Chopin - beste Stücke

  • Einer meiner Lieblinge ist der Walzer op. 69, Nr. 2 in h-moll - aber man muß ihn langsam und gefühlvoll und dennoch stets im Fluß spielen. Die Interpretationen bei youtube sind mir meist zu schnell oder mit zu willkürlichen Temposprüngen, selbst Valentina Lisitsa nimmt den Walzer zu schnell und ist diesmal nicht meine Interpretation der Wahl.


    Ich habe ziemlich lange gesucht, und schließlich Dalia Lazar gefunden:



    Bei amazon ist von ihr nur ein mp3-Album zu finden, das werde ich hier nicht verlinken, zumal der Walzer auch nicht drauf ist - bei jpc gibt es gar nichts von ihr.
    Schade, scheint eine Pianistin mit Potential zu sein.

  • Ich habe ziemlich lange gesucht, und schließlich Dalia Lazar gefunden:

    ... finde ich ebenfalls schön und dieser, die Melancholie betonende Zugang gefällt mir auch sehr viel besser als der auf Brillanz getrimmte. An welchem großen Vorbild sie sich orientiert, ist aber auch klar :) :



    Schöne Grüße
    Holger

  • ein so zentrales Werk der Klavierliteratur wie die Chopin-Etüden hat es einfach verdient, dass man doch etwas seriöser damit umgeht. Der erste Schritt dazu wäre, dass man sich mit der Gattung "Klavieretüde" bis Chopin beschäftigt. Ein bekanntes Standardwerk sind die Czerny-Etüden. Die haben einen ausschließlich pädagogischen Zweck ohne künstlerische Ambition. Das sind Studien zum Training der Finger, um es mal salopp auszudrücken. Chopin hat nun neue Maßstäbe gesetzt, indem er an diesem klavierpädagogischen Aspekt einerseits festhält (was Liszt und Schumann in dieser systematischen Form dann gar nicht mehr tun), diesen "pädagogischen" Fingerübungen aber andererseits zugleich den Rang von Kunstwerken allerhöchster Güte verleiht. Das ist musikgeschichtlich einfach ein Novum!


    Hallo Holger,


    mir ist nicht so ganz klar, was Du unter "Beschäftigung" verstehst.


    Mich vor dem Hören von Chopin-Etuden mit Cerny-Etüden zu beschäftigen, könnnte heißen: hören, hören und darüber Literatur lesen, die Noten mitlesen, selber spielen.


    Ich bin aber der Meinung, daß das alles nicht nötig ist. Mag sein, daß ich die Chopin-Werke besser finde (oder verstehe), wenn ich mich erstmal durch die ggf. grottigen Cerny-Werke durchgewühlt habe. Aber das ist nicht mein Anspruch und auch nicht meine Vorgehensweise. Ich höre ein Stück und finde es gut oder nicht - der Kontext spielt keine große Rolle. Es steht für sich allein. Und ich beurteile es für sich allein.


    Bei manchen Stücken, die ich besonders gut finde, interessiert es mich, mehr zu erfahren, aber ich würde nicht auch nur ansatzweise auf die Idee kommen, bevor ich irgendwelche Musik höre, mich durch sämtliche relevanten oder auch nur scheinbar relevanten Vorläufer durchzuhören. Da käme ich zu nix. Zumal der infinite Regress droht: der Vorgänger hatte einen Vorgänger hatte einen Vorgänger...


    Wenn Du selbst so vorgehst, wundert es mich, wie Du überhaupt zu einer einzigen Bewertung kommst.


    Wenn ich also von leeren Larven spreche, dann deshalb, weil ich leere Larven gehört habe - und wie lustig sie Pianisten finden, kann ich nicht beurteilen, da ich keiner bin. Und warum sollte mich das überhaupt interessieren?


    Du schreibst, man müsse "seriöser" mit diesen Werken umgehen - das erkläre mir doch mal auf dem Hintergrund des gerade Gesagten.

  • mir ist nicht so ganz klar, was Du unter "Beschäftigung" verstehst.

    Hallo M-Müller,


    dann mache ich das mal klar am Beispiel von Bach WTK. :D Das C-Dur-Präludium kennt jedes Klavier spielende Kind - man kann das Stück ohne Mühe vom Blatt spielen. Im 19. Jhd. hat man auch daraus eine Schnulze gemacht - eine Singstimme unterlegt. So. Nun nehmen wir mal hypothetisch an, ich bin ein Hörer, der sich für die Musikgattung "Fuge" und ihre Geschichte rein gar nicht interessiert, sondern Musik einfach so hört, weil er sie schön findet. Die Schnulze, die man aus dem C-Dur-Präludium gemacht hat, habe ich im Ohr. Dann sage ich: Dieses Bach-Stückchen ist Trivialmusik, ganz nettes Ohrengeklingel, aber nichts von Bedeutung. 90% der Fugen sind mir zu gelehrt, das ist für mich reine Kopfmusik. Das sollen Universitätsprofessoren und Bachspezialisten hören, sage ich, musikalisch hat das für mich einfach nicht die Bedeutung von Beethovens "Appassionata". Das, der Beethoven, ist erhabene Musik, die das Herz berührt. Beethovens Klaviersonaten, fahre ich fort, sind vom Rang her 1000 Mal höher einzuschätzen als dieser vertrocknete Bach-Akademismus. Für wirklich "große" Musik von Bach, die mit Beethoven mithalten kann, erkläre ich dann maximal 10-12 % des WTK und mache einen Thread auf mit dem Titel "Bach - beste Stücke" mit dem Hintergedanken: Wirklich bedeutungsvoll von Bach sind nur 10-12% seiner Stücke, so dass man so einen Thread braucht, um die Spreu vom Weizen zu trennen, also festzustellen: Was lohnt es sich überhaupt von Bach zu hören und was nicht?


    So ganz fiktiv ist das bezeichnend nicht. Denn im 18. Jhd., im Zeitalter der Empfindsamkeit, erfuhr der Bach-Sohn C.Ph.E. Bach die allgemeine Hochschätzung, die Fugen seines Vaters dagegen hat man gar nicht geschätzt, man hielt diese Musik für zopfig und hoffnungslos veraltet. Kaum einer hatte Lust, sie überhaupt zu hören. Das WTK erfuhr also damals überhaupt nicht die Wertschätzung, die es heute genießt.



