Der vierte Satz dieses schon drei Sätze lang großartigen Klavierkonzerts ist dann so ziemlich die mitreißendste Toccata, die kenne. Angeblich Zwölftontechnik soll sein, was ich als temperamentvolle südamerikanische Folklore wahrnehme. Ich glaube es erst, als ich aus der Partitur die Reihenkombinationen herausanalysiert habe. Der Komponist: Alberto Ginastera. Für mich ist und bleibt der Argentinier eine einzigartige Erscheinung als jener Komponist, der die Sprache der Avantgarde seiner Zeit aus dem Bereich von Theorie und Experiment in den des sinnlichen Erlebens überführt.
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Über die Biografie ist wenig Außergewöhnliches zu berichten:
Alberto Evaristo Ginastera wird am 11. April 1916 in Buenos Aires geboren. Er studiert am Williams-Konservatorium in Buenos Aires. Nach dem Studienabschluß im Jahre 1938 leitet er das von ihm gegründete Konservatorium von La Plata.
Bis 1962 unterrichtet er an der Kunst- und Musikfakultät der Katholischen Universität von Buenos Aires, danach am Centro Latinoamericano de Altos Estudios Musicales (CLAEM).
1968 übersiedelt er in die USA, von dort 1971 in die Schweiz nach Genf.
Am 25. Juni 1983 stirbt Ginastera in Genf. Er wird dort auf dem Friedhof Cimetière des Rois begraben.
Nichts Auffälliges. Allenfalls vielleicht die Übersiedelung: Ginastera hatte lange versucht, sich mit den wechselnden Diktaturen seiner Heimat Argentinien zu arrangieren (was man ihm auch - milde, aber doch - vorwarf); mit General Juan Carlos Onganía klappte es einfach nicht mehr. Zusätzlich verbot Oberst Ariel Schettini, Bürgermeister von Buenos Aires, im Auftrag Onganías, die für 4. August 1967 angesetzte Uraufführung von Ginasteras Oper "Bomarzo" am Teatro Colòn: Das Werk sei unmoralisch, hieß es, anders gesagt: zuviel Sex and Crime. Die Oper wurde daraufhin in New York unter der Leitung von Julius Rudel uraufgeführt. In Buenos Aires war sie erst 1972 zu sehen.
Die "Bomarzo"-Affäre änderte allerdings nichts daran, daß Ginastera von Argentinien als der repräsentative nationale Komponist angesehen wurde.
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Diese Stellung hat viel mit seiner ersten Schaffensphase zu tun - und damit sind wir bei einer erstaunlichen stilistischen Entwicklung, die vom energetischen Folklorismus zu den Techniken der Avantgarde führt und die dennoch keinen Wandel der künstlerischen Persönlichkeit bedeutet.
Ginasteras Schaffen teilt man allgemein ein in die Phasen:
1) Objektiver Nationalismus (1934-1948)
2) Subjektiver Nationalismus (1948-1958)
3) Neo-Expressionismus (ab 1958)
Inwiefern diese Einteilungen sinnvoll sind? Ich bezweifle es, denn zB herrscht zwischen der Symphonischen Dichtung "Ollantay" (1947) und "Pampena Nr. 3" (1954) weder ein Unterschied in der geistigen Herangehensweise, noch einer im Material: In beiden Fällen gibt es eine Kombination aus folkloristischen Strukturen in Rhythmik, Melodiebildung und Harmonik und Zwölftonreihen. "Popol Vuh" wiederum, 1975 begonnen und unvollendet (aber als Fragment aufführbar) hinterlassen, entstammt der identischen geistige Sphäre wie "Ollantay", allenfalls ist das kompositionstechnische Vokabular des späteren Werks reichhaltiger.
Nützen wir, trotz der Bedenken, dennoch die Einteilung für die musikalische Charakteristik.
In allen Perioden ist Bela Bartók als Vorbild auszumachen, und wenn Ginastera über die von Bartók angewendeten Techniken hinausgeht und Zwölftontechnik, Clusterbildungen und Aleatorik hinzufügt, so bleibt letzten Endes doch die Musik ein elementares Erlebnis, gleichsam die klingende Umsetzung gestischer und tänzerischer Bewegung und sinnlicher Erfahrung.
