28.05.2018 (Mehr! Theater, Hamburg) Karlheinz Stockhausen, Gruppen - Cornelius Meister, Duncan Ward & Dietger Holm, RSO des ORF Wien

  • Im Rahmen des 3ten Internationalen Musikfestes Hamburg stand am gestrigen Abend eines der musikalischen Schlüsselwerke des 20ten Jahrhunderts auf dem Programm:


    Karlheinz Stockhausen [1928 - 2007]


    Gruppen für drei Orchester (1955 - 1957)


    Cornelius Meister
    Duncan Ward
    Dietger Holm
    ORF Radio-Symphonieorchster Wien


    Wie zur Bekräftigung des Besonderen ging es heuer einmal nicht in die Elbphilharmonie, deren räumliche Möglichkeiten in diesem Fall schlicht nicht ausgereicht hätten, sondern in das neue Mehr! Theater am Großmarkt. Hierbei handelt es sich um eine der drei 1962 gebauten und inzwischen denkmalgeschützten Großmarkthallen des Architekten Bernhard Hermkes. Mit-Taminos, die vielleicht schon aus südlicher Richtung per Fernbahn in Hamburg angekommen sind, mag die charakteristische Wellenform des Hallenkomplexes in Erinnerung sein. Im Inneren der (Konzert-)Halle bot sich nun genügend Raum für die drei im Hufeisen angeordneten Orchester-Podeste, sowie eine ausreichende Bestuhlung sowohl in der Mitte der Podeste, sowie im hinteren, leicht erhöhten Parkettbereich.
    Eine weitere Besonderheit an diesem Abend war dann die Möglichkeit der freien Platzwahl. Mein Bekannter, dem ich die Idee zum Besuch des Konzertes, sowie die Karte zu verdanken hatte, und ich nutzten dies, uns mitten im Geschehen, also zentral innerhalb des Hufeisens zu platzieren: Der Effekt war tatsächlich überwältigend! - Man mag sich lange über die Vor- und Nachteile der Stereophonie, der geeigneten Abspiel- und Schalltechnik streiten, auch die Frage, ob es sich besser im Parkett oder auf den Rangplätzen hört, ist sicher von Bedeutung, aber alle derartigen Fragen werden nebensächlich, wenn man sich in der Mitte dreier Orchester befindet und die Töne real von links nach rechts, vor einen in die Mitte und wieder zurück wandern. Vom ersten Ton an war klar, dass dieses Stück eigentlich nur in der direkten "Konfrontation" funktioniert. Die zuvor von mir mehrere Male vorbereitend gehörte CD-Einspielung (s.u.) liefert hier aufgrund ihrer akustischen Beschränkungen praktisch keinen Eindruck dessen, was gestern live zu erleben war. Man hat es gewissermaßen mit einem vollkommen anderen Werk zu tun. Man sitzt mit geschlossenen Augen, verfolgt einzelne Töne, Linien und Tongruppen, wie sie sich durch den Raum bewegen, wobei auch die Akustik der Halle erstaunlich gut ist.
    Was dabei natürlich etwas verloren geht, ist der optische Eindruck dreier Dirigenten, die ja nicht nur jeweils ihr Orchester für sich leiten, sondern sich auch mit den beiden Partnern und deren Orchestern koordiniern müssen siehe hier).
    Glücklicherweise, und hier kommt es neben dem Ort und der freien Platzwahl zur dritten Besonderheit des Abends, haben sich die Aufführenden an das Motto Günter Wands gehalten: "Ich sehe, Sie haben das Stück noch nicht verstanden. Ich werde es Ihnen daher nochmals zu Gehör bringen.". Nach der Pause wurde das ca. 25 minütige Werk ein zweites Mal gespielt! - Wieder mit freier Platzwahl ging es nun in den etwas erhöhten Bereich hinter dem Hufeisen, so dass wir jetzt alle drei Orchester und deren Leiter im Blick hatten. Der Raumklang-Effekt war weiterhin gegeben, wenngleich natürlich weniger ausgeprägt. Dafür präsentierte sich durch den stärkeren Mischklang ein durchaus anderes Stück. Interessant zu beobachten war, dass auch die Orchester, die gerade nicht spielten, schon weit vor ihren jeweiligen Einsätzen dirigiert wurden. Es fand so jeweils ein präzises "Einschwingen" auf den Takt und den Einsatz statt. Alle Beteiligten hatten ganz offensichtlich große Freude an dieser Aufführung.


    Zu den Gruppen als Werk ist schon vieles gesagt und geschrieben worden. Angefangen bei der Tatsache, dass sich der Titel nicht, wie man leicht vermuten könnte, auf die drei Orchester(-gruppen), sondern vielmehr auf Tongruppen bezieht. Es handelt sich um ein Werk serieller Musik (siehe z.B. hier), welches, wie oben angedeutet, m.E. durch reines Hören etwa einer CD-Einspielung recht schwer zugänglich ist. Das Ohr eigentlich keine Anknüpfungspunkte in Form verfolgbarer Melodien oder wiederkehrender Motive. Erst das wirkliche Hören in der Aufführung wirkt in gewisser Weise einprägsam, d.h. nicht eigentlich das musikalische Ohr, sondern eher die gesamte Wahrnehmung erkennt räumlich sich bewegende, wiederkehrende Effekte, Strukturen und Momente. Vor diesem Hintergrund scheint es quasi unumgänglich, dass Stück mit einer zwischenliegenden Pause zweimal zu spielen. Die Idee des Raumklanges kommt auch in vielen anderen Werke Karlheinz Stockhausens zur Geltung, so verwendet er in Carré (1960) konsequenterweise vier Orchester in entsprechender Anordnung.


