ich mich in der hier zur Diskussion stehenden Musik zu wenig aus, und zweitens habe ich mich ein Leben lang mit Fragen der philosophischen Ästhetik - und insbesondere dem Problem "Schönheit" - herumgeplagt. Eben habe ich gerade die kleine Schrift eines meiner Lehrer, des in der Kantianischen Tradition stehenden Philosophen Wilhelm Sturmfels ("Grundprobleme der Ästhetik") herausgekramt und einen Blick hineingeworfen. Sie ist über und über mit Anstreichungen und Anmerkungen von mir versehen. Ich habe sie also gelesen, im Jahre 1964. Hat nicht viel gebracht. Ich bin so klug als wie zuvor.


    Das war´s dann also hier für mich! Muss es sein!

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