Franz Schubert, Klaviersonate Nr. 21 B-dur D.960, CD (DVD)-Rezensionen und Vergleiche (2017)

  • Komplett gescheitert: Katia Buniatishvilis „Schubert“


    (Auszug des Teils über die Sonate D 960 aus meiner kompletten Rezension der CD - hier:)


    Aktive Pianisten unserer Tage - Khatia Buniatishvili



    Durch alle Töne tönet
    Im bunten Erdentraume
    Ein leiser Ton gezogen,
    Für den, der heimlich lauschet.

    (Friedrich Schlegel)


    Die oben zitierten Zeilen stammen aus Friedrich Schlegels Gedicht „Gebüsche“, das Franz Schubert auch vertont hat – Robert Schumann stellte sie als Motto seiner Fantasie op. 17 voran. Sie zeigen einmal, dass die Romantik die „Stimmungen“ entdeckte – d.h. durch die wechselnden Affekte zieht sich ein einheitlich gestimmter Grundton durch. Zum anderen wird so deutlich, dass Romantik eben nicht nur eindimensionale Gefühlsseligkeit ist. Die Romantik war es überhaupt, welche in der emotionalen Sphäre differenzierte – zwischen Affekten, Empfindungen, Gefühlen und Stimmungen einen Unterschied machte. Zu romantischer Musik hat also nur der Zugang, wer solche emotionale Komplexität durch eigenes Erleben und Nacherleben aufbringen kann. Zudem ist die Verbindung der Romantik zur Klassik besonders was die Gattung der Klaviersonate angeht sehr eng. Das zeigt sich gerade auch mit Blick auf das Verhältnis von „Stimmung“ und „Form“. Die Romantik hat – wie der klassische Sonatengeist – einen integralen Blick, welcher die Mannigfaltigkeit des Wechsels der Affekte als Einheit in der Mannigfaltigkeit erscheinen lässt. Für die formale Ebene der thematischen – dramatischen – Kontraste bedeutet dies, dass sie in ein dynamisches Kontinuum eingebettet werden – bei Schubert in einen melodischen Bewegungsfluss mit quasi unendlichen figurativen Beleuchtungen und Umbeleuchtungen.


    Wie beginnt nun Katia Buniatshvili den großen „Molto moderato“-Satz? Sie nimmt das „Ligato“ wortwörtlich, das Schubert für das Hauptthema fordert. Doch was kommt dabei heraus? Die thematische Gestalt wird bei ihr zu einer betörenden, sinnlich-weichlichen Erscheinung, zu einem Sofa aus Plüsch, auf dem sich der Hörer wohlig ausruhen kann. Die Musik, sie treibt so nicht weiter, sondern wird gleichsam festgebannt im Moment durch die Bannkraft der Sinnlichkeit. Indem der harte Kern und die rhythmische Bewegung des melodischen Themas in einem solchen Plüschsofa versinkt, wird das Hauptthema zur exklusiven Empfindung, was bedeutet: Es geht kein Bewegungsreiz mehr von ihm aus, der das Geschehen kontinuierlich weitertreiben könnte, wie dies etwa bei Krystian Zimerman geschieht, der die durchgehend tragende Rhythmik als Kern der Tragödie der späten Klaviersonaten Schuberts entdeckte. Aus einer solchen Verweichlichung eines „harten“ Sonatenthemas kann sich folglich auch nichts dramatisch Handfestes entwickeln und es entwickelt sich bei Buniatishvili auch nichts. Wie sich das Hauptthema zu Beginn als in sich ruhender exklusiver Moment konstituiert, aus dem einfach nichts folgt, so auch alle folgenden thematischen Gestalten: Katia Buniatishvili lässt die verschiedenen Charaktere auf der musikalischen Bühne erscheinen, die sich als isolierte Empfindungen nur lose aneinanderreihen, statt sich auseinander zu entwickeln. Jede Empfindung ist eine solipsistische Einzelheit, welche die Aufmerksamkeit exklusiv beansprucht, indem sie diese ausschließlich auf sich selber zieht ohne Rücksicht auf das Vorherige und Kommende. Was dieser letzten Schubert-Sonate damit gründlich ausgetrieben wird, ist der klassische Sonatengeist, dem zufolge thematische Charaktere als dramatische Komplementaritäten zu nehmen sind, als responsive, miteinander kommunizierende und d.h. antwortende Charaktere verstanden werden müssen. Und als ob das noch nicht genug wäre wird diese Auflösung des dramatischen Zusammenhangs durch die Betonung einer allein dem Moment verhafteten Empfindsamkeit auch noch durch willkürliche und unorganische Tempowechsel unterstützt, welche jegliche Entwicklungskontinuität zerstören. So wie Katia Buniatishvili ihn vorträgt gibt es keinen einheitlichen Lebensatem und Lebensrhythmus in diesem Satz, keine Zyklen der Belebung und Beruhigung. Die Eliminierung des Rhythmischen, sie vollzieht sich also sowohl in Bezug auf das Einzelne wie auch das Ganze.


    Schon in der Exposition des melodischen Hauptthemas wird deutlich: Buniatishvilis Schubert ist Romantik zum kuscheln – heimelig, gemütlich, zu Beginn mit einer düsteren und träge-melancholischen Empfindung, die später von Momenten vitalistischer Lebhaftigkeit immer wieder verdrängt werden kann. In dieser düsteren Empfindung und dem Wechsel von Licht und Dunkel verbirgt sich jedoch keinerlei Tragik oder tiefe Trauer. Weil eine solche tiefere Ausdrucksqualität letztlich fehlt, schlägt das Dauern des trägen Moments dann sehr bald in Langeweile um. Dieser Schubert-Satz, er lässt sich freilich als Ausdruck einer tiefen Langeweile deuten, die aus der Todesnähe resultiert, wo die Zeit als Zukunft verloren ist, sich nichts Neues mehr ereignen und die Dauer lang werden kann. Nur müsste die Interpretation dies auch als einen quälenden Schmerz fühlbar machen. Bei Katia Buniatishvili bleibt es jedoch bei einem Sensualismus von impressionistischen Gefühligkeiten, die keinen tieferen Hintergrund haben und so auch eher indifferent – seelen- und ausdruckslos – wirken.


    Der Eindruck des Kopfsatzes zusammengefasst: Katia Buniatishvilis Vortragsstil, er wirkt wie der eines undisziplinierten und unbeherrschten Naturkindes. Das zeigt sich nicht zuletzt in dem fehlenden Gefühl für die Einheit der Stimmung gerade auch in dynamischer Hinsicht: Die Forte-Schläge dürfen nicht einfach einschlagen wie der donnernde Blitz, sie müssen bei Schubert aus einem dynamischen Kontinuum heraus entwickelt werden. Bei Buniatishvili gibt es dagegen nur die äußersten Enden der dynamischen Skala – erst zarteste und zarte Töne, in die dann wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen brutalistisch hart in den Flügel geknallte Bässe dazwischen poltern – Verzärtelung und Grobianismus stehen nahezu unvermittelt nebeneinander. Überlegene musikalische Kultivierung und Geschmacksbildung bezeugt das nun gerade nicht.


    Der langsame Satz, er ist in der klassischen Sonatenform – bis hin zu Mahler –, zumeist der Ort der Verinnerlichung. Auf die weltliche Dramatik des Sonatenallegros folgt eine lyrische Intimität, mit der das Subjekt seine konflikreiche Erfahrung der Welt in seinem Innern verarbeitet. Diese Innerlichkeit ist also nicht einfach einförmig und eindimensional, vielmehr im Grunde der Spiegel derjenigen dramatischen Komplexität, welche sich im Kopfsatz ereignet hatte. Bezeichnend beachtet Katia Buniatishvili nur den ersten der beiden Aspekte. Innerlichkeit bedeutet für sie, dass „sostenuto“ des Andante sostenuto empfindsam auszukosten, d.h. Getragenheit als eine reine Empfindungsqualität zu realisieren. Dies geschieht durch eine „unendliche“ Verlangsamung des Zeitmaßes. Man muss ihr dabei zugute halten, die Andante-Bewegung nicht zum Verschwinden zu bringen. Die Zerdehnung des Zeitmaßes führt allerdings zu einer Atomisierung, welche den Wechsel der Töne und Stimmungen als Reflex äußerer dramatischer Konflikte im Inneren eliminiert. Die Monotonie sich wiederholender Momente wird so nicht mehr gebrochen durch verschiedene sie zu größeren Einheiten zusammenfassende Abschnitte mit kontrastierendem Charakter. Deshalb wird ein solcher interpretatorischer Ansatz letztlich eindimensional in dem Verlust integrativer Kraft. Behauptet sich im Kopfsatz die Mannigfaltigkeit auf Kosten einer sich verlierenden übergreifenden Einheit, so verschwindet hier mangels integralem Blick die kontrastbildende Mannigfaltigkeit. Die Folge ist eine sich immer wieder verlängernde Langatmigkeit, welche dann auch umkippt in fade Langeweile.


    Das darauf folgende Scherzo zeigt: So wenig die verschiedenen Themen des Sonatensatzes bei Katia Buniatishvili miteinander dramatisch kommunizieren, geschieht dies in Bezug auf die einzelnen Sätze in der Satzfolge. Dieser Scherzo-Satz kommuniziert bei ihr wiederum in keiner Weise mit dem Vorherigen. Buniatishvili nimmt die Scherzo-Leichtigkeit leichtsinnig, so, als hätte es die Getragenheit des Andante sostenuto zuvor nie gegeben. Gerade Scherzo-Heiterkeit hat bei Schubert jedoch Tiefe, ist eine Heiterkeit auf dem Grund abgründiger Melancholie und Trauer, eine aus der Schwere der Todesnähe geborene Schwerelosigkeit. Von solcher Hintergründigkeit spürt man bei Katia Buniatishvili schlicht nichts – statt dessen gibt es naiv-burschikose Vitalität in der Art des Naturburschen aus dem Grimmschen Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen und es nicht lernt, weil er von den Abgründen menschlichen Daseins schlicht keine Ahnung hat. Die asymmetrischen „Querschläge“ im Trio, sie zeigen bei Buniatishvili bezeichnend keinen Pferdefuß, bekommen keinerlei Dämonie, sondern sind einfach nur Forte-Knaller. Und im Finale bündelt sich noch einmal all das, was in den vorherigen Sätzen bei Katia Buniatishvili zum Vorschein kommt: Hier lebt sich ein Naturkind aus, das sich mal zart und zärtlich gibt und dann wieder brutal in die Tasten haut ohne Sinn und Verstand für die durchgehende „Stimmung“ der Musik und ihre integrale, dramatische Form.


