Oberstes Gericht in Frankreich entscheidet zugunsten von RT

  • Der Komponist selbst ist ja der wirkliche Urheber und hat seine Wünsche, kann also auch feststellen, was "unerwünscht" ist. Aber die Erben? Dann wird es dubios.

    Argumentierst Du hier nicht zu moralisch in einem Rechtsstreit, lieber Holger? Auf welcher Rechtsgrundlage wurde überbaupt entschieden? Wie sind die Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Rechtslage? Kann man es vergleichen? Du bringst das Beispiel Richard Strauss. Das kenne ich auch. Seine Ergeben sind realistisch, schließlich verdienen sie auch Geld. In Deutschland hat die Kunst Verfassungsrang. In Frankreich meines Wissens nach nicht. Deutschland hatte den Faschismus als Staatsform, Frankreich nicht. Unser Rechtssystem ist stark geprägt von den schlimmen Erfahrungen der Diktatur. Deshalb ist es so wichtig, dass Kunst frei ist und nicht unter Vorbehalt steht. Die Freiheit aber ist immer schwieriger zu leben und zu händeln. Ich wundere mich nur, dass es diese Sehnsucht gibt nach Verboten etc. Es gibt von Anna Seghers eine Novelle mit dem Titel dem etwas sperrigen und berichtsmäßigen Titel "Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe". Sklaven werden befreit, können aber mit der Freiheit überhaupt nicht umgehen. Sie wünschen sich in die Unterdrückung zurück.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Argumentierst Du hier nicht zu moralisch in einem Rechtsstreit, lieber Holger? Auf welcher Rechtsgrundlage wurde überbaupt entschieden?

    Lieber Rüdiger,


    das weiß ich natürlich nicht. Ich bin kein Jurist. Nur habe ich hier die Stimmungs-Affäre mit Stockhausem im Kopf. Wenn der Komponist lebt, zählen seine "Wünsche", d.h. egal wie unvernünftig oder absurd er argumentiert. Stockhausen hat damals so seltsam katholische Dinge vorgebracht, dass die Liebe nur die zwischen Mann und Frau sein könne, weil das Belcanto-Ensemble eine Männerrolle von einer Frau hat singen lassen. Darüber hat er sich erst fürchterlich aufgeregt und ganz später hatten sich dann alle Beteiligten wieder sehr lieb und das Ensemble spielt bis heute seine Version und die von Stockhausen, also beide. Genau da liegt das Problem - wenn der Komponist nicht mehr lebt, dann muss an die Stelle des Wünschenswerten (also der subjektiven Beliebigkeit) Objektivität und Rechtsverbindlichkeit treten. Und wie wollen die Erben die garantieren? Sie können das Argument ja nicht ausräumen, dass wenn der Komponist lebte er sich vielleicht überzeugen lassen würde, dass die Änderung eben keine Entstellung ist und sie genehmigt hätte.


    Liebe Grüße

    Holger

  • In einem anderen Thread wird erneut um die Grenzen der Kunstfreiheit gerungen. Das hat mich daran erinnert, dass ich mir bezüglich dieser betreffenden Inszenierung ein eigenes Urteil bilden wollte. Die wieder erhältliche DVD hatte ich neulich erworben und mir dann über mehrere Abende hinweg angeschaut.

    Dass das Urheberrecht in der Form angetastet wurde, dass die deutsche Produktion Änderungen sowohl am Libretto als auch an der Partitur vorgenommen hat, war ja schon durch Richter so bestätigt worden. Mir ging es jetzt vor allem darum, inwiefern der wichtige Begriff der "Kernaussage" betroffen ist. Meine Antwort darauf ist sicherlich sehr persönlich interpretierend. Aber das ist bei solchen Fragen ja klar.


    Ich nehme das Stück in erster Linie als Seelendrama der Protagonistin war - und nicht etwa als Historiendrama. Es geht da um Lebens- und Todesangst in Opposition zum Glauben, um Partizipation an und Rückzug von Gemeinschaft und deren Beschaffenheit angesichts dieser Ängste. Mir scheint, dass die der Oper zu Grunde liegenden historischen Begebenheiten eher so etwas wie eine situativ-konkretisierende Folie darstellen.

    In Blanches Seelenleben laufen alle Handlungen und Äußerungen der übrigen Figuren brennpunktartig zusammen: Die dramatische Perspektive zielt ganz zentral darauf ab, ob und wie sie sich angesichts der ihr vorgelebten (und "vorgestorbenen") Möglichkeiten entwickelt. Ein Clou ist ja nun, dass das Gelebte der übrigen Figuren z.T. in stärkstem Kontrast zu deren Verhalten im unmittelbarer Todesnähe stehen kann: Dies sieht man nicht nur äußerst eindrucksvoll in der Sterbeszene der Mme de Croissy, sondern auch am widersprüchlichen Schicksal Mère Maries und nicht zuletzt an der zunächst betont pragmatisch-zurückhaltenden und dann in der Krisensituation großes Rückgrat und Solidarität beweisenden Mme Lidoine.

    Dass Blanche - zuvor immer wieder von Ängsten geschüttelt, fast zerrissen und u.a. auch vor ihnen fliehend - zum Schluss den tödlichen Schritt der Angst-Überwindung geht, ist dann ebenfalls ein solcher Kontrast, der aber für mich das elementar-menschliche "Ergebnis" der Handlung darstellt. Der Regisseur Tcherniakov überspitzt dieses "Ergebnis" nun noch, indem es für die anderen Nonnen lebensrettend ist. Und da bin ich mir weiterhin unsicher, inwiefern das nun ein wirklich überzeugendes Szenario ist. Wichtig ist am Schluss, dass die Rettungsaktion vor den Augen der öffentlichen Menge stattfindet, denn diese war zuvor ja ein Teil von Blanches Phobie. Blanche manifestiert ihre Selbst-Überwindung vor den Augen derer, die sie so sehr ängstigten - hat was von extremer Konfrontationstherapie. Nur: Das ist kein Unterschied zur von Poulenc geplanten Hinrichtungsszene und begründet von daher nicht die Verschonung der übrigen Nonnen. An diesem Punkt habe ich wirklich zu knabbern und muss sagen: Ich verstehe es bislang nicht und finde deswegen auch die inhaltliche Abänderung im wörtlichen Sinne "nicht überzeugend".

    Andererseits: Dieser Unterschied zum Libretto betrifft nun wirklich nicht die "Kernaussage", da Blanche als Protagonistin weiterhin aus freien Stücken in den Tod geht. Ihre Entwicklung und deren Konsequenz ist im Wesentlichen gleich - bei Tcherniakov wird sie als Märtyrerin allerdings noch zusätzlich er- (bzw. über?)höht, indem sie mit dieser Konsequenz "rettet".


    Nein, ein Gericht sollte da nach meiner Auffassung äußerst vorsichtig und sogar zurückhaltend sein, wenn es um hermeneutisch-interpretierende Fragen geht. Insofern bin ich ganz einverstanden damit, dass die Münchener Inszenierung die gewählte Perspektive und die Änderungen weiterhin zur Disposition stellen darf. Mich hat die DVD sehr bereichert. Ich könnte über die Inszenierung wirklich noch vieles schreiben, was ich sehr niveauvoll und gelungen fand. Und dass ich an dem Schluss zu kauen habe, ist nichts per se Schlechtes. Reicht für ein Verbot aus meiner Sicht jedenfalls nicht.