    Ich bin aber der Meinung, daß das alles nicht nötig ist. Mag sein, daß ich die Chopin-Werke besser finde (oder verstehe), wenn ich mich erstmal durch die ggf. grottigen Cerny-Werke durchgewühlt habe. Aber das ist nicht mein Anspruch und auch nicht meine Vorgehensweise. Ich höre ein Stück und finde es gut oder nicht - der Kontext spielt keine große Rolle. Es steht für sich allein. Und ich beurteile es für sich allein.

    Der Czerny ist natürlich überhaupt keine Musik zum Hören, sondern zum Üben! Auch hier muss man sagen, dass dies eine sehr "moderne" Einstellung ist. Strawinsky hat mal gesagt: Anders als der Hörer des 18. und 19. Jahrhunderts interessiert sich der des 20. Jhd. nur noch für das individuelle Musikstück, nicht die Gattungen. Das war aber zu Chopins Zeiten ganz anders. Man hat eben sehr wohl auf die Einhaltung von Gattungstraditionen geachtet. Wenn ein Stück "Etüde" oder "Mazurka" heißt, dann wollte man auch eine "Etüde" und "Mazurka" hören, hat es also daraufhin bewertet, wie kunstfertig der Komponist mit diesen Gattungsvorgaben umgeht. Das gehörte mit zum Musikgenuss. Liszt fragte bezeichnend seinen Freund Chopin in Bezug auf die Polonaise-Fantasie: "Wieso ist das noch eine Polonaise?"



    Wenn ich also von leeren Larven spreche, dann deshalb, weil ich leere Larven gehört habe - und wie lustig sie Pianisten finden, kann ich nicht beurteilen, da ich keiner bin. Und warum sollte mich das überhaupt interessieren?

    Glenn Gould hat auch behauptet, dass Mozarts Klavierkonzerte nicht mehr bedeuten als leer gedroschenes Stroh - was schlicht ein krasses Fehlurteil ist. Wie es zustande kommt, ist auch klar: Er misst Mozart am Fugengeist von Bach, und davon ist dann bei Mozart natürlich nichts zu finden. Er ist also nicht in der Lage oder weigert sich schlicht, den Eigenwert von Mozarts Musik, die nun mal so total anders ist als Bach, zu erkennen. Ich höre keine Larven bei Chopin und alle Chopin-Liebhaber auch nicht. Gerade die Sextenetüde ist ein schönes Beispiel. Im Rahmen einer klaviertechnischen Aufgabenstellung öffnet sich bei Chopin die Tür zur Moderne, wenn man nur als Hörer nicht rückwärtsgewandt, sondern vorwärtsgewandt hört. Entdeckt wird hier nämlich die ästhetische Bedeutungs eines Intervalls an sich, das als reiner Klangkörper wahrgenommen wird. So etwas gibt es dann bei Debussy, es gibt ein Debussy-Prelude mit dem etüdenhaften Titel "alternierende Terzen" und auch eine Sexten-Etüde, natürlich von Chopin inspiriert.



    Du schreibst, man müsse "seriöser" mit diesen Werken umgehen - das erkläre mir doch mal auf dem Hintergrund des gerade Gesagten.

    Das habe ich eben anzudeuten versucht. ;)


    Noch abschließend zu Chopin: Glenn Gould sagte, es gibt "pianistische" Klaviermusik und unpianistische. Er selbst hat sich für das "Pianistische" nie interessiert, was er auch offen sagt. "Der" Komponist, der wirklich "Klavier"-Musik geschrieben hat, ist nun mal Chopin. Nicht nur vom Klaviersatz her, der selbst in diesen schwierigsten Teilen immer gut in der Hand liegt (anders als Schubert z.B., der ist sperrig "unpianistisch"), sondern auch, was die Empfindung angeht: Das ist für das Klavier und seine Möglichkeiten erfundene Musik. Wer sich für das originär "Pianistische" nicht so interessiert, für den wird Chopin - oder Debussy etwa - auch nie einen besonders großen Stellenwert haben - nicht anders wie für Gould. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • ...Für wirklich "große" Musik von Bach, die mit Beethoven mithalten kann, erkläre ich dann maximal 10-12 % des WTK und mache einen Thread auf mit dem Titel "Bach - beste Stücke" mit dem Hintergedanken: Wirklich bedeutungsvoll von Bach sind nur 10-12% seiner Stücke, so dass man so einen Thread braucht, um die Spreu vom Weizen zu trennen, also festzustellen: Was lohnt es sich überhaupt von Bach zu hören und was nicht?


    In der Tat, das ist der Sinn solcher Threads. Wenn es nur "beste Stücke" gäbe, wären sie sinnlos. Und 10- 15% ist meine Schätzung FÜR MICH, jeder andere kann da gern einen anderen Prozentsatz anlegen.


    Und natürlich kann Dir auch die Sextenetüde gefallen, Du hörst ja keine Larve, ich schon - oder sagen wir, ich finde sie ein wenig "unstrukturiert". Wenn Gould Mozarts Klavierkonzerte nicht so prickelnd fand, wird er ebenfalls seine Gründe dafür gehabt haben - das als krasses Fehlurteil zu bezeichnen ist, nun, ein krasses Fehlurteil.


    Über den Terminus "rückwärtsgewandtes Hören" breiten wir mal den Schleier des Vergebens... Vermutlich kann man auch bei 12-Ton-Musik jede Menge revolutionäre Intervalle "entdecken", wenn einem nicht vorher die Ohren abfallen.


    Selbstverständlich hat Chopin andere Klaviermusik geschrieben als Bach, der kannte das moderne Piano ja nicht.


    Umso mehr sollten sich doch die Anhänger "pianistischer" Klaviermusik darüber freuen, daß es auch aus der anderen Fraktion Leute gibt, die das eine oder andere pianistische Stück zu würdigen wissen.

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  • Eines der Stücke aus dem Olymp ist das scheinbare einfache Präludium Nr. 4 e-moll. Es ist so zart und fragil, daß es hier entscheidend darauf ankommt, wie das Tempo im Vergleich zum Aushalten der Töne, der Betonung der rechten Hand im Vergleich zur eher arhytmischen, z.T. schleppenden Begleitung der Linken ausfällt, wie die Lautstärkeverteilung im Stück ist, etc.


    Richtig gespielt ist das Stück von einer wundervollen Melancholie, hat aber nichts Elegisches. Ein funkelnder Diamant, wie es nur ganz wenige gibt.