    (...)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Schönen Dank auch hier, lieber Holger, für die ausgezeichnete Rezension, die ich ja schon im KB-Thread aufmerksam gelesen habe.


    Ich habe heute Abend den ersten Teil unseres Chorwochenende ab solviert, der sehr zufriedenstellend war. und ich bin sicher, dass es morgen und übemorgen ebenso zielstrebig weitergeben wird, auf dass wir am Passionssonntag eien erfüllende Markuspassion singen werden.


    Liebe Grüße


    Willi


    P.S. Ich muss etwas vorsichtig schreiben, da ich auf dem Heimweg eine Bordsteinkannte im Dunkeln übersehen haben und lang auf das Pflaster geschossen bin. Aber außer ein paar teilweise tüchtig blutenden Hautabschürfungen habe ich nichts abbekommen. Da es nur gut 5 Minuten bis nach Hause waren, habe ich mich ordentlich verpflastert. Es liegt in der Großbaustelle Coesfeld doch Einiges an kleinstem Schotter herrenlos auf den Bürgersteigen herum.

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

    Einmal editiert, zuletzt von William B.A. ()

  • P.S. Ich muss etwas vorsichtig schreiben, da ich auf dem Heimweg eine Bordsteinkannte im Dunkeln übersehen haben und lang auf das Pflaster geschossen bin. Aber außer ein paar teilweise tüchtig blutenden Hautabschürfungen habe ich nichts abbekommen. Da es nur gut 5 Minten bis nach hause waren, habe ich mich ordentlich verpflastert. Es liegt in der Großbaustelle Coesfeld doch Einiges an kleinstem Schotter herrenlos auf den Bürgersteigen herum.

    Lieber Willi,


    Gott sei Dank! Einem alten Freund von mir, der auch weit über 70 ist, ist es nicht so gut gegangen. Er hat genau wegen so eines Sturzes ein halbes Jahr im Krankenhaus mit Reha etc. verbracht! Jetzt ist er gerade wieder zuhause! Ich hoffe auch, dass ich mal nach Coesfeld zu einem Eurer Konzerte komme. Nächste Woche wird es aber leider wohl etwas eng werden.


    Ich habe gestern den alten D 960-Thread durchforstet (ich hatte mich erst gewundert, warum ich manche Rezensionen wie die über Berman nicht fand, hatte aber die Tatsache, dass es zwei Threads gibt, schlicht vergessen - nun aber habe ich mir alle Beiträge in ein Dokument kopiert, so dass ich sie beisammen verftügbar habe!) und meine Ushida-Rezension gefunden - auch ein sensualistischer Ansatz mit ähnlichen interpretatorischen Fragezeichen, was die Reduktion der Sonatensatz-Dramatik angeht. Aber Ushida ist natürlich um Welten einer Katia Buniatishvili überlegen (über ihre Aufnahme habe ich da mit Glockenton diskutiert). Da müsste ich mal beide vergleichen - werde ich auch machen und präzisieren, warum ein solcher Absatz bei Ushida gelingt, aber bei Buniatishvili in die Hose geht! ^^


    Herzliche Grüße

    Holger

  • Ich hatte am Wochenende dann nochmals in die Studioaufnahme von Ushida reingehört. Das ist auch betont empfindsam gespielt - aber: Beim Hauptthema spielt sie eine klare Phrase mit Frage-Antwortstruktur, die formalen Abschnitte sind klar voneinander getrennt. Da wird nichts verweichlicht und verwässert. Es gibt eine stets schlüssige und eben nicht willkürlich emotionale Dramaturgie. Vorbildlich ist der dynamische Aufbau in der Durchführung zum Höhepunkt. Das ist alles sehr organisch, der Ton ist wunderschön und es gibt eine Einheit der Stimmung. Das gilt auch für den langsamen Satz - der auch eine Ausdrucksqualität hat, den von Trauer nämlich. Das Scherzo hat Mozartsche Leichtigkeit und der Pferdefuß der Bässe im Trio ist da. Auch im Finale ist wieder die Mozartsche Leichtigkeit zu spüren. Fazit: Sie macht schlicht alles richtig, wo Buniatishvili alles falsch macht. Ich dachte mir: Vielleicht müsste man mal die verschiedenen entweder gelungenen oder misslungenen Interpretationsansätze in einer exemplarischen Auswahl gegenüberstellen, damit man Maßstäbe hat und die Maßstäbe zurechtrücken kann.


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Ich kann mich, was meine musik-theoretischen Kenntnisse allgemein und die des Klavierspiels im Besonderen angeht, nicht mal ansatzweise mit Cracks wie Willi oder Holger oder den anderen Sachkundigen hier messen. Darum beruhigt es mich, wenn Ihr mein "Gefühl", mit dem ich Musik meistens nur beurteilen kann, dann gelegentlich doch nachhaltig bestätigt...


    Ushida's (Fast-) GA der Schubert-Klavierwerke war glaube ich eine der ersten GA überhaupt, die ich mir gekauft habe. Und ihr Schubert-Spiel berührt mich - bei fast allen Werken dieses Komponisten - immer besonders, es ist einfach "schön" und richtig. Dank Euch kann ich dann theoretisch nachvollziehen, weshalb das so ist.:thumbup::)


    Vielen Dank für die Mühe, die Ihr Euch immer gebt - Laien wie ich profitieren sehr davon.

    Herzliche Grüße
    Uranus

  • Lieber Uranus, schönen Dank für deinen Beitrag. Ich darf dir versichern, dass das Gefühl bei der Beurteilung von Klavierinterpretationen (und natürlich auch bei anderer Musik) bei mir auch eine ganz große Rolle spielt. Lass dich ruhig weiter von deinem Gefühl leiten, dann bist du, jedenfalls für dich, immer auf der richtigen Seite. Denn letzten Endes kommt ja, was das Beispiel meiner Lieblingspianisin Mitsuko Uchida eindrucksvoll zeigt, bei der getreuen Umsetzung des Komponistenwillens, der aus den Noten hevrorgeht, das Gefühl immer zu seinem Recht.

    Wenn man dabei die Noten liest, spürt man das ja auch unmittelbar, allein schon an den vielen Sensoren, die in der Haut liegen, und an den Tränenkanälen, die an bestimmten Stellen (jedenfalls bei mir) gelegentlich in Aktion treten^^.


    Liebe Grüße


    Willi:)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Darum beruhigt es mich, wenn Ihr mein "Gefühl", mit dem ich Musik meistens nur beurteilen kann, dann gelegentlich doch nachhaltig bestätigt...


    Ushida's (Fast-) GA der Schubert-Klavierwerke war glaube ich eine der ersten GA überhaupt, die ich mir gekauft habe. Und ihr Schubert-Spiel berührt mich - bei fast allen Werken dieses Komponisten - immer besonders, es ist einfach "schön" und richtig. Dank Euch kann ich dann theoretisch nachvollziehen, weshalb das so ist. :thumbup::)

    Die Intuition muss letztlich stimmen, lieber Uranus! Ohne die richtige Intuition hilft auch keine theoretische Analyse! Das freut mich also sehr, was Du sagst! :)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Maria João Pires: Schubert Klaviersonate D 960 (Aufn. DGG Hamburg Juli 2011)



    Wie leicht kann doch Klavierspielen sein – und wie unendlich schwer offenbar! Das sagt man sich, wenn Maria João Pires das singende Hauptthema des Molto-moderato-Kopfsatzes so wunderbar aussingt – die Interpretin sich einfach tragen lässt von der „inneren Bewegung“ der Melodie, mit schönem, vollem und sattem Ton. Die portugiesische Pianistin hat Empfindsamkeit, aber sie verzärtelt die Musik nicht – das wird vom ersten Ton an klar. Das Thema des Satzes wird zum Inbegriff eines Melodisch-Schönen, was wie eine Welle in der Natur einfach so kommt, wie es kommen muss: unangestrengt, natürlich, mit einer Bewegung, der nichts Forciertes anhaftet. Keineswegs bedeutet das nun eine eindimensionale Ästhetisierung: Die Komplexität der Charaktere, die Vielfalt der Stimmen, sie horcht João Pires mit ihrem wachen Geist bis ins letzte Detail aus, wozu ihr natürlich auch ihre überragende Spielkultur verhilft. Und sie eliminiert die Dramatik nicht: Die pochenden Bässe im Bass, sie hämmern wie das dunkle Schicksal, sind die andere Seite des Lebens in diesem Melodisch-Schönen, das so gar nicht autonom in sich selber ruht, auch wenn es sich so natürlich entwickelt. Schubertsche Ambivalenz, sie ist in diesem Hauptthema also präsent. Beeindruckend auch die Durchführung. Dort erwacht bei João Pires ein Lebenswille mit einer Aufbruchstimmung, die an Josef von Eichendorffs Romantik erinnert. Das ist so gar keine angekränkelt-verklärende Verdämmerungs-Romantik bei Schubert – und gerade auf diese Weise im Ton völlig treffend.


