EGK, Werner: ABRAXAS

  • Werner Egk (1901-1983):

    ABRAXAS

    Ein Faustballett in fünf Bildern - Szenarium vom Komponisten nach „Der Doktor Faust“ von Heinrich Heine


    Uraufführung am 6. Juni 1948 im Prinzregententheater, München



    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    Doktor Faust, Gelehrter mit Hang zum Metaphysischen

    Archisposa, Erzbuhlin von Satanas und als Trugbild die Königin von Spanien

    Bellastriga, weiblicher Mephistopheles

    Margarethe, Mädchen aus dem Volke

    Helena, Schönheit der Antike, auch als Gerippe auftretend

    Satanas

    Ein Tiger

    Eine Schlange

    Marbuel, Kinderteufel

    Karl IV., König von Spanien

    Hector, trojanischer Held

    Achill, griechischer Held

    Jupiter, als Stier der Entführer Europas

    Europa

    Der spanische Hof - Buhlen und Buhlinnen - Gefährten und Gefährtinnen der Helena

    Bacchanten und Bacchantinnen - Volk Vermummte


    Orte und Zeit: 15. Jahrhundert in Deutschland und Spanien.



    Vorbemerkung


    Der Name Abraxas taucht erstmals auf hellenistischen Zauberpapyri auf, wo er offenbar einem Dämon zugeordnet wird. Andererseits findet er sich auch auf uralten Amulettsteinen, wo er als der einzig richtige Name Gottes bezeichnet ist. Abraxas spielte zu allen Zeiten, besonders im Mittelalter, bei vielen magischen Praktiken eine wichtige Rolle.


    Für den ägyptischen Gnostiker Basilides (ca. 85 - ca.145 n.Chr.) war Abraxas das Wortsymbol des höchsten Urwesens; er lehrte, dass aus ihm die fünf Urkräfte, Geist, Wort, Vorsehung, Weisheit und Macht, hervorgegangen sind. Basilidis‘ Anhänger verehrten deshalb Abraxas als höchsten Gott, und behaupteten, dass er auch Jesus auf die Welt entsandt hat, zwar nur als Geist anerkannt, dennoch aber als Sohn des alttestamentlichen Gottes JHWH und Messias ansahen.


    Der Kult ist bis ins Mittelalter lebendig geblieben und hatte auch in der Renaissance noch viele Anhänger. Auch heute gibt es viele Künstler, die sich von dem atavistischen Charakter dieses Kultes inspirieren lassen. Abraxas wird allerdings heute aufgrund seiner blasphemischen Deutungsmöglichkeit oft mit satanischen Strömungen in Verbindung gebracht.



    INHALTSANGABE


    1. Bild: Der Pakt.

    Studierzimmer des greisen Doktor Faust, der kabbalistische Figuren und magische Zirkel zieht.


    Faust will partout in die tiefsten Geheimnisse, die die Welt zusammenhalten, eindringen. Er ist sich aber seiner Unzulänglichkeiten bewusst und weiß nicht, wie er seine Vorstellungen in die Tat umsetzen kann. Intuitiv vollzieht er gerade einige zauberische Experimente und beobachtet angespannt, aber doch auf eine merkwürdige Art leidenschaftslos das Ergebnis seines ersten Beschwörungsversuches: Aus dem Nichts erscheint ein Gefährlichkeit, Wildheit und primitive Kraft ausstrahlender Tiger, der den Doktor aber in keiner Weise aus der Ruhe bringt, sondern im Gegenteil das Tier mit lässiger Geste wieder verschwinden lässt. Sein nächster Versuch zaubert eine Schlange herbei, die wegen ihrer heimtückischen Art noch gefährlicher wirkt, als der Tiger, aber Faust bleibt erneut unbeeindruckt und lässt das züngelnd-zischende Wesen mit einer verächtlichen Handbewegung wieder verschwinden.


