Zweimal befaßte sich Carl Orff mit dem Thema Weihnachten: 1948 kam im Hörfunk des Bayerischen Rundfunks die "Weihnachtsgeschichte" zur Uraufführung. Orff hatte den Text geschrieben, seine "Schulwerk"-Mitarbeiterin Gunild Keetman die Musik. Der Text steht auf der Basis alpenländischer Krippenspiele, in der Musik folgt Gunild Keetman den von ihr mitentwickelten "Schulwerk"-Modellen. Den Text hat Orff in seiner altbayerischen Kunstsprache verfaßt. Im Original und in Übersetzungen in unzählige Dialekte ist dieses Werk ein saisonaler Dauerbrenner für Kinder- und Laienaufführungen.
Doch Weihnachten ließ Orff nicht los, vor allem, weil er, der, wie Luise Rinser erzählt hat, mit der Orff einige Zeit verheiratet war, im Schlaf vom Teufel und von Dämonen gehetzt wurde, sich auch für die dunklen, heidnischen Seiten von Weihnachten interessierte - und die nehmen nun im "Ludus de nato infante mirificus" breiten Raum ein. Das Werk ist ein Weg vom Dunkel zum Licht. Orff hat den Text von dichterischer, teils sprachschöpferischer Qualität selbst geschrieben, der von Orff entwickelte quasi-altbayerische Kunstdialekt ist die Basis, dazu kommt bruchstückhaftes Latein bei den Hexen und die lateinische Hymnik der Katholischen Kirche für die Engel.
Besetzung
Eine alte Hexe, Hirten, Hexen, Chor der Hexen (von Männern dargestellt), Chor der Engel, Stimmen der schlafenden Blumen, Stimme der Erdmutter
Orchesterbesetzung: (vor der Bühne, mögl. verdeckt): Pauken, Schlagzeug: Tenorxylophon, Bassxylophon, 4 Becken, 3 Gongs, 3 Tamtams, Schlitztrommel, 2 Bongos, Tomtom, Große Trommel, Gläserspiel, Steinspiel, Guiro, Angklung, 3 Holzblöcke, Rasseln, Bambusstäbe, Ratsche, Klavier
Hinter der Bühne: Windmaschine, Donnermaschine
Auf Tonband (oder hinter der Bühne bzw. verdeckt postiert): Piccolo; Pauken, Schlagzeug: Glockenspiel, Crotales, Xylophon, Marimba (2 Spieler), Metallophon, 3 Triangeln, Becken, Große Trommel, 2 Harfen, Celesta, 2 Klaviere, Orgel, 3 Kontrabässe
Die Hexen, Verkörperungen des Heidentums, ahnen, was geschehen wird, und versuchen es zu verhindern. In einer Höhle sitzen sie auf dem Boden und entfesseln mit ihrem Wetterzauber ein Winterunwetter, um die "Frau" und den "Mann" von ihrem Weg abzubringen: "Nox, nox, gelida nox! Nex, nex, frigida nex! [...] Laßt's d'Schneewinder treibn, Werft's d'Windschaufeln auf! Windrader, Treibwinder, hellischer Blasbalg, Blasbalg vom Teifl! Schickts Gfrier, großmachtinge Gfrier! Hauts Gfriernägl nei, daß allssamt verbeint, verbeint und versteint! Mendax Sibilla, so zwing ma den Stern, so zwing ma den Zauber, den Spruch und den Stern!" Die Hexen verschwinden.
In der Musik entfesselt Orff mit rhythmischem Sprechen der Männerstimmen und dem voranpeitschenden Schlagzeug ein Pandämonium, das dem der "Bernauerin"-Hexenszene noch überlegen ist. Auf diese nervenaufreibende Szene folgt eine reine Sprechszene mit vielen sehr stillen Momenten, der große Dialog der Hirten: "Blaß und schmachti hat s' hergschaut, die Frau. Wie 's daghockt is aufm Esel, neipackt in 'n Mantl, mitm Schneepelz zudeckt, halbert verschniebn." Sie schlafen ein. Im Wahrtraum sieht einer die die Pietà und hört die Engel singen: "Und allweil haben s' gsunga und gsunga vom pax, vom pax, der itza na kemma werd auf der Erdn. Vom pax, vom pax für die hominibus, allweil vom pax und von de hominibus." Worauf einem anderen der Geduldsfaden reißt: "Itzt glangts ma, Kreizteifi! Itzt hab i scho gnua von dein dappertn Traam! [...] Wia magst na an solchernen Schmarrn no verzähln? An pax, an pax bei de hominibus!? So deppert ko do gar koar Engl net sein, daß er sowas daherredt!" Das Unwetter hat sich gelegt. Die Hirten machen sich auf zu ihren Schafen.
