Richard Wagner als Liedkomponist

  • Richard Wagner als Liedkomponist


    Dieser Thread knüpft an den von WoKa initiierten und sich auf die Wesendonck-Lieder beziehenden an, dies allerdings mit anderer Ausrichtung und erweiterter Fragestellung. Sein Titel wurde bewusst so gewählt. Man hätte auch formulieren können: „Der Liedkomponist Richard Wagner“. Dann aber hätte man danebengelegen, denn Wagner ist kein solcher, gehört nicht in die Reihe der Komponisten des neunzehnten Jahrhunderts, die sich dem romantischen Klavierlied verschrieben und aus dieser kompositorischen Intention heraus ein umfangreiches und eine genuine Liedsprache aufweisendes Werk hervorgebracht haben. Das ist bei Richard Wagner nicht der Fall. Er hat – ausweislich des Bandes „Klavierlieder“ der Gesamtausgabe - nur 21 Lieder komponiert, und nicht alle davon sind - formal betrachtet – in die Kategorie „Klavierlied“ einzureihen.

    Hinzu kommt, dass ihm Liedkomposition kein wirklich wesentliches, einen maßgeblichen Bestandteil seines Selbstverständnisses als Komponist bildendes Anliegen war. Werner Oehlmann hat zwar durchaus recht, wenn er meint, Wagners Lieder seien „mehr als Gelegenheitsarbeiten“, und dabei die eventuelle Beiläufigkeit und kompositorische Belanglosigkeit im Sinn hat. Gleichwohl sind sie nicht aus einer spezifischen, auf die Gattung „romantisches Klavierlied“ ausgerichteten kompositorischen Intention hervorgegangen. Mit dessen traditionellem Bestand hat er sich nicht wirklich beschäftigt und auseinandergesetzt. Zwar findet sich bei ihm eine Notiz zu einer Komposition seines Freundes Theodor Apel, lautend, sie sei „wohl aus den Eindrücken der Beethovenschen Gesangskompositionen, namentlich seines >Liederkreises< hervorgegangen“, und das Lied „Der Tannenbaum“ könnte auf eine Orientierung an der Balladensprache Loewes verweisen. Das ist es dann aber auch, was man als Zeugnis einer tiefer reichenden Kenntnis der Literatur des romantischen Klavierliedes bei Wagner finden kann.

    Seine Lieder entspringen also nicht einer bewussten kompositorischen Hinwendung zur musikalischen Gattung in der Absicht, ein darin gültiges größeres Werk zu schaffen, ihre Entstehung ist vielmehr durchweg einem konkreten biographischen Anlass geschuldet. Zu den „Sieben Kompositionen zu Goethes >Faust<“ wurde er mit großer Wahrscheinlichkeit angeregt durch die damalige Inszenierung des Werks in Leipzig, in der seine Schwester Rosalie die Rolle Gretchens spielte. Die Kompositionen auf französische Texte entstanden, weil Freunde während seines Aufenthaltes in Paris 1839/40 ihm rieten, „einige kleinere Gesangskompositionen zu schreiben“, die er „beliebten Sängern zum Vortrag in den häufigen Konzerten anbieten könnte“, um auf sich diese Weise Zugang zur kulturellen Pariser Szene Zugang zu verschaffen, - was übrigens nicht recht gelingen wollte, denn keiner und keine von diesen Sängern nahm eines seiner Lieder in sei Repertoire auf. Und dass seine berühmt gewordenen „Wesendonck-Lieder“ einem eminent biographischen Anlass geschuldet sind, bedarf keiner sonderlichen Erwähnung.

    Bleibt die Frage:
    Warum dann dennoch ein ins Detail gehendes Sich-Einlassen auf diese wenigen Lieder Wagners, bei denen es sich wirklich um „Klavierlieder“ im genuinen Sinne handelt? Denn nur um diese soll es hier gehen.
    Einen gewichtigen Grund gibt es in einem speziellen Fall, den – zu Recht berühmt gewordenen – „Fünf Gedichten für eine Frauenstimme mit Pianoforte-Begleitung WWV 91“, die allerseits unter dem Begriff „Wesensdonck-Lieder“ rangieren. Bei ihnen handelt es sich um ein bedeutendes Werk der Kunstlied-Geschichte. Was aber ist mit den übrigen? Bei ihnen ist das wohl nicht der Fall. Der Versuch, in ihnen so etwas wie Vorstufen der späteren großen Bühnenwerke zu sehen, hat sich – mit Ausnahme der „Wesendonck-Lieder“ bei denen das offenkundig ist – allgemein als wenig ergiebig erwiesen.


    Was sie allerdings interessant und bemerkenswert macht, ist die Tatsache, dass man in ihnen – ähnlich wie ja auch im Falle von Franz Liszt – vor allem in der Melodik und in ihrer spezifischen Harmonisierung, eine Art Keimzelle einer Liedsprache vorfindet, die in Hugo Wolfs großem kompositorischem Liedwerk aufgegriffen, weiterentwickelt und zur Vollendung geführt wurde.
    In diesem Sinne sollen sie nachfolgend einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, wobei all die Liedkompositionen, bei denen es sich nicht um wirkliche Klavierlieder im Sinne der gattungsmäßigen Definition handelt, ausgeklammert bleiben sollen. Das wird bei den unter chronologischen Aspekten zuerst anstehenden „Faust-Liedern“ in massiver Weise der Fall sein.

  • Zu den benutzten Aufnahmen:


    Für die „Wesendonck-Lieder“ stützte ich mich auf die Interpretation von Christine Brewer, die von Roger Vignoles begleitet wird:

    [am]https://www.amazon.de/Wagner-B…agner%2C+Christine+Brewer[/am]


    Für die übrigen Klavierlieder zog ich die Aufnahme „Richard Wagner, Faust-Lieder“ heran, die 2002 bei „Scandinavian Classics“ erschienen ist:

    [am]https://www.amazon.de/Faust-Li…rd+Wagner%2C+Faust-Lieder[/am]

  • Hallo lieber Helmut Hofmann, warum beziehst du dich bei den Wesendonck-Liedern auf Christine Brewer? Bin gespannt auf deine Antwort, denn ich habe mir nun die CD bestellt!


    Übrigens, hier etwas preiswerter! ;)


    Bin ganz gespannt auf deine Beiträge! :)


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Zu Deiner Frage, lieber Fiesco:


    Dafür gibt´s eine einfache Erklärung. Ich suchte eine Interpretation der Lieder in der Klavierliedfassung und der Original-Tonart. Davon konnte ich auf aktuellen Markt nicht viele finden, denn die meisten noch erhältlichen gesanglichen Interpretationen erfolgen in der Mottl-Orchesterfassung. Ich bin kein Liedaufnahmen-Sammler und besaß, als ich mich entschloss, diesen Thread zu starten, tatsächlich nur die Aufnahme mit Jessye Norman, und zwar als Lp. Also suchte ich und stieß auf diese Aufnahme mit Christine Brewer. Für sie entschied ich mich, weil sie mich interpretatorisch überzeugte und die CD mir außerdem noch Lieder von Benjamin Britten und John Carter bot, die ich teilweise nicht kannte.


    Freut mich sehr, dass Du auf den Thread gespannt bist. Hoffentlich kann ich mit dem, was ich zu den Liedern zu sagen haben, Deine Erwartungen erfüllen.

  • Lieber Helmut Hofmann, danke für deine Antwort, die Jessye Norman Aufnahme gibt es noch,


    +Mignonne, allons Voir si la rose

    Tu n'est qu'images fugitives

    Les Deux grenadiers

    Lied des Mephistopheles No.4

    Lied des Mephistopheles No.5

    Der Tannenbaum

    Thomas Hampson/Geoffrey Parsons

    ......und auch eine wunderschöne mit Nicole Lemieux!

    Aber OK ich werde der Dinge harren und der Vorfreude!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
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  • Für die „Wesendonck-Lieder“ stützte ich mich auf die Interpretation von Christine Brewer, die von Roger Vignoles begleitet wird

    Lieber Helmut, mich hatte es auch etwas überrascht, dass Du Dich ausgerechnet für Christine Brewer entschieden hast, die auf der Scala meiner Interpretationsvorstellungen ziemlich weit unten steht. Offenkundig handelt es sich um die Aufnahme, die auch bei YouTube zu finden ist:


    In meinen Ohren klingt sie an vielen Stellen ziemlich ungenau und verwaschen. Das mag auf der CD anders sein. Am meisten stört mich dieses nachgestellte E - "frühen Tagen(e)", "von Engeln(e) sagen" usw.


    Die von Dir favorisierte Originaltonart ist natürlich ein schlagendes Argument. Ich bin sehr gespannt.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Bitte verübelt mir nicht, lieber Fiesco und lieber Rheingold, wenn ich dem Aspekt der sängerisch-interpretatorischen Qualität hier in meinen Ausführungen zu den Liedern nicht die ihm eigentlich gebührende Beachtung schenke. Mein Gegenstand ist die Liedmusik, wie sie sich im Notentext darstellt. Und wenn ein Sänger oder eine Sängerin den in der Originaltonart korrekt wiedergibt, dann erfüllt die CD die Anforderungen, die ich an sie als Arbeitsmittel stelle.

    Die Originaltonart ist für mich deshalb so wichtig, weil ich als musikwissenschaftlicher Laie eine strukturell komplexe Harmonik nicht einfach aus den Noten herauslesen kann, - bei Wagner ein großes Problem übrigens. Ich brauche dazu als Hilfsmittel die Originaltonart-CD und - nicht lachen! - mein Keyboard, auf dem ich die Harmonik abgreifen und in ihren Modulationen und Rückungen erkennen und identifizieren kann.

    So ist das halt bei Leuten, die sich auf eine Sache einlassen, für die sie nicht ausgebildet sind.

    Sehr freuen würde ich mich, wenn ihr - und natürlich noch weitere Taminos - diesen Aspekt in Ergänzung zu meinen liedanalytischen Betrachtungen jeweils von Fall zu Fall in diesen Thread einbringen würdet.

  • Lieber Helmut Hofmann, aber die Aufnahme mit Jessye Norman und Nicole Lemieux sind doch in den Originaltonarten, oder verstehe ich da was falsch?!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
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  • Jessye Norman singt die Orchesterfassung, und die Aufnahme mit Nicole Lemieux kenne ich gar nicht.

    Lass uns doch erst einmal zu den Wesendonck-Liedern kommen, lieber Fiesco. Da ich chronologisch vorgehe, sind die als letzte Liedgruppe dran. Und da könntest Du ja doch zeigen, aus welchen Gründen Nicole Lemieux diese Lieder viel besser gesanglich interpretiert als Christine Brewer, zu der ich aus den genannten Gründen gegriffen habe.

    Würde mich interessieren, - und bestimmt nicht nur mich!