    Offensichtlich geht Faust nach der Devise „Aller guten Dinge sind drei“ vor, denn sein dritter Versuch zaubert zu seiner Überraschung eine wunderschöne Ballerina herbei, die Grazie und Esprit ausstrahlt, aber auch eine gewisse Kälte. Es ist, das Publikum erfährt es vor Faust, eine Hexe aus Satanas‘ Reich mit dem Namen Bellastriga, sozusagen ein weiblicher Mephisto. Sie bewegt sich virtuos, ist biegsam als besäße sie keine Knochen, und zeigt Faust mit Pirouetten schwindelfreie Schnelligkeit. Da er das Geschöpf als Ergebnis seiner Magie betrachtet, will er sie natürlich für sich bändigen, muss jedoch feststellen, dass die Hexe ihm die Grenzen seiner magischen Künste aufzeigt. Allerdings lernt auch sie, dass es mit dem Objekt ihrer Begierde nicht so leicht vonstattengeht, wie sie es erhofft hat. Ein Pas de deux, mit eindeutigen Absichten begonnen, band ihn nicht fest an sie, sondern ließ ihn schnell wieder davonstreben. Ohne Hilfe, erkennt sie, wird sie nicht weiterkommen. Und die bekommt sie durch Archisposa, Satanas‘ Erzbuhlin. Deren höchste Lust erzeugender Tanz fasziniert Faust und lässt seine innerliche Glut nicht nur steigen, sondern veranlasst ihn, eine erneute Beschwörung zu versuchen. Aber gegen die Höllenfrau, die an ihrem linken Fuß einen goldenen Schuh als eine Art persönliche Note trägt, kann Faust nichts ausrichten - Archisposa entschwindet hinter Nebelschwaden. Faust ist heiß auf dieses Wesen, sieht in ihr Weg und Ziel seiner Wunschträume.


    Allein mit dem Doktor nimmt Bellastriga einen erneuten Anlauf und bietet Faust einen Pakt an, durch den er Archisposa wiedersehen wird und seine Jugend zurückbekommt. Gierig vor Lust unterschreibt er das Papier, ohne zu bedenken, dass die Hölle nichts ohne Äquivalent hergibt. Die Unterschrift unter dem Pakt ist noch nicht ganz trocken, da ist Faust plötzlich wieder ein junger Mann und die Schöne tatsächlich wieder da. Und die versetzt ihn mit einem lustvollen Tanz in Ekstase und er huldigt ihr ebenso leidenschaftlich. Sie bietet ihm als Beweis seiner Zugehörigkeit zum Reich Satanas‘ einen auffälligen und wertvollen Ring an. Aber den vermag er nicht so ohne weiteres anzunehmen, denn Archisposa verharrt in einer Höhe, die ihm eine Entgegennahme nicht erlaubt. Doch Faust weiß sich zu helfen: Er packt Bellastriga, hebt sie auf seine Schultern und lässt sie den Ring entgegennehmen, um ihn dann auf seinen Finger zu stecken. Fausts Höllen-Mitgliedschaft ist damit besiegelt und lässt dort die Gluthitze wegen dieser Personal-Verstärkung noch weiter ansteigen - mit einem irren Höllentanz feiert man den Pakt und neues Mitglied.


    2. Bild: Die Verstrickung.

    Düster gehaltener Bühnenraum, der den finsteren Pomp des spanischen Hofes verbreitet.


    Faust findet sich mit Mephistophela für sein erstes Abenteuer am Hofe des spanischen Königs ein. Ein gerade stattfindender Hofball mit illustren Gästen nimmt Faust und Bellastriga ohne Beachtung in den Reihen der Tänzer auf. Der senil wirkende König und seine Gattin sitzen auf ihren Thronsesseln, und beide beobachten das Tanzgeschehen mit starrem Gesichtsausdruck. Das ändert sich schlagartig, als Bellastriga sich mit einem graziösen Tanz dem König zuwendet und ihn schnell für sich einnehmen kann. Faust wendet sich der Königin zu, die ihm wie zufällig ihren linken Fuß mit dem goldenen Schuh zeigt und ihm damit klarmacht, wer die Gestalt der spanischen Königin angenommen hat.


