Franz Schubert, Klaviersonate Nr. 21 B-dur D.960
Swjatoslaw Richter, Klavier
Klavier: Steinway
AD: 9. 5. 1957, Moskau, live
Spielzeiten: 23:11 - 9:19 - 3:27 - 7:01 --- 42:58 min;
Swjatoslaw Richter spielt das Thema langsam in sehr intimem, berührenden Ton, den ersten Akzent auf der Dreiviertel in Takt 5, wie ich finde, "genau richtig betonend, und schließt den 1. Teil des Hauptthemas (in Takt 8/9 auf der Eins) mit einem unglaublich leisen, aber gerade deswegen äußerst eindringlichen Basstriller ab. Den 2. Teil (Takt 9 auf der Vier bis 18 spielt er in der gleichen intim-eindringlichen Weise.
Wieder folgt der tief-leise Triller und dann der dritte Thementeil. Obwohl diese Aufnahme 63 Jahre alt ist, treten die Sechzehntel-Begleitfiguren im Bass so wunderbar klar hervor, und nicht gar so oft habe ich in den bisherigen 51 Rezensionen einen Pianisten, eine Pianistin gehört, die in diesem 3. Teil das Pianissimo konstant durchgehalten haben, und aus seinem sehr leisen Pianissimo entwickelt er von der Spannweite her eine gewaltige Steigerung, die absolut aber durchaus beim Forte endet.
Auch den 4. Teil nach der Steigerung spielt er wieder so, dass keine Frage offen bleibt. Hier endet er partiturgemäß auf einem kernigen Fortissimo.
Das Seitenthema spielt er langsam, was den traurigen Ausdruck noch intensiviert, ihm einen suchenden Charakter verleiht, wie ich finde. In dem Abschnitt ab Takt 59 spielt er auch die begleitenden Sechzehntelfiguren mit den Intervallwechseln sehr transparent, und in der Rückkehr zum B-dur (Takt 70/71) lässt auch er wunderbar "die Sonne aufgehen".
Der Abschnitt mit den Achteltriolen (Takt 79 bis 98) spielt er weiter in dem langsamen Tempo, was dem abgeklärten berührenden Charakter m. E. sehr gut tut.
Und die Schlussgruppe spielt er unglaublich. Hier wird er noch langsamer, als er vorher schon war, noch eindringlicher. Ich finde, hier kann man den Gedanken des Wanderers fast mit den Händen fassen, der am Ende einer Etappe wegen seiner schwindenden Kräfte immer langsamer wird.
Und seine Überleitung zur Wiederholung der Exposition endet mit spektakulär heftigen Fortissimoakkorden. Selbst den Trillertakt 124a bis 125a auf der Eins reduziert er erst im allerletzten Moment. Das habe ich so oder ähnlich kaum bisher gehört. Das ist grandios.
Dann wiederholt er diese singuläre Expositionsinterpretation und erzeugt dabei, wie schon zuvor, eine beinahe magische Atmosphäre. Wieder grummelt der erste Basstriller geheimnisvoll leise. Wieder erhebt sich der dynamische Bogen zwischen den Takten 14 und 15 auf der Eins kaum merklich, was bei Anderen manchmal mehr einem Crescendo ähnelt, und wieder entfalten sich die anderen Thementeile mit der gleichen natürlich Selbstverständlichkeit in größter Übereinstimmung mit der Partitur, dass man sich nur wundern mag.
Und wieder erschreckt fast sein Crescendo, beginnend am Ende des 4. Thementeils in Takt 46 auf der Vier, wie es in nur vier Akkorden zum veritablen Fortissimo fas explodiert. Hier sagt uns Schubert durch die Hände Richters, dass man sich niemals in diesem an sich so trostreichen Thema, dass man sich am Ende dieses umfangreichsten Oeuvres in einem so kurzen Leben niemals ganz sicher sein sollte, dass alles so trostreich bleiben sollte, bestärkt noch durch Richters durchaus insistierende Art und Weise, die begleitenden Achtel zu spielen und damit schon fast die Situation in der Durchführung vorweg zu nehmen.
Auch das Seitenthema spielt er wieder in dieser geradezu schmerzenden Schönheit und Erhabenheit.