    Wer jetzt neugierig geworden ist und Stockhausens Werk Nr.6 "Gruppen" zumindest höhrend oder sehend erfahren will, wird hier fündig:




    p.s. Soeben habe ich entdeckt, dass sich auch die "professionelle Schreibe" geäußert hat: Synchronschwimmen  in Orchesterklängen (Joachim Mischke, Hamburger Abendblatt; zuletzt aufgerufen am 29.05.2018).

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • p.p.s. Offenbar wurde die Seite der Besprechung im Hamburger Abendblatt geändert; jetzt Drei Dirigenten für ein Stück (Joachim Mischke, Hamburger Abendblatt; zuletzt aufgerufen am 30.05.2018).

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Glücklicherweise, und hier kommt es neben dem Ort und der freien Platzwahl zur dritten Besonderheit des Abends, haben sich die Aufführenden an das Motto Günter Wands gehalten: "Ich sehe, Sie haben das Stück noch nicht verstanden. Ich werde es Ihnen daher nochmals zu Gehör bringen.". Nach der Pause wurde das ca. 25 minütige Werk ein zweites Mal gespielt!

    Lieber Michael,


    das ist lustig! :) Denn damals hörte ich die "Gruppen" in der Kölner Messe - Stockhausen selbst dirigierte zusammen u.a. mit Eötvös. Das Konzert gab es zweimal hintereinander (in der Mitte jedes der beiden Aufführungen spielte Ellen Corver das Klavierstück IX) - für beide Konzerte brauchte man natürlich eine extra Karte - zweimal hören war also nicht vorgesehen. In der Pause sprachen meine Frau und ich mit Stockhausen - u.a. über Heidegger! Stockhausen meinte: "Die Deutschen haben Heidegger kaputt gemacht!" (Damals waren die "Schwarzen Hefte" noch nicht bekannt.) :D Dann sagte er zu uns: "Sie müssen das Konzert unbedingt ein zweites Mal hören!" Darauf ich: "Herr Stockhausen, wir haben aber für das zweite Konzert keine Karte." Daraufhin hat uns dann Stockhausen persönlich ohne Karte durch sein Künstlerzimmer in den Saal geschleust und wir hörten die "Gruppen" dann zweimal! :D :D :D


    Die Idee des Stückes ist, dass die drei Orchester getrennt spielen und sich dann wieder verbinden - das nennt Stockhausen selbst "Brücken". Das Vorbild dafür ist Bartok - Stockhausen hat nicht zufällig über Bartok seine Magisterarbeit geschrieben. Das gibt es nämlich in Bartoks Musik für Streichorchester, Schlagzeug und Celesta. Dass sich die Klänge um einen herum bewegen hat er in seiner elektronischen Musik später realisiert - in "Spiral" bei der Weltausstellung in Osaka saß man in einer Kugel, d.h. die Klänge bewegten sich auch über und unter einem. Sehr sehr schade, dass sie diesen kugelförmigen Saal nicht in Deutschland wieder aufgebaut haben. Zuhause habe ich auch die Abbado-Aufnahme der "Gruppen". Sowohl Abbado und - noch schlimmer für ihn - Simon Rattle fanden bei Stockhausen, als ich ihn darauf ansprach, keine Gnade. :D Die Aufnahmen fand er nur "schlecht". Sie hatten für ihn nicht genügend geprobt. Er war halt ein Perfektionist und in musikalischen Dingen absolut kompromisslos. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo Holger,


    Dann sagte er zu uns: "Sie müssen das Konzert unbedingt ein zweites Mal hören!" Darauf ich: "Herr Stockhausen, wir haben aber für das zweite Konzert keine Karte." Daraufhin hat uns dann Stockhausen persönlich ohne Karte durch sein Künstlerzimmer in den Saal geschleust und wir hörten die "Gruppen" dann zweimal! :D :D :D

    die Geschichte gefällt mir :thumbsup: Ich habe schon bei so mancher UA im Konzert gedacht, es wäre schön, das Werk direkt ein zweites Mal zu hören - insbesondere, da ja naturgemäß noch keine Aufnahme für ein vertieftes Hören zur Verfügung steht. Da stimmt es einen direkt wehmütig, wenn man sich bewußt macht, dass man so manches Werk (zumindest live) vermutlich das erste und einzige Mal in seinem Leben gehört hat. Ob ich mit meinen inzwischen 47 Jahren beispielsweise in den Genuß kommen werde, Stockhausens Gruppen ein weiters Mal zu hören, steht in den Sternen ... rein statistisch werde ich dann ja 94 sein 8o Übrigens gibt es zu diesem Werk hier sogar einen eigenen Thread.


    p.s. Ein weitere recht amüsanter Gedanke, den ich hatte, wie es wohl wäre, wenn sich drei "wahre Persönlichkeiten" des Stückes angenommen hätten, also solche, von denen Alfred immer meint, es gäbe sie heutzutage ja garnicht mehr, wie beispielsweise Celibidache, Karajan und Solti oder meinethalben auch ein dreifach-geklonter Thielemann :hahahaha:

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.