    Völlig ungezwungen beschäftigt Bellastriga den König beschäftigt, führt bei einem neuen Tanz die Königin mit Faust den Trubel an, was Bellastriga zum Anlass nimmt, den plötzlich gar nicht mehr so senil wirkenden König ebenfalls auf die Tanzfläche zu ziehen. Die weiblichen Reize seiner Partnerin lassen den Herrscher völlig vergessen, dass nebenan seine Gemahlin tanzt. Das haben aber einige andere Tanzpaare, und die wundern sich über ihre königliche Hoheit, die mit ihrem Tanzpartner eine erotische Spannung aufgebaut hat, die sie noch nie gesehen haben - sie wechseln ihre Blicke und zeigen sich von ratlos bis entrüstet über das Geschehen.


    Faust unterbricht plötzlich den Tanz und bietet der Hofgesellschaft Zauberkunst an, eine Show, die viel Applaus bekommt: Da kämpfen erst die großen Helden Hektor und Achilles erbittert gegeneinander und bewirken (durch Raum-Verdunkelung und der auf die Kämpfer gerichteten Lichtkegel) bei den Hofballgästen Unheimliches und Beklemmendes. Ebenso plötzlich, wie sie auftraten, sind Hektor und Achilles aber wieder verschwunden. Dafür sieht man einen Stier im Liebesspiel mit einer Frau und die Bildungsbürger, damals wie heute, wissen, dass hier Zeus mit Europa, der phönizischen Königstochter, kopuliert. Faust kommt mit einer neuen Idee - und die beiden Show-Elemente werden (wie in einem Film) übereinander geblendet, ehe sie abrupt verschwunden sind.


    Die ratlosen und erregten Gäste erhalten keine Gelegenheit sich abzureagieren, denn Faust hat noch eine Variante des Spektakels zu bieten: Er dupliziert sich mit der Königin und zeigt mit gewagt-erotischen Schelmenstücken eine Spiegelfechterei, die von den Gästen zunächst mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt, dann aber wegen der zunehmenden Unverhülltheit des Liebestanzes von einer abstoßenden Erregung abgelöst wird. Der König, inzwischen auf das Geschehen um ihn herum aufmerksam geworden, und die Gäste gehen plötzlich angewidert gegen die Spiegelbilder vor, doch Bellastriga kann zweimal durch eine Art magischer Mauer ein Aufeinanderstoßen beider verhindern. Dann, beim dritten Anlauf, versagt allerdings ihre Kunst. Dennoch gibt es kein Gemetzel, denn mit einem Donnerschlag verschwinden alle Erscheinungen. In dem entstandenen Tohuwabohu gelingt Faust mit der Königin die Flucht, gefolgt von Bellastriga, wie auch die gesamte Hofgesellschaft das Weite sucht. Der König bleibt allein, ratlos und verwirrt zurück - er taumelt und zusammen.


    3. Bild: Pandämonium.

    Der Raum ist nur durch wenige architektonische und dekorative Elemente bestimmt, die dem „Fin de siècle“ entstammen, wie Gaskandelaber, Balustraden, Portieren. Satanas, rotäugig, sitzt bleich und im Frack auf dem Thron.


    Satanas hält Hof und hat um sich einen merkwürdigen Hofstaat, wie beispielsweise die schon bekannte Schlange und den Tiger, versammelt. Neben dem Thron steht aber auch ein vielleicht zwölfjähriges Geschöpf in einem kindlichen Matrosenanzug - der Kindersatanas Marbuel. Der ist zwar noch nicht trocken hinter den Ohren, hat auch nur zwei kleine Hörner auf der Stirn, darf aber, Jugendschutz ist an diesem Ort unbekannt, an den orgiastischen Spielen teilnehmen.