    Die beste Version, die ich im Internet gefunden habe, kommt von Pogorelich:


    , ab 3:44 min



  • Aufregend ist diese Cziffra-Improvisation mit der Etüde op. 10 Nr. 1 zum "Aufwärmen". Als jemand, der sich damit täglich über die Tasten gequält hat :D , fällt mir da einfach die Kinnlade runter:




    "I am finished." Me, too!! :hail: Unfassbar... Cziffra kenne ich namentlich, habe ihn sicherlich schon im Radio gehört, aber noch nie bewusst und noch nie gesehen. Ist bekannt, was für eine Studiosituation das war? Da kommt einer rein, Phänotyp zwischen Busfahrer und Schuhverkäufer, und dann haut der sowas raus. Zum Aufwärmen?! Lang, lang nicht so gestaunt... ;)

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Cziffra war ein Phänomen und hatte eine hochspannende (und teils tragische: Arbeitslager, Barpianist, tragischer Tod des Sohnes) Biographie. Es fehlen bei seinem Chopin zwar leider einige zentrale Werke (keine Préludes, keine Nocturnes, kein Mazurken, nur die 4. Ballade, auf der unten genannten Sammlung auch keine Scherzi, aber davon gibt es das 2. live auf Aura/Ermitage), aber die EMI-Aufnahmen sind nach wie vor günstig zu haben und lohnen auf jeden Fall:


    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • "I am finished." Me, too!! :hail: Unfassbar... Cziffra kenne ich namentlich, habe ihn sicherlich schon im Radio gehört, aber noch nie bewusst und noch nie gesehen. Ist bekannt, was für eine Studiosituation das war? Da kommt einer rein, Phänotyp zwischen Busfahrer und Schuhverkäufer, und dann haut der sowas raus. Zum Aufwärmen?! Lang, lang nicht so gestaunt... ;)

    Nein, leider nicht, lieber Accuphan! Der Witz mit Lang, lang ist wirklich gut! :D Schön ist auch diese Anekdote, die Tamas Vasary erzählt (erst über Gilels, dann über Cziffra):



    Die "Ungarischen Rhapsodien" von Liszt spielt er unvergleichlich! Er hat viele Nachahmer natürlich unter den jüngeren Pianisten, die ihn bewundern, aber keiner kommt letztlich an das "Original" heran. :hello:

    Cziffra war ein Phänomen und hatte eine hochspannende (und teils tragische: Arbeitslager, Barpianist, tragischer Tod des Sohnes) Biographie. Es fehlen bei seinem Chopin zwar leider einige zentrale Werke (keine Préludes, keine Nocturnes, kein Mazurken, nur die 4. Ballade, auf der unten genannten Sammlung auch keine Scherzi, aber davon gibt es das 2. live auf Aura/Ermitage), aber die EMI-Aufnahmen sind nach wie vor günstig zu haben und lohnen auf jeden Fall:

    Zum Glück, Johannes, habe ich noch diese inzwischen vergriffene Box mit sämtlichen Aufnahmen.



    Da sind auch die Etüden op. 10 und op. 25 drin, obwohl das eigentlich eine Philips-Aufnahme ist. (Ist die in dieser Einzelbox auch enthalten?) Sein Chopin ist überragend, gerade auch die Sonate Nr. 2. Wenn man diese Cziffra-Box besitzt, kann man ermessen, dass er nicht nur einer der größten Virtuosen aller Zeiten war, sondern auch ein wirklich großer Musiker und Interpret.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Richtig gespielt ist das Stück von einer wundervollen Melancholie, hat aber nichts Elegisches. Ein funkelnder Diamant, wie es nur ganz wenige gibt.


    Die beste Version, die ich im Internet gefunden habe, kommt von Pogorelich:

    Wie weit oder besser nicht weit man mit diesem Verfahren kommt, zeigt eine Analyse und ein Vergleich der verschiedenen Interpretationen, wenn man dabei nur den Notentext im Blick behält. Interpretatorisch ist diese scheinbar so einfache Stimmungsmusik durchaus heikel. Chopin notiert nämlich einerseits ein sehr langsames, getragenes Tempo "Largo" und schreibt dazu noch "espressivo" vor. Aber: Wirklich ungewöhnlich sind die großen Bögen: Der Bogen der rechten Hand erstreckt sich über 8 Takte, der in der linken über sage und schreibe 12 Takte. Chopin wollte also gerade das nicht, was die russische Pianisten-Schule mit ihrem Expressivo-Spiel betreibt, nämlich die große Phrase gleichsam zu "atomisieren" und in eine Reihe von Einzelphrasen zu zerlegen. Die Notierung ist eigentlich der Hinweis darauf, dass Chopin dieses "espressivo" nicht durch rhetorische Pointierung der Seufzermotive und exzessives Rubato-Spiel realisiert haben will, sondern durch subtile Abtönungen, klangfarbliche Schattierungen, welche die Kontinuität wahren. Das Stück hat zudem einen großformalen dramatischen Spannungsaufbau. Es beginnt im Piano, dann im Mittelteil schaukelt sich die Emotion hoch ("stretto...") bis zu einem Forte-Höhepunkt, um dann wieder ins ruhige Piano zurückzufallen (Ruhe-Bewegung (Aufregung) - Beruhigung). Maurizio Pollini kann man da nur bewundern, wie er diese Intention Chopins notentextreu und zugleich hochsensibel und hochpoetisch umsetzt. Eine wirklich "meisterliche" Interpretation, reif für die Lehrstunde in der Meisterklasse für angehende Pianisten. Ähnlich überragend Rafal Blechacz, der zwar ein bisschen mehr Rubato riskiert, aber ebenso souverän den großen Bogen wahrt und klangfarblich schattiert. Auch absolut meisterlich interpretiert.


    Nun kommen die "Expressionisten" Alfred Cortot und sein Schüler Vlado Perlemuter. Obwohl Cortot die Seufzermotive schon sehr rhetorisch nimmt, weiß er als ganz großer Chopin-Interpret um das Problem und wahrt die Linie durch die durchgehende Bewegung der Akkorde in der linken Hand. Die "Linke" fängt also die Atomisierungstendenzen der rechten Hand auf. Ähnliches kann man von Vlado Perlemuter sagen. Claudio Arrau tendiert ebenfalls in die expressive Richtung, aber auch er beachtet die Großbogigkeit.