    Eine Überraschung ist ihre atemberaubende Interpretation des Andante sostenuto. Das rthythmische Motiv im Bass spielt João Pires trocken im Ton, kontrastierend zum gebundenen Melodiethema. So ergibt sich zwischen Melodie und rhythmischem Bass ein Frage-Antwort-Spiel, aber eines, das suggeriert: Auf die Fragen des Lebens gibt es keine Antwort, sie bleiben in der Todesnähe unbeantwortete, rätselhafte: Während sich das melodische Fragemotiv flexibel verändert, bleibt das rhythmische Antwortmotiv stur dasselbe, starre und erstarrte – tote – Repitition. Nach dem Aufbäumen im Mittelteil ändert sich dann das Gegeneinander des Dialoges zu einem Verhältnis der Gründung. Das melancholische, zur Depression neigende Thema stützt sich, nachdem das musikalische Subjekt im Mittelteil Mut gefasst hat, auf dieses rhythmische Bassmotiv, um so den Bewegungsimpuls nach vorne – die Zukünftigkeit des Weiter-leben-wollens, nicht zu verlieren. João Pires zeigt hier eine meisterhafte psychologische Analyse. Im folgenden Scherzo zeigt sie dann, wie bruchlos und schlüssig sie diese Sonate zu interpretieren weiß. Dieses Scherzo ist bei ihr keine Episode, kein einfaches Intermezzo, vielmehr wird in der Scherzo-Leichtigkeit ein drängender Ton spürbar, ein Lebensdrang, der alles durchzieht. Auch hier zeigt sie Schubert nicht eindimensional, sondern komplex und ambivalent: eine Ruhe, die wiederum keine Ruhe ist, ihren Sinn nur gewinnt aus der Spiegelung der in ihr drängenden Unruhe. Im Trio erstarrt dann die Bewegung zur quälenden Melancholie. So wird Schuberts Scherzo-Leichtigkeit in der Wiederholung um so mehr sichtbar als der Lebenswille eines zur Resignation neigenden Subjekts, welches dem Hang zur Resignation nicht nachgibt und nachgeben will, sondern sich immer wieder in einer Geste der Aufmunterung gleichsam selber zum Leben erweckt. Das Finale schließlich zeigt eben diese Ambivalenz: Erst einmal ist zu bemerken, dass man kaum je das Hauptthema so klar formuliert gehört hat wie bei João Pires. Sie nimmt dieses Kerhaus-Finale im Modus des Als-Ob mit einer verhaltenen Leichtigkeit, wo Leichtigkeit wiederum ein Willensakt der Aufmunterung zum Leben ist, der Versuch der Selbstüberwindung von Düsternis. Die melodischen Partien sind einnehmend schön gespielt – João Pires´ Klavierklang ist wirklich ein ästhetischer Genuss. Diese Musik verführt zum Leben angesichts von Todesnähe, will diese Interpretation sagen. Eindrucksvoll auch der Schluss. Da werden die Tonwiederholungen des Rondothemas überdrüssig und der Aufmunterungsgestus zu einem Akt der Verzweiflung.


    Vor dieser in jeder Hinsicht meisterlichen und hoch beglückenden Interpretation ziehe ich den Hut. :) :) :)


    Hier sei mir aus aktuellem Anlass eine kritische Schlussbemerkung erlaubt: Was soll das „Weibliche“ dieser Schubert-Sonate sein, auf das sich eine Katia Buniatishvili beruft? Angesichts dieser so hoch empfindsamen, aber völlig unsentimentalen Interpretation von Maria João Pires entlarvt sich Buniatishvilis Weiblichkeits-Apotheose als peinliches Klischee, als eine irrationalistische Mischung aus Kopflosigkeit und Gefühlsduselei, eine Sentimentalisierungs-Soße, die über Schubert ausgegossen wird und so gerade Schubertsche Ambivalenz und Gebrochenheit zum Verschwinden bringt.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ich habe mir vorgenommen, jetzt einmal ganz betont die Aufnahmen von "weiblichen" Interpreten zu besprechen, die ich habe (und damit die alphabetische Reihenfolge ketzerisch zu durchbrechen ^^ ), weil ich finde, dass man doch der Klischeebildung etwas entgegensetzen sollte, was ein angeblich "typisch weiblich" interpretierter Schubert ist. Also in meiner Sammlung sind noch Alicia de Larrocha, Clara Haskil und Annie Fischer - vielleicht habe ich aber auch die eine oder andere Dame vergessen. :)


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Lieber Holger,


    schönen Dank für diesen wunderbaren Beitrag mit der Aufnahme einer Pianistin, die ich ebenso tief verehre wie Dame Mitsuko Uchida. Wo wir bei der alphabetischen Reihenfolge sind, lieber Holger, die gilt ja natürlich nur für mich, und da ich bei Dame Mitsuko Uchida an ihrem 70. Geburtstag eine Ausnahme gemacht habe (Dezember 2018), verspreche ich dir, auch bei Maria Joao Pires eine Ausnahme zu machen, wenn ich bis zum 23 . Juli, ihrem 75. Geburtstag, noch nicht bei ihr angelangt bin. Denn "in the alphabetic order" bin ich erst bei E (Endres), und als Nächste komt Nami Eijiri, deren Aufnahme ich erst bekommen habe, als ich Michael Endres schon besprochen hatte. Ich sehe sowie schon weitere Ausnahmen auf mich zukommen, denn am 5. Juni besuche ich Marc Andrè Hamelin, und am 11. Juli Igor Levit. Beide werde ich anschließend besprechen. Hamelin habe ich auch in meiner Sammlung, Levit allerdings nicht, schlicht und ergreifend, weil er diese Aufnahme noch nicht vorgelegt hat. Aber vielleicht wird sein Konzert beim Klavierrfestival ja mitgeschnitten.

    Übrigens habe ich die Aufnahme von Maria Joao Pires als Einzel -CD:

    zusammen mit der dunklen D.845. Vorher werde ich aberr noch dieses Aufnahme aus 1985 besprechen:

    Außerdem ist sie in der großen Erato-Box vorhanden.

    von der ich hier nur die Einzel-CD abbilden kann. Ich habe die Ausgabe einer Doppel-CD mit D. 894 und sämtlichen Inpromptus D.899.

    Der Buchstabe P ist übrigens bis hier hierhin in meiner Sammlung auch öfter vertreten: Perahia, Perianes, Perl, Pires 2x, Planes, Pludermacher und Pollini. Und danach kommt das Phänomen Swjatoslaw Richter 6 x: 1957, 1958, 1961, 1964, 1972 und 1978, bis hierhin.


    Liebe Grüße


    Willi:)


    P.S. ich habe gerade gesehen, dass ich von Dame Mitsuko ja eine Live-Aufnahme aus 1997 besprochen haben.m ich habe sie ja außerdem noch in einer CD-Aufnahme aus 1998 in meiner Sammlung, die kommt ja dann noch später.

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Zunächst einmal William und Holger einen großen Dank für die letzten Besprechungen. Was ihr beide hier einbringt, ist wirklich großartig.

    Buniatishvilis Einspielung gegenüber wurde ich beim ersten Hören emotional zunehmend distanziert. Bei aller pianistischer Qualität, die natürlich auch hörbar ist: Zwingend oder gar packend fand ich es nicht.

    Mir fiel dann beim Versuch, ihren Ansatz besser zu verstehen, das ein, was Alfred Brendel über den Unterschied zwischen Beethoven- und Schubert-Sonaten schrieb: Letztere seien hinsichtlich der Form quasi "schlafwandlerisch" konzipiert, Erstere hingegen architektonisch so stringent strukturiert, dass jede Stelle "folgerichtig" aus dem Vorangegangenen hervorgeht.

    Ich habe eine Zeit lang überlegt, ob Buniatishvili nicht wirklich das macht, was Brendel für Schubert als wesensgemäß erachtet. Das könnte nämlich dann womöglich erklären, wie "strukturvergessen" sie spielt. Aber William und Holger haben es beide schon deutlich gemacht: Die Sonate wird u.a. zerdehnt (ganz besonders im 2. Satz), und zum Teil wirkt sie einfach beziehungslos in Einzelmomente aufgelöst - und das hat Brendel ganz sicher nicht mit dem "Schlafwandlerischen" gemeint. Ich habe mir natürlich angehört, wie er die Sonate interpretiert: Das hat mit Buniatishvilis Stimmungsmalerei nichts zu tun. Und es ist in der Tat sentimentale Stimmungsmalerei, denn alle Konturen hören sich auch unabhängig von der manchmal recht fragwürdigen dynamischen Gestaltung an, wie mit einem Weichzeichner ausgeführt. (Das hängt übrigens meinem Eindruck nach sowohl mit der Pianistik als auch mit der Aufnahmetechnik zusammen.) Das taugt nicht für eine solche Sonate an der Schwelle der Klassik zur Romantik, eine solche Herangehensweise taugte aber fast ebenso wenig für einen Ravel oder Debussy, denn auch der Impressionismus erschöpft sich beileibe nicht in diffuser Stimmungsmalerei.

    (...)Hier sei mir aus aktuellem Anlass eine kritische Schlussbemerkung erlaubt: Was soll das „Weibliche“ dieser Schubert-Sonate sein, auf das sich eine Katia Buniatishvili beruft? Angesichts dieser so hoch empfindsamen, aber völlig unsentimentalen Interpretation von Maria João Pires entlarvt sich Buniatishvilis Weiblichkeits-Apotheose als peinliches Klischee, als eine irrationalistische Mischung aus Kopflosigkeit und Gefühlsduselei, eine Sentimentalisierungs-Soße, die über Schubert ausgegossen wird und so gerade Schubertsche Ambivalenz und Gebrochenheit zum Verschwinden bringt.


    Schöne Grüße

    Holger

    Das gefällt mir sehr, Holger.

    Ich komme nochmal von Brendels Begriff des "Schlafwandlerischen". Wer diesen Begriff Ernst nimmt, muss auch folgende Konsequenz mitbedenken: Dann nämlich impliziert diese eigentümliche strukturelle "Ergebnisoffenheit" der Schubertsonaten auch eine Abgründigkeit, an dessen Rand sich die Musik stets bewegt. Heißt auch: die Ambivalenz des "selbstvergessenen" Zustandes des Schlafwandlers, dass er immerwährend gefährdet ist.

    So etwas wie Selbstvergessenheit bildet Buniatishvili für mein Empfinden durchaus ab. Die Gefahr des Abgrunds hingegen zu keiner Zeit - in rührseligen Gefilden gibt es die nicht. Darin kann man sich höchstens verlaufen.

  • schönen Dank für diesen wunderbaren Beitrag mit der Aufnahme einer Pianistin, die ich ebenso tief verehre wie Dame Mitsuko Uchida. Wo wir bei der alphabetischen Reihenfolge sind, lieber Holger, die gilt ja natürlich nur für mich, und da ich bei Dame Mitsuko Uchida an ihrem 70. Geburtstag eine Ausnahme gemacht habe (Dezember 2018), verspreche ich dir, auch bei Maria Joao Pires eine Ausnahme zu machen, wenn ich bis zum 23 . Juli, ihrem 75. Geburtstag, noch nicht bei ihr angelangt bin.

    Lieber Willi,


    75 wird sie schon! Mein Gott! Ushida muss ich mir noch einmal brennen - ich habe die Aufnahme nur mit dem PC-Kopfhörer gehört. Kannst Du mir vielleicht noch die andere Schubert-Sonate von der Ushida-CD schicken, damit ich die CD-R dann voll kriege? Ich habe übrigens entdeckt, dass es noch eine zweite Aufnahme von D 960 mit Clara Haskil gibt, einen Konzertmitschnitt von den Salzburger Festspielen von 1957. Hast Du den zufällig?