    Buhlen und Buhlinnen (in der Gesellschaftskleidung des „Fin de siècle“) geben sich tanzend ausgelassenen Vergnügungen hin. Nach dem Ende ihres Tanzes stürmen Faust und Archisposa in offenkundiger Leidenschaft auf die Bühne. Als sich das Paar in völliger Erschöpfung zu Boden fallen lässt, führen Schlange, Tiger, Bellastriga und Marbuel mit einen Pas de quatre die Szene weiter. Archisposa hat sich, im Gegensatz zu Faust, schnell erholt und animiert ihren Partner mit laszivem Tanz zum Weitermachen, doch der stößt sie, plötzlich von ihr angeekelt, von sich. Das lässt sich natürlich eine Erzbuhlin nicht bieten und löst absichtlich einen Streit aus, den die Gesellschaft aber nicht goutiert, stört er doch ihre orgiastischen Spielchen. Satanas beendet den Streit mit einer Geste, die mehrere Buhlen genau verstehen: Die Männer packen Archisposa und tragen sie an seine Seite. Das gefällt den Anwesenden und sie geben ihrem Herrn und Meister Applaus für diese Aktion.


    Faust ist physisch wie psychisch geschafft und entflieht dem Trubel, gefolgt von Bellastriga, die wie ein zweites Ich an seiner Seite klebt. Archisposa hat die Flucht natürlich bemerkt und will den beiden nachsetzen, doch halten Buhlen und Buhlinnen sie fest und ziehen sie in den Strudel der Tanzorgie zurück. Dass Archisposa aufgeben würde, war nicht zu erwarten, und insofern gelingt ihr nach mehrmaligen Versuchen tatsächlich die Flucht aus dem getanzten Irrsinn im Pandämonium.


    4. Bild: Das Trugbild.

    Das Bühnenbild atmet südliches Flair und Helle.


    Faust und Bellastriga sind auf ihrer Flucht, Zeit und Raum wechselnd, ins antike Griechenland gelangt. Faust ruht gerade mit der Schönen Helena vollkommen gelöst auf einem Liebeslager. Fausts Schatten Bellastriga hat sich derweil, wohl mehr aus Langeweile als innerem Antrieb, mit Helenas Gefährtinnen zu einem Tanz verbunden, der in seiner Strenge und seinem figuralen Reichtum einer Sphärenmusik gleicht. Als die Musik verklungen ist und Helenas Gefährtinnen abgehen, ruft Bellastriga, die noch längst nicht genug hat, ihre Bacchanten und Bacchantinnen herbei. Gemeinsam beginnen sie einen graziösen Tanz, doch der gleitet durch den Auftritt von Tiger, Schlange und Marbuel sowie der als Bacchantin verkleideten Archisposa mehr und mehr in ein infernalisches Spektakel ab.


    Der wilde und ungezügelte Spuk ruft Unruhe bei dem sich in Harmonie mit Helena vereinten Faust hervor. Als sich Archisposa unter dem immer wilder tobenden Wirbel dem Ruhelager des Paares nähert und Faust den linken goldenen Schuh erkennt, springt der wie panisch auf, zur Flucht bereit. Dabei berührt er allerdings zufällig den goldenen Schuh der Erzbuhlin - und mit einem Donnerschlag erlischt alles Licht. Erst langsam erhellt sich die Szene wieder zu einem fahlen Zwielicht und Faust bemerkt, dass Archisposa mit ihrem Anhang ebenso verschwunden ist wie Bellastriga und ihre bacchantische Begleitung. Was er jedoch dann vor sich sieht, lässt ihn erschauern: Der gesamte antike Schauplatz und seine Schönheit ist zerstört und die „Schöne Helena“ ist nur noch ein Gerippe. Es ruht zwar noch immer auf dem Bett, streckt auch seine Arme sehnsüchtig nach ihm aus - doch Faust kann nur noch verstört den Verfall der antiken Welt zur Kenntnis nehmen, ehe die Szene nach und nach von Nebel und aufkommender Dunkelheit erfasst wird.


    5. Bild: Die Begleichung.

    Mittelalterlicher Mummenschanz.