Und auch die dynamisch höchst kontrastreiche Schlussgruppe begeistert mich ein weiteres Mal, auch in der Klarheit, dass überhaupt kein Zweifel an der donnernden Kraft des Fortissimos in Takt 105 bestehen kann. Faszinierend auch abermals, wie gleichmäßig und unmissverständlich er das ohnehin schon langsame musikalische Geschehen in dieser Schlussgruppe noch weiter verlangsamt.
Auch besteht beim ihm kein Vertun mit dem Spitzenton der Zweiunddreißigstelleiter in Takt 112.
Mit jedem weiteren Hören dieser Aufnahme verstehe ich um so mehr den Ausspruch Glenn Goulds, den der frühere Chefredakteur und Klassik-Rezensent bei AUDIO, als Booklet-Autor dieser Box zitierte:
Zitat von Glenn GouldEs ist eine sehr lange Sonate, eine der längsten überhaupt, und Richter spielte sie mit dem langsamten Tempo, das ich jemals hörte....Für die nächste Stunde war ich in einem Zustand, den ich nur mit hypnotisierter Trance vergleichen kann.
Wunderbar gestaltet er auch den Überleitungstakt 117b zur Durchführung. Diese spielt auch er zu Beginn wunderbar traurig, aber natürlich auch eine Tonstufe lauter (p), wodurch der Klang sogleich "diesseitiger" wird. Das Tempo gestaltet Richter in der Durchführung auch etwas schneller, vor allem in der ab Takt 131 folgenden, stimmungsmäßig etwas aufgehellten Achteltriolen-Sequenz, die bis Takt 148, mit zahlreichen dynamischen, von Richter sorgsam beachteten Bewegungen gekennzeichnet ist, bevor sie in Takt 149 in einem wiederum kraftvoll betonten Fortissimoauftakt endet, das er sogleich decrescendiert und die Stimmung durch insistierend einsetzende und dräuende Achtel wieder verfinstert.
Auch die nächste Sequenz mit den jetzt im Diskant und grell klingenden, von Takt zu Takt sich erst verdichtenden, dann erneut als einzelne Achtel crescendierende und sich wiederum verdichtende zunehmend dissonante Akkorde, begleitet von Achtelfiguren im Bass und im Diskant in Oktavwechsel im Forte übergehend und weiter crescendierend, diese immer stärker dräuende Zuspitzung spielt er einfach mitreißend und gewaltig, dann blitzschnell wechselnd ins p/pp, eine Klangferne erschaffend, in der die melodiefetzen im Diskant dann von wechselnde Quint- und Sext-Achtelakkorden kontrastiert werden und dann nach sechs Takten die Oktaven tauschen, wobei die Sexten teilweise zu Oktaven anwachsen, das spielt er gespannt zurückhaltend, in Takt 186, 192 und 198 den tiefen Basstriller hinzufügend, wobei sich der Wandel in Richters außergewöhnlich ausdrucksvollem Spiel schon im ersten Wiedereintritt des Hauptthemas in Takt 188 mit Auftakt schon stärker andeute als schon mal gehört.
Atemberaubend dann Richters Spiel des zweiten Themenauftritts in Takt 194 mit Auftakt im Piano Pianissimo. Das ist an Spannung kaum noch zu überbieten. Und in den Takten 198/199 crescendiert Richter nicht nur die Achtelakkorde im Diskant, sondern auch den darunter liegenden Triller. Das meine ich auch nicht oft gehört zu haben. Und dann die letzten hohen Bögen ab Takt 214- welche Spannung erzeugt er da in seinem langsamen Spiel- gigantisch!!
Dann die Reprise: Man meint auch hier noch mehr Balsam auf der Seele zu spüren als zu Beginn der Exposition. War da die andere, die endgültige Dimension schon zu erahnen, wo scheint sie hier schon fast zu greifen- wunderbar und ganz ohne negativen Anschlag jetzt auch der balsamisch tiefe Basstriller. Und im dritten Thementeil steht am Ende ein sich noch stärker steigerndes Crescendo als in der Exposition: hier ist es ein wirklich volles Forte. Auch das Decrescendo in Takt 264 ist bemerkenswert, gefolgt von einem ebensolchen Crescendo, endend in einem veritablen Fortissimo.