    Von Maria Joao Pires hörte ich nach Schubert noch die Mozart-Sonate KV 281 aus der großen DGG-Box. Das ist wirklich unglaublich! Da erfährt man, woher bei ihr das tiefe Schubert-Verständnis kherommt (vor allem was sie da so verblüffend im 2. Satz macht bei D 960)! Sie begreift nämlich, dass die Dramatik und die syntaktischen dramatischen Gegenbewegungen nicht wie bei Beethoven im Thema und in den Themenkontrasten liegen, sondern schon in den einzelnen kleinen und ganz kleinen Motiven. So zwingend, dass man denkt, so muss es eigentlich sein, habe ich diese Mozart-Sonate noch nie gehört! Die meisten - auch die ganz großen Interpreten - spielen das im Geiste von Beethoven und zielen auf die große Form ab oder aber es bleibt episodisch. Ich finde ja, in vielerlei Hinsicht ist Schubert doch Mozart sehr verwandt geblieben.

    Das gefällt mir sehr, Holger.

    Ich komme nochmal von Brendels Begriff des "Schlafwandlerischen". Wer diesen Begriff Ernst nimmt, muss auch folgende Konsequenz mitbedenken: Dann nämlich impliziert diese eigentümliche strukturelle "Ergebnisoffenheit" der Schubertsonaten auch eine Abgründigkeit, an dessen Rand sich die Musik stets bewegt. Heißt auch: die Ambivalenz des "selbstvergessenen" Zustandes des Schlafwandlers, dass er immerwährend gefährdet ist.

    So etwas wie Selbstvergessenheit bildet Buniatishvili für mein Empfinden durchaus ab. Die Gefahr des Abgrunds hingegen zu keiner Zeit - in rührseligen Gefilden gibt es die nicht. Darin kann man sich höchstens verlaufen.

    Das ist wirklich sehr aufschlussreich, lieber Leiermann und den Verweis auf Brendel finde ich sehr hilfreich. Wo sagt er das? Ich habe ja sein Buch, da kann ich dann auch nochmals nachschauen. Mir fällt dazu Novalis ein, der sagte, dass das Romantische ein vermeintliches Chaos ist, wo sich aber das scheinbar Ungeordnete zu einer unsichtbaren, höheren Ordnung zusammenfügt. Beispiel: "Aus dem Leben eines Taugenichts" von Josef von Eichendorff. Da gibt es nur Zufälle, aber in ihnen wird ein Sinn, eine höhere Notwendigkeit, sichtbar. Dazu kommt das Motiv, dass die Romantik das Unbewusste der Schöpfung betont. Genau das fehlt beim Sensualismus von Buniatishvili: der Zusammenschluss des scheinbar Ungeordneten zu einer höheren Ordnung. Ihr Schubert bleibt sensualistisch vordergründig und geheimnislos. :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • (...) Das ist wirklich sehr aufschlussreich, lieber Leiermann und den Verweis auf Brendel finde ich sehr hilfreich. Wo sagt er das? Ich habe ja sein Buch, da kann ich dann auch nochmals nachschauen. Mir fällt dazu Novalis ein, der sagte, dass das Romantische ein vermeintliches Chaos ist, wo sich aber das scheinbar Ungeordnete zu einer unsichtbaren, höheren Ordnung zusammenfügt. Beispiel: "Aus dem Leben eines Taugenichts" von Josef von Eichendorff. Da gibt es nur Zufälle, aber in ihnen wird ein Sinn, eine höhere Notwendigkeit, sichtbar. Dazu kommt das Motiv, dass die Romantik das Unbewusste der Schöpfung betont. Genau das fehlt beim Sensualismus von Buniatishvili: der Zusammenschluss des scheinbar Ungeordneten zu einer höheren Ordnung. Ihr Schubert bleibt sensualistisch vordergründig und geheimnislos. :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

    Lieber Holger, leider muss ich mit dem genauen Textbeleg z. Zt. passen, da ich mich gerade in Florenz aufhalte und keinen Zugriff auf meine Bücher habe. Das kann ich erst in der nächsten Woche nachholen. Ich habe allerdings das Buch "Nachdenken über Musik" von Brendel, nicht "Über Musik". Darin ist ein Kapitel den Klaviersonaten Schuberts gewidmet (müsste bei dir ja auch drin sein, denn "Über Musik" ist doch eine vollständige Zusammenstellung von Brendels Schriften, oder?), und nach ein paar wenigen Seiten geht es kurz, aber explizit um den wesentlichen Unterschied zu Beethoven, dem Brendel ein extrem ausgeprägtes architektonisches Bewusstsein zuschreibt.


    Das mit der "höheren Ordnung" des vordergründig Chaotischen ist natürlich ein richtiger und berechtigter Aspekt, der z.B. auch ursächlich dafür ist, dass Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" in der Romantik so geschätzt wurde. Die "Zufälle", die dem Protagonisten darin widerfahren, seine Fehltritte und (Selbst-)Täuschungen stellen sich dann gegen Ende auch als Elemente eines sinnhaften Gesamtkonstruktes heraus.


    Nachdem ich ein paar Aufnahmen/Videos Buniatishvilis kennen gelernt habe, kann ich mir schon gut vorstellen, dass und warum sie ihr Konzertpublikum begeistert, denn sie kultiviert gekonnt die Unbedingtheit der gegenwärtigen musikalischen Empfindung in dem Sinne, dass der Eindruck von Intensität, Emotionalität, Sensibilität und Tiefgründigkeit entsteht. Da ist in meinen Augen durchaus eine Gestaltungskraft vorhanden, die den allermeisten Pianisten nicht gegeben ist. Es entstehen so allerdings noch lange keine großen Interpretationen, dafür bedarf es weit mehr als der Empfindsamkeit für den Moment. William hat es an einer Stelle irgendwo betont: Im langsamen Satz z.B. gibt es praktisch keinerlei Spannung hinsichtlich der Anlage der Tonarten. Spannung ist überhaupt ein Faktor, den ich in Buniatishvilis B-Dur-Einspielung vermisse.

  • Zitat von Dr. Holger Kaletha

    Ich habe übrigens entdeckt, dass es noch eine zweite Aufnahme von D 960 mit Clara Haskil gibt, einen Konzertmitschnitt von den Salzburger Festspielen von 1957. Hast Du den zufällig?

    Ich habe nur die Aufnahme aus Salzburg, lieber Holger. Hast du denn diese:

    Sie ist, wie ich jetzt gesehen habe, von 1951.


    Liebe Grüße


    Willi:)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Lieber Holger, leider muss ich mit dem genauen Textbeleg z. Zt. passen, da ich mich gerade in Florenz aufhalte und keinen Zugriff auf meine Bücher habe. Das kann ich erst in der nächsten Woche nachholen. Ich habe allerdings das Buch "Nachdenken über Musik" von Brendel, nicht "Über Musik". Darin ist ein Kapitel den Klaviersonaten Schuberts gewidmet (müsste bei dir ja auch drin sein, denn "Über Musik" ist doch eine vollständige Zusammenstellung von Brendels Schriften, oder?),

    Lieber Leiermann, ich habe die Stellen bei Brendel gefunden! Vielen Dank! :)

    Nachdem ich ein paar Aufnahmen/Videos Buniatishvilis kennen gelernt habe, kann ich mir schon gut vorstellen, dass und warum sie ihr Konzertpublikum begeistert, denn sie kultiviert gekonnt die Unbedingtheit der gegenwärtigen musikalischen Empfindung in dem Sinne, dass der Eindruck von Intensität, Emotionalität, Sensibilität und Tiefgründigkeit entsteht. Da ist in meinen Augen durchaus eine Gestaltungskraft vorhanden, die den allermeisten Pianisten nicht gegeben ist. Es entstehen so allerdings noch lange keine großen Interpretationen, dafür bedarf es weit mehr als der Empfindsamkeit für den Moment. William hat es an einer Stelle irgendwo betont: Im langsamen Satz z.B. gibt es praktisch keinerlei Spannung hinsichtlich der Anlage der Tonarten. Spannung ist überhaupt ein Faktor, den ich in Buniatishvilis B-Dur-Einspielung vermisse.

    Da hast Du völlig Recht! Es ist durchaus positiv, dass die Zeit des puristischen Rationalismus der 60iger vorbei ist und Interpreten es wagen, rhetorisch zu sein und Gefühl zu zeigen. Das Problem bei Buniatishvili scheint mir zu sein, dass sie zu wenig reflektiert ist. Begabung was Virtuosität angeht hat sie ohne Ende, auch einen schönen Klavierton und Emotionalität. Aber alle diese Eigenschaften kriegt sie einfach nicht zusammen unter eine "Idee" des Ganzen - da fallen die Extreme auseinander und verselbständigen sich. Da wird dann Gefühlsintensität ohne Maß intensiviert und Rücksicht auf alle anderen Gesichtspunkte. Ein Bild ohne Rahmen eben.... :)

    Ich habe nur die Aufnahme aus Salzburg, lieber Holger. Hast du denn diese:

    Ja, die habe ich! Könntest Du mal für den Salzburger Mitschnitt den berühmten "kleinen Dienstweg" öffnen, den hätte ich doch gerne auch zum Vergleich.


    Ich habe übrigens gerade bei Alfred Brendel in seinen beiden Schubert-Aufsätzen gelesen, was er über das Problem des Weglassens von Wiederholungen schreibt... :D


    Liebe Grüße

    Holger

  • Alicia de Larrocha (Aufnahme Decca 1983)



    „Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke...“ So völlig unsentimental, wie Alicia de Larrocha Schuberts letzte Sonate nimmt, scheint sie gegen Goethe zeigen zu wollen: Auch das Romantische ist gesund! Ihr Ansatz ist dabei die Reduktion des Melodisch-Selbstverständlichen: Schuberts Melodie wird zwar mit singendem Ton gespielt (singen kann eine Alicia de Larrocha auf dem Klavier natürlich!), sie lässt den Hörer aber nicht mehr dahinschmelzen. Statt dessen wird der rhythmische Kern zum tragenden Motiv des Ganzen: die Melodik „verklärt“ nicht mehr den rhythmischen Puls, sondern wird ihm gleichsam unterworfen: „Melodie ohne Soße“ könnte man hier in Abwandlung eines Satzes von Jean Cocteau sagen. Im Kopfsatz fördert dies allerdings eine überraschende Erkenntnis zutage. Zur etwas in die Musik hereinpolternden Überleitung zur Wiederholung der Exposition des Kopfsatzes bemerkt Alfred Brendel, der die Wiederholung auslässt: „In Schuberts B-Dur-Sonate, die so oft als Beispiel herangezogen wird, verzichte ich auf diese Überleitung mit besonderem Vergnügen: So ohne jede logische und atmosphärische Bezieung steht dieser zuckende Ausbruch da, als hätte er sich aus einem fremden Stück in die großartige Harmonie dieses Satzes verirrt.“ Was passiert nun aber durch Alicia de Larrochas rhythmische Gangart? Genau diese Überleitung wirkt auf einmal gar nicht fremd, sondern das Grollen fügt sich sehr organisch in die rhythmisch akzentuierten Tonbewegungen ein. Das wirft die Frage auf: Ist hier nicht vielleicht in der Rezeption der Sonate etwas schief gelaufen? Ist dieser vermeintliche Fremdkörper vielleicht nur dem geschuldet, dass man die Melodik bei Schubert allzu sehr in den Vordergrund gerückt hat? Ist der Grund dafür, dass die Empfindsamkeit diese Überleitung als Störung des Tons empfindet, nicht vielleicht ein Übermaß an Empfindsamkeit, mit dem man Schubert hier interpretiert?