    Zuletzt kommen wir zu den Russen. Von Emil Gilels existiert ein Mitschnitt aus Leningrad von 1953. Er spielt russisches "Expressivo" mit den dazugehörenden atomisierenden Tendenzen, aber die große Gilels-Qualität zeigt sich auch hier: sein überragender Formsinn. Obwohl das eine "Russifizierung" von Chopin darstellt, zerfällt die Musik eben nicht in hochexpressive Einzelgesten, zudem Gilels die großformale Dramaturgie (Ruhe-Aufregung-Beruhigung) wunderbar schlüssig darzustellen weiß. Sokolov nun geht einen Schritt weiter. Bei ihm wird das russische Expressivo nicht mehr klassisch gebändigt, sondern Chopins große Phrase wirklich "expressionistisch" zerlegt in lauter Einzelphrasen. Aber: Sokolov fängt diese Atomisierung wiederum auf, indem er die großformale Dramaturgie ungemein eindringlich unterstreicht durch eine Tempoverlangsamung bis Takt 12, eine Art "Ersterben" der Bewegung, um dann dem "stretto"-Teil mit der Steigerung des Piano zum Forte um so eindringlicher wirken zu lassen wie auch die anschließende Beruhigung. Durch diese "psychologische" Dramaturgie wird seine Interpretation schließlich schlüssig (und ungemein eindringlich). Obwohl sich diese Interpretation von den Intentionen Chopins eigentlich ein ganzes Stück entfernt, ist sie deshalb trotzdem faszinierend.


    Nun kommen wir zu Pogorelich. Ivo Pogorelich heiratete bekanntlich seine russische Lehrerin, so dass es nicht verwundert, dass er letztlich Chopin hier spielt wie ein Sprössling der russischen Klavierschule. Das ist auch ungemein sensibel gespielt und fein ausgehorcht. Nur: Pogorelich entfernt sich von Chopin in einer Weise, die über die anderen zuvor genannten Beispiele noch einmal hinausgeht. Nicht nur, dass bei ihm vom großen Bogen Chopins rein gar nichts mehr zu hören ist. Bei ihm fällt dieser Atomisierung letztlich auch die großformale Dramaturgie Ruhe-Aufregung (Bewegung)-Beruhigung zum Opfer, die schlicht unkenntlich wird. Es gibt keine dynamische Steigerung, keinen Spannungsaufbau mit dramatischem Höhepunkt! Dort, in Takt 17, wo Chopin Forte (!!!!) notiert, spielt Pogorelich bezeichnend Piano! Ihm hier das Prädikation "beste" Interpretation zu verleihen, ist also mehr als verwegen, denn er verkehrt die Intentionen Chopins, die der Notentext nun mal eindeutig zu erkennen gibt, schlicht ins Gegenteil. Alle anderen hier genannten großen Chopin-Interpreten hätten dieses Prädikat also mehr verdient. Wobei man sagen muss, auch Pogorelichs sehr "individueller" Umgang mit Chopin hat seine Qualität. Das ist hochsensibles Klavierspiel auf höchstem Niveau. Aber eben auch interpretatorisch sehr fragwürdig. Ein typischer Pogorelich eben. :D



    Schöne Grüße
    Holger

  • Formal wirst Du wohl völlig recht haben, wahrscheinlich interpretiert Blechacz den Notentext tatsächlich werkgetreuer als Pogorelich. Aufgrund fehlender Notenkenntnis kann ich da nicht mitreden.


    Ich habe mir den Blechacz nun mehrfach hintereinander angehört (ab 3:38 min) und stelle immer dasselbe fest: es kommt nicht halb die Stimmung auf, die sich bei Pogorelich einstellt, alles zu schnell, zu wenig phrasiert, zu runtergespult. Ich vermute mal, daß das, was Du "Atomisierung" nennst ("große Bögen" höre ich auch bei Blechacz nicht) einen gut Teil zur Atmosphäre des Stückes beiträgt.


    Preisfrage: was ist die bessere Interpretation? Die, die stärker am Notentext klebt oder diejenige, die einem besser gefällt?


    Ich meine auch eine gewisse Inkonsistenz Deiner Argumentation hier mit Deinen diversen Ausführungen bei den verschiedensten Regie-Theater-Threads feststellen zu können, wo Du ja einer extrem freien Auslegung der Anweisungen des Komponisten das Wort redest. Und hier pochst Du auf peinliche Werktreue?


    Ich weiß eh nicht, welche Interpreten nun alle wie sehr vom Notentext abweichen, wenn man sich aber anhört, wie unterschiedlich Interpretationen ausfallen, kann in der Pianistenwelt die Disziplin, sich genau an den Notentext zu halten, nicht allzu verbreitet sein. Man sollte vielleicht nicht was völlig anderes spielen, als da steht, insofern hast Du mit Deinem Forte-Argument einen Punkt, aber anscheinend gibt es im Lager der Interpreten eine hohe Bereitschaft zu umfangreicher Diversität.

  • Artur Rubinstein nahm die „Préludes“ für RCA 1946 auf. Einmal mehr muss man sagen: Ohne Rubinstein geht in Sachen Chopin einfach nichts. Er spielt wirklich den „großen Bogen“ so wie er bei Chopin notiert ist, ohne jede Drücker und Expressivo-Verzögerungen. Aber nicht nur das: Er macht den Sinn dieser Großbogigkeit deutlich, wie man ihn sonst nie erfasst, das dynamische An- und Abschwellen nämlich – eine große, sich in Stufen auf- und abschaukelnde Wellenbewegung. Das ist Rubinstein, wie man ihn kennt: kernig, völlig unsentimental. Zugleich wird bei ihm aber die Schwierigkeit sichtbar, bei dieser Formanlage das „espressivo“ auch wirklich auszuspielen, also nicht Expressivo auf Kosten der Großbogigkeit oder umgekehrt zu realisieren. Das zeigt die große Klasse von Pollini, der seinem Vorbild und väterlichen Freund Rubinstein einerseits folgt, andererseits aber durch die „impressionistischen“ Abtönungen des harmonischen Kolorits das Sentimentalische, die melancholischen Stimmungsschwankungen, nicht unterdrückt. Gerne hätte man von Rubinstein hier auch noch einmal eine spätere Aufnahme!


    Martha Argerich spielt flüssig und zugleich mit expressiven Schwankungen im Tempo. Auch ihr gelingt eine Synthese von Großbogigkeit und Expressivo auf sehr eigene Weise. Das ist nicht ganz so formklar wie Pollini, aber ihre Sinnlichkeit nimmt gefangen, zudem sie den dramatischen Höhepunkt wirklich ergreifend expressiv spielt. Das ist die Argerich von ihrer besten Seite, intuitiv treffsicher, hochemotional und zugleich feinsinnig. Nicht nur beeindruckend, sondern sehr beeindruckend, ihr Chopin! „Intime Briefe“ (nach Janacek) könnte man über diese Interpretation schreiben.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Was sein muß, muß sein - auch wenn es das wohl bekannteste Präludium ist, also eher durchgenudelt, zudem das einzige mit einem richtigen Namen, ist die "Regentropfenprelude" (Nr. 15) ein Stück aus der Spitzenklasse.