Kinder gehen über den Schnee und tragen Lichter in ihren Händen.
Da beginnen die hellen Schlagwerke zu klingen und die Engel singen: "Plaudite, plaudite, applaudite ... canite, sonite, psallite, tanginte cordas! Hora felix! Natus est puer, puer natus est!" Unter dem Schnee singen die schlafenden Blumen, man vernimmt die Stimme der Erdmutter. Da werden nochmals die Hexen sichtbar. Lassen wir das Kind groß werden, beschließen sie, nicht das Kind werden sie direkt attackieren, sondern die Menschen, denn: "Die Menschenleit, die, die bringn, wanns sein muß, an jedn ans Kreiz." Für einen Moment dunkelt das Geschehen nocheinmal ein, doch da erklingen wieder die Engelstimmen, und mit einem jubelnden "Laudate Dominum" endet das Werk.
Die Uraufführung erfolgte nicht etwa in Bayern, sondern am 11. Dezember 1960 am Württembergische Staatstheater Stuttgart, Dirigent war Heinz Mende, Paul Hager inszenierte im Bühnenbild von Leni Bauer-Ecsy. Der Bayerische Rundfunk produzierte 1971 eine Schallplattenfassung unter Orffs eigener Dialogregie, dirigiert von Kurt Eichhorn. Mitwirkende waren u.a. Maxl Graf, Fritz Strassner, Ludwig Schmid-Wildy und Gustl Weishappel, der Tölzer Knabenchor, der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Münchner Rundfunkorchester. 1987 produzierte der Bayerische Rundfunk eine wunderschöne Fernsehproduktion, die Orffs visionäres Weihnachtsspiel in magische Bilder bannte. Heinz Wallberg dirigierte. Das Finale ist hier zu erleben:
Ein Mitschnitt ist beim angeführten privaten Anbieter preisgünstig zu bekommen.Orffs "Ludus de nato infante mirificus" hat das gleiche Problem wie die "Comedia de Christi resurrectione": Es ist ein für Theater unpraktisches Werk, da Sprechbühnen die Musiker und Musikbühnen die Schauspieler hinzuengagieren müssen. Obendrein ist auch dieses Werk nicht abendfüllend.
Orffs Idee, Oster- und Weihnachtsspiel zum Diptychon zusammenzufassen, ist bei diesem Theaterpraktiker erstaunlich weltfremd und wohl seinem Hang zur Zyklusbildung geschuldet. Denn natürlich ist zu Weihnachten die Koppelung mit einem Osterspiel so seltsam, wie zu Ostern die Koppelung mit einem Weihnachtsspiel (was eher ginge) - doch das größere Problem ist die sehr ähnliche Anlage beider Werke mit musikalisierten Außenteilen, die einen Sprechteil umrahmen.
Die sicherlich beste Aufführung des "Ludus" ist die erwähnte Fernsehproduktion. Die Hörfunkproduktion ist gleichwertig - nur eben ohne Bild, was beim Werk eines so sehr an die Szene denkenden Musikdramatikers wie Orff einen gewissen Verlust bedeutet. Dennoch funktioniert das von Orff selbst inszenierte Kopftheater mit erstaunlicher suggestiver Kraft. Derzeit ist es nur in dieser Sammelbox zu bekommen: Bitte Preisvergleiche anstellen, diese Box wird zu sehr unterschiedlichen Kosten angeboten.
Die Gretchenfrage: Ist das "Ludus de nato infante mirificus" bedeutender Orff? - Ich kann das nur subjektiv beantworten: Ich liebe dieses Werk. Ich weiß, daß die Musik nur sporadisch in ihre Rechte tritt, aber die einleitende Hexenszene ist fulminant und an Dämonie nicht zu überbieten, und im Finale entwickelt Orff einen unwiderstehlichen tänzerischen Jubel mit ganz einfachen Mitteln, aber sie überzeugen. Mir steht das Werk freilich auch textlich nahe: Ich finde, es ist Orffs schönste und tiefste Dichtung, und der Wahrtraum des Hirten mit der Pietà-Vision ist von großer Kraft, die Sprache hat Magie und Klang und ist doch so einfach, sie schlägt Brücken über Jahrhunderte hinweg und vom naiven Krippenspiel zur intellektuellen Deutung des Geschehens.
Für mich gehört dieses Werk zu Weihnachten, und wie ich Weihnachten liebe, so liebe ich Carl Orffs "Ludus de nato infante mirificus".