In der ersten Periode nützt Ginastera die Verfahrensweisen des Neoklassizismus, den er mit Folklore kombiniert. Der "Gauchismo" von Balletten wie "Panambí" und "Estancia" sowie der "Argentinischen Tänze" für Klavier ist unwiderstehlich. Den dritten kann man hier in der Interpretation von Martha Argerich hören:
In der zweiten Periode lässt Ginastera Erfahrungen der Zwölftontechnik in einen durchwegs national getönten Stil einfließen, ohne daß die Schönberg'sche Methode bindend wird: bei Ginastera ist oft nur ein Parameter reihentechnisch organisiert: zwölftönige Melodie über quartendurchsetzter, freitonaler Harmonik oder umgekehrt, also freitonale Melodie über zwölftöniger Harmonik - terzen und Quarten bleiben dabei bestimmende Intervalle; es gibt Brechungen hin zum Neo-Expressionismus, die magischen Bereiche der Musik gewinnen an Raum. Aus dieser Periode wähle ich "Pampeana Nr. 3" als Beispiel, und zwar um zu zeigen, daß es allenfalls eine Erweiterung des technischen Vokabulars gibt, nicht jedoch einen im persönlichen Ausdruck.
Die dritte Periode empfinde ich persönlich am spannendsten: Ginastera hat nun das gesamte Vokabular vom Folklorismus bis zu Cluster und Aleatorik zur Verfügung und handhabt es mit größter Virtuosität - etwa im Ersten Klavierkonzert, dessen rasantes folkloristisches Toccatenfinale tatsächlich konsequente Zwölftontechnik ist. Zunehmend interessieren ihn die Mythen seiner Heimat und die Übertragung von Raum in Musik. Für die Mythen möge die "Cantata para Americá magicá" stehen, ein gewaltiges Werk für Sopran solo und Schlagzeuge, das, trotz der Besetzung, weder an den frühen Strawinski noch an Orff erinnert. Ginastera bewirkt das Wunder (hier wie in allen Werken dieser Schaffensphase), daß der Zuhörer nicht mehr nach der Technik fragt, sich nicht mehr darum kümmert, wie das Werk gemacht ist, sondern sich von dieser Musik einspinnen und gefangen nehmen lässt. Für das Erfassen des Raums wähle ich als Beispiel das Dritte Streichquartett (mit Sopran solo), eines von Ginasteras avanciertesten Werken, das jedoch, trotz der fortschrittlichen Kompositionstechniken, eine ganz elementare Suggistivkraft entfaltet. Alle drei Opern Ginasteras fallen in die dritte Schaffensphase. "Don Rodrigo" greift das Thema des "Cid" auf, einer der großen Tenöre startete seine Karriere mit diesem Werk, hier ein Ausschnitt:
"Bomarzo" liegt komplett in der Rudel.Aufführung auf CD vor. Für mich ist "Bomarzo" eine der besten Opern des 20. Jahrhunderts, eine unglaublich spannende Geschichte um Visionen und Magie, Sex und Mord an allen Ecken und Enden. Die Musik vertieft das Geschehen mit äußerster Suggestivkraft. Das Ergebnis ist ein Opernthriller, der einen nicht mehr losläßt, der süchtig macht.
"Beatrix Cenci" ist Ginasteras dritte und letzte Oper, abermals ein Historienthriller, ungeheuer dich und suggestiv. Wie brillant Ginastera es versteht, mit Stilen (oder besser: Ausdruckssphären) zu arbeiten, wird in diesem Beispiel deutlich:
Gesondert hinweisen will ich auf das Chorwerk "Turbae ad Passionem Gregorianam" (1975), das einen ungeheuren Sog entwickelt und seiner Klangekstase wenig seinesgleichen hat.
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Alberto Ginastera gehört zu jenen Komponisten, die aus dem Folklorismus kommend einen gleichsam internationalen Stil entwickelten, ohne ihre nationalen Wurzeln jemals abzuschneiden. Gerade das bindet ihn an Bartók viel stärker an, als an die nationalen südamerikanischen Komponisten. Vereinfacht gesagt: Ginastera ist kein Villa-Lobos auf Argentinisch, sondern eher ein Bartók auf Argentnisch - und es spricht für Ginastera, daß er mit Bartók die geistige Haltung teilt, nicht aber die musikalische Herangehensweise.
Daß dieser große Komponist bis zuletzt scheu und bescheiden blieb und ein völlig skandalfreies Leben führte (auch das gemahnt an Bartók), macht ihn auch menschlich sympathisch. Viel zu selten, aber ab und zu geschieht es eben doch, daß hinter einem großen Werk ein großer Charakter steht.