  • Hallo, dann nochmal zur klarstellung lieber Helmut Hofmann, die abgebildete Wagner Box, beinhaltet ebenfalls die Wesendonck-Lieder mit Klavier und mit Jessye Norman und Geoffrey Parsons, deswegen war ich so irritiert, ich dachte du hättest das gewusst!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
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  • „Sieben Kompositionen zu Goethes >Faust<, WWV 15

    Diese sieben Kompositionen entstanden Anfang 1831 in Leipzig, und möglicherweise wurde Wagner an Goethes „Faust“ herangeführt, weil dieses Werk damals in Leipzig aufgeführt wurde und seine Schwester Rosalie darin die Rolle Gretchens übernommen hatte. Bei nur zweien von ihnen handelt es sich um Lieder für Singstimme und Klavier, und zwar das fünfte mit dem Titel „Lied des Mephistopheles II“ und das sechste, dem die durch Schuberts Vertonung berühmt gewordenen Worte Gretchens am Spinnrade zugrunde liegen. Das erste, mit dem Titel „Lied der Soldaten“, stellt eine Komposition für Chorgesang dar, beim zweiten, Titel „Bauern unter der Linde“, treten ein Tenor, ein Sopran und ein Chor zusammen auf, die Lieder drei und vier, die mit „Branders Lied“ und „Lied des Mephistopheles I“ sind für Singstimme und Chor komponiert, und bei dem letzten Werk handelt es sich um ein reines Melodram, demgemäß den Titel „Melodram Gretchens“ tragend und die so tief berührenden Worte Gretchens im Zwinger „Ach neige, du Schmerzensreiche, dein Antlitz gnädig meiner Not… „ beinhaltend. Hier schimmert der Dramatiker Wagner durch, und das lässt diese Komposition zu einer so beeindruckenden und anrührenden werden. Bei den anderen – mit Ausnahme vielleicht von „Gretchen am Spinnrade – vernimmt man, dass da ein noch wenig erfahrener, gerade mal achtzehn Jahre zählender Komponist am Werk war.


    „Lied des Mephistopheles II“


    Was machst du mir
    Vor Liebchens Tür,
    Kathrinchen, hier
    Bei frühem Tagesblicke?
    Laß, laß es sein!
    Er lässt dich ein
    Als Mädchen ein,
    Als Mädchen nicht zurücke.

    Nehmt euch in Acht
    Ist es vollbracht,
    Dann gute Nacht,
    Ihr armen, armen Dinger!
    Habt ihr euch lieb,
    Tut keinem Dieb
    Nur nichts zu Lieb´,
    Als mit dem Ring am Finger.


    Bei dem zugrundliegenden Text handelt es um das Lied, das Mephisto in der Szene „Nacht. Straße vor Gretchens Türe“ „zur Zither“ singt. In seinen Worten drückt sich der kalte Sarkasmus aus, der für diese literarische Gestalt so typisch ist und aus seinem tiefen Blick in das Wesen dieser Welt resultiert, von der er meint, sie tauge nichts und sei nur wert, alsbald unterzugehen. Hier ist es das gemeinhin übliche Verhalten des Mannes der Frau gegenüber, das er aufs Korn nimmt und höhnisch kommentiert. Faust wird den Beweis dafür liefern, wie recht er damit hat. Was diese Figur Goethes so imponierend macht, ist die Tatsache, dass sich in seinem so teuflischen Wesen auch menschlich mitfühlende Züge finden. Schließlich spricht er in seinem Lied ja eine Warnung aus und bezeichnet die den üblen Männern auf den Leim gehenden Mädchen als „arme, arme Dinger“.

    Erfasst Wagners Liedmusik den in diesen Versen zum Ausdruck kommenden Geist der Mephisto-Gestalt, den sarkastisch-höhnischen Grundton mit seinem ganz feinen Anflug von Mitgefühl?
    Das ist, wie ich finde, durchaus der Fall. Die Liedmusik ist in Melodik und Klaviersatz schlicht gehalten, was ja auch sehr wohl angebracht ist, handelt es sich in der literarischen Vorlage doch um ein mit einem Saiteninstrument begleitetes Straßenlied. Ihr liegt ein Zweivierteltakt zugrunde, sie steht in e-Moll als Grundtonart und soll von einer Bassstimme „mäßig geschwind“ vorgetragen werden. Eine lakonisch anmutende, fallend angelegte, harmonisch eine Rückung von e-Moll über H-Dur nach e-Moll beschreibende Folge von drei- und zweistimmigen Achtelakkorden im Diskant mit gegenläufigen Achteln im Bass leitet sie ein. Der lakonische Geist, der diesem Vorspiel innewohnt, offenbart sich dann voll und ganz bei seiner Wiederkehr im Nachspiel, denn da wird die Fallbewegung am Ende durch zwei Achtelpausen unterbrochen und aus dem letzten Akkord wird ein akkordischer Doppelschlag in e-Moll, der wie ein abschließend höhnisches „Basta! So ist es“ anmutet.

    Beide Strophen gleichen einander in der Melodik und dem zugeordneten Klaviersatz. Auf jedem Vers liegt jeweils eine kleine Melodiezeile, der eine in der Größe wechselnde Pause nachfolgt. Nur die beiden letzten Verse sind zu einer Melodiezeile zusammengefasst. Die melodische Linie der Zeilen ist in beiden Strophen in ihrer Grundstruktur identisch, so dass hier, formal betrachtet, ein Strophenlied vorliegt. Zentrum und Kern der Liedmusik sind unüberhörbar die melodischen Linien auf den Versen fünf und sechs beider Strophen, den Worten „Laß, laß es sein! / Er lässt dich ein“ und „Habt ihr euch lieb, / Tut keinem Dieb“ also. Bei ihnen besteht in Melodik, Harmonik und Klaviersatz völlige Identität, und sie entfalten darin starke Expressivität.
    Es ist die der nachdrücklichen Warnung, und sie lässt erkennen, wie Wagner diese Verse gelesen hat. Er hört aus ihnen das mitfühlende Wesen der Mephisto-Gestalt heraus. Nur so lässt sich die klangliche Eindringlichkeit erklären, die er ihnen verleiht, - und prompt noch einmal erklingen lässt. Sie geht aus der markanten, vom Klavier mitvollzogenen Hervorhebung der kleinen Sekunde im Fall der melodischen Linie und der damit einhergehenden Rückung ins Tongeschlecht Moll hervor.

    Auf den Worten „Laß, laß es sein“ liegt ein in relativ hoher Basslage ansetzender verminderter Sekundfall, dem eine Tonrepetition und ein großer Sekundfall nachfolgt. Bei den Worten „Er läßt dich ein“ vollzieht sich nach einer Viertelpause die gleiche kleinschrittige, mit einem verminderten Sekundfall einsetzende Fallbewegung noch einmal, nur dass sich das dieses Mal auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene ereignet. Durchweg vollzieht das Klavier diese Bewegung in Gestalt von Einzeltönen in Diskant und Bass mit, und die Harmonik beschreibt jeweils eine Rückung von e-Moll nach H-Dur.

    Als identische Fallbewegung ist auch die Melodik auf den ersten beiden Versen beider Strophen angelegt, und zwar als eine, die, in hoher Lage ansetzend, sich in Sekundschritten vollzieht, und sich nach einer Sechzehntelpause am Ende des ersten Verses mit dem Ton sich fortsetzt, auf dem die erste kleine Melodiezeile endete. Das Klavier begleitet diese melodische Bewegung mit – wie es das mit Ausnahme der schon beschriebenen Zeilen auf den Versen fünf und sechs ja durchweg tut – drei Staccato-Achtelakkorden im Diskant und dazu synchron angeschlagenen Einzeltönen oder Oktaven im Bass. Die Harmonik beschreibt zunächst mehrfach eine Rückung von e-Moll zur Dominante H-Dur, bei der melodischen Figur auf den Worten „Kathrinchen, hier“, die ebenfalls in identischer Weise auf dem dritten Vers der zweiten Strophe wiederkehrt, ist das aber anders. Sie setzt in a-Moll-Harmonik ein, das am Ende als Subdominante eine ausdrucksstarke Rückung zur Dur-Oberdominante H-Dur vollzieht. Ohnehin wirkt der melodische Bogen auf dem Wort „Kathrinchen“, dem bei „hier“ ein wieder verminderter Sekundfall nachfolgt, wie ein melodischer Kontrapunkt zu dem langen Fall auf dem ersten Verspaar.

    Die Grundhaltung des Warnen-Wollens schlägt sich darin nieder, und sie kommt auch in der melodischen Linie auf den nachfolgenden Worten „Bei frühem Tagesblicke“ zum Ausdruck. Denn sie beschreibt hier einen kontinuierlichen Sekundanstieg über das Intervall einer Sexte bis in hohe Lage, um schließlich bei dem Wortteil „-blicke“ in einen Sturz über eine ganze Oktave überzugehen, bei dem das Klavier mit seinen Akkorden eine kurze Pause einlegt, um ihn danach lakonisch mit einem fünfstimmigen H-Dur-Akkord zu kommentieren. Die so expressiv angelegte Melodik auf den Versen fünf und sechs wirkt daraufhin wie ein Explizit-Machen und Konkretisieren dieser Warnung.

    Die beiden letzten Verse liefern in beiden Strophen die sachlichen Gründe für die Berechtigung dieser Warnung. Wagner greift das liedmusikalisch in der Weise auf, dass er nun, gleichsam in den Gestus des Kommentierens übergehend, die Verse in einer Melodiezeile zusammenfasst und die melodische Linie keine steigenden oder fallenden Bewegungen mehr beschreiben lässt. Vielmehr entfaltet sie sich nun in einem Auf und Ab von deklamatorischen Tonrepetitionen über das Intervall einer Sekunde in oberer Basslage und endet in einem Sekundfall mit nachfolgender Tonrepetition auf den Worten „zurücke“, bzw. „am Finger“, wobei die Harmonik die Standard-Rückung von der Dominante H-Dur zur Tonika e-Moll vollzieht.

    Dieses erste, formal tatsächliche Klavierlied unter den „Sieben Kompositionen zu Goethes Faust“ bestätigt im Grunde das, was die vorangehenden Kompositionen zum Thema „Wagner als Liedkomponist“ zu sagen haben. Wagner geht es nicht um eine tiefschürfende liedmusikalische Interpretation des lyrischen Textes im Sinne einer Herausarbeitung der ihm innewohnenden Komplexität, hier also der literarischen Gestalt „Mephisto“. Ihn interessiert hier nur der Gestus der Warnung, wie er der gleichsam menschlich-mitfühlenden Seite derselben entspringt. Und diese lässt er, als würde das in Gestalt des Auftritts einen Bühnen-Figur geschehen, auf durchaus überzeugende Weise zum Ausdruck bringen. Die dahinterstehende teuflische Seite dieser Gestalt, der höhnische Ton in dem das geschieht, bleibt unberücksichtigt.

  • Ich hatte unter dem Angebot bei YouTube die Interpretation des Liedes durch Thomas Hampson ausgewählt, weil sie mir am ehesten dem klanglichen Bild des Liedes gerecht zu werden schien, wie ich es aus den Noten gewonnen und oben mit Worten beschrieben habe.