    Insgesamt stellt mich Alicia de Larroches Interpretation allerdings nicht zufrieden, wenn sie auch die Melancholie im langsamen Satz sehr poetisch ausspielen kann. So junonisch-nüchtern, so trocken im Ton (noch dazu unterstützt durch die hier etwas spröde Decca-Aufnahmetechnik) habe ich die B-Dur-Sonate noch nicht gehört. Das Resultat ist der Verlust des Auratischen. Schuberts Musik bekommt so eine positivistische Vordergründigkeit, die allerdings anders als bei einer Katia Buniatishvili kein naiver Sensualismus ist: Alicia de Larrocha ist bei Schubert um Klarheit und „Deutlichkeit“ bemüht, spielt entsprechend eine „charakteristische Melodie“. Doch ist Schuberts letzte Sonate eben doch nicht Romantik von der Art von Robert Schumanns Carnaval. Man muss Schubert gewiss nicht spielen, als sei er „krank“, doch ein gewisses angekränkeltes Sentiment gehört einfach zu dieser Sonate dazu: der verführerische melodische Schmelz als Rausch eines Musikalisch-Schönen. Maria João Pires versteht es, die Ambivalenz einer „Krankheit zum Tode“ aufzuzeigen, die den Lebenswillen weckt. Diese Hintergründigkeit fehlt in Alicia de Larrochas freilich immer präziser, aber doch zu wenig malerischer musikalischer Charakterzeichnung. :)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Vielen Dank auch für diese interessante Besprechung, lieber Holger, in der du einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt der Betrachtung rückst, nämlich die Frage, ob die Interpretin/der Interpret den tiefen emotionalen Gehalt dieses Schubertschen Opus summum trifft oder eben nicht. Ich habe diese Frage im Falle von Frau de Larocha ja noch vor mir, da sie natürlich auch in meiner Sammlung vertreten ist.

    Du zitierst in dem Zusammenhang noch einmal Alfred Brendel, der ja nach wie vor zu meinen Lieblingspianisten gehört, obwohl er das gesagt hat, was du zitiert hast, und mit dem ich gar nicht einverstanden bin.

    Paul Badura-Skoda, ein Freund Alfred Brendels, hat in seiner weiter oben besprochenen Gesamtaufnahme insgesamt fünf Aufnahmen der B-dur-Sonate vorgelegt, im Beiheft aber dezidiert geäußerst, dass er in der Frage der Wiederholung der Exposition gegenteiliger Meinung sei wie sein Freund Alfred Brendel, und ein anderer großer Schubert-Pianist, den ich persönlich kennengelernt habe, Gerhard Oppitz, äußerte in einem längeren persönlichen Gespräch in Heilbronn, dass die Überleitung zur Wiederholung unbedingt gespielt gehörte, da sie der dramatische Höhepunkt dieses grandiosen Kopfsatzes, und einer der Höhepunkte der ganzen Sonate sei, und dessen sei sich Schubert beim Komponieren sicherlich bewusst gewesen.

    Auch das hier schon aufgeführte Brendelzitat, dass Schubert wie ein Schlafwandler komponiert habe im Gegensatz zu Beethoven, der wie ein Architekt komponiert habe, ergibt für mich dann erst Sinn, wenn man den Begriff des Schlafwandelns mit dem der Sicherheit verbindet und etwa sagt, dass Schubert mit schlafwandlerischer Sicherheit komponiert habe und dann konzediert, dass er auch in dieser abschließenden großen Sonate jede Note mit dieser Sicherheit an den Platz mit der Stärke und Länge und in dem Rhythmus gesetzt habe, die ihr gebührte.

    Erst dann kommt, wie bei Beethoven, zu. B. in dessen großer B-dur-Sonate, ein so perfektes Tongebäude , in Struktur und Ausdruck musikalischer Tiefe zustande, wie wir es hier kennen. Und wenn uns eine Interpretation dieser großen Werke nicht zufriedenstellt oder gar völlig missfällt, dann liegen eine oder mehrere Voraussetzungen nicht vor, die bei einer möglichst optimalen Umsetzung des Komponistenwillens alle vorhanden sein müssen. Günter Wand drückte das so aus, dass er bestrebt sei, dem musikalischen Kern des Werkes oder seiner perfekten Wiedergabe so nahe wie möglich zu kommen, sich wohl dessen eingedenk, dass der Mensch, also auch er, es wohl nie zu 100% schaffen werde.

    Ich habe vorhin in meiner Schubert-Sonatenübersicht zur 21. Sonate festgestellt, dass 85 Aufnahmen mit Wiederholung der Exposition sind und nur 36 ohne.

    Interessant ist z. B. der Fall Vladimir Horowitz, der 1947 die Exposition ohne Wiederholung spielte und 1986, also 39 Jahre später, mit Wiederholung. Oder Paul Badura-Skoda hat von seinen fünf Aufnahmen vier mit Wiederholung gespielt und eine ohne, um, wie er sich ausdrückte, seinem Publikum zu zeigen, wie seine Aufnahme ohne Wiederholung klänge und sich dann selbst ein Bild zu machen.

    Alfred Brendel hat ja bekanntlich seine fünf Aufnahmen alle ohne Wiederholung der Exposition gespielt, einer anderer der ganz großen Schubert-Pianisten, Swjatoslaw Richter, hat alle seine fünf Aufnahmen mit Wiederholung der Exposition gespielt.


    Liebe Grüße


    Willi:)

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    2 Mal editiert, zuletzt von William B.A. ()

  • in der du einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt der Betrachtung rückst, nämlich die Frage, ob die Interpretin/der Interpret den tiefen emotionalen Gehalt dieses Schubertschen Opus summum trifft oder eben nicht. Ich habe diese Frage im Falle von Frau de Larocha ja noch vor mir, da sie natürlich auch in meiner Sammlung vertreten ist.

    Lieber Willi,


    gestern habe ich die Studioaufnahme von Clara Haskil (1951) gehört - ein Ereignis! Wie immer habe ich zwei Seiten Notizen mit Bleistift. Da ich aber heute wohl erst am späten Nachmittag nach Hause kommen, werde ich erst am Abend dazu kommen, die Rezension zu schreiben. Clara Haskil lässt übrigens auch die Expositionswiederholung weg.

    Paul Badura-Skoda, ein Freund Alfred Brendels, hat in seiner weiter oben besprochenen Gesamtaufnahme insgesamt fünf Aufnahmen der B-dur-Sonate vorgelegt, im Beiheft aber dezidiert geäußerst, dass er in der Frage der Wiederholung der Exposition gegenteiliger Meinung sei wie sein Freund Alfred Brendel, und ein anderer großer Schubert-Pianist, den ich persönlich kennengelernt habe, Gerhard Oppitz, äußerte in einem längeren persönlichen Gespräch in Heilbronn, dass die Überleitung zur Wiederholung unbedingt gespielt gehörte, da sie der dramatische Höhepunkt dieses grandiosen Kopfsatzes, und einer der Höhepunkte der ganzen Sonate sei, und dessen sei sich Schubert beim Komponieren sicherlich bewusst gewesen.

    Ja, darüber kann man nazütlich streiten. Für Brendel ist das formal eine Überleitung, die kann dann natürlich auch formal nicht Höhepunkt sein und er erwähnt, dass sie in Schuberts ursprünglichem Entwurf des Satzes gar nicht vorhanden ist. Sehr gut sind auch immer die Klappentexte bei Maurizio Pollini, die verfasst sein Freund, der italienische Musikwissenschaftler Paolo Petazzi - bis heute - die sind immer sehr lesenswert. Ich erinnere mich (schaue heute Abend mal nach, dass auch Petazzi der Meinung ist, dass diese grollende Überleitung essentiell ist.

    Auch das hier schon aufgeführte Brendelzitat, dass Schubert wie ein Schlafwandler komponiert habe im Gegensatz zu Beethoven, der wie ein Architekt komponiert habe, ergibt für mich dann erst Sinn, wenn man den Begriff des Schlafwandelns mit dem der Sicherheit verbindet und etwa sagt, dass Schubert mit schlafwandlerischer Sicherheit komponiert habe und dann konzediert, dass er auch in dieser abschließenden großen Sonate jede Note mit dieser Sicherheit an den Platz mit der Stärke und Länge und in dem Rhythmus gesetzt habe, die ihr gebührte.

    Es ist bei Brendel nicht so ganz eindeutig, wie er das genau meint, aber die Richtung ist glaube ich verständlich:


    "Im Vergleich mit Beethoven dem Architekten, komponiert Schubert wie ein Schlafwandler. In Beethovens Sonaten verlieren wir nie die Orientierung; sie rechtfertigen sich selbst in jedem Augenblick. Schuberts Sonaten ereignen sich auf eine rätselhafte Weise; um es österreichischer zu sagen: sie passieren."


    Dann vergleicht er Schubert und Mahler:


    "Beide Komponisten stellen dem Chaos nicht eine in sich abgeschlossene musikalische Ordnung entgegen. Nicht graziöse oder grimmige Vernunft lenkt die Vorgänge; sie hätten sich an vielen Stellen in eine andere Richtung wenden können. Wir fühlen uns nicht als Herren der Situation, sondern eher als Opfer."


    Und nochmals zu Schubert im Vergleich mit Beethoven - wo er sagt, Schubert habe diese Verkürzungs- und Verdichtungstechnik von Beethovedn nicht:


    "Im Rückblick rechtfertigt sich der Themenbau."