    Ich mag die Interpretation von Daniil Trifonov (Holger mag hinterher gern die umfangreichen Schwächen meiner Wahl erklären, ist es doch schon wieder russische Schule):


    , ab 18:25 min

  • Ich habe mir den Blechacz nun mehrfach hintereinander angehört (ab 3:38 min) und stelle immer dasselbe fest: es kommt nicht halb die Stimmung auf, die sich bei Pogorelich einstellt, alles zu schnell, zu wenig phrasiert, zu runtergespult. Ich vermute mal, daß das, was Du "Atomisierung" nennst ("große Bögen" höre ich auch bei Blechacz nicht) einen gut Teil zur Atmosphäre des Stückes beiträgt.

    Ich finde bei Blechacz rein gar nichts runtergespult. Du erwartest hier "Phrasierung" (von mir unterstrichen, s.o.!), aber Chopins Notierung zeigt, dass Chopin das Expressivo gerade nicht durch die Phrasierung, sondern das Mittel der harmonischen Schattierung realisiert haben will. Wenn Du diesen anderen Weg, das "Espressivo" eben nicht "rhetorisch" sondern klanglich zu realisieren, als solchen nicht nachvollziehen kannst durch Deine vorgeprägte Hörerwartung, dann liegt das ganz allein bei Dir, und nicht am Interpreten. Blechacz spielt nicht weniger hochexpressiv als Pogorelich, nur auf andere Weise. Da sind wir wieder beim Thema vorwärts- und rückwärtsgerichtetes Hören. Pollini und Blechacz spielen einen modernen Chopin, der auf Debussy vorausweist.



    Ich meine auch eine gewisse Inkonsistenz Deiner Argumentation hier mit Deinen diversen Ausführungen bei den verschiedensten Regie-Theater-Threads feststellen zu können, wo Du ja einer extrem freien Auslegung der Anweisungen des Komponisten das Wort redest. Und hier pochst Du auf peinliche Werktreue?

    Nein. Der Vortrag eines Klavierstücks ist kein Musiktheater, das sind zwei ganz verschiedene Welten.



    Ich weiß eh nicht, welche Interpreten nun alle wie sehr vom Notentext abweichen, wenn man sich aber anhört, wie unterschiedlich Interpretationen ausfallen, kann in der Pianistenwelt die Disziplin, sich genau an den Notentext zu halten, nicht allzu verbreitet sein. Man sollte vielleicht nicht was völlig anderes spielen, als da steht, insofern hast Du mit Deinem Forte-Argument einen Punkt, aber anscheinend gibt es im Lager der Interpreten eine hohe Bereitschaft zu umfangreicher Diversität.

    Da hast Du auch wieder nicht sorgfältig gelesen. Ich messe überhaupt nicht normativ diese Interpretationen an irgendeiner buchstäblichen "Werktreue", sondern ihre Qualität daran, wie es ihnen gelingt, das interpretatorische Problem, das der Notentext aufzeigt (was ich als "heikel" bezeichnet habe), nämlich eine Synthese von Expressivo und Großbogigkeit zu finden, zu lösen. Das realisieren sie durchaus auf verschiedene Weise und dies ist bei der einen oder anderen Spielweise mehr oder weniger schlüssig gelungen. Wäre ich so verfahren, wie Du mir unterstellst, hätte ich Cortot, Gilels oder Sokolov in die Pfanne gehauen. Und Pogorelich habe ich auch nicht die in Pfanne gehauen. Also bitte genau lesen, was ich geschrieben habe - mit der Ergänzung zu Rubinstein und Martha Argerich bitte.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Ach, Holger, ich finde die Diskussion ermüdend, zumal Musiktheorie meine Sache nicht ist.


    Ich habe Dein Vokabular nicht, verstehe es nicht und weiß nicht einmal, ob es denn überhaupt in der Musiktheorie anerkannte Begriffe sind, die Du hier verwendest (oder nur Obskures aus der Hermeneutik-Alchemie, gepaart mit Adorno-Geschwätz).


    Ich habe mal nach "harmonische Schattierung" gegooglet und kriege eine Wort-Erwähnung im Brahms-Handbuch auf Seite 396. Bei Wikipedia wird die Wortkombination unter "Komposition" eingeordnet, allerdings im Rahmen der Bildenden Kunst. Das scheint mir also nicht der Terminologie-Kracher zu sein.


    Und über diese harmonische Schattierung willst Du Dich ernsthaft mit MIR unterhalten? Oder willst Du hier nur eine Show abziehen für irgendein fiktives Publikum?


    Anstatt hier irgendwelchen Spiegelfechtereien nachzugehen, mache ich doch lieber das, was ich besser kann: Musik hören, beurteilen (nach meinen Kriterien), hier reinstellen und hoffen, daß meine Empfehlungen von dem einen oder anderen geteilt werden - was bei den Zugriffszahlen, die einige von mir gestartete Threads haben, ja nicht als ganz aussichtslos erscheint.


    Beste Grüße


    Michael

  • Und über diese harmonische Schattierung willst Du Dich ernsthaft mit MIR unterhalten? Oder willst Du hier nur eine Show abziehen für irgendein fiktives Publikum?

    Wenn Du gerne einen Hinweis auf die Musikwissenschaft haben willst: Der Weg zur Neuen Musik führt von der Entrhetorisierung (in der Romantik) zur Entsprachlichung. Und was "Entrhetorisierung" bedeutet, kann man z.B. in diesem Prelude op. 28 Nr. 4 sehen. Rubinstein, Blechacz und Pollini liegen auf dieser Linie. Es gibt auch musikwissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, dass sich in der Romantik die Harmonik von ihrer Funktion der Melodiebildung löst und zu einer eigenständigen expressiven Größe wird. Ich weiß also durchaus, wovon ich rede.


    Wie ich Interpretationsvergleich gestalte, kann man im Thread über Chopins Trauermarschsonate sehen. Ich habe inzwischen über 100 verschiedene Aufnahmen rezensiert, die in ihrem Interpretationsansatz unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf diesem Gebiet habe ich also einige Übung - auch mit Bezug auf Beethovens Klaviersonaten in Willis Threads, die ich ziemlich aktiv mitgestalte.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit.: "...mache ich doch lieber das, was ich besser kann".