Das nun um eine Terz nach h-moll gesteigerte lyrische Seitenthema spielt Swjatoslaw Richter nun am Beginn geradezu ätherisch, ebenso wie der ebenfalls nach oben gewanderte Rückkehrbogen zum B-dur, hier ab Takt 289 und sogar im Gegensatz zur gleichen Stelle in der Exposition (ab Takt 70) über drei Takte oktaviert- wunderbar, ebenso wie die sich anschließende Achteltriolen-Sequenz, die ihren neuen Höhepunkt in den drei ebenfalls oktavierten Takten 308 bis 310 hat.
Und dann zieht noch einmal die von Richter atemberaubend (langsam) und unendlich ausdrucksvoll gespielte Schlussgruppe an unserem Ohr vorbei ebenso wie die beseligende Coda.
Dies ist meine 52. Rezension dieser Sonate, aber ich meine noch von keiner Interpretation des Kopfsatzes so gefesselt worden zu sein wie von derjenigen Swjatoslaw Richters am 9. Mai 1957- vor 63 Jahren und 5 Monaten.
Swjatoslaw Richter ist im Andante sostenuto etwa gleich schnell wie seine Landsfrau Olga Filatowa 45 Jahre später, die offenbar in den Binnensätzen zeitlich mit ihm übereinstimmt, aber in den Ecksätzen deutlich von ihm abweicht.
Er spielt den Beginn wieder ungeheuer leise, und es passiert offenbar auch einem so perfekten Spieler wie ihm mal ein Versehen, indem er den Achtel-Terzakkord in Takt 3 auf der Drei vor den beiden Sechzehntel-Terzakkorden, die zu der abwärts gerichteten Figur im Diskant verbunden sind, einfach vergisst. Ich habe die Stelle sicherheitshalber mehrmals gehört, es stimmt, wie man hier nachhören kann, etwa nach 0:13 min.
Die erste Steigerung (ab Takt 9) spielt er wieder sehr kraftvoll, die Durauflösung (Takt 14 bis 17) sehr anrührend, dabei den ersten Halbenakkord in Takt 14 im Diskant durchaus betonend, um dieser Stelle noch mehr Bedeutung zuzumessen. Die Themenwiederholung (Takt 18ff, wieder im traurigen cis-moll, spielt er erneut mit höchstem Ausdruck, dabei in dem ausgedehnten Decrescendo ab Takt 29 im Pianissimo, ab Takt 38 dann im Piano Pianissimo näher als viele andere an pppp heranreichend und an die untere Hörgrenze- grandios!
Das wunderbare Choralthema spielt er im Piano, das Instrument wunderbar zum Singen bringend und auch außer der inneren Beschleunigung den Grundpuls im Wesentlichen beibehaltend. Auch in der Wiederholung des Themas eine Oktav höher (ab Takt 51) bleibt er bei einer maßvollen Dynamiksteigerung (etwa mf) dieser temporalen Gestaltung treu, desgleichen bei er zweiten Wiederholung (Ab Takt 59), jetzt wieder in der Originaltonlage. In der Sequenz nach dem Auflösungszeichen (Takt 70 auf der Eins, wodurch der Ausdruck verdunkelt wird, steigert er in Richtung Forte, übertreibt aber nicht. Auch nach dem erneuten hohen Bogen (Takt 74/75) bleibt das Geschehen dynamisch maßvoll und mündet in die letzten 10 Takte des Seitenthemas mit dem äußerst berührenden Decrescendo/Ritardando , das Richter adäquat umsetzt und mit einem ausreichend langen Generalpausentakt 89 abschließt.
Die Wiederholung des traurigen Hauptthemas gestaltet er abermals sehr anrührend, tief in den musikalischen Kern vordringend, wie ich finde. Auch hier ist die erste Steigerung wieder deutlich, aber nicht überbordend, unmittelbar in den Decrescendotakt 102 mündend, der wiederum an di zweite Durauflösung (Takt 103 bis 106) anschließt, die Richter wieder so unglaublich natürlich ausdrückt.
Dann spielt er noch einmal die Steigerung (Takt 115 bis 117) in maßvoller Dynamik, bevor er ein erneutes ehr Piano Pianissimo spielt mit nochmals leicht abgesenkter zur Coda überleitender Sechzehntelfigur am Ende von Takt 122, die ich kaum je so leise, aber umso wirkungsvoller gehört habe.
Und die Coda ist vollends vom anderen Stern. Wie man so nahe an der Hörgrenze spielen kann, und wie dennoch jeder Ton so klar zu vernehmen ist, wäre mir ein Rätsel, wenn hier nicht Richter spielte- unglaublich!!
