Beethoven hat über achtzig (85, - nach meiner Zählung) deutschsprachige Lieder für Singstimme und Klavier komponiert. Darunter finden sich zwar einige im Grunde belanglose Gelegenheits-Liedchen von nur geringem musikalischem Rang, aber die meisten stellen von ihrem liedmusikalischen Gehalt und ihrer Aussage her höchst gewichtige und bedeutsame Kompositionen dar. Von daher ist er also ganz zweifellos unter die großen Liedkomponisten zu zählen.
Angesichts dieser Tatsache mutet es aber seltsam an, dass sein liedkompositorisches Schaffen in den ihm gewidmeten Monographien und Biographien meist eine untergeordnete Rolle spielt, vielfach nur gleichsam nebenbei erwähnt wird. Man könnte den Eindruck gewinnen: Neben seinem gewaltigen instrumentalen Werk ist das kleine Klavierlied von nur geringer historischer Bedeutung, scheint von diesem geradezu erdrückt zu werden. Das aber dürfte ein großer Irrtum sein. Und dies nicht nur wegen der schieren Quantität seiner liedmusikalischen Werke, sondern vor allem angesichts ihrer liedkompositorischen Qualität und der den historischen Ort ihrer Entstehung transzendierenden, bis in die Gegenwart reichenden musikalischen Aussage.
Hinzukommt noch ein weiterer, das Urteil über die Lieder Beethovens tangierender Aspekt. Die Musikwissenschaft tat sich lange Zeit schwer damit, Beethoven in der Geschichte des deutschen Liedes einen inhaltlich begründeten und von daher klar definierten Ort zuzuweisen. In dem von Hans-Georg Nägeli entworfenen liedhistorischen Entwicklungskonzept der „vier Epochen“, wobei die vierte die von Schubert eingeleitete des modernen „polyrhythmischen Liedes“ ist, vermochte man Beethoven nicht so recht unterzubringen. Inzwischen scheint sich diesbezüglich eine Auffassung durchzusetzen, die mir wohlbegründet erscheint. Walter Dürr stellt sie gleichsam noch zur Diskussion, wenn er (im „Beethoven-Handbuch, Abt. „Vokalmusik und Bühnenwerke“) den Gedanken in Frageform vorbringt: „Könnte es sein, dass Beethovens Liedschaffen eine Art Scharnierfunktion zwischen der Liedtradition des 18. Jahrhunderts und der neuen (auch von Nägeli so beschriebenen) des 19. Jahrhunderts einnimmt?“
Vertieft man sich auf dem Hintergrund einer – gewiss nur bruchstückhaften - Kenntnis der historischen Entwicklung des Klavierliedes in eben dieses „Liedschaffen“ Beethovens, dann neigt man dazu, auf diese Frage mit einem klaren „Ja“ antworten. Es sind vor allem drei Aspekte, die für diese „Scharnierfunktion“ sprechen, und sie stehen in einem inneren Zusammenhang:
--- Die zentrale Intention, die Beethovens Liedkomposition zugrundeliegt;
--- die Motive für seine Wahl des lyrischen Textes;
--- und die Funktion, die bei ihm der Musik im Hinblick auf den lyrischen Text zukommt.
Um bei dem letzten Aspekt anzusetzen: Alle vorangehenden liedkompositorischen Richtungen und Schulen, von Abraham Peter Schulz, Karl Friedrich Zelter, bis zu Johann Friedrich Reichardt und Zumsteeg, verstanden das Lied als vertonte Dichtung, wobei die Musik primär, ja ausschließlich die Funktion hatte, einen besseren Zugang zur Dichtung zu erschließen, in dem Sinne, dass sie, wie Schulz dies in höchst treffender Weise formuliert hat, „einen leichteren Eingang zum Gedächtniß und zum Herzen“ findet.“ Diese funktionale Beschränkung der Musik findet sich bei Beethoven in seinen frühen Liedkompositionen zwar vereinzelt auch noch, er hat sich davon aber alsbald emanzipiert, indem er der Musik mehr und mehr eine eigenständige Aussage zumaß, bis hin zu einer regelrechten Interpretation der lyrischen Aussage. Dies zwar nur ansatzweise und keineswegs im Sinne eines Primats, wie das dann bei Schubert der Fall ist, aber immerhin:
Er ist damit auf dem Weg zur „polyrhythmischen Liedmusik“, wie sie für Nägeli das Endstadium der Entwicklung des Kunstliedes darstellt.