    Und das ist gut so, lieber m-mueller!
    Lass Dich darin bloß nicht irritieren, von Deinem hier eingeschlagenen Weg abbringen und zu einem in die Sphäre substanzlos-leerer Abstraktion führenden Diskurs verleiten.
    Ich habe hier, in diesem Chopin-Thread, endlich wieder einmal zur schlichten, von keinerlei analytischer Gedanklichkeit getrübten Rezeption einer Musik zurückgefunden, die eine meiner frühen Lieben ist und lange der Vergessenheit - nein, der Vernachlässigung - anheim gefallen war.
    Und ich fühle mich sagenhaft wohl darin!

  • Meine begeisterte Zustimmung, lieber Helmut.


    Kann man denn bei dem ganzen analysieren, rezensieren, vergleichen, theoretisieren überhaupt noch Spaß an der Musik haben? Wer einen solchen Zugang wählt, der hat ihn vielleicht. Ich kann es nicht einschätzen, denn das ist nicht mein Weg. Ich will hören, und mich daran erfeuen. Manchmal halt auch nicht, aber dann ist das halt so, begründen muß ich das für mich nicht unbedingt. Ich bin jedenfalls mit meinem (in anderen Augen sicher sehr naiven und oberflächlichem) Musikgenuß zufrieden. Das heißt ja nicht, daß ich mir keine Gedanken mache, um das was ich höre, aber mich interessieren dann eher der Komponist und sein personelles und geschichtliches Umfeld, und nicht, ob es da jemanden gibt, der das ganze um 40 Sekunden schneller spielt. Aber wie gesagt, das ist mein persönlicher Zugang. Jedem Tierchen sein Plaisierchen. ;):)

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Ich muss konstatieren, dass ich offenbar im falschen Thread bin. Denn offenbar herrscht hier derselbe betont antiintellektuelle Zugang wie bei den Diskussionen über RT. Deshalb bin ich raus aus dem Thread.


    Nachvollziehen kann ich das alles nicht. Ich habe nichts dagegen, wenn es darum geht, seine Lieblingsstücke zu benennen und auch Lieblingsinterpretationen. Nur wenn damit Werturteile verbunden werden nach dem Motto "was mir nicht gefällt, hat auch keine Bedeutung, ist nichts wert", dann finde ich das problematisch. Mir geht es auch so, dass mir manche Kompositionen eines Komponisten besonders "nah" sind und andere weniger. Ich käme aber nicht auf die Idee, nur weil ich ein "intimeres" Verhältnis zu Beethovens Klaviersonate op. 7 habe als zu den Diabelli-Variationen, letztere für weniger wertvoll zu erachten. Meine persönlichen Vorlieben müssen sich nicht mit der musikgeschichtlichen Bedeutung, dem "Rang" einer Komposition, decken. Das finde ich ist der grundlegende Konstruktionsfehler des Threads, dass hier Kompositionen in ihrer "Bedeutung" ziemlich fragwürdig geschmäcklerisch goutiert werden.


    Und nun zu der "substanzlos leeren Abstraktion", die man mir unterstellt. Mit Chopins Preludes machte ich wie so viele andere Klavierschüler auch Bekanntschaft im Klavierunterricht. Man lernt bereits mit 12 oder 14 Jahren, auf die vom Komponisten notierten Bögen zu achten. Da fragt dann der Lehrer im Falle von op. 28 Nr. 4: "Warum hat Chopin hier einen Bogen notiert, der über 12 Takte geht?" Das können 12 oder 14jährige Schüler durchaus nachvollziehen, ohne in intellektuelle Schwierigkeiten zu geraten. Und wer als Spieler solche Erfahrungen mitbringt (ich selbst habe das Stück natürlich im Unterricht gespielt und kenne das Problem von daher sehr gut), der hört auch eine solche Musik und die Interpretationen selbstverständlich anders - nämlich nicht mehr "naiv". Warum ein Hören, dass von einer solchen Erfahrung des Selberspielens und -interpretierens geprägt ist, einen Verzicht auf Musikgenuss bedeuten oder umgekehrt nur das naive und unbedarfte Hören Hörgenuss für sich gepachtet haben soll, erschließt sich mir nicht. Ich halte solche Behauptungen für stark Ressentiment verdächtig, um es offen zu sagen.


    Im Internet findet man zur "Analyse" von op. 28 Nr. 4 z.B. das hier:


    http://www.chopin-musik.com/chopin_prelude28_4_analyse.php


    Daraus zitiere ich die folgende Passage:


    Die feierliche Wiederholung des Themas mag Peter Cornelius zu seinem Lied "Ein Ton" angeregt haben. Chopin breitet hier eine melodische Einheit in eigenartigster Schwermut aus. Das Ganze erscheint wie ein Gemälde von Rembrandt. Des Rembrandt, der zuerst den Schatten dramatisierte, aus dem ein einziges Motiv wuchtig hervortritt. Auch hier erscheint das düstere Echo des Lichtes im Hintergrunde eines holländischen Interieurs. Zu seinem Hintergrund wählte Chopin die eigene Seele. Kein Künstler, außer Bach und Rembrandt, konnte so malen, wie Chopin es in diesem Werk getan hat.

    Rembrandts Bilder zeichnet ihre Lichtdramaturgie aus, das Malen mit Tonwerten und Nuancen. Genau das kann schon eine relativ oberflächliche Analyse des Stücks herausbringen und so auch den großen Bogen verständlich machen. Das Stück beruht einerseits auf einem Ostinato-Effekt, das Seufzer-Motiv C-H wird ständig wiederholt, dazu kommen die liegenden Akkorde in der linken Hand. Chopin tönt aber nun sehr subtil ab, es gibt eine kaum merkliche Stimmungseintrübung über eine lange Strecke durch die chromatisch abfallende Stimmführung. Mal fällt der Basston um einen halben Tonschritt ab und die oberen Töne bleiben liegen, mal ist es es der obere Ton des Akkords. Dadurch wird der Eindruck eines kaum merklichen, kontinuierlichen In-die-Tiefe-Gleitens erzeugt. Von daher klärt sich nun auch der große Bogen auf: Diese sozusagen "mikroskopische" Veränderung und Eintrübung kann man nur wahrnehmen, wenn man den großen Bogen eben nicht in lauter Einzelbögen zerfallen läßt, wie es das Expressivo-Spiel tut, das aus diesem Prelude eine Aneinanderreihung von Seufzern und Drückern macht. Dann nämlich ist dieser "malerische" Effekt einer kontinuierlichen Eindunkelung mehr oder weniger weg.