    Eine ausgelassene Fröhlichkeit mit einem überschäumenden Volkstanz beherrscht die Szene. Das junge Volk ist dabei am aktivsten: Burschen und Mädchen, aber auch jede Menge Spaß- und Galgenvögel, fahrendes Volk und Vermummte beteiligen sich an dem lustigen Ringelpiez. In diesem Treiben läuft eine junge Maid direkt auf Faust und Bellastriga zu, vor einer Schar Vermummter fliehend, und Faust ist sofort von ihrer Schönheit fasziniert. Er kann zunächst die zudringlich gewordenen Gestalten auf Abstand halten, dann auch vertreiben. Aber der Dank der Schönen fällt nach seinem Geschmack etwas mager aus, zumal sie sich dann auch noch entzieht und in der Menge verschwindet. Bellastriga ist das Verschwinden ganz recht, denn sie hat mit wachem Gespür bemerkt, dass der Doktor von dem Liebreiz Margaretes entflammt ist. Sie weiß auch, dass sie gegen dieses Mädchen keine Chance hat, und dass sogar der Teufelspakt zerstört werden könnte. Sie muss also auf Faust achtgeben und sein Handeln gegebenenfalls korrigieren. Anders natürlich Fausts Reaktion: Er begibt sich auf die Suche nach der Maid, immer begleitet vom Schatten der Mephistophela.


    Die Szenerie entspannt sich durch den Abzug der Vermummten, der Trubel ebbt ab und Faust findet Margarete wieder. Er bittet sie zum Tanz und sie folgt ihm jetzt ohne Widerstand auf den Tanzboden, wo einige junge Pärchen sich bereits im zärtlichen Wiegenschritt tummeln. Es ist Bellastriga, die als Schatten an Faust klebt und Margarete nervt. Die empfindet instinktiv eine undefinierbare Macht und versucht sich deshalb von Faust zu lösen. Der denkt, weil er die Kabale von Bellastriga in seinem Rücken nicht wahrnimmt, dass es ihre jungfräuliche Scham sei, die sie unruhig macht. Er zieht deshalb Margarete fester an sich einen und zwingt seinen Schatten Bellastriga, sich zwischen sie zu drängen. Damit aber versetzt sie Faust in Rage, der sich von Margarete löst, Bellastriga packt und sie über die Tanzfläche wirbelt. Erschrocken über den rabiaten Akt Fausts verschwindet die Mephistophela und Margarete schenkt ihrem Galan ein Medaillon.


    In diesem Moment kommen die Vermummten wieder auf die Szene und laden die Paare ein, ihnen zu Belustigungen folgen. Tatsächlich gehen nach und nach alle Pärchen ab und Faust ist mit Margarete alleine. Der folgende Tanz der beiden Liebenden ist von rührender Zartheit und schwebender Leichtigkeit bestimmt, wobei Faust den Eindruck vermittelt, dass er durch den guten Einfluss von Margarete der Höllenmacht entronnen ist, und jeden Selbstgenuss vergessen hat. Genau das müssen auch Archisposa und Bellastriga bemerkt haben, denn sie stürmen so wild auf die Szene, dass Margarete vor Entsetzen flieht. Beide halten Faust wütend den Pakt unter die Nase, den der jedoch ebenso zornig zerreißt. Über diese Reaktion sind die Höllischen zuerst verblüfft, dann aber fängt sich Archisposa und entreißt Faust den Zauberring, wobei mit einem Donnerschlag die Bühne schwarz wird wie die Nacht. Als kurz darauf die Szene sich zu einem fahlen Licht erhellt, steht Faust als Greis mit total heruntergekommener Kleidung da, ist sich dieser Verwandlung allerdings nicht bewusst.


    Die veränderte Lage ruft Schlange, Tiger und Marbuel hervor, die auf erhöhtem Sockel mit Pochetten* in der Hand zu einer wilden Fiedelei ansetzen. Archisposa und Bellastriga beginnen einen ausgelassenen Tanz, der das Volk wieder auf die Szene zurückruft. Es hält die Spieler und Tänzerinnen für Gaukler, und man beteiligt sich ungezwungen am Tanz der Höllenweiber. Faust macht sich währenddessen auf die Suche nach Margarete, die aber selbst nach ihm sucht. Als er aus dem Hintergrund zurückkommt und sie in der Menge entdeckt, eilt er freudig auf sie zu - und wird von ihr zurückgestoßen, ehe sie wieder im Trubel verschwindet. Archisposa und Bellastriga haben das bemerkt und wissen natürlich den Grund für Margaretes Ärger (sie hat in dem Greis mit der abgewetzten Kleidung Faust nicht erkannt) und machen sich durch Zauberei ein Vergnügen daraus, abwechselnd beide zunächst im Tanz zu vereinen, um sie dann wieder auseinanderzutreiben.