    Er medint: Bei Schubert gibt es keinen in einer (antizipatorischen) Vorstellung präsenten Ordnungsrahmen wie bei Beethoven, mit dem wir uns souverän orientieren, sondern wir folgen der Musik gleichsam blind, lassen uns von ihr und ihrem Strom "ziehen" - erst hinterher merken wir, wie sinnvoll das ist.


    So, nun muss ich zur Arbeit! :)


    Liebe Grüße

    Holger

  • Ja, das ist die "Ergebnisoffenheit", die ich ansprach. Brendel nennt es "passieren", und deshalb habe ich mich eine Zeit lang gefragt, ob Buniatishvili sich nicht auf genau diesen Ansatz berufen könnte, der die "Makrostrukturen" in gewisser Weise relativiert und das Ausgeliefertsein an den Augenblick zum Prinzip erhebt.

    Aber da ist zum einen der Aspekt der Abgründigkeit, welche in einer anderen Sonate für mich so glasklar hervortritt, dass ich hoffe, mit diesem Beispiel den Gedanken auch nachvollziehbar machen zu können: Wenn am Schluss der großen A-Dur-Sonate die Musik am Ende des Finales mehrmals abbricht, dann kann ich es nur so verstehen, dass Schubert an der Grenze des musikalisch "Sagbaren" wandelt. Das ist fast schon das Gegenteil von "Melodienseligkeit", zumindest aber eine in sich höchst gefährdete, ambivalent wirkende "Sprache".
    Nächster Einwand, den Holger gerade hervorhob: Im RÜCKBLICK müsste das Gesagte immer noch ein sinnfälliges und beziehungsreiches Ganzes ergeben. Und Brendel spielt es genau wie Zimerman oder auch Horowitz nicht anders. Zu Richter habe ich bislang leider noch kein adäquates Verhältnis gefunden, der bleibt für mich emotional rätselhaft unzugänglich.

    Einmal editiert, zuletzt von Leiermann ()

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  • „In Schuberts B-Dur-Sonate, die so oft als Beispiel herangezogen wird, verzichte ich auf diese Überleitung mit besonderem Vergnügen: So ohne jede logische und atmosphärische Bezieung steht dieser zuckende Ausbruch da, als hätte er sich aus einem fremden Stück in die großartige Harmonie dieses Satzes verirrt.“

    Heute unterwegs fiel mir ein, dass es auch bei Chopin einen so merkwürdig "zuckenden Ausbruch" gibt: nämlich im Kopfsatz der Sonate Nr. 3 h-moll. Auch da ist der Ton sehr lyrisch und melodisch-kantabel, und dann kommt als Überleitung zur Expositionswiederholung fast genauso wie bei Schubert so ein knorriger Basstriller, so dass ich da auch immer zusammenzucke:


    Hier bei 3:40-3:45 Min. bei Pollini:


    Ja, das ist die "Ergebnisoffenheit", die ich ansprach. Brendel nennt es "passieren", und deshalb habe ich mich eine Zeit lang gefragt, ob Buniatishvili sich nicht auf genau diesen Ansatz berufen könnte, der die "Makrostrukturen" in gewisser Weise relativiert und das Ausgeliefertsein an den Augenblick zum Prinzip erhebt.

    Ich finde, dass Brendel da zwei Dinge vielleicht etwas zu sehr vermischt hat: das Episodische und den Verlaufscharakter. Der Molto-moderato-Satz ist doch geradezu zwingend "geschlossen", nicht durch eine Architektur freilich, sondern die Bewegung. Wir werden von dem Strom der Musik "mitgerissen", sind da hilflos und "Opfer", um das Bild von Alfred Brendel zu benutzen, wie der Schiffbrüchige, der auf einer Planke sitzend gegen die Strömung nicht ankommt und sich ihr überlassen muss. Ich finde diesen unwiderstehlichen Sog in diesem Satz wirklich bannend und beglückend. Da greift alles so zwingend ineinander - gerade wenn man das nicht begreift und begreifen muss. Genau dieser Sog kommt bei Buniatishvili nicht zustande. Die Musik fließt nicht, sondern eine Episode reiht sich hüpfend an die nächste. ^^

    Aber da ist zum einen der Aspekt der Abgründigkeit, welche in einer anderen Sonate für mich so glasklar hervortritt, dass ich hoffe, mit diesem Beispiel den Gedanken auch nachvollziehbar machen zu können: Wenn am Schluss der großen A-Dur-Sonate die Musik am Ende des Finales mehrmals abbricht, dann kann ich es nur so verstehen, dass Schubert an der Grenze des musikalisch "Sagbaren" wandelt. Das ist fast schon das Gegenteil von "Melodienseligkeit", zumindest aber eine in sich höchst gefährdete, ambivalent wirkende "Sprache".

    Ja genau. Brendel erwähnt, dass Gustav Mahler diese Sonate wohl in seiner Abschlussprüfung gespielt hat. Er wollte ja eigentlich Klaviervirtuose werden!

    Nächster Einwand, den Holger gerade hervorhob: Im RÜCKBLICK müsste das Gesagte immer noch ein sinnfälliges und beziehungsreiches Ganzes ergeben. Und Brendel spielt es genau wie Zimerman oder auch Horowitz nicht anders. Zu Richter habe ich bislang leider noch kein adäquates Verhältnis gefunden, der bleibt für mich emotional rätselhaft unzugänglich.

    Ich muss mir das alles wieder neu erschließen jetzt durch den bewussten Interpretationsvergleich, lieber Leiermann. Von Richter habe ich jetzt ja auch seine Moskauer Mitschnitte! :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • (...)Ich finde, dass Brendel da zwei Dinge vielleicht etwas zu sehr vermischt hat: das Episodische und den Verlaufscharakter. Der Molto-moderato-Satz ist doch geradezu zwingend "geschlossen", nicht durch eine Architektur freilich, sondern die Bewegung. Wir werden von dem Strom der Musik "mitgerissen", sind da hilflos und "Opfer", um das Bild von Alfred Brendel zu benutzen, wie der Schiffbrüchige, der auf einer Planke sitzend gegen die Strömung nicht ankommt und sich ihr überlassen muss. Ich finde diesen unwiderstehlichen Sog in diesem Satz wirklich bannend und beglückend. Da greift alles so zwingend ineinander - gerade wenn man das nicht begreift und begreifen muss. Genau dieser Sog kommt bei Buniatishvili nicht zustande. Die Musik fließt nicht, sondern eine Episode reiht sich hüpfend an die nächste. ^^ (...)

    Ja, Frau Buniatishvili gestaltet in der Tat quasi episodisch, was eigentlich nur bedeutet, dass sie Zusammenhängen nicht gerecht wird. Beispiel wäre der dritte Abschnitt des Hauptthemas, den sie mit ihrem unorganischen Accelerando zur eigenen "Charakterepisode" erhebt. Hier könnte ich den Ansatz vielleicht darin sehen, dass die durch die verkürzten Notenwerte frei werdende Energie wie ein Auslöser des darauf folgenden Forte-Teils fungiert, der die Hauptmelodie wieder aufgreift. Und dass dieser Abschnitt ja in der zuvor kaum erwartbaren und auch nicht vorbereiteten (Schlafwandler!) Mediante Ges-Dur und damit tonal eigens entrückten Welt steht. Nur: Indem Buniatishvili das Ganze hier auch metrisch so verrückt, bricht sie die Beziehung zum Hauptthema mehr ab, als dass sie sie in ihrer Besonderheit hervorhebt. Und damit ist es dann nicht mehr der "Strom", von dem du sprichst, sondern mehr Episode. Übrigens finde ich, dass schon gleich in den ersten drei bis vier Takten deutlich wird, wie wenig Wert sie auf diesen zwingenden Fluss des Ganzen gibt. Es fließt erst gar nicht richtig. Dafür sorgt nicht nur die Wahl eines recht langsamen Tempos, sondern z.B. auch die vielen bedeutungsschwanger hinausgezögerten "Einsen" (und da habe ich übrigens auch bei einer Richter-Einspielung besondere Rezeptionsprobleme - bin bloß gerade nicht sicher, welche das ist). Ich selbst neige dazu, denen Recht zu geben, die sagen: Was du hinauszögerst, musst du irgendwo auch wieder ausgleichen - gerade hinsichtlich Musik, die noch der Klassik nahesteht.

    Zu Brendel: Ich bin mir sicher, dass er nicht dem Prinzip des Episodischen das Wort reden wollte. Das ergäbe keinen Sinn. Es ist wohl wirklich der Gegensatz des Architektonischen, des Festgefügten, zu dem, was du "Verlaufscharakter" nennst und was sich seinen Weg bahnt.

    Ganz besonders episodisch zerstückelt finde ich übrigens leider, leider das c-Moll-Impromptu auf Buniatishvilis Schubert-Album. Auch dort fehlt es aus meiner Sicht an Einheit und Stringenz des Verlaufs.

  • Zitat von Leiermann

    Beispiel wäre der dritte Abschnitt des Hauptthemas, den sie mit ihrem unorganischen Accelerando zur eigenen "Charakterepisode" erhebt.

    Lieber Leiermann,


    Du meinst sicher den Abschnitt Takt 20 bis 35, wo sie die innere Beschleunigung (durch die Verkürzung der Notenwerte), die aber wieiter in jedem Takt 4/4 ausmachen, in eine äußere Beschleunigung verwandelt, also das "Molto moderato" deutlich verlässt und spätestens ab Takt 29 über ein Allegro vivace quasi in ein Presto ausbricht. Diese Fehldeutung habe ich im Anfang dieser Schubertrezensionen schon einige Male erlebt. Das ist m. E. unkontrolliertes Spiel und infolgedessen ein "Sich fortreißen lassen".

    Da misst sie nach ihrem sehr moderaten Anfangstempo der Exposition einen Tempokontrast zu, die diese gar nicht hat. Hätte sie stattdessen diese Passage im temporalen Binnenverhältnis der ersten beiden Themenabschnitte gespielt und dann in der Reprise noch einmal, dann wäre sie mit gut 22 Minuten herausgekommen, und wenn sie das dann noch gespielt hätte wie ein Afanassjew oder gar ein Richter, dann wäre das große Pianistik gewesen.


    Liebe Grüße


    Willi:)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Ja, Frau Buniatishvili gestaltet in der Tat quasi episodisch, was eigentlich nur bedeutet, dass sie Zusammenhängen nicht gerecht wird. Beispiel wäre der dritte Abschnitt des Hauptthemas, den sie mit ihrem unorganischen Accelerando zur eigenen "Charakterepisode" erhebt.

    Lieber Leiermann, dass hast Du finde ich sehr treffend analysiert. Das ist wirklich sehr lehrreich!