    Nun aber höre ich diese gesangliche Interpretation und frage mich mit einem Mal: Wird sie der Liedmusik nicht eher gerecht, weil der Interpret die Situation, in der es in Goethes "Faust" gesungen wird, und den diabolischen Charakter dessen, der das dort tut, viel stärker zum Ausdruck bringt?

    Stimmt also mein Bild möglicherweise nicht?

    Tritt Thomas Hampson diesbezüglich nicht zu brav, fast schon zu bieder auf?

    Leider konnte ich bei YouTube nicht ermitteln, wer da singt.


  • Nachtrag zu „Lied des Mephistopheles II“


    Ich beendete meine Besprechung dieses Liedes mit der Feststellung:
    „ Ihn (Wagner)interessiert hier nur der Gestus der Warnung, wie er der gleichsam menschlich-mitfühlenden Seite (Mephistos) entspringt. Und diese lässt er, als würde das in Gestalt des Auftritts einen Bühnen-Figur geschehen, auf durchaus überzeugende Weise zum Ausdruck bringen“ Und dann fügte ich hinzu:
    „Die dahinterstehende teuflische Seite dieser Gestalt, der höhnische Ton in dem das geschieht, bleibt unberücksichtigt.“

    Und nun, nachdem ich die oben in Beitrag 14 als zweiten Link eingestellte gesangliche Interpretation des Liedes gehört und zudem noch den Kurzkommentar von Werner Oehlmann (in „Reclams Liedführer“) entdeckt habe, lautend „Das Ständchen … zu gezupfter, lautenartiger Begleitung hat verhaltenen, unheimlichen Klang“, - denke ich:
    Diese meine letzte Feststellung ist unzutreffend. Die teuflische Gestalt und der höhnische Ton sind in Wagners Komposition sehr wohl sehr wohl zu vernehmen.

    Ich stand ganz im Bann dieser zweimaligen, im ersten Fall lang gedehnten melodischen Bogenbewegung auf den Worten „Dann gute Nacht, ihr armen, armen Dinger“, aus der ich echte Anteilnahme und Besorgnis herauszuhören glaubte, die es bei Mephisto ja tatsächlich gibt. In der Szene „Der Nachbarin Haus“ spricht er, nachdem Gretchen auf die Frage „Wie steht´s mit Ihrem Herzen?“ mit den Worten „Was meint der Herr damit?“ geantwortet hat, in sich hinein: „Du gut´s unschuldig´s Kind!“.

    Aber man kann den extrem lang gedehnten, weil aus vier deklamatorischen Sekundschritten bestehenden Bogen auf „gute“ („Nacht“) ja auch als von Wagner bewusst übertrieben angelegt verstehen und ihn als Ausdruck von Hohn interpretieren. Und vor allem habe ich bei meiner liedanalytischen Betrachtung der Komposition einen Sachverhalt nicht in angemessener Weise bedacht:
    Die Tatsache, dass Wagner die melodische Fallbewegung auf den Worten „Was machst du mir vor Liebchens Tür“ und „Nehmt euch in Acht! Ist es vollbracht“ anschließend bei „Laß, laß es sein, er läßt dich ein“ und „Habt ihr euch lieb; tut keinem Dieb“ in einem wie sie in ihrer Aussage karikierenden, weil in verminderten Sekundschritten und in dissonanter Harmonisierung erfolgenden Gestus wiederkehren lässt.
    Darin kann man durchaus einen „unheimlichen Klang“ und einen diabolischen Ton vernehmen.

  • „Meine Ruh ist hin (Gretchen am Spinnrade)“


    Meine Ruh' ist hin,
    Mein Herz ist schwer;
    Ich finde sie nimmer
    Und nimmermehr.

    Wo ich ihn nicht hab'
    Ist mir das Grab,
    Die ganze Welt
    Ist mir vergällt.

    Mein armer Kopf
    Ist mir verrückt,
    Mein armer Sinn
    Ist mir zerstückt.

    Meine Ruh' ist hin,
    Mein Herz ist schwer;
    Ich finde sie nimmer
    Und nimmermehr.

    Nach ihm nur schau' ich
    Zum Fenster hinaus,
    Nach ihm nur geh' ich
    Aus dem Haus.

    Sein hoher Gang,
    Sein' edle Gestalt,
    Seines Mundes Lächeln,
    Seiner Augen Gewalt,

    Und seiner Rede
    Zauberfluß,
    Sein Händedruck,
    Und ach sein Kuß!

    Meine Ruh' ist hin,
    Mein Herz ist schwer,
    Ich finde sie nimmer
    Und nimmermehr.

    Mein Busen drängt
    Sich nach ihm hin.
    Ach dürft ich fassen
    Und halten ihn!

    Und küssen ihn
    So wie ich wollt',
    An seinen Küssen
    Vergehen sollt'!


    Die wie ein Refrain die lyrische Aussage ganz und gar beherrschende erste Strophe ist der Kern des lyrischen Monologs. Alle anderen Strophen wirken wie eine Konkretisierung, ja „Erläuterung“ und „Erklärung“ dessen, was das lyrische Ich in sprachlich unmittelbar berührender Direktheit bekennt: „Meine Ruh ist hin“.

    Man muss sich dabei des lyrisch-sprachlichen Gestus bewusst werden, der dieser ersten und allen nachfolgenden Strophe zugrunde liegt. Das ist die Sprache des einfachen Volkes. Die seelische Ruhe ist nicht abhandengekommen oder verloren oder verlustig gegangen, - sie ist „hin“. Und auf dem Herzen liegt nicht eine schwere Last, - es ist ganz einfach „schwer“. Hier spricht ein Mädchen aus einer gesellschaftlichen Schicht, die auf den Broterwerb aus der Arbeit am Spinnrad angewiesen ist. Und Goethe hat diesem Wesen genau die Sprache in den Mund gelegt, die ihrer gesellschaftlichen Identität gemäß ist. Es ist die Sprache einer emotionalen und reflexiv undifferenzierten Direktheit.

    Dieses „Gretchen“ reflektiert seine Beziehung zu jenem „Faust“ lyrisch sprachlich nicht, sie konstatiert einfach nur, - sagt aus, was ist. Ihre Sprache bleibt selbst dann noch einfach konstatierend, wenn sie sich den Geliebten in seiner konkreten Gestalt vorstellt. Bezeichnenderweise fehlen hier die Verben. Erst wenn sie sich ganz und gar in ihren Wunschträumen verloren hat, wird ihre Sprache ein wenig komplexer und sie verwendet Konjunktive. Gleichwohl ist diese immer noch syntaktisch reduziert. Das freilich ist Ausdruck tiefer innerer Erregung, die syntaktische Elaboration gar nicht zulässt.

    In diesem lyrischen Monolog bildet sich ein hochkomplexer kognitiver und emotionaler Prozess ab, in dem Gretchen nicht nur ihre individuelle Situation reflektiert, wie sie sich durch die tiefgreifenden und sie regelrecht erschütternden Folgen der Begegnung mit Faust für sie ergeben haben, sondern auch die gesellschaftlich relevanten und mit ihrer spezifischen Sozialisation zusammenhängenden Aspekte mit bedenkt. Da ist eben ein Goethe am Werk gewesen, und Franz Schubert hat all das, was dieser poetisch in Gretchens Monolog eingebracht hat, mit seiner Liedmusik in genialer Weise voll und ganz erfasst. Darauf wurde hier im Thread „Schubert und Goethe“ in ausführlicher Weise eingegangen.

    Kann man das auch dieser Wagner-Komposition bescheinigen? Ich scheue davor zurück, diese Frage mit einem klaren „Ja“ zu beantworten. Ob er Schuberts Lied überhaupt kannte? Mir ist kein entsprechender Quellenbeleg dafür bekannt, ich denke aber, dass dies angesichts seiner umfassenden musikalischen Bildung sehr wohl der Fall gewesen sein dürfte. Und bemerkenswert scheint mir unter diesen Umständen der Sachverhalt, dass er vor einer Konkurrenz mit Schubert ganz offensichtlich nicht zurückschreckte. Einmal abgesehen davon, dass man das als Ausdruck eines starken Selbstbewusstseins als Komponist nehmen kann, könnte dahinter auch das Bewusstsein stehen, liedmusikalisch etwas ganz Eigenes zu diesen Versen zu sagen zu haben. Was aber könnte das sein?

    Auf diese Frage soll der nachfolgende kurze Blick auf die Komposition ausgerichtet sein. Formal betrachtet liegt ihr ein Sechsachteltakt zugrunde, sie steht in g-Moll als Grundtonart und soll „Leidenschaftlich, doch nicht zu schnell“ vorgetragen werden. Mit einem dreitaktigen Vorspiel setzt sie ein. Im Bass erklingt ein Tremolo, das wohl das Spinnrad klanglich imaginieren soll, und im Diskant eine bogenförmig angelegte Folge von auftaktigen Sechzehnteln, einem Viertel und zwei dreistimmigen Akkorden, die sich alsbald als die Vorgabe der melodischen Linie erweist, die auf den Worten „Meine Ruh ist hin“ liegt. Ein Steigerungseffekt ist dabei in die Wiederholung der Figur gelegt, denn sie setzt, unter Fortdauer der g-Moll-Harmonisierung, beim zweiten Mal auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene ein. Aber schon hier, gleich am Anfang, wird deutlich:
    Bei dieser aus einem zweifachen Sekundanstieg, einer kleinen Dehnung auf dem Wort „Ruh“ und einem nachfolgenden zweifachen Sekundfall bestehenden melodischen Figur handelt es sich um die zentrale liedmusikalische Aussage. Sie kehrt unverändert noch zwei Mal wieder, und das gilt auch für die melodische Bewegung auf den nachfolgenden Worten dieser Schlüsselstrophe des lyrischen Textes.

    Es ist ein stark ausgeprägter Klage-Gestus, der dieser melodischen Figur innewohnt, bedingt dadurch, dass ihr Schwerpunkt auf dem mit einer Dehnung auf „Ruh“ einsetzenden und in g-Moll harmonisierten Fall in Gestalt von zwei deklamatorischen Achtelschritten besteht. Der vorangehende Sekundanstieg besteht hingegen aus Sechzehntel-Schritten und hat deshalb nur Auftakt-Charakter. Das ist es, was Wagner in diesem Monolog Gretchens als zentrale Aussage vernommen hat: Die schmerzerfüllte Klage über die Beschwernis des Herzens und den Verlust der inneren Ruhe, das Herausgerissen-Sein aus dem Ruhen in der bisherigen Lebenswelt also, wie es sich durch die Begegnung mit Faust ereignet hat.