    * Heute als Einstecktuch bekannt, vom 16. bis 18. Jahrhundert Bedeutung als Tanzmeistergeige.


    Archisposa und Bellastriga entwickeln aus dem ausgelassen-harmlosen Tanzvergnügen eine orgiastische Raserei, indem sie das Volk mit Ruten aufpeitschen. Und sie sorgen dafür, dass die Menge die völlig atemlose Margarete in Fausts Arme treibt. Der freut sich, sie wiedergefunden zu haben, will sie natürlich auch für sich wiedergewinnen, und zeigt er ihr das Medaillon. Ihre Reaktion ist jedoch nicht die von Faust erwartete: Sie glaubt, der Freund habe sie verlassen und das Medaillon einem Bettler geschenkt - und bricht verzweifelt vor ihm zusammen. Archisposa und Bellastriga sind die Anführerinnen der Menge, die Margarete und Faust zu Tode trampeln.



    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Das hier vorgestellte Faustballett wurde am 6. Juni 1948 im Münchner Prinzregententheater unter der Leitung von Werner Egk und in der Choreographie des französischen Ballettmeisters Marcel Luipart (geboren als Marcel Fenchen) mit frenetischem Beifall uraufgeführt. In der Wochenpresse „Die Zeit“ und „Der Spiegel“ hieß es übereinstimmend, dass der Rekord von 38 Vorhängen, seit Jahrzehnten festgefügt, mühelos gebrochen wurde; Komponist und das übrige Team konnten sich erst „nach dem 48. Vorhang [...] von der entfesselt huldigenden Menge verabschieden. Am Bühnenausgang setzten sich […] die Ovationen mit Autogrammkämpfen fort.“


    Der ungewöhnliche Erfolg des Balletts gefiel seinerzeit nicht allen. In einflussreichen Kreisen gab es Widerstand gegen „pornografische“ Darstellungen. An der Spitze dieser Kreise stand neben dem Münchner Weihbischof Neuhäusler der damalige bayerische Minister für Unterricht und Kultus, Dr. Alois Hundhammer, der erst eine Verbreitung des Librettos verbot und später die Absetzung des Balletts vom Spielplan verfügte. Sein erster Versuch, bei der amerikanischen Militärregierung ein Verbot des Balletts zu erreichen, scheiterte: „We would put our necks out over very debatable and vulnerable territory should we interfere in something of this nature. I suggest, that you toss the ball straight back to Dr. Hundhammer’s own clammy hands” (Carlos Mosley, Music Specialist der amerikanischen Militärregierung, an James Clark, am 22.6.1948).


    Diese Vorgänge blieben zunächst der Öffentlichkeit verborgen. Das änderte sich sofort, als der Bayerndienst der „Deutschen Nachrichtenagentur“ (Dena) die Angelegenheit publik machte („Man hatte ursprünglich angenommen, dass [die Absetzung des Balletts vom Spielplan] aus finanziellen Gründen […] geschehen sei. Jetzt wurde aber bekannt, dass Abraxas auf Wunsch des Kultusministers vom Spielplan abgesetzt wurde.“), kam es zu einer erregten Debatte um staatliche Zensur. Die Amerikaner beobachteten zwar die hitzige Diskussion, hielten sich aber mit dem Argument heraus, dass hier „ein gutes Lernfeld für die Schärfung des demokratischen Bewusstseins“ vorliege.