Im Scherzo gibt es wahrlich kein Halten mehr- welche Virtuosität, obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass Richter das überhaupt nicht will, hier als Virtuose hingestellt zu werden, aber es ist hier einfach ein unglaublicher Gegensatz, mehr noch zum Kopfsatz als zum Andante, so als ob er Schubert sagen lassen wollte: Hört her, ich kann es noch! Und Richter spielt das Alles trotz des mitreißenden Tempos bis zum Crescendo (ab Takt 70) im Pianissimo. Das habe ich auch schon ganz anders gehört. Richter spielt einfach, was da steht, und hier lässt er den Komponisten sagen: ich kann auch noch loslassen.
Und das Trio, das man oft fast grantig, manchmal wie vom Leibhaftigen persönlich getanzt, hört, hier klingt es ganz bezaubernd, richtig swingend.
Zum Schluss lässt Richter noch einmal das Scherzo "vivace con Delicatezza" vorbeisausen- wahrhaftig-welch eine grandiose Interpretation!!
Und im rondoartigen Allegro man non troppo geht es im gleichen Tempo weiter. Die G-Akkorde lässt er schneller abschwingen als Vladimir Feltsman und Olga Filatova vorher. Sie waren auch beileibe nicht so schnell im Finale wie er.
Das erste Crescendo (ab Takt 25) fällt noch moderat aus. Der Seitensatz zeigt Richters ganzes Können auch darin, wie genau im ersten Teil (Takt 86 bis 111) die synkopierenden Achtel im Bass die melodieführenden Viertel und die in der zweiten Stimme im Diskant unterlegten Sechzehntel rhythmisch kontrastieren. Das ist höchste Klavierkunst. Im zweiten Teil (Takt 112 bis 129) lässt Richter die Begleitfiguren als Legatoviertel in taktübergreifenden Bögen dann organisch mit fließen, bevor in Takt 130 bis 45 wieder Synkopen angesagt sind und in den letzten 8 Takten es wieder fließt.
Dann geht Richter im ersten durchführenden Abschnitt nach zwei verständlicherweise kurzen Generalpausentakten 154/155 aber dynamisch und temporal richtig zur Sache und treibt das Geschehen in einem furiosen Galopprhythmus voran.
Im zweiten, lyrischen Abschnitt (ab Takt 185) mit den begleitenden Achteltriolen wird der Galopp graziler und bei den Triolen muss man schon genau hinhören. Sie kommen aber mit schlafwandlerischer Sicherheit.
Dan der nächste Teil des Rondos (ab Takt 224), eingeleitet wieder mit dem G-Akkord, wie eine Reprise beginnend, dann aber mehr und mehr durchführende Züge annehmend mit sich ständig wandelnden Oktavfiguren in der Melodieführung und die Oktaven mit der Begleitung auch mal wechselnd, schließlich noch (ab Takt 265) Achteltriolen- in diesem Teil ist alles drin, und Richter spielt das souverän in gleichbleibend hohem Tempo, bis mit dem Decrescendo schon mitten in der Sechzehnteltonleitern-Sequenz (ab Takt 298) Ruhe einkehrt und schließlich in Takt 312 der wahren, wenn auch verkürzten Reprise Platz macht.
Diese, wie auch den schon in Takt 360 auftauchenden Seitensatz, spielt Richter mit der ihm eigenen Virtuosität, die er aber ganz in den Dienst der Sache stellt. Er sieht hier, ebenso wie schon im Scherzo, einen starken emotionalen Gegensatz zu den emotionalen Verwerfungen im Kopfsatz (Durchführung) und im Andante, und wie er das spielt, kann man ihm das abnehmen.
Und dann noch einmal die Durchführung mit den zwei Seiten: Richter spielt sie wieder mit hoher Intensität in der einen Hälfte und mit dynamisch ganz zurückgenommener graziler Leichtigkeit.
Und ein letztes Mal kommt der Thementeil, den Richter wiederum bis tief ins Pianissimo führt, bevor auch er ein rauschendes Presto spielt.
Mit seiner dezidiert anderen Sichtweise auf die Sätze 3 und 4, die er aber überzeugend unter Beweis gestellt hat in einem geradezu magischen Konzert, ist er für mich auch Referenz.
Liebe Grüße
Willi