    Allen Aussagen der übrigen Strophen verleiht der deshalb diesen schmerzlichen Unterton. Und wenn sich Gretchen der Imagination dieser in ihr Leben eingebrochenen Gestalt hingibt und dabei in einen schwärmerischen Ton verfällt, dann verleiht Wagner dem eine solch starke Expressivität, dass es fast wie ein verzweifelter Aufschrei wirkt. Denn dahinter steht ja die Ahnung, dass aus dem so ersehnen „Kuss“ nichts werden wird, sind doch alles diese Wunschvorstellungen sprachlich in das konjunktivische „Ach könnt´,…“ gebettet. Und Wagner nimmt das so ernst, dass er diesen lyrischen Passagen keinerlei liedmusikalischen Anflug von schwärmerischem Beglückt-Sein verleiht. Für ihn klingt aus allen lyrischen Aussagen der schmerzliche Klageruf heraus, den er mit dieser zentralen melodischen Figur auf den Worten „Meine Ruh ist hin“ zum Ausdruck gebracht hat.

    Für die Melodik des ganzen Liedes gilt: Sie ist in ihrer Struktur einfach angelegt, mit einer leichten Anmutung von Volksliedhaftigkeit versehen. Und das ist ja auch nicht verwunderlich, handelt es sich doch bei Gretchen um ein einfaches Mädchen aus dem Kleinbürgertum. Diese Struktur in detaillierter Weise zu beschreiben, ist wenig sinnvoll, es sollte genügen, sich auf repräsentative Passagen zu beschränken. Weil aber der ersten Strophe eine zentrale Rolle für die liedmusikalische Gesamtaussage zukommt, sei ihre Melodik in Gänze kurz dargestellt.
    Nach dem bogenförmigen Motiv auf dem ersten Vers setzt die melodische Linie auf den Worten „mein Herz“ noch einmal in der gleichen Weise mit einem Sechzehntel-Sekundsprung und einem weiteren, in eine kleine Dehnung auf „Herz“ mündenden Sekundschritt ein. Dann aber senkt sie sich bei den nachfolgenden Worten „ist schwer“ nicht wieder ab, wie das beim ersten Vers der Fall ist, vielmehr setzt sie die Aufwärtsbewegung weiter fort, verharrt in dreifacher Tonrepetition auf der damit erreichten tonalen Ebene und geht dann bei den Worten „finde sie nimmer und nimmer mehr“ in einen ausdrucksstarken Fall in Gestalt von Sekundschritten über, von dem sie sich vor dem zweiten „nimmer“ mit einem Terzsprung noch einmal kurz erhebt, um danach den Fall weiter fortzusetzen. Das ist die Fortsetzung und Intensivierung des Klage-Gestus, der mit der anfänglichen Bogenfigur eingeleitet wird, und die Harmonik unterstreicht das, indem sie eine Rückung vom anfänglichen g-Moll über c-Moll und D-Dur zurück zur Tonika g-Moll beschreibt.

    Wie von großer innerer Unruhe getrieben entfaltet sich die melodische Linie in der zweiten und der dritten Strophe. Immer wieder mit einem Sprung einetzend, beschreibt eine Fallbewegung nach der anderen und geht dann bei den Worten „Mein armer Kopf / Ist mir verrückt, / Mein armer Sinn / Ist mir zerstückt“ zu expressiven, durch Achtelpausen unterbrochenen deklamatorischen Tonrepetitionen auf im Sekundabstand wechselnden tonalen Ebenen über, die auf diese Weise das „Zerstückt-Sein“ auf beeindruckende Weise zum Ausdruck bringen. Auch hier bewegt sich die Harmonik mit kurzen Zwischenrückungen ins Tongeschlecht Dur durchweg im Moll-Bereich, vorwiegend in Gestalt von Rückungen von g-Moll nach c-Moll. Einmal aber, und hier zeigt sich der große Harmoniker Wagner, ereignet sich eine Rückung von g-Moll nach cis-Moll und D-Dur: Bezeichnenderweise bei dem verminderten melodischen Sekundfall auf den Worten „ist mir verrückt“.

    Wenn sich Gretchen in ihren einsamen Gedankengängen der Vergegenwärtigung der Faust-Gestalt und ihren Empfindungen ihr gegenüber zuwendet, tritt ein Wandel in die Struktur der melodischen Linie und ihre Harmonisierung. Vom Fall-Gestus geht sie zu dem des Anstiegs über, Dur-Harmonik tritt in sie, und sogar das Tempo ändert sich. Bei den Worten „Sein hoher Gang, sein´ edle Gestalt“ setzt die melodische Linie, nun in G-Dur mit Rückung nach D-Dur harmonisiert, in tiefer Lage ein, beschreibt einen dreifachen Sekundanstieg zu „Gang“ und geht danach bei „sein´ edle Gestalt“ in eine stark rhythmisierte, weil mit einem Sechzehntel-Sekundsprung einsetzende und von einer Dehnung gefolgte Bogenbewegung über. „Allmählich immer schneller“ lautet hier die Vortragsanweisung.

    Der Höhepunkt dieser tatsächlich starke innere Erregung ausdrückenden und vom Klavier auch mit Dreierfiguren aus dreistimmigen Achtelakkorden darin unterstützten Melodik ereignet sich auf den Worten „Sein Händedruck, / Und ach sein Kuß!“. Schon zuvor, bei „seiner Augen Gewalt“ beschreibt die melodische Linie nach einem bogenförmigen Sekundanstieg und –fall einen expressiven Quintsprung zu einem hohen „G“, wobei die Harmonik eine Rückung von C-Dur nach G-Dur vollzieht. Bei den Worten „Und seiner Rede Zauberfluß“ verharrt sie zunächst auf der Ebene dieses „G“ in Gestalt von Tonrepetitionen, um dann anschließend in einen Fall überzugehen, der, auch weil er sich in Es-Dur-Harmonik mit Rückung nach As-Dur ereignet, wie ein Vorlauf zu dem Aufschwung wirkt, den sie nun beschreibt:
    Auf „sein Händedruck“ ein Sechzehntel-Sekundsprung mit nachfolgend weiterem Sekundanstieg und auf „und ach sein Kuß“, nach einer Tonrepetition auf sich um eine kleine Sekunde anhebender tonaler Ebene, ein Terzsprung zu jenem hohen „G“, auf dem sich alle melodischen Aufgipfelungen in diesem Lied ereignen. Er verleiht dem Wort „Kuß“ einen geradezu extremen Akzent, denn auf ihm liegt eine den Takt übergreifende und überdies auch noch eine Fermate tragende Dehnung. „Etwas langsamer“ lautet die Vortragsanweisung auf dieser Aufgipfelung der melodischen Linie, deren ohnehin schon hohe Expressivität noch eine Steigerung dadurch erfährt, dass das Klavier sie mit repetierenden Achtelakkorden begleitet und danach bei der Dehnung auf „Kuß“ einen sechsstimmigen G-Dur-Akkord fortissimo anschlägt.

    Vor dem dritten und letztmaligen Erklingen der ersten Strophe lässt das Klavier in einem vierstimmigen Zwischenspiel fallende Terzen im Diskant über Tremoli im Bass erklingen, die wieder das Spinnrad klanglich imaginieren sollen. Bei den beiden letzten Strophen beschreibt die melodische Linie zunächst eine Anstiegsbewegung, die Aussage „Mein Busen drängt sich nach ihm hin“ reflektierend. Dann aber regiert der Konjunktiv die nachfolgenden lyrischen Aussagen, und die melodische Linie greift das in der Weise auf, dass sie immer wieder aufs Neue aus einem Fall in einen Anstieg übergeht, wobei zunächst noch Dur-Harmonik dominiert (C-Dur und G-Dur). Bei den Worten „Und küssen ihn so wie ich wollt´“ beschreibt sie zweimal hintereinander einen in der tonalen Ebene sich anhebenden Sekundaufstieg, der „etwas schneller“ vorgetragen werden soll. Aber schon hier drängt sich Moll-Harmonik in die Liedmusik, Gretchens sehnsüchtiges Verlangen zum Ausdruck bringend, das mit Hoffnungslosigkeit einhergeht.


    Auf den Schlussworten „An seinen Küssen vergehen sollt´“ gibt es keine auch noch so kleine melodische Anstiegsbewegung mehr. Fall herrscht vor, ein gestaffelter zwar, aber einer, der sich kontinuierlich fortsetzt, das große Intervall einer Sexte einnimmt und „langsamer“ vorgetragen werden soll. Das Klavier vollzieht ihn mit oktavischen Akkorden mit, auch den in identischer Weise sich wiederholenden dreifachen Sekundfall auf den Worten „An seinen Küssen ver-“, der in c-Moll harmonisiert ist. Auf den Worten „vergehen sollt´“ liegt ein aus einer langen Dehnung hervorgehender zweifacher und auf dem Grundton „G“ endender Sekundfall. Es ist der Grundton der Tonika g-Moll, und dieser in der Moll-Tiefe ausklingende Fall der melodischen Linie drückt alles andere aus, als ein Entzückt-Sein von der Imagination eines Kusses vom Geliebten. Und das Klavier bringt das im dreitaktigen Nachspiel noch einmal zum Ausdruck, indem es nach einem Tremolo im Bass die melodische Fallfigur mit Sechzehntel-Auftakt akkordisch und in g-Moll-Harmonisierung noch einmal erklingen lässt.

    Dieses Gretchen an seinem Spinnrade ist bei Wagner ein wesenhaft leidendes, weil aus seiner bisherigen Lebenswelt herausgerissenes und bei all seinem Entzückt-Sein von Liebesgefühlen existenziell zutiefst verunsichertes junges weibliches Wesen.

  • Für die Melodik des ganzen Liedes gilt: Sie ist in ihrer Struktur einfach angelegt, mit einer leichten Anmutung von Volksliedhaftigkeit versehen. Und das ist ja auch nicht verwunderlich, handelt es sich doch bei Gretchen um ein einfaches Mädchen aus dem Kleinbürgertum.

    Lieber Helmut, diesem - wie Du es sehr treffend beschreibst - einfachen Mädchen bin ich immer auch deshalb so verbunden, weil es seine Gefühle so offen, frei und genau auszudrücken vermag. Dafür findet Schubert nach meinem Eindruck die treffendere Musik. Wagner überhöht das Gretchen. Die Figur hat ihn ja immer sehr umgetrieben.

    Ob er Schuberts Lied überhaupt kannte? Mir ist kein entsprechender Quellenbeleg dafür bekannt, ich denke aber, dass dies angesichts seiner umfassenden musikalischen Bildung sehr wohl der Fall gewesen sein dürfte.

    Auch ich habe keinen direkten Beweis gefunden, dass Wagner Schuberts Lied kannte. In Cosima Tagebüchern gibt es die Mitteilung, dass die Gesamtausgabe der Schubert-Lieder eingetroffen sei. Die dürfte das "Gretchen" enthalten haben. Schubert ist oft Thema des Gesprächs zwischen beiden. Und es ist die Rede davon, dass Wagner selbst Lieder von Schubert vorgesungen habe.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Vielen Dank, lieber Rheingold, für Deinen Kommentar zur Besprechung dieses Liedes. Ich bin - im Unterschied zu Dir - kein Wagner-Kenner und konnte deshalb nur vermuten, dass er sehr wohl mit Schuberts Liedmusik vertraut war und infolgedessen auch dessen „Gretchen am Spinnrade“ gekannt haben dürfte. Nun, nachdem ich von Dir diese Information erhalten habe, bin ich mir diesbezüglich ziemlich sicher geworden.