Dass er ihn nur gleichsam eingeschlagen, aber nicht wirklich begangen und konsequent weiterverfolgt hat, ist wohl aus seinem künstlerisch-kompositorischen Grund- und Selbstverständnis zu erklären, das wesenhaft dem Geist der Klassik verpflichtet ist. Daraus resultiert ein genuines Verständnis des musikalischen Werks, was dessen innere Anlage, seine formale Grundstruktur und die künstlerische Aussage-Absicht anbelangt. Das wirkt sich auch maßgeblich auf seine Liedmusik aus, und der Titel dieses Threads beinhaltet die Verpflichtung, dies im einzelnen aufzuzeigen und nachzuweisen.
Was die lyrischen Texte anbelangt, zu denen Beethoven griff, um sie in Liedmusik zu setzen, so lässt sich darin kein literarisch motiviertes Prinzip ausmachen. Auf den ersten Blick wirkt das Ganze wahllos. Die Autorschaft reicht von Matthias Claudius bis Gottfried August Bürger, Lessing finden sich darunter, aber auch Sophie Mereau, Herder, Hölty, solch literaturhistorisch unbedeutende Lyriker wie Stephan von Breuning, Christoph August Tiedge oder Alois Jeitteles, aber auch Namen wie Gellert, Matthisson und Goethe. Auf den zweiten Blick, die Liedmusik auf die Texte dieser Autoren einbeziehend, zeigt sich darin aber sehr wohl ein Prinzip. Es ist in den allermeisten Fällen das personale Angesprochen-Sein, das Beethoven zu einem lyrischen Text greifen lässt, wobei er dann der Liedmusik die Aufgabe zumisst, eben diese personale Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen.
Und das ist neu, liedhistorisch betrachtet, und es weist ansatzweise in die Zukunft des Kunstliedes, - die des romantischen Klavierliedes, wie es durch Schubert erstmals maßstabgebende Gestalt annahm. Aber auch wenn sich bei Beethoven erstmals – auch das ist zukunftweisend – die Tendenz zur liedkompositorischen Zyklus-Bildung auf der Grundlage der Lyrik eines Autors findet, oder wenn er sich, wie im Falle Goethes, in mehrfacher Weise liedkompositorisch einem bestimmten Lyriker zuwendet, so darf man daraus nicht schließen, dass er das aus der Motivation heraus tat, wie sie bei den zyklischen Werken Schuberts oder denen der nachfolgenden Romantiker und Spätromantiker ausschlaggebend war.
In allen Fällen ist es bei Beethoven primär, ja ausschließlich, das personale Sich-angespochen-Fühlen durch die jeweilige lyrische Aussage, die ihn zu einem lyrischen Text greifen lässt. Und das hat zur Folge, dass er zum Beispiel im Falle von Goethe nicht die Absicht verfolgte, dem spezifischen Wesen von dessen lyrischer Sprache liedmusikalisch nachzuspüren, sondern die Auswahl aus dessen lyrischem Werk bei den dreizehn Liedern, die er darauf komponierte, primär nach den Themen vornahm, die eine gleichsam leitmotivische Funktion in seinem liedkompositorischen Schaffen einnahmen.
Und diese schälen sich aus dem liedmusikalischen Gesamtwerk ganz deutlich heraus und erweisen sich den existenziellen Grundfragen geschuldet, mit denen sich Beethoven als Mensch und Künstler zeitlebens, aber zunehmend in den mit 1812 einsetzenden Krisenjahren auseinandersetzen musste.
In Begriffe gefasst würde man die zentralen unter ihnen mit „Liebe“, „Freundschaft“, „Sehnsucht“, „Hoffnung“, „Resignation“ und „Klage“ benennen. Man begegnet ihnen in seinen Liedern immer wieder, nicht nur in Gestalt der lyrischen Texte, die er dafür heranzog, sondern auch in den liedkompositorischen Akzenten, die er dabei jeweils gesetzt hat, besonders in dem von ihm dafür so oft eingesetzten Mittel der Wiederholung und – ganz besonders vielsagend – dem, was man treffenderweise einmal das „Hoffnungsallegro“ am Liedende bezeichnete.