    Jetzt kann jeder selbst beurteilen, ob eine solche Ausführung "substanzlos-leere Abstraktion" ist oder nicht vielmehr die Verweigerung, auch beim Hören zu "lernen", auf Dinge zu achten, die man vorher vielleicht nicht im Blick hatte. Das ist nämlich der Vorzug von Interpretationsvergleichen. Aber dafür ist hier in der Tat nicht der Ort. Hier soll offenbar - wie wir es in Bezug auf die "Regietheater"-Auseinandersetzungen kennen - weder diskutiert noch voneinander gelernt werden. Es geht um die ("nicht diskutierbare") Bekräftigung der eigenen Wahrheit oder dem, was man dafür hält.


    Vom Dirigenten Benjamin Zander gibt es eine vergnügliche Analayse des Stücks vor einem Publikum, da findet man so Einiges wieder, was ich ausgeführt hatte (also auch "substanzlos leere Abstraktion"):


    https://www.ted.com/talks/benj…on/transcript?language=de


    Ich wünsche weiterhin viel Spaß mit diesem Thread - ohne mich! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Vielen Dank, Helmut und Reinhard,


    manchmal ist es doch gut zu wissen, daß man hier nicht ganz allein ist, insbesondere mit der an sich für den "Musikdepp des Forums" prädestinierten Position der "No-Theory"-Attitüde.


    Daß gerade ein solch profilierter Vertreter der Theorie wie Helmut die Position (auch) unterstützt, macht es besonders erfreulich.


    Ihr dürft Euch natürlich auch mit eigenen Beiträgen beteiligen...

  • Das gewaltigste Präludium ist meiner Meinung nach das Präludium Nr. 20 c-moll, das einen ganzen Gefühlskosmos darstellt, einen solch wunderbaren Reigen verschiedenster Dispositionen, daß kaum je in gerade 2 Minuten mehr an Empfindung hineingepackt wurde, als in diese.


    Wie üblich, war es schwierig, eine geeignete Interpretation zu finden, die meisten sind wieder zu schnell, zu eitel, zu flach. Sokolov macht es richtig.


  • Hallo Holger,


    Deine ganz offensichtliche Masche, jemanden, der nicht Deiner Meinung ist, mit irgendwelchen immer engmaschigeren Begriffsungetüm-Diskussionen, die möglicherweise Du noch so gerade versteht, aber keiner sonst, zu verwirren, und damit von einem einigermaßen "linearen" Thread abzuleiten und in Tiefsumpf-Gebiete zu führen, ist doch inzwischen forumsbekannt.


    Auf diese Masche nicht einzugehen, also die Organisation reiner und purer Selbstverteidigung, als "antiintellektuell" zu bezeichnen, ist einigermaßen aufgeblasen und andererseits auch erkenntnisreich.


    Ich schätze Dein ungeheures Detailwissen.


    Was ich nicht schätze, ist die bei praktisch allen Alt-Grün-Linken vorhandenen Hybris, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein. Und diese trägst Du hier so penetrant demonstrativ vor Dir her, daß man sich entweder unterwirft oder Dich bekämpft. Unterwerfung war in diesem Thread jetzt nicht die Option....

  • Ich muss konstatieren, dass ich offenbar im falschen Thread bin.

    Könnte sein, ist aber nicht schlimm. Irren ist menschlich.



    betont antiintellektuelle Zugang

    die Übersetzung wäre für mich "ausgesprochen dumm". Meinst Du das so?



    Ich habe nichts dagegen, wenn es darum geht, seine Lieblingsstücke zu benennen und auch Lieblingsinterpretationen.

    Danke.



    Nur wenn damit Werturteile verbunden werden nach dem Motto "was mir nicht gefällt, hat auch keine Bedeutung, ist nichts wert", dann finde ich das problematisch.

    So wie ich das sehe, ist alles deutlich als eigene Meinung apostrophiert, keiner will jemanden etwas vorschreiben.



    Das finde ich ist der grundlegende Konstruktionsfehler des Threads, dass hier Kompositionen in ihrer "Bedeutung" ziemlich fragwürdig geschmäcklerisch goutiert werden.

    Wenn m-mueller den Thread z.B. "Die für mich besten Chopin Stücke" genannt hätte, wäre seine Auswahl dann auch "ziemlich fragwürdig geschmäcklerisch goutiert"?



    Warum ein Hören, dass von einer solchen Erfahrung des Selberspielens und -interpretierens geprägt ist, einen Verzicht auf Musikgenuss bedeuten oder umgekehrt nur das naive und unbedarfte Hören Hörgenuss für sich gepachtet haben soll, erschließt sich mir nicht. Ich halte solche Behauptungen für stark Ressentiment verdächtig, um es offen zu sagen.

    Nicht jeder hat dieses Privileg, und ich dachte, ich hätte mich auch verständlich ausgedrückt, daß es halt verschiedene Wege gibt, Freude an der Musik zu haben. Warum findest Du andere Wege als schlechter?

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Was ich nicht schätze, ist die bei praktisch allen Alt-Grün-Linken vorhandenen Hybris, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein. Und diese trägst Du hier so penetrant demonstrativ vor Dir her, daß man sich entweder unterwirft oder Dich bekämpft. Unterwerfung war in diesem Thread jetzt nicht die Option....

    Das ist einfach totaler Quatsch und zeugt nur von Deinen Voreingenommenheiten meiner Person gegenüber. Ich diskutiere sehr rege z.B. in den Beethoven-Threads und keiner dort, der mit mir diskutiert (mit denen ich übrigens auch noch privat über E-Mail Kontakt habe) beschwert sich darüber, dass er sich meiner Meinung "unterwerfen" müsste. Mit meinem Lehrer (der Konzertpianist ist) diskutiere ich auch und wir sind durchaus oft ganz unterschiedlicher Ansicht. Nur jeder von uns hat nachvollziehbare Argumente. Darauf kommt es an - auf die Qualität der Argumente oder ob man Argumente hat oder keine Argumente hat. Im letzten Fall muss man auch Kritik vertragen können, wenn man argumentativ nichts mehr zu sagen hat, sich aber trotzdem groß aufpustet. Und was mich einfach stört ist die fehlende Zurückhaltung mit Werturteilen aufgrund von fehlender Selbsteinschätzung seiner Kompetenz. Man kann z.B. auch einfach sagen, warum einem etwas gefällt oder nicht gefällt, erschließt oder nicht erschließt, ohne gleich mit einer Wertung zu kommen: "Das was ich nicht verstehe oder mir nicht gefällt ist schlecht oder nichts wert."