    Hochinteressant und hilfreich für mich ist Deine Feststellung: „Dafür findet Schubert nach meinem Eindruck die treffendere Musik. Wagner überhöht das Gretchen.
    Zu diesem Fragenkomplex wollte ich nämlich heute diese Notiz meinen Ausführungen als Nachtrag beigeben:

    Kann Wagners Komposition auf diese Verse aus Goethes „Faust“ neben der von Schubert bestehen?
    Diese Frage drängt sich auf, und sie hat ihre Berechtigung, wenn Wagners Vertonung dieser Verse – wovon wohl ausgegangen werden darf – in dem bewussten Anspruch erfolgte, neben die von Schubert treten zu dürfen.
    Über diese Frage habe ich lange gegrübelt. Und nun denke ich:
    Sie kann es sehr wohl, denn sie erfasst, wie ich oben darzustellen versucht habe, einen wesentlichen Teil der lyrischen Aussage dieser Goethe-Verse. Und dies auf musikalisch durchaus beeindruckende Art und Weise.
    Aber gestützt auf die hier im Forum vorliegende liedanalytische Betrachtung beider Lieder (Schubert und Goethe. Wie große Lyrik zu großer Liedkunst wurde) meine ich nun feststellen zu dürfen:

    Wagners Komposition ist zu eindimensional auf den musikalischen Ausdruck seelischen Schmerzes ausgelegt, und dies auch noch auf zu extrovertiert-expressive Weise. Er macht aus Gretchen eine Art Leidens-Heroine. Bei diesen Versen handelt es sich aber um einen Monolog in der stillen Spinnrad-Stube. Und in ihm drückt sich mehr aus als nur der einleitende Klageruf: „Meine Ruh´ ist hin, mein Herz ist schwer“. Dieses „Mehr“ hat Schubert sehr wohl erfasst.

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  • „Der Tannenbaum“, WWW 50

    Der Tannenbaum steht schweigend,
    Einsam auf grauer Höh';
    Der Knabe schaukelt im Nachen
    Entlang dem blauen See.

    Tief in sich selbst versunken
    Die Tanne steht und sinnt,
    Der Knabe kos't der Welle,
    Die schäumend vorüberrinnt.

    "Du Tannenbaum dort oben,
    Du alter finstrer Gesell,
    Was schaust du stets so trübe
    Auf mich zu dieser Stell'?"

    Da rühret er mit Trauern
    Der dunklen Zweige Saum,
    Und spricht in leisen Schauern,
    Der alte Tannenbaum:

    "Daß schon die Axt mich suchet
    Zu deinem Todenschrein,
    Das macht mich stets so trübe,
    Gedenk' ich Knabe, dein."

    (Georg Scheurlin)


    Dieser balladenhafte Text stammt von dem 1802 in Mainbernheim geborenen und 1872 in München verstorbenen Johann Georg Scheuerlin, der als Georg Scheurlin Gedichte, Epen, Erzählungen und Novellen publizierte. Wagners Komposition darauf entstand 1838 in Riga. Sie steht in es-Moll, einer Tonart, die Wagner in einem Brief an Lewald als „liefländisch“ bezeichnete und später in der Nornenszene von Siegfrieds Tod und im Vorspiel der Götterdämmerung wieder aufgriff. Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, und Vortragsanweisung lautet „Moderato“.

    Was Wagner bewogen haben mag, zu diesem Text zu greifen, darüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Ob er vielleicht den Autor kannte, vermochte ich nicht herauszufinden. Wohl aber dürfte er sich vom Thema dieser Ballade angesprochen gefühlt haben: In einer Kombination aus sprachlich schlichtem narrativem und dialogischem Text und auf der Grundlage eines einfachen lyrischen Bildes wird das Thema „Tod“ angesprochen. Und dies auf durchaus beeindruckende Art und Weise, denn es geht im Grunde dabei nicht etwa um das Bedroht-Sein durch denselben in einer spezifischen lebensgefährlichen Situation, sondern um die grundsätzliche Dimension, - das „Sein zum Tode“, um einen zentralen Begriff der Existenzphilosophie Heideggers zu verwenden. Der alte Tannenbaum teilt dem im Nachen munter und mit der Welle kosend an ihm vorbei rudernden und den Inbegriff von jungem Leben verkörpernden Knaben mit, dass schon in ihm der Tod gegenwärtig ist und er das Holz für seinen Sarg liefern wird.

    Kann man in Wagners Musik auf diesen Balladentext personale Betroffenheit vernehmen, dergestalt, dass er sich liedkompositorisch intensiv mit diesem Thema auseinandersetzt? Schließlich ist es eines, das, weil es für ihn von hoher existenzieller Relevanz ist, auch in seinen Opernwerken eine große Rolle spielt. Es kann wohl kein Zweifel bestehen, dass dies der Fall ist. Neben den „Wesendonck“-Liedern ist diese Ballade für mich die bedeutendste Liedkomposition, die Wagner hervorgebracht hat. Allein schon das Zusammenspiel eines hochkomplexen, aus Achtel- und Sechzehntelketten in Kombination partiell arpeggierten Akkorden bestehenden Klaviersatzes mit einer sich in deklamatorisch gewichtigen Schritten und in modulatorisch vielgestaltiger Harmonisierung entfaltenden melodischen Linie, verleiht der Liedmusik eine hochgradige Eindrücklichkeit. Und hinzu kommt, dass sie dabei auch noch eine ausgeprägte, die narrativen und dialogischen Passagen des Textes reflektierende strukturelle Binnendifferenzierung aufweist. Offenkundig wird: Das ist kein beiläufiges Gelegenheits-Werkchen; das hat ein Komponist etwas sagen wollen. Und es ist ihm auf eindrucksvolle Weise gelungen.

    In ruhiger Weise steigen im viertaktigen Vorspiel, aus es-Moll-Akkorden sich lösend, piano und mit einem Crescendo versehen, Achtel im Bass auf und gehen danach in einen Fall über, um anschließend diese Bewegung gleich noch einmal zu vollziehen. Das ist die Grundstruktur des Klaviersatzes das ganze Lied über, nur dass sie, darin die jeweilige lyrische Aussage reflektierend, vielerlei figurale Formationen durchläuft, vom Bass in den Diskant übergreift, dabei große tonale Räume, viele Tonarten und –geschlechter einnimmt und von lang gehaltenen drei und vierstimmigen und oft in arpeggierter Weise auftretenden Akkorden getragen wird. Hier, im Vorspiel und bei der Melodik auf den ersten beiden Versen drückt die Ruhe seiner Entfaltung wohl das einleitende lyrische Bild vom einsam und schweigend „auf grauer Höh“ stehenden Tannenbaum aus. Und das ist auch bei der melodischen Linie der Fall. Denn diese verharrt bei den Worten des ersten Verses, mit einem verminderten Sekundschritt auftaktig einsetzend, in fünfmaliger Repetition auf einem „Fes“ in tiefer Lage, und beschreibt bei „schweigend“ dann einen Quintsprung. Durchweg ist diese melodische Bewegung in Fes-Dur harmonisiert.

    Bei den Worten des zweiten Verses, ist die nach einer Viertelpause einsetzende melodische Linie untergliedert. Auf dem Wort „einsam“ beschreibt sie einen in es-Moll harmonisierten Terzfall, und die nachfolgende Viertelpause verleiht diesem Fall und damit dem Wort „einsam“ einen deutlichen Akzent. Auf den Worten „auf grauer Höh“ liegt dann eine mit einem Quartsprung einsetzende Tonrepetition, die in einen Sekundfall mit nachfolgender Dehnung übergeht. Sie ist mit einer ausdrucksstarken Rückung von es-Moll in die Dur-Dominante B-Dur verbunden. Ruhig erzählend wirkt die Liedmusik auf diesen beiden, den Tannenbaum betreffenden ersten beiden Versen. Und das Klavier unterstützt diesen Gestus der melodischen Linie, in dem es auf der Basis von – einmal arpeggierten – Akkorden Achtel aufsteigen und wieder fallen lässt.

    Aber schon während der langen Dehnung auf „Höh“ und in der nachfolgenden Dreiachtelpause lässt es eine lebhafte Kette von zweimal ansteigenden und dann in einen Fall übergehenden Sechzehnteln erklingen, denn jetzt geht es ja um den mit seinem Nachen im See dahinschaukelnden Knaben. Durchweg behält das Klavier nun in Begleitung der melodischen Linie diese lebhafte, steigend-fallend angelegte und dabei einen großen tonalen Raum durchlaufende Sechzehntelfigur bei, die im Bass von arpeggierten Akkorden getragen wird. Auch die melodische Linie bewegt sich nun lebhafter, indem sie mit zwei Sprüngen in obere Lage aufsteigt, bei dem Wort „schaukelt“ dort eine Schaukelbewegung in einem Auf und Ab und Ab in Sekundsprüngen beschreibt, sich bei den Worten „im Nachen entlang“ wiederum in Sprungbewegungen in der tonalen Ebene absenkt, um am Ende, bei den Worten „blauen See“ in eine nun ruhige Dehnung auf einem „B“ in mittlerer Lage mit einem eingelagerten Sekundsprung überzugehen. Die Harmonik beschreibt in dieser von keiner Pause unterbrochenen Melodiezeile eine Rückung von Es-Dur über f-Moll und ein neuerliches Es-Dur nach B-Dur am Ende. Dem „Knaben“ ist als das Tongeschlecht Dur zugeordnet.

    Melodik, Harmonik und Klaviersatz wurden bei der ersten Strophe so detailliert beschrieben, weil schon hier hörbar wird, wie intensiv die Liedmusik die lyrische Aussage und ihre Metaphorik reflektiert. Das setzt sich nun in dieser Weise bis zum Ende des Liedes fort, soll aber nicht in gleicher Weise dargestellt werden. Es genügt, sich im folgenden nur noch kurz auf solche Passagen des Liedes einzulassen, die für das kompositorische Konzept Wagners in besonderer Weise repräsentativ sind. Bei der zweiten Strophe ereignet sich dieses Aufeinander zweier Liedmusiken in ähnlicher Weise noch einmal, denn auch hier handelt das erste Verspaar von der Tanne, das zweite hingegen wieder vom „Knaben“. Aber das geschieht keineswegs in Gestalt simpler Wiederholung. Die Melodik ist strukturell zwar ähnlich angelegt, Klaviersatz und Harmonik nehmen jedoch neue Gestalt an. Die große Ruhe, die nun von der fast ausschließlich in Tonrepetitionen sich entfaltenden melodischen Linie auf den Worten des ersten, die Tanne betreffenden Verspaares ausgeht, wird vom Klavier intensiviert, indem es, und dies pianissimo, nur vier fünfstimmige, den ganzen Takt ausfüllende Akkorde im Bass erklingen lässt, - in es-Moll, as-Moll und Fes-Dur. Die lebhaften Sechzehntel-Figuren, zu denen das Klavier beim zweiten Verspaar übergeht, entfalten sich nun anderer Harmonik: Einsetzend mit Ces-Dur in der Singstimmen-Pause, gehen sie nach einem kurzen es-Moll bei dem Wort „Knabe“ zu Des-Dur und Ges-Dur über. Aber auch hier bleibt es dabei: Dem „Knaben“ ist Dur-Harmonik zugeordnet.