    Du meinst sicher den Abschnitt Takt 20 bis 35, wo sie die innere Beschleunigung (durch die Verkürzung der Notenwerte), die aber wieiter in jedem Takt 4/4 ausmachen, in eine äußere Beschleunigung verwandelt, also das "Molto moderato" deutlich verlässt und spätestens ab Takt 29 über ein Allegro vivace quasi in ein Presto ausbricht. Diese Fehldeutung habe ich im Anfang dieser Schubertrezensionen schon einige Male erlebt. Das ist m. E. unkontrolliertes Spiel und infolgedessen ein "Sich fortreißen lassen".

    Lieber Willi,


    ich höre mir das nachher mal an! Ich verstehe was Du meinst, ich würde aber lieber statt "fortreißen lassen": "mitreißen lassen" sagen. Es gibt das schöne Eichendorff-Zitat, was den romantischen Geist zusammenfasst: "Das Leben ist nicht des Philisters Fahrt vom Buttermarkt zum Käsemarkt, sondern eine unendliche Reise in das Himmelreich". Das sagt einmal, dass die unendliche Reise keinen Anfang und kein Ende hat. Damit wird aber zum anderen vor allem auch etwas über den Moment gesagt: Das Einzelne steht nie für sich, sondern der Moment weist stets über sich hinaus eben in diese Unendlichkeit. Romantisch ist ein Gemüt, dass nie selbstzufrieden bei sich selbst ist, sondern immer "woanders": Man sucht sehnsüchtig nach der Heimat, die in unendlicher Ferne liegt und wenn man glaubt, sie gefunden zu haben, ist sie es letztlich doch nicht. Genau das verkennt der Sensualismus von Katia Buniatishvili. Sie hüpft sozusagen vom Buttermarkt zum Käsermarkt zum Gemüsemarkt usw., um deren Sensationen zu genießen, und macht auf diese Weise mit ihrer Sentimentalität, die sich von ihrer momentanen Empfindung "mit"-reißen lässt, den isolierten Moment einer schönen Empfindung zum Himmelreich auf Erden. Das Romantisch Unerreichbare gibt es nicht, sondern statt dessen ist das Paradies immer schon erreicht, wo sich das ästhetische Subjekt in narzistischer Selbstgenügsamkeit in seinem Himmelreich der schönen Empfindung immer wieder seine Empfindsamkeit genießend "badet". Das geht ja schon gleich am Anfang bei Buniatishvili so los: "Augenblick verweile doch, du bist so schön" - so spielt sie das - völlig unromantisch. Da deutet jeder Moment nur auf sich selber zurück statt dass er über sich hinausweisen würde. Das berührend Schöne an diesem Satz (wo man wirklich hingerissen mitsingen möchte) ist aber doch genau das, dass man nicht auf den Moment fixiert wird, sondern die Musik einen so unglaublich natürlich und zugleich zwingend immer weitertreibt, einem die wahrlich göttliche Lust der romantischen unendlichen Wanderschaft vermittelt.


    Was du hinauszögerst, musst du irgendwo auch wieder ausgleichen - gerade hinsichtlich Musik, die noch der Klassik nahesteht.

    ... das sagte Heinrich Neuhaus :)

    Zu Brendel: Ich bin mir sicher, dass er nicht dem Prinzip des Episodischen das Wort reden wollte. Das ergäbe keinen Sinn. Es ist wohl wirklich der Gegensatz des Architektonischen, des Festgefügten, zu dem, was du "Verlaufscharakter" nennst und was sich seinen Weg bahnt.

    Ganz besonders episodisch zerstückelt finde ich übrigens leider, leider das c-Moll-Impromptu auf Buniatishvilis Schubert-Album. Auch dort fehlt es aus meiner Sicht an Einheit und Stringenz des Verlaufs.

    Es gibt sicherlich das Episodische bei Schubert (Brendel spricht über mehrere Sonaten zugleich, das ist das Problem glaube ich), etwa in der großen A-moll-Sonate oder der Wandererfantasie. Aber hier finde ich ist es doch anders. Zu Richter: Im Unterschied zu Buniatishvili ist Richter für meinen Geschmack "dialektisch": Wenn die Unendlichkeit zum Unermesslichen wird, kann die Bewegung auch erstarren - aber die erstarrte Bewegung ist in dieser privatio von unendlicher Beweglichkeit als Sinnstiftung eben noch da. Richter ist halt ein wirklich großer Geist - und dieser große Geist ist bei Buniatishvili eben nicht da, sondern nur vordergründiger Sensualismus. :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Du meinst sicher den Abschnitt Takt 20 bis 35, wo sie die innere Beschleunigung (durch die Verkürzung der Notenwerte), die aber wieiter in jedem Takt 4/4 ausmachen, in eine äußere Beschleunigung verwandelt, also das "Molto moderato" deutlich verlässt und spätestens ab Takt 29 über ein Allegro vivace quasi in ein Presto ausbricht. Diese Fehldeutung habe ich im Anfang dieser Schubertrezensionen schon einige Male erlebt. Das ist m. E. unkontrolliertes Spiel und infolgedessen ein "Sich fortreißen lassen".

    Habe ich mir gerade angehört, lieber Willi. Brendel schreibt, dass die Tempobezeichnung Molto moderato nur für den Anfang, aber nicht den ganzen Satz gelte. Selbst wenn also Tempowechsel nicht verboten sind, sind sie bei Buniatishvili doch sinnwidrig. Erst einmal gibt es einen "natürlichen" Tempowechsel im Rhythmus, nämlich die durch die Notenwerte bedingte Beschleunigung. Da braucht es also keiner forcierenden Tempobeschleunigung, um den Stimmungswechsel anzuzeigen. Und vor allem beginnt sie ja das Hauptthema langsam zäh. Durch die Beschleunigung Takt 30 ff. erscheint es auf einmal viel schneller. Das Hauptthema sollte doch bei einer Klaviersonate im selben Tempo gespielt werden. Wenn Schubert hier eine Beschleunigung hätte haben wollen, wäre sie auch von ihm angezeigt worden. Und vor allem: Wenn sie schon das Tempo beschleunigt, hätte sie diese Beschleunigung auch konsequent fortsetzen müssen. Nur nimmt sie das Tempo beim zarten Thema Takt 49 ff. wieder heraus - was so gar keinen Sinn macht. Es fehlt so schlicht eine Tempo-Dramaturgie, die so etwas wie eine organische Entwicklung bedeuten würde. Statt Entwicklung gibt es bei Buniatishvili nur ein Schwanken von Moment zu Moment.


    Liebe Grüße

    Holger

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  • Ja, William, den Abschnitt meinte ich. Und ich möchte Folgendes hinzufügen: Du und Holger habt hier die Pionierarbeit verrichtet - die Tempoverschärfung hattest du in deiner sehr gründlichen Analyse ja schon längst festgestellt, bevor ich mich darauf bezog. Und bei ganz vielem, was ich schreibe, greife ich Dinge auf, die ihr schon vorgelegt hattet - bis hin zu ganz ähnlichen Formulierungen und z.T. auch identischen Begrifflichkeiten.

    Holger: Wenn ich nächste Woche den Florentiner Kultur-Knall überwunden habe, mache ich mich nochmals an Brendels Aufsatz - ich habe ein großes Interesse daran, ihn richtig zu verstehen. Es gibt den Fall nicht so häufig, dass ein Spitzenpianist auch so tolle Texte über Klaviermusik schreibt. Und dann höre ich sicherlich auch noch mal intensiver in einige Schubert-Sonaten hinein bzw. nehme mir auch die Notentexte dazu vor.

  • Dank und Kompliment an die Autoren in diesem Thread! Ihr führt ein lebhaftes, (auch für mich als Laien) interessantes und respektvolles Gespräch miteinander, dem ich gerne lausche, d.h. mitlese.

    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*

  • Dank nochmal für die Beiträge von dir, lieber Leiermann und dir, lieber Hans.

    Zitat von Dr. Holger Kaletha

    Habe ich mir gerade angehört, lieber Willi. Brendel schreibt, dass die Tempobezeichnung Molto moderato nur für den Anfang, aber nicht den ganzen Satz gelte. Selbst wenn also Tempowechsel nicht verboten sind, sind sie bei Buniatishvili doch sinnwidrig. Erst einmal gibt es einen "natürlichen" Tempowechsel im Rhythmus, nämlich die durch die Notenwerte bedingte Beschleunigung. Da braucht es also keiner forcierenden Tempobeschleunigung, um den Stimmungswechsel anzuzeigen. Und vor allem beginnt sie ja das Hauptthema langsam zäh. Durch die Beschleunigung Takt 30 ff. erscheint es auf einmal viel schneller. Das Hauptthema sollte doch bei einer Klaviersonate im selben Tempo gespielt werden. Wenn Schubert hier eine Beschleunigung hätte haben wollen, wäre sie auch von ihm angezeigt worden. Und vor allem: Wenn sie schon das Tempo beschleunigt, hätte sie diese Beschleunigung auch konsequent fortsetzen müssen. Nur nimmt sie das Tempo beim zarten Thema Takt 49 ff. wieder heraus - was so gar keinen Sinn macht. Es fehlt so schlicht eine Tempo-Dramaturgie, die so etwas wie eine organische Entwicklung bedeuten würde. Statt Entwicklung gibt es bei Buniatishvili nur ein Schwanken von Moment zu Moment.

    Lieber Holger, ich habe mir gerade noch einmal die Exposition durch Brendel in seiner letzten Aufnahme aus der Royal Festival Hall vom 25. 6. 1997 angehört und danach noch einmal die von Khatia Buniatisvili: Brendel braucht bis Takt 116(excl. Überleitung) 5:00 Minuten, Buniatishvili 4:55. Aber wie kommen diese Zeiten zustande:

    Brendel spielt die Teile 1 und 2 des Hauptthemas (Takt 1 - 18) wesentlich schneller als Buniatishvili und beginnt dann in Takt 20 mit Einsetzen der Sechzehntel im Bass mit der "inneren Beschleunigung", d. h. im Wesentlichen, er spielt im Bass doppelt so viele Noten in einem Takt wie vorher. Das klingt vordergründig schneller, aber er macht das so organisch, dass es bei genauem Hinhören immer noch im gleichen Tempo klingt, denn im Diskant laufen ja weiter die Viertel und Halben durch, ab und zu Achtel. Selbst, als im Takt 27 mitten im dritten Hauptthementeil die Achtel hinzutreten und ab Takt 29 nur noch Sechzehntel gespielt werden, habe ich nie den Eindruck einer deutlichen Beschleunigung. Man darf nämlich auch nicht vergessen, dass die ganze Zeit, von Takt 20 bis Takt 33 im Bass durchgehend Sechzehntel gespielt werden, die eigentlich nach Satzvorschrift immer gleich gespielt gehören, nämlich doppelt so schnell wie in Takt 1 bis 18, und die einzige Satzvorschrift im ganzen Kopfsatz ist "Molto moderato".

