In einem anderen Thread hat unser geschätzter dr. pingel, ein aufgewiesener Kenner der Materie, den folgenden Satz hinterlassen: "Eines aber habe ich nie verstanden, warum er als d e r Bachinterpret in Deutschland überhaupt galt." Die Rede ist von Karl Richter. Ja, warum eigentlich? Die Frage interessiert mich sehr. Karl Richter ist tief in der Leipziger Bachtradition verwurzelt. 1926 in Plauen geboren, wurde er zunächst Mitglied im Dresdener Kreuzchor (das Bild oben entstammt dieser Zeit). Nach seinem Ausscheiden ging er nach Leipzig, wo ihn der ehemalige Thomaskantor Karl Straube, der dieses Amt von 1918 bis 1939 ausübte, als seinen letzten Schüler annahm, weil er vom großen Talent des jungen Mannes überzeugt gewesen ist. Straube, gleichzeitig ein bedeutender Organist, war noch mit Max Reger befreundet, hob etliche von dessen Orgelkompositionen aus der Taufe und hatte auch seinen Nachfolger als Thomaskantor, Günther Ramin, ausgebildet. Straube ließ sich als erster Dirigent darauf ein, die Übertragung sämtlicher Kantaten von Bach im damaligen Reichsrundfunk zu leiten. Das auf vier Jahre angelegte Projekt - eines der interessantesten Kapitel deutscher Rundfunkgeschichte - zog sich wegen verschiedener Schwierigkeiten hin und blieb unvollendet, weil die Nationalsozialisten schließlich dagegen waren. Dennoch trugen diese Sendungen, die bis nach Übersee reichten, dazu bei, den Thomanerchor und damit die Leipziger Bachpflege als sehr prägend und beispielgebend in alle Welt zu vermitteln.
Nach seinen vom Kriegseinsatz unterbrochenen Studien wurde Karl Richter selbst Thomasorganist, ein Amt, das in seiner Zeit wichtiger und prominenter gewesen sein dürfte als heute. 1951 verließ Richter die DDR und kam nach einem Zwischenaufenthalt in der Schweiz nach München, wo ihm die Leitung des damals sehr renommierten Heinrich-Schütz-Kreises angetragen wurde, aus dem er den Bach-Chor formte. Später gründete er auch das Münchner Bach-Orchester. Damit hatte er - unterstützt von geeigneten Mitgliedern der Münchner Oper - Ensemble zur Verfügung, mit dem er seine Vorstellungen der Bach-Interpretationen erarbeiten konnten. Der Erfolg gab ihm Recht. Der deutsch-deutsche Bonus erwies sich als zusätzlicher Reiz. Richter entfaltete in München und weit darüber hinaus eine rege Konzerttätigkeit, die ihn mit den Jahren auch in zahlreiche Länder führte. Bach kam aus der Kirche heraus. Faktisch war er ständig unterwegs und mied auch nicht die Länder des Ostblocks, darunter die Sowjetunion. Regelmäßige Gastspiele in den USA waren auch große Themen in den Medien, zumal sich Präsident John F. Kennedy als einer seiner glühenden Verehrer geoutet hatte. So etwas kam damals ganz groß an im Westen Deutschlands und war dem wachsenden Ruhm des Dirigenten gewiss nicht abträglich.
Die Plattenindustrie versicherte sich von Anfang an seiner Mitarbeit. Die ersten Aufnahmen wurden noch mit dem Schütz-Kreis gemacht. Richter hat beispielsweise die erlesene Reihe Archiv Produktion der Deutschen Grammophon, die 1949 ins Leben gerufen wurde, geprägt. Absicht war es, Werke der so genannten Alten Musik nach dem jeweiligen Stand der Forschung für die Schallplatte zu konservieren. Die Ausgaben waren in den ersten Jahren sehr luxuriös und nicht eben preiswert, die Cover in Leinen gebunden, die musikwissenschaftlich geprägten Booklet mit Faden heftet. Bis zu seinem frühen Herztod hat Richter eine Aufnahme nach der anderen eingespielt, darunter auch jenes "Weihnachtsoratorium" mit Gundula Janowitz, Christa Ludwig, Fritz Wunderlich und Franz Crass, das weit verbreitet war und nicht zuletzt durch Wunderlichs Mitwirkung legendären Status erhielt. Generationen waren ehrlichen Herzens davon überzugt, dass Bach so klingen müsse. Auch das Fernsehen entdeckte Richter für sich. Die großen Chorwerke Bachs sowie seine bekanntesten Orchester- und Orgelwerke liegen in sehr bunten filmischen Versionen vor. Musikfreunde in aller Welt haben Bach zuerst durch den umtriebigen und omnipräsenten Richter kennengelernt. Das führte auch zu Verzerrungen, die bis heute nachwirken.
Mit diesen Fakten will ich eine Antwort auf die Frage versuchen, warum Richter als d e r Bachinterpret galt. Was meinen die Mitstreiter im Forum dazu?