    Dabei bleibt es aber nicht. Und das ist einer der Aspekte, die das hochgradige Niveau dieser Liedkomposition ausmachen. In dem Augenblick, wo die Beiden ins Gespräch kommen, die alte Tanne und der junge Knabe“, treten auch die liedkompositorischen Figuren in Melodik, Harmonik und Klaviersatz in ein dialogisches Miteinander ein. Die Anrede „Du Tannenbaum dort oben…“ erfolgt, harmonisiert in Ges-Dur mit kurzer Zwischenrückung nach as-Moll, in lebhaftem, von Sprüngen über größere Intervalle sich vollziehendem deklamatorischem Gestus, und dieser intensiviert sich bei den Worten „Was schaust du stets so trübe“, denn hier verharrt die melodische Linie, nun in Des-Dur harmonisiert, in sechsmaliger Tonrepetition auf einem „Des“ in hoher Lage, um erst beim letzten Vers der Strophe in einen wellenartigen Fall hin zu mittlerer tonaler Lage überzugehen. Das Klavier begleitet hier durchweg mit diesen für die Knaben-Strophen und –Verse typischen nach oben eilenden und wieder fallenden Sechzehntel-Ketten.

    Wunderbare und hoch beeindruckende, weil nämlich von der Aussage her zugleich verstörende Ruhe geht dann schließlich von der Liedmusik der beiden letzten Strophen aus. Bei den Worten „Da rühret er mit Trauern / Der dunklen Zweige Saum“ entfaltet sich die melodische Linie in ruhigen deklamatorisch repetierenden Schritten auf der Ebene eines Es in tiefer Lage mit nur einem bogenförmigen Aufschwung vor der Rückkehr zu diesem Es am Ende. Es-Moll-Harmonik herrscht wieder vor, und das bleibt auch so bei der Melodik auf dem zweiten Verspaar der vorletzten Strophe, denn diese weist die gleiche, stark von Tonrepetitionen in tiefer Lage (hier einem „Fes“) geprägte Struktur auf, was eine kurze Zwischenrückung nach Fes-Dur zur Folge hat.

    Die Worte der letzten Strophe haben´s in sich. Und Wagners Liedmusik lässt das auch vernehmen. Bei den Worten "Daß schon die Axt mich suchet / Zu deinem Totenschrein“. Verharrt die melodische Linie, in es-Moll gebettet, in permanenter Tonrepetition ausschließlich auf der tonalen Ebene eines es-Moll in tiefer Lage, und dem Wort „schon“ wird dabei durch eine lange Dehnung ein starker Akzent verliehen. Bei dem Wort „Totenschrein“ ereignet sich dann aber eine ausdrucksstarke, weil nur über eine verminderte Sekunde erfolgende und einen Steigerungseffekt beinhaltende Anhebung der Tonrepetitionen, die mit einer harmonischen Rückung nach Fes-Dur einhergeht. Das Klavier begleitet dies immerzu mit steigenden und wieder fallenden Achteln im Bassbereich und lang gehaltenen Akkorden im Diskant. Wie in großer Müdigkeit hebt sich die melodische Linie in sehr ruhigen Schritten (halbe Noten) bei den Worten „Das macht mich stets so trübe“ von der Ebene des „Fes“ zu der eines „As“ hin an, senkt sich danach aber wieder zu der des tiefen „Es“ ab, und damit zu dem es-Moll, das ihre eigentliche Heimat ist.

    Den Worten „Gedenk' ich Knabe, dein" verleiht Wagner den mahnenden Ton, den er im lyrischen Text vernommen hat. Der Tannenbaum behält seinen so gewichtig-ruhigen deklamatorischen Gestus bei, beschreibt nun aber bei den Worten „gedenk´ ich“ einen – für ihn ungewöhnlichen – Terzsprung zu einem „B“ in mittlerer Lage und verharrt dort, in einem ebenfalls untypischen B-Dur harmonisiert, um dann schließlich bei „Knabe“ in einen expressiven Oktavfall überzugehen, dem ein Sextsprung nachfolgt. Er führt die melodische Linie bei dem Schlusswort „dein“ zu einer langen Dehnung (ganze Note) auf der Terz der Tonika es-Moll. Das ist ein offener Schluss, wohnt diesen Worten doch die Dimension der Zukunft inne. Und das Klavier verweist im dreitaktigen Nachspiel auf ihre existenzielle Relevanz, indem es in seinen in einen Fall übergehenden, in es-Moll harmonisierten Achtel-Ketten einfach fortfährt und am Ende einen extrem lang gehaltenen Pianissimo-Es-Moll-Akkord anfügt.

  • Hier ist das Lied "Der Tannenbaum" in einer zweifellos beeindruckenden gesanglichen Interpretation zu hören. In dieser Aufnahme von 1971 wird Dietrich Fischer-Dieskau von Aribert Reimann begleitet:


  • Du alter finstrer Gesell,

    Natürlich ist das kein Zitat von Helmut Hofmann, sondern eine Zeile aus Scheurlins Gedicht und ich wundere mich, dass ich anstatt »finst.rer«, wie es im Notenblatt steht, aus des Sängers Mund immer »finster« zu hören glaube; ob sich Fischer-Dieskau dem Dichter anschließen wollte, der seinen Namen von Scheuerlin auf Scheurlin verkürzte?

  • Was Du hier monierst, lieber hart, war für mich natürlich Anlass, mir diese von mir hier per Link eingestellte Aufnahme des Liedes noch einmal ganz genau anzuhören.
    Das einzige, was ich mit Blick auf den Notentext an Defiziten feststellen konnte war, dass Aribert Reimann den Sechzehntel-Fall während der melodischen Dehnung auf dem Wort („dem blauen“) „See“ nicht spielt. Aber das war´s dann auch schon. Und Fischer-Dieskau trägt in unüberhörbarer deklamatorischer Deutlichkeit die Worte „du alter finst´rer Gesell“ in der dreifachen Tonrepetition mit nachfolgendem Sekundfall und Quartsprung vor. Warum Du das nicht zu hören vermagst, verstehe ich nicht.

    Es war überhaupt wie eine Erleuchtung, als ich diese Aufnahme von „Der Tannenbaum“ zum ersten Mal hörte. Ich kannte sie gar nicht und verfasste meinen Beitrag hier auf Grundlage der einleitend zitierten CD von Scandinavian Classics. Dort trägt der Bariton Björn Asker dieses Lied auf eine durchaus respektable und seine musikalische Aussage sehr wohl zum Ausdruck bringende Weise vor.

    Aber um welch großartige Liedmusik es sich bei dieser Komposition Wagners handelt, das wurde mir erst voll bewusst, als ich, nach einer verlinkbaren Aufnahme bei YouTube suchend, auf diese mit Fischer-Dieskau stieß. Er wählt ein langsameres Tempo und verleiht damit jedem deklamatorischen Schritt in den Anrede-Passagen ein großes Gewicht, so dass deren musikalischer Gehalt auf markante Weise vernehmlich wird. Das lässt vor allem diesen geradezu dramatisch wirkenden Anstieg der Tonrepetitionen in Halbtonschritten, wie er sich bei den Worten „"Daß schon die Axt mich suchet / Zu deinem Totenschrein“ zu einem regelrechten Hörerlebnis werden.
    Und Aribert Reimann scheint vom selben interpretatorischen Geist beseelt zu sein: Jeder Ton des so imposanten Klaviersatzes wird von ihm wie herausgemeißelt vorgetragen.

    Hab mich übrigens sehr gefreut darüber, dass Du hier mithörst.

  • Kompositionen auf französische Texte

    Diese Lieder entstanden in Paris, wo Wagner auf der Flucht vor seinen Gläubigern gelandet war, und zwar in der Zeit zwischen Herbst 1839 und März 1840. Um Zugang zur dortigen Musik- und Kulturszene zu finden, entschloss er sich auf den Rat von Freunden hin, Gesänge auf französische Texte und im Geist französischer Musik zu komponieren, die er „beliebten Sängern zum Vortrag in den häufigen Konzerten anbieten könnte.“ Er selbst kommentierte das später mit den Worten:
    „Um mich durch Sänger der Pariser Salonwelt empfehlen zu lassen, komponierte ich mehrere französische Romanzen, die, trotz meiner entgegengesetzten Absicht zu ungewohnt und schwer erschienen, um endlich wirklich gesungen zu werden.“
    In dieser Bemerkung schlägt sich nieder, dass sein Vorhaben ohne sonderlichen Erfolg blieb. Die Sopranistin Pauline Viardot-Garcia zum Beispiel ging auf seine Bitte nicht ein, einige dieser Gesänge in ihr Repertoire aufzunehmen. Immerhin urteilte Wagner aber ein gutes Vierteljahrhundert später, dass es sich dabei um „Arbeiten“ handele, „deren ich mich nicht zu schämen brauche“.
    Insgesamt geht es dabei um sechs Kompositionen. Auf vier davon soll hier näher eingegangen werden. Nicht berücksichtigt werden die Vertonung eines Victor Hugo-Textes mit dem Titel „Attente“ und die Komposition „Tout n´est qu´images fugitives“. Sie blieb als einzige von ihnen zu Lebzeiten Wagners ungedruckt. Die anderen erschienen 1841 und 1842 in August Lewalds Zeitschrift „Europa“.


    „Dors mon enfant“ WWV 53

    Dors entre mes bras,
    Enfant plein de charmes!
    Tu ne connais pas
    Les soucis, les larmes;
    Tu ris en dormant,
    À ton doux sourire,
    Mon coeur se déchire;
    Dors, ô mon enfant!

    Dors sur les genoux
    De ta pauvre mère,
    Car le sort jaloux
    T'a ravi ton père;
    Je veille en tremblant
    Sur ta faible enfance,
    Dors, mon espérance,
    Dors, ô mon enfant!

    Dors et ne crains rien,
    Car si tu sommeilles,
    Ton ange gardien,
    Ta mère, te veille,
    Le repos descend
    Sur ton front candide,
    Dors sous mon égide,
    Dors, ô mon enfant!