    Und Brendel behält dies Tempo mit der inneren Beschleunigung während der ganzen Exposition bis zum Eintritt der Schlussgruppe bei. Erst hier nimmt er das Tempo deutlich zurück. Er geht also äußert planvoll vor, wie übrigens etliche andere gute Schubert-Pianisten auch. Bis hierhin wirft sein Spiel keinerlei Fragen für mich auf. Über die einzige Frage habe ich mich ja schon häufiger ausgelassen.

    Khatia Buniatishvili hingegen spielt die ersten biednen Thementeile viel langsamer als Alfred Brendel und beschleunigt ab Takt 26 so eminent und spielt sogar das lyrische Seitenthema, in dem sich nicht nur Alfred Brendel, sondern auch viele andere Pianisten etwas zurücknehmen, deutlich schneller als Brendel, ebenso, wie die Achteltriolensequenz (ab Takt 79), so dass das Ganze ab Takt 27 so klingt, als wollte sie hier ihre Virtuosität unter Beweis stellen.

    Letztendlich findet sie auch in der Gestaltung der dynamischen Verläufe nicht zu jener schlüssigen Lösung, die uns Brendel und viele andere hier präsentieren.

    Ich werde, wenn ich endlich mit meiner laufenden Hammerklavier-Rezension fertig bin, im Schubert-Thread mit Philppe Entrement weitermachen, der die B-dur-Sonate wie es scheint, 200 Jahre nach ihrer Entstehung, mit 84 Jahren, aufgenommen hat.


    Liebe Grüße


    Willi:)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • : Wenn ich nächste Woche den Florentiner Kultur-Knall überwunden habe, mache ich mich nochmals an Brendels Aufsatz - ich habe ein großes Interesse daran, ihn richtig zu verstehen. Es gibt den Fall nicht so häufig, dass ein Spitzenpianist auch so tolle Texte über Klaviermusik schreibt. Und dann höre ich sicherlich auch noch mal intensiver in einige Schubert-Sonaten hinein bzw. nehme mir auch die Notentexte dazu vor.

    Lieber Leiermann,


    den Florentiner Kultur-Knal würde ich auch gerne erleben und freue mich schon auf Deine "Forschungs"-Ergebnisse. Dieser Thread macht wirklich Spaß und ist ungemein lehrreich - Dank Deiner und Willis Beiträgen! So kann ich mich in die Materie auch vertiefen mit Freude - bei dieser Sonate habe ich es bisher noch nicht getan. Brendels Texte sind wirklich sehr lesenswert - er ist eben mehr als nur ein Pianist, sondern wirklich ein geistvoller Mensch! :hello:

    Lieber Holger, ich habe mir gerade noch einmal die Exposition durch Brendel in seiner letzten Aufnahme aus der Royal Festival Hall vom 25. 6. 1997 angehört und danach noch einmal die von Khatia Buniatisvili: Brendel braucht bis Takt 116(excl. Überleitung) 5:00 Minuten, Buniatishvili 4:55. Aber wie kommen diesen Zeiten zustande:

    Lieber Willi,


    wegen Deines Beitrags habe ich tatsächlich eben auch noch Brendel, die Aufnahme von 1972, gehört. Eigentlich bin ich aber schon ziemlich müde, hatte vorher die lange Rezension über Clara Haskil fertig geschrieben, dann Annie Fischer gehört und auch die Rezension geschrieben. (Davor hatte ich Ragna Schirmer mit dem Klavierkonzert von Clara Schumann und Beethovens 4. Klavierkonzert ebenfalls mit ihr (mit hoch interessanten Kadenzen von Clara Schumann) gehört, worüber ich auch noch schreiben müsste, eigentlich jedenfalls.) Das reicht eigentlich nach einem letzten Arbeitstag der Woche. Annie Fischer habe ich mit großer Freude gehört - aber Brendel 1972 reißt mich irgendwie nicht vom Hocker. Sicher ist das alles ungemein sachverständig, aber ich denke, er kann weit mehr aus der Sonate herausholen als damals. Das ist mir alles etwas zu akademisch vorsichtig gespielt - einfach zu gediegen. Ein bisschen mehr Radikalität fände ich besser. Mir fehlt genau diese Aufnahme von 1997 - sehr schade. (Gibt es nicht noch eine spätere von seiner letzten Tournee?) Ich habe sonst nur noch die ganz alte aus der Vox-Box - ich nehme an, da ist die B-Dur-Sonate drin. Mit dem, was Du über Buniatishvili schreibst, hast Du voll Recht. Das könnte ich nicht besser schreiben!

    Khatia Buniatishvili hingegen spielt die ersten biednen Thementeile viel langsamer als Alfred Brendel und beschleunigt ab Takt 26 so eminent und spielt sogar das lyrische Seitenthema, in dem sich nicht nur Alfred Brendel, sondern auch viele andere Pianisten etwas zurücknehmen, deutlich schneller als Brendel, ebenso, wie die Achteltriolensequenz (ab Takt 79), so dass das Ganze ab Takt 27 so klingt, als wollte sie hier ihre Virtuosität unter Beweis stellen.

    Letztendlich findet sie auch in der Gestaltung der dynamischen Verläufe nicht zu jener schlüssigen Lösung, die uns Brendel und viele andere hier präsentieren.

    Annie Fischer spielt die Fortissimo-Wiederholung des Themas genauso schnell wie Buniatishvili, sie beginnt aber auch im selben Tempo. Das ist der entscheidende Unterschied. Wenn man es so langsam zu Beginn macht wie Buniatishvili und dann den zweiten kräftigen Auftritt des Themas im Tempo forciert, dann muss man auch so fortfahren. Dann nämlich würde sich ein Einschnitt Einleitung-Exposition ergeben, man würde den ersten Auftritt des Themas als eine Art Vor-Exposition wahrnehmen. Ein klassisches Hauptthema ist ja eigentlich energisch im Auftreten (bei Schubert gibt es das bei der noch Beethoven nahe gestalteten Sonate D 537). Nur hat Katia Buniatishvili schlicht keinen Formsinn. Wenn sie das zarte Thema mit den Repitionsmotiven im Tempo zurücknimmt, wird genau dieser Expositionscharakter des Themas, dass die eigentliche Setzung die energische zweite ist bzw. sein könnte, wieder zunichte gemacht. Statt der rückwirkenden Deutung der ersten Formulierung des Themas als Quasi-Einleitung haben wir einfach nur drei Episoden - die Sonatensatzarchitektur wird schlicht unkenntlich. Das ist einfach nur kopflos.

    Ich werde, wenn ich endlich mit meiner laufenden Hammerklavier-Rezension fertig bin, im Schubert-Thread mit Philppe Entrement weitermachen, der die B-dur-Sonate wie es scheint, 200 Jahre nach ihrer Etnstehung, mit 84 Jahren, aufgenommen hat.

    Ich freue mich, jetzt erst einmal zwei Wochen Urlaub zu haben! :jubel: So habe ich nächste Woche mehr Zeit und kann mich ein wenig der Sonate widmen - neben meinem Aufsatz, den ich endlich fertig schreiben muss. Ich denke, ich werde mir einfach einige für mich exemplarische Aufnahmen rauspicken, um so eine Orientierungspunkte zu haben, was die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten angeht. Das im Hinterkopf kann ich dann vielleicht besser die vielen anderen sortieren. Die verschiedenen Richter-Aufnahmen kann ich nun vergleichen, die ich vorher nicht hatte, mir auch nochmals Horowitz, Berman und natürlich die historischen Aufnahmen von Schnabel und Kempff vornehmen. Ich habe ja so viele Aufnahmen - das ist das Problem. Auch noch z.B. die letzte von Menahem Pressler, die ich noch gar nicht gehört habe. Aber durch diesen Thread habe ich Spaß bekommen, mich mit dieser Sonate zu beschäftigen. Warum sollte man es dann nicht tun? Man entdeckt etwas Neues und zusammen im Dialog sowieso immer mehr.


    Die Rezensionen werde ich wohl erst morgen einstellen - morgen ohne die Wochenend-Müdigkeit lese ich sie erst noch einmal durch. Wenn ich müde bin, mache ich nämlich idiotische Fehler! :D


    :) :hello:


    Herzlich grüßend

    Holger

  • Zitat von Dr. Holger Kaletha

    Mir fehlt genau diese Aufnahme von 1997 - sehr schade. (Gibt es nicht noch eine spätere von seiner letzten Tournee?)

    Doch, die gibt es lieber Holger, die hatte ich ganz vergessen, sie ist von den "Farewell-Concertos"

    Dieses Programm hat er am 14. Dezember 2008 im Großen Sendesaal dees Hannoverschen Funkhauses gespielt: erst Beethovens op. 27. Nr. 1, in meinen Rezensionen die Referenz, dann Schuberts B-dur-Sonate, dann drei Zugaben. Das gleiche Programm hat er auch in Köln und in Flensburg (SHMF) gespielt. In Köln war ich im Frühjahr 2008 mit meiner Tochter dort, und wegen eines Staus auf der Autobahn kamen wir erst zur Pause hinein und konnten die B-dur-Sonate aber noch genießen. Flensburg habe ich dann noch nachträglich gebucht und bin alleine hingefahren. Da habe ich das ganze Programm mitbekommen, aber weil es eine unglückliche Störung gegeben hatte, hat er die B-dur-Sonate im Kopfsatz abgebrochen, hat böse ins Publikum geschaut, ist halb von der Bühne gegangen, dann zurückgekehrt und hat die Sonate von vorne noch einmal gespielt. Allerdings hat er dann nur zwei Encores gespielt, im Gegensatz zu Köln, wo es eine Bagatelle von Beethoven war, dann das 3. Imromptu D.899 von Schubert und zum Abschluss Das Choral-Vorspiel BWV 659 im Arrangement von Busoni: Nun komm' der Heiden Heiland.

    Wenn es mir wieder gelingt, die Scheiben zu speichern, schicke ich dir die Dateien mit WeTransfer.


    Liebe Grüße


    Willi:)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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