    Wenn m-mueller den Thread z.B. "Die für mich besten Chopin Stücke" genannt hätte, wäre seine Auswahl dann auch "ziemlich fragwürdig geschmäcklerisch goutiert"?

    Nein. Das alles stört mich nicht. Nur er selbst hat den Stein ins Rollen gebracht, indem er behauptete, nur 10-12 % von Chopins Stücken wären überhaupt von Qualität. Da sollte der Threadstarter eigentlich wissen, dass sich dann die Zahl der Mitdiskutierenden reduziert. Oder aber man wird dann aufgrund von Kompetenz eines Besseren belehrt. Das muss man dann aushalten.



    Nicht jeder hat dieses Privileg, und ich dachte, ich hätte mich auch verständlich ausgedrückt, daß es halt verschiedene Wege gibt, Freude an der Musik zu haben. Warum findest Du andere Wege als schlechter?

    Ich finde gar keinen Weg besser oder schlechter, weil jeder Musik so hören soll, wie er kann. Alles Andere wäre eine Überforderung. Ein Forum ist doch keine Erziehungsanstalt! Nur sollte man dann auch so viel Souveränität haben, sich von Fachkundigen auch mal über bestimmte Dinge aufklären zu lassen und das als Chance und Gewinn zu nehmen für einen selbst, statt sich abzuschotten. Ich höre ja auch den Musikwissenschaftlern gerne zu, lese ihre Publikationen und lerne immer wieder von ihnen, gerade weil ich das Fach nicht studiert habe.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • well, well


    it seems: lesson not learned (not, that I´d be amazed)


    Anyway:


    Bon voyage


    (final statement, matter closed)

  • Ich höre ein Stück und finde es gut oder nicht - der Kontext spielt keine große Rolle.

    Du meinst, er spielt für Dich keine große Rolle. Das ist doch völlig in Ordnung, wenn es für Dich so ist. Niemand hat etwas dagegen.



    Es steht für sich allein.

    Wenn man dem Komponisten unterstellt, dass er nicht bei Null angefangen hat, sondern zumindest rudimentäre Kenntnisse davon hat, was in der Musik vor ihm, passiert ist, dann steht das Werk natürlich nicht mehr allein, sondern in einer Tradition – selbst dann, wenn der Komponist diese bewusst ablehnen oder unterbrechen wollte. Und selbst wenn der Komponist wider jegliche Wahrscheinlichkeit wirklich nichts von der Tradition wissen sollte, so wäre er doch – wenn er nicht völlig außerhalb der Welt leben würde – in irgendeiner Weise Teil seiner Umgebung und auch schon allein dadurch kann man doch nicht mehr ernsthaft behaupten wollen, das Stück stehe für sich allein.



    Und ich beurteile es für sich allein.

    Das wiederum ist Dir unbenommen. Was bleibt einem auch anderes übrig, wenn man weder die zeitlichen noch fachlichen Voraussetzungen hat, um da so einzusteigen wie etwa Holger das kann. Aber ich käme nie und nimmer auf die Idee zu meinen, ich könnte dann mit meinem naturgemäß eingeschränkteren Verständnis eines Werkes wirklich auf Augenhöhe diskutieren. Nein, da muss ich Holger schon Recht geben, wenn er schreibt:

    Zitat

    Man kann z.B. auch einfach sagen, warum einem etwas gefällt oder nicht gefällt, erschließt oder nicht erschließt, ohne gleich mit einer Wertung zu kommen: "Das was ich nicht verstehe oder mir nicht gefällt ist schlecht oder nichts wert."

  • Kann man denn bei dem ganzen analysieren, rezensieren, vergleichen, theoretisieren überhaupt noch Spaß an der Musik haben?


    Kannst Du das wirklich ernst gemeint haben? Ich gehe davon aus, dass ein Musiker sich ein Werk nicht nur spieltechnisch erarbeitet, sondern vor allem auch indem er es analysiert, indem er die Ergebnisse von anderen Kollegen anhört, indem er sich überlegt, wie er eine bestimmte Stelle spielt und welche Bedeutung diese Stelle im Zusammenhang des Werkes oder der Werktradition hat. Ich habe aber den Eindruck, dass solche Musiker trotzdem »Spaß an der Musik« haben, ja dass dieses »Analysieren, Rezensieren, Vergleichen,Theoretisieren« den Spaß vermutlich sogar noch vertieft. Dass mir das verschlossen bleibt, damit muss ich leben.

  • Vielleicht solltest Du den Satz nach dem zitierten auch noch einbeziehen?
    Außerdem ging es hier ausdrücklich nicht um Musiker, sondern um Konsumenten von Musik. Daß das für Musiker nicht so gilt, ist mir schon klar.
    Aber laßt uns lieber wieder zum Thema zurückkommen.

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
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  • Sagen wir mal so. Wer mit einer so steilen Kombination wie "beste Stücke" und einem gönnerischen "nur 10-12% sind wirklich gut" einsteigt, der kann kaum damit rechnen, dass es nicht Kontra gibt. Und das kann m-mueller normalerweise auch vertragen.
    Man kann sich dann aber nicht zurückziehen und sagen "alles nur persönliche Vorlieben". Das mag ja so sein, diese defensive Haltung passt aber eben gerade nicht zu dem vorhergehenden Selbstbewusstsein der "10% besten Stücke".
    Es ist eben, anders als bei z.B. Haydn oder Liszt, im Falle Chopins nun mal so, dass fast alle seiner Werke feste Repertoirestücke sind, die seit etwa 150 Jahren von nahezu allen Pianisten rauf und runter gespielt werden. D.h. nicht irgendwelche "musikwissenschaftlichen Eierköppe" haben das am Schreibtisch entschieden, sondern die Praxis des Musikbetriebs. Insofern ist "nur 10-12% wirklich gut" in diesem Fall entweder naiv oder provokant oder beides und wird entsprechende Entgegnungen hervorrufen, s.o.
    Das hat auch mit (anti-)intellektuell erst mal nichts zu tun, sondern mit einem offenen Umgang sowohl mit Musik als auch mit den Zugangsmöglichkeiten zur Musik.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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