    Wagner macht aus diesen Versen eines unbekannten französischen Autors ein durchaus ansprechendes Wiegenlied. Es besticht durch seine eingängige Melodik, durch den sie auf geradezu bezaubernde Weise umspielenden Klaviersatz und durch seine, angesichts seiner Funktion und seines lyrischen Gehalts eigentlich nicht zu erwartende, innere Beschwingtheit. Denn die Mutter lässt in ihre Ansprache an das im Einschlafen lächelnde Kind ihre Sorgen und Tränen einfließen und bekennt, dass sie eine „pauvre mère“ ist, der das unbarmherzige Schicksal den Mann und damit dem Kind den Vater geraubt hat. Bedingt ist diese Beschwingtheit der Liedmusik durch den ihr zugrundeliegenden Neunachteltakt, die dementsprechend deklamatorisch rhythmisierte Melodik und die Vortrags-Tempo-Anweisung „Andantino“. Die Komposition ist als Strophenlied angelegt, und als Grundtonart ist F-Dur vorgegeben. Rechts oben im Notentext findet sich der Datumsvermerk: „Paris 1840“.

    Als liedmusikalisch anspruchsvoll erweist sich diese Komposition insbesondere dadurch, dass die melodische Linie in ihrer strukturellen Anlage den Gestus der liebevoll-besorgten Ansprache auf eindringliche Weise entfaltet, in ihrer Harmonisierung die Ambiguität von Ich und Du reflektiert, und dass sie einen Klaviersatz aufweist, der der Melodik nicht nur ein klangliches Bett zu bereiten, sondern darüber hinaus auch einen eigenständigen Beitrag zu ihr einzubringen vermag. Diese drei Aspekte gilt es mit Blick auf die Liedmusik der ersten Strophe kurz zu konkretisieren.

    Die Melodik ist wesenhaft von der fallenden Linie geprägt. Auf den Worten „Dors entre mes bras, / Enfant plein de charmes!“ beschreibt die melodische Linie eine Bewegung, die sie auf dem nachfolgenden Verspaar („Tu ne connais pas / Les soucis, les larmes“) in strukturell identischer Weise wiederholt, nur dass sie nun auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene einsetzt und demensprechend auch anders harmonisiert ist. Mit einer langen Dehnung auf dem Wort „dors“, in die zwei Mal ein Achtel-Vorschlag eingelagert ist, setzt sie ein. Und dies mitten in den Klaviersatz, der sich bereits drei Achtel lang in der für diese beiden Verspaare charakteristischen Weise entfaltet hat: Im Auf und Ab von Sechzehnteln im Diskant, das, auf permanent gleicher Basis ansetzend (einem „C“ in tiefer Lage), sich im Intervall Schritt für Schritt um eine Sekunde erweitert, und dies bis die Oktave erreicht ist, worauf anschließend wiederum schrittweise der Vorgang rückgängig gemacht wird. Hierbei, einsetzend schon bei dem Wort „entre“, stimmt der Fall der Oberstimme nun mit dem der melodischen Linie überein, während der Anstiegsbewegung der Sechzehntel-Figuren die Funktion zukommt, den affektiven Gehalt, der Aufforderung, dem Wunsch und dem sehnlichen Begehren also, der dem Wort „dors“ innewohnt, zu erschließen und ihm Nachdruck zu verleihen.

    Der nach der Dehnung einsetzende Fall der melodischen Linie ereignet sich in partiell kleinen Sekundschritten, was ihm, weil die F-Dur-Harmonisierung dadurch leicht eingetrübt wird, eine besondere Eindringlichkeit verleiht. Und er setzt sich in dieser auf den beiden Verspaaren liegenden Melodiezeile auch nicht weiter fort, sondern geht in der ersten Zeile bei den Worten „plein de charmes“ zu einem Anstieg in Sekundschritten über und beschreibt am Ende, also auf dem Wort „charmes“, einen Terzfall. Hier ist die Harmonik nun voll in den Moll-Bereich gerückt, g-Moll nämlich. Dies aber, schließlich ist hier ein Richard Wagner am Werk, nicht in direkter Weise, sondern über einen kurzen Schritt in die Dominante D-Dur. Dieser Umschlag im Tongeschlecht ereignet sich nicht nur in der Harmonisierung der melodischen Linie auf den ersten vier Versen, sondern setzt sich bei den nachfolgenden Versen fort. Im Tongeschlecht Moll reflektiert die Liedmusik den seelischen Gehalt der an das Kind gerichteten Ansprache, in ihm schlagen sich die Emotionen nieder, die sich bei der – ein Erwachsenen-Schicksal mit sich herumtragenden - Mutter beim Anblick des kleinen Kindes einstellen.

    Deutlich wird das bei den Worten „Tu ne connais pas / Les soucis, les larmes”. Die melodische Linie beschreibt hier den gleichen Fall wie auf dem ersten Verspaar, aber er setzt nun nicht auf einem „C“ in mittlerer Lage ein, sondern eine Sekunde höher auf einem „D“, und er ist vor allem fast durchweg in g-Moll harmonisiert. Nicht ganz und gar, weil Wagner bei dieser zweiten Melodiezeile am Ende im Vergleich zur ersten eine bemerkenswerte Variation vornimmt. Er lässt die melodische Linie bei „soucis“ eine Sekunde länger fallen und sie danach den Anstieg nicht i Sekundschritten, sondern mit einem ausdrucksstarken Septsprung vollziehen. Hierbei vollzieht die Harmonik eine Rückung vom vorangehenden g-Moll nach C-Dur, und dieses fungiert als Dominante für das F-Dur, in das der Terzfall auf „larmes“ gebettet ist. Warum diese Rückung ins Tongeschlecht Dur am Ende dieser im Terzfall am Ende wieder mit der ersten identischen Melodie? Ich denke, Wagner berücksichtigt dabei das die lange Dehnung tragende anfängliche „Tu“. Die Mutter spricht ihr Kind an, und das wird ihr, nachdem sie sich gerade einmal ihren eigenen, mit ihrem Lebensschicksal zusammenhängenden Gefühlen überlassen hat, am Ende bewusst, und sie wendet sich von sich selbst ab und wieder ihrem Kind zu.

    Bei der Liedmusik auf der zweiten Vers-Vierergruppe der Strophe ereignet sich dieses durch die lyrische Aussage bedingte tongeschlechtliche Wechselspiel noch einmal, und man darf wohl konstatieren, dass sich darin die liedkompositorische Größe Richard Wagners in diesen Liedern zeigt, die ja eigentlich nicht um ihrer selbst willen entstanden, sondern einem zweckgebundenen Anlass geschuldet sind. Er hatte wohl guten Grund zu der Feststellung, dass er sich ihrer „nicht zu schämen habe“.

    Bei den Versen fünf und sechs lässt er die melodische Linie eine zweimalige Fallbewegung vollziehen. Auf den Worten „Tu ris en dormant” setzt sie nach einer ansprachebedingten Dehnung in hoher Lage auf dem Wort “tu” mit einem doppelten Sekundfall ein, dem danach einer über eine Terz und ein Sekundsprung auf der zweiten Silbe von „dormant“ nachfolgt. Das Klavier ist hier in Begleitung der Singstimme im Diskant zu einer neuen Figur übergegangen: Einem aus einem Oktavfall hervorgehenden Sechzehntel-Anstieg, dem ein weiterer Fall nachfolgt. Danach geht es aber wieder zu seinem Auf und Ab über und lässt bei sich verkleinerndem Intervall den Spitzenton dem Fall der melodischen Linie folgen. F-Dur-Harmonisierung herrscht vor. Nach einer Achtelpause beschreibt die melodische Linie bei den Worten „À ton doux sourire“ erneut einen eine Terz tiefer ansetzenden und vom Klavier in gleicher Weise begleiteten Sekundfall. Nun aber vollzieht die Harmonik bei dem Wort „sourire“ einen Übergang zum Tongeschlecht Moll (g-Moll), und der ist ganz offensichtlich den nachfolgenden bekenntnishaften Worten der Mutter „Mon coeur se déchire“ geschuldet. Hier setzt die melodische Linie mit einem verminderten Septsprung ein, beschreibt in hoher Lage einen Sekundfall in Sechzehntel-Schritten und geht danach in eine Abwärtsbewegung über Sekundintervalle über, die vom Klavier mit dem oberen Ton seiner Auf-und-Ab-Figuren mitvollzogen wird und ganz und gar in g-Moll gebettet ist.

    Von dem tiefen „F“ aus, in dem der Fall der melodischen Linie auf dem Wort „déchire“ endet, geht sie unmittelbar mit einem Oktavsprung zu der Dehnung auf dem Wort „dors“ über, die wie am Anfang des ersten Verses wieder lange gehalten wird und mit einem Achtelvorschlag versehen ist. Wagner lässt den letzten Vers zweimal deklamieren. In beiden Fällen liegt auf den Worten „ô mon enfant“ ein melodischer Fall. Aber während dieser sich beim ersten Mal in ruhigen Sekundschritten vollzieht, wobei sich eine harmonische Rückung von dem B-Dur auf der Dehnung über ein C-Dur nach F-Dur ereignet und das Klavier gleichsam gegenläufig zur melodischen Linie die Intervalle seiner Auf-und-Ab-Figuren größer werden lässt, ereignet sich beim zweiten Mal nach der nun in der tonalen Ebene um eine Terz abgesenkten langen Dehnung erst ein Sekundfall, danach aber ein regelrechter Sturz der melodischen Linie über eine Septe in tiefe Lage, aus der sich sie mit zwei Sekundschritten aufwärts wieder zum Grundton „F“ erhebt.

    Die Harmonik beschreibt dieses Mal eine Rückung von D-Dur über C-Dur hin zur Tonika F-Dur, und das Klavier verbleibt mit seinem Auf und Ab in Sechzehnteln in mittlerer tonaler Lage.
    Die Mutter hat in ihrem Schlaflied-Gesang nun auch selbst zu innerer Ruhe gefunden.

  • „Mignonne“, WWV 57


    Mignonne, allons voir si la rose,
    Qui ce matin avait desclose
    Sa robe de pourpre au soleil,
    N'a point perdu cette vesprée
    Les plis de sa robe pourprée
    Et son teint au vôtre pareil.

    Las! voyez comme en peu d'espace,
    Mignonne, elle a, dessus la place,
    Las! Las! ses beautés laissé cheoir!
    Ô vraiment marâtre nature,
    Puisqu'une telle fleur ne dure,
    Que du matin jusques au soir!

    Or donc, écoutez-moi, Mignonne,
    Tandis que votre âge fleuronne
    En sa plus verte nouveauté,
    Cueillez, cueillez votre jeunesse:
    Comme à cette fleur la vieillesse
    Fera ternir votre beauté.

    (Pierre de Ronsard)

    Der lyrische Text ergeht sich im Geist der Liebeswerbung im Spiel mit der Metaphorik der Rose als Inbegriff der Vergänglichkeit von Schönheit, um die Geliebte dazu zu bewegen, „der Jugend holdes Glück“ zu nutzen und Liebeserfüllung zu gewähren.
    Das ist ganz und gar arglose und jeglichem Sich-Einlassen auf die tieferen existenziellen und emotionalen Dimensionen einer liebevollen Zweierbeziehung aus dem Wege gehende Lyrik. Und das schlägt sich auch in Wagners Liedmusik darauf nieder. Sie ergeht sich ihrerseits in romanzenhaft arglosem Ton, darin allerdings den großen, melodisch-arienhaften Gestus suchend und anstrebend. Das macht sie zwar durchaus klanglich reizvoll, lässt sie aber auf der Ebene des Konventionellen verbleiben.