    In einer Landtagsdebatte argumentierte Hundhammer auf die Frage, ob er überhaupt befugt gewesen sei, gegen das Ballett vorzugehen, juristisch: Er habe kein Verbot angeordnet, sondern „nur die Absetzung“ vom Spielplan. Außerdem habe er sich verpflichtet gefühlt, einzugreifen, da das Ballett „als eine Beleidigung der Mehrheit des Volkes und als eine Verletzung der religiösen Gefühle betrachtet werden“ könne. Weiter sagte er u.a.: „Ich betone, dass sich die Freiheit der Kunst nur dort entwickeln kann, wo sie nicht vom Staat bezahlt wird.“ Das war möglicherweise ein Grund für Egk, gegen die Anordnung des Ministers zu klagen, denn er bezog sich darin explizit auch auf diese Aussage. Die Auseinandersetzungen führten zu einer Schadensersatzklage Egks gegen den Freistaat Bayern im November 1950. Sie endete letztlich im August 1951 mit einem Vergleich. Dieser sah folgende Einigung vor:

    „Der Bayerische Staat lässt durch die Bayerische Staatsoper […] innerhalb von vier aufeinanderfolgenden Spielzeiten, laufend vom 1. September 1951 bis 31. August 1955 drei Werke von Prof. Werner Egk an der Bayerischen Staatsoper unter der musikalischen Einstudierung und musikalischen Leitung von Prof. Werner Egk zur Aufführung bringen. Das erste dieser Werke Peer Gynt […] soll bereits in der Spielzeit 1951/52 gegeben werden. Prof. Egk erhält für das persönliche Einstudieren und Dirigieren jedes der drei Werke eine Vergütung von 10.000 DM.“

    Nach dem Vergleich zog Egk am 4. September 1951 seine Klage zurück.


    In Berlin sah man keine Veranlassung zu einem Verbot des Balletts. Es gab zwischen 1949 und 1956 insgesamt 95 Aufführungen und durch Gastspieltourneen in der ganzen Bundesrepublik bis in die 1960er Jahre immer wieder Aufführungen. 1951 wurde das Stück an der Königlichen Oper in Stockholm gegeben. Übrigens hat Werner Egk eine Revision des Balletts freiwillig in Selbstzensur entschärft, um weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden.


    Der „Abraxas-Streit“ hatte aber nichts mit Musik und Choreographie zu tun, sondern mit Politik und Moralverständnis. Mit Minister Hundhammer und dem Münchner Weihbischof Neuhäusler waren zwei Personen beteiligt, die nach der NS-Diktatur für die Rückbesinnung auf die Werte des christlichen Abendlandes standen: Beide waren politisch Verfolgte und saßen zeitweise im KZ Dachau ein. Während Weihbischof Neuhäusler zu keiner Zeit öffentlich in Erscheinung trat, nannte Kultusminister Hundhammer seine Handlungsweise auch später noch „ein Beispiel für eine konstruktive christliche Kulturpolitik“, was die Öffentlichkeit jedoch ablehnte, und stattdessen von staatlicher Zensur sprach.


    Auf der anderen Seite stand der zwar anerkannte, jetzt aber durch seine Tätigkeit als Leiter der „Fachschaft Komponisten“ in der Reichsmusikkammer und als Komponist der Musik für die Olympischen Spielen 1936 kompromittierte Werner Egk, der nun ebenfalls in der Kritik stand. Obwohl seine Positionen im sogenannten „Dritten Reich“ allseits bekannt waren, wurde er im Entnazifizierungsverfahren von der Spruchkammer München Land im Jahre 1947 aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Haften blieb nach den Ereignissen aber das Bild von Bayern als Vorreiter einer restaurativ-katholischen Kulturpolitik.



    © Manfred Rückert für den Ballettführer im Tamino-Klassikforum 2019

    unter Hinzuziehung des Szenariums des Komponisten, Verlag B. Schott’s Söhne, Mainz, 1948

    und Ulrike Natzer/Bernhard von Zech-Kleber, Abraxas-Skandal, publiziert am 13.12.2016, in: Historisches Lexikon Bayerns

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    MUSIKWANDERER

  • Diskographischer Hinweis


    Werner Egks Ballett ist beim Tamino-Werbepartner Amazon in folgender Einspielung gelistet:


    Es gibt noch eine Aufnahme der Ballettmusik-Suite, eingerichtet vom Komponisten, beim Gelb-Label, die Ferenc Fricsay mit dem RIAS-Symphonie-Orchester Berlin eingespielt wurde. Die wird beim Werbepartner allerdings nur als Streaming angeboten. Beim Tamino-Werbepartner jpc sind nur Noten im Programm.

    :hello:

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    MUSIKWANDERER