    Der Liedmusik liegt ein Neunachteltakt zugrunde, E-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, und die Tempoanweisung lautet „Allegretto“. Im kurzen Vorspiel aus bitonalen Achteln, die auf einen Vorschlag-Leitton folgen und den tänzerischen Grundrhythmus des Liedes vorgeben, lässt das Lied in den Obertönen der Dreierfiguren einen Quartfall erklingen, der prompt von der melodischen Linie, die noch im zweiten Takt des Vorspiels einsetzt, übernommen wird, und zwar auf dem Wort „Mignonne“. Dieser leicht gedehnte Fall erweist sich alsbald als eine typische, die Liedmusik insbesondere in der ersten und der dritten Strophe stark prägende melodische Figur. Man kann sie durchaus als Ausdruck der der lyrischen Aussage zugrunde liegenden Intention der Aufforderung und Verlockung verstehen. Der Bewegung, die die melodische Linie gleich am Anfang bei den Worten „Mignonne, allons voir si la rose” beschreibt, begegnet man in der ersten Strophe und auch in der dritten, deren Melodik am Anfang mit der ersten identisch ist, in strukturell ähnlicher Gestalt immer wieder: Nach dem gedehnten Quartfall auf “Mignonne” senkt sich die melodische Linie, hier in E-Dur harmonisiert, wellenförmig in tiefe Lage ab, beschreibt aber am Ende bei “la rose” einen Sextsprung, dem erneut ein gedehnter, nun aber nur eine Sekunde einnehmender Fall nachfolgt.

    In den gedehnten Fallbewegungen reflektiert die Melodik des Liedes auch die Struktur des lyrischen Textes. Sie liegen nämlich zumeist auf den Anfangs- und den Reimwörtern der einzelnen Verse: Auf „desclose“ ein gedehnter Quartfall, auf „N´a point“ einer über eine Sekunde und auf „vesprée“ ein gedehnter Fall über eine kleine Sekunde. Ihr musikalisches Aussage-Gewicht bezieht diese Figur in allen Fällen daraus, dass sich zuvor entweder eine deklamatorische Absenkung der melodischen Linie ereignet hat, oder eine mehrfache Tonrepetion. Das Klavier begleitet dabei durchweg mit diesen Dreierfiguren aus länger gehaltenem Einzeltonen und repetierenden bitonalen Achteln. Die Harmonik bewegt sich in Rückungen von der Tonika E-Dur zur Dominante H-Dur. Dies aber nicht durchgehend, und darin weicht die Liedmusik vom durchaus konventionellen Charakter in Melodik und Klaviersatz ab: Bei „ce matin“ ereignet sich eine kurze Rückung nach cis-Moll, und bei dem am Ende in einen gedehnten übergehenden Sekundfall der melodischen Linie auf den Worten „cette vesprée“ beschreibt die Harmonik gar eine Rückung vom vorangehenden A-Dur nach Gis-Dur.

    Hier verrät sich der Komponist Richard Wagner. Und der wird am Ende der ersten Strophe in seiner genuinen musikalischen Sprache vernehmlich. Bei den Worten „Et son teint au vôtre pareil“ geht die melodische Linie nach einem zweifachen Sekundanstieg in eine dreifache, lang gedehnte Tonrepetition in hoher Lage über, die in cis-Moll harmonisiert ist. Bei „vôtre pareil“ ereignet sich dann aber ein zweifacher Sturz zu einem tiefen „D“, erst über das große Intervall einer Oktave, dann über das einer Quinte. Und ihm folgt jeweils ein Sich-Erheben nach, und auch das über ein sich verkleinerndes Intervall: Erst über eine Sexte, dann eine Quarte. Große Expressivität entfaltet die Melodik hier, und das ist nicht nur durch diese Fall- und Sprungbewegungen bedingt, sondern durch eine – doch recht wagnerisch kühn anmutende – Rückung vom vorangehenden cis-Moll nach G-Dur, unter kurzem Einbeziehen der Dominante D-Dur.

    In der zweiten Strophe ergeht sich das lyrische Ich in nicht enden wollender Klage über die Grausamkeit der Natur, die einer am Morgen in aller Schönheit erblühte Rose noch vor der Nacht den Tod gibt. Die Melodik greift dies mit einer Folge immer wieder neu in oberer Mittellage ansetzender Fallbewegungen in Sekundschritten auf, in die, wie ein Klage und Mahnruf zugleich anmutend, Dehnungen in hoher Lage eingefügt sind, die in der ihnen eigenen Expressivität in einem Fall sogar noch durch vor- und nachgelagerte Pausen gesteigert werden. Die Harmonik vollzieht immer wieder Übergänge vom Tongeschlecht Dur hin zu Moll und verminderten Tonarten, und das Klavier lässt von seinen tänzerischen Achtel-Dreierfiguren ab und begleitet nun mit durch Pausen eingegrenzte dreistimmige Achtelakkorde, die später durch ansteigend und fallend angelegte Kombinationen aus Einzelton und bitonalem Akkord abgelöst werden.

    Mit einem gedehnten „Las“ in hoher Lage, dem eine Achtelpause nachfolgt, setzt die Liedmusik ein. Es ist, wie auch die nachfolgende melodische Fallbewegung, noch in E-, bzw. A-Dur harmonisiert, dies aber nur deshalb, weil die sich anschließende liebevolle Ansprache „Mignonne“ in Gestalt eines gedehnten Quartfalls in eine E-Dur-H-Dur-Rückung gebettet ist. Dann aber, bei den Worten „elle a, dessus la place” setzt a-Moll-Harmonik ein, die hohe, von zwei Achtelpausen gerahmte Dehnung auf dem Wort „las“ erklingt in verminderter D-Harmonik, und der in oberer Mittellage einsetzende Sekundfall auf den Worten „ses beautés laissé cheoir” ist in fis-Moll harmonisiert. Der in eine lange Dehnung in hoher Lage mündende Quartsprung auf „O vraiment“ ist anklagende Feststellung und steht deshalb in Dur-Harmonik (hier D-Dur), und das gilt auch für die nachfolgenden inhaltlichen Ausführungen dazu, also für die Melodik auf den Worten „marâtre nature, / Puisqu'une telle fleur ne dure…“.

    Nach einer mit einem Quintsprung eingeleiteten und in H-Dur erklingenden Dehnung in hoher Lage auf „fleur“, senkt sich die melodische Linie in E-Dur-Harmonisierung in tiefe Lage ab, um am Ende dann allerdings bei dem Wort „matin“ einen ausdrucksstarken, in eine Dehnung mündenden und mit einer harmonischen Rückung nach Gis-Dur verbundenen Quintsprung zu vollziehen. Die in tiefer Lage erfolgende Fallbewegung in verminderten Sekundschritten auf den Worten „jusques au soir” mutet wie ein trister Nachklang an. Wagner ist die Aussage dieser beiden Schlussverse so wichtig, dass er sie auf einer anfänglich identischen, nach der Dehnung auf „fleur“ aber in der tonalen Ebene angehobenen melodischen Linie wiederholen lässt.

    Bei den ersten vier Versen der dritten Strophe kehrt die Liedmusik der ersten wieder. Nur am Ende des vierten Verses, bei dem Wort „jeunesse“ beschreibt die melodische Linie nun eine in H-Dur harmonisierte Kombination aus Terzfall, Quintsprung und Sekundfall. Die beiden letzten Verse der dritten Strophe lässt Wagner noch einmal deklamieren, stellen sie doch als Ermahnung und Aufforderung zugleich die Verbindung zwischen der Rosen-Metapher und dem Begehren des lyrischen Ichs her. Die melodische Linie entfaltet dementsprechend gesteigerte Expressivität, und dies in der Weise, dass die Fallbewegungen nun nicht über Sekunden, sondern über Terzen erfolgen und die nachfolgenden, in Dehnungen mündenden Sprünge ebenfalls größere Intervalle beanspruchen. So liegt auf „fleur“ eine Dehnung in hoher Lage, der bei „la vieillesse“ ein Fall über eine ganze Oktave über eine Quarte und zwei Terzen nachfolgt, der schließlich in einen Oktavsprung mündet, der die melodische Linie wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückführt, auf dass sie in einem Terzfall enden kann. Auf den Worten „ternir votre beauté“ ereignet sich eine ähnlich expressive melodische Bewegung in Gestalt einer aus einem Quartsprung hervorgehenden langen Dehnung auf der Ebene eines hohen „Fis“, die in einen dreifachen Terzfall übergeht. Das ist die einzige Stelle, an der noch einmal eine Moll-Eintrübung (fis-Moll) in die Harmonik der melodischen Linie tritt, ansonsten verbleibt sie in Gestalt von Rückungen im Bereich von E-Dur und seinen beiden Dominanten.

    Bei der Wiederholung wendet Wagner das gleiche Prinzip an wie am Ende der zweiten Strophe: Er steigert die Expressivität, indem er die Intervalle der Sprung- und Fallbewegungen der melodischen Line vergrößert und die harmonischen Rückungen in weiter abliegende Tonarten ausgreifen lässt. So liegt nun auf „la vieillesse“ eine ausdrucksstarke Kombination aus Oktavsprung und –fall, die in Gis-Dur harmonisiert ist, und auf „ternir votre beauté“ eine noch längere, nun in e-Moll gebettete Dehnung, der ein veritabler Oktavsturz nachfolgt. Er leitet den melodischen Liedschluss auf den Worten „votre beauté“ ein, der ebenfalls eindrücklich gestaltet ist. Der gedehnte Terzsprung auf „votre“ wird mit einer eingelagerten melismatischen Zweiunddreißigstel-Figur vorgetragen, und erst danach darf sich sie melodische Linie mit zwei Sekundschritten zum Grundton „E“ absenken.

    Im fünftaktigen Nachspiel lässt das Klavier in harmonischen Rückungen zwischen E-Dur und H-Dur seine tänzerischen dreiteiligen Achtelfiguren erklingen, die sich gegen Ende hin mit einem Diminuendo klanglich ein wenig ausdünnen, weil im Diskant nur noch Einzeltöne angeschlagen werden, und am Schluss erklingt pianissimo ein lang gehaltener, mit einer ansteigenden Sechzehntel-Figur eingeleiteter siebenstimmiger E-Dur-Akkord.

  • Hier ein Link zu einer besonderen Aufnahme dieses Liedes. Sie entstand zwischen dem 30. März und dem 3. April 1993 in der Villa Wahnfried. Es singt Nathalie Stutzmann. Sie wird von Gerhard Oppitz an Wagners Original Steinway-Flügel begleitet.


  • Eine wirklich schöne Aufnahme! Hier ist die CD dazu ...


    Und hier die schone CD mit Nathalie Stutzmann verlinkt! ;)

    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

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