Richard Wagner als Liedkomponist

  • „Eine wirklich schöne Aufnahme!“

    Darin stimme ich mit Dir völlig überein, lieber hart. Vielen Dank, auch an Fiesco, dass Ihr das Cover hier eingestellt habt. Ich kriege das mit der neuen Forensoftware leider nicht hin.
    Diese CD enthält folgende Titel:

    Eine Sonate für das Album von Frau M(athilde) W(esendonk)
    Albumblatt für Frau Betty Schott
    Ankunft bei den schwarzen Schwänen
    Mignonne
    Attente (de Trois mélodies)
    Tout n'est qu'images fugitives
    Les deux grenadiers
    Im Treibhaus (aus Fünf Gedichte für eine Frauenstimme)
    R(ichard) W(agner) - Venezia
    Am Grabe Richard Wagners
    Feierlicher Marsch zum Heiligen Gral (aus Parsifal)
    Isoldes Liebestod (Schlußszene aus Tristan und Isolde)

    Außer „Mignonne“ werden noch zwei davon Gegenstand einer Besprechung meinerseits sein: „Les deux grenadiers“ und „Im Treibhaus“. Wenn man „Mignonne“ und „Im Treibhaus“ auf dieser CD hintereinander hört, wird einem bewusst, welche liedmusikalischen Welten zwischen diesen beiden Kompositionen liegen.
    Vielleicht schaffe ich es ja auch noch, auf „Attente“ näher einzugehen. Aber mir fehlt´s an Zeit. Schon seit nun drei Monaten werde ich von der pflegedienstlichen Tätigkeit, die in meiner Ehe auf mich zugekommen ist, ganz und gar in Anspruch genommen.

  • Lieber Helmut,

    ich habe Deine Berichte zwar weitgehend gelesen, da ich jedoch im Regietheatersumpf sehr aktiv mitgemischt habe und prompt versunken bin, antwortete ich schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Aber eine Antwort auf Beiträge von Dir kosten mich Recherche und Zeit, da Du weit tiefer im Thema drin bist als ich. Gerne hätte ich mich mit der interessanten Liedplatte "Herzsprung" von Günther Groissboeck auseinandergesetzt, in der ein Bassist die Wesendonck-Lieder singt. Es blieb beim Vorsatz. Vielleicht beschäftigst Du Dich einmal mit diesen ungewöhnlichen Aufnahmen, Du bist dafür kompetenter als ich. Danke für Deine für uns alle so bereichernde Arbeit.


    Herzlichst

    Operus (Hans)

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Nicht Du, lieber operus, ich habe Dir zu danken für Dein Interesse an meiner Arbeit hier im Kunstliedforum, - und vor allem für das, was Du für das Tamino-Forum tust und leistest.

    Die von die angesprochene "Liedplatte >Herzsprung<" kenne ich nicht.

    Meinst Du diese CD hier?

    [am]https://www.amazon.de/Herz-Tod…3%BCnther+groissb%C3%B6ck[/am]

    Darauf finden sich auch die Wesendonck-Lieder. Und selbstverständlich werde ich Deiner Bitte nachkommen, dann, wenn die Besprechung derselben ansteht - und das wird bald der Fall sein, - mich mit dieser gesangliche Interpretation näher zu beschäftigen.

    Ich gebe jetzt anschließend sofort die Bestellung auf.

  • Meinst Du diese CD hier?

    Lieber Helmut,


    ja die ist es. Aus einigen Aspekten heraus sehr beachtenswert. Groissböck hat den Mut, Lieder teilweise mit voller Power zu singen. Sollte sich da vielleicht nach den immer mehr "vergeistigten" textzelebrierenden Aufnahmen al la Fischer Dieskau und Nachfolger wieder eine stärkere Hervorhebung der Musik ankündigen? Groissboeck ist für mich eine Verkörperung des kraftvoll, jugendlichen Helden. Ein Herzensdieb und Schwiegermuttertyp. Deshalb ist für mich das Booklet, in dem er im Interview recht nachdenkliche, tiefgehende Aussagen trifft, für das Verständnis dieses Sängers sehr wichtig. Ich, der mit Groissboeck befreundet bin, habe diesen Wesenszug bei ihm noch kaum wahrgenommen und auch nicht vermutet. Überhaupt ist das ganze Projekt "Herz/Tod" recht ungewöhnlich und deshalb einer Besprechung unseres Liedfachmannes hier im Forum würdig.

    Wenn ich Deine Arbeit hier im Forum betrachte fällt mir oft das bekannteste Gemälde von Spitzweg "Der arme Poet ein" Ich hoffe, Du akzeptierst diesen Vergleich. Denn auch Du hättest weit mehr Öffentlichkeit und Anerkennung verdient.


    Herzlichst

    Operus (Hans)

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Die von die angesprochene "Liedplatte >Herzsprung<" kenne ich nicht.

    Natürlich kann man nicht alles lesen was hier geschrieben wird, aber in aller Bescheidenheit weise ich darauf hin, dass diese CD in meinem Bericht vom Groissböck-Liederabend (Winterreise) am 12. Januar 2019 als Besonderheit erwähnt wurde; der entsprechende Passus lautete:


    »Schon 2017 brachten Groissböck/Huber bei DECCA eine »Winterreise« in Verbindung mit dem »Schwanengesang« heraus und betreten mit ihrer neuen CD mit dem eigenartigen Titel »Herz-Tod«, wo eine Uraufführung dergestalt geboten wird, dass die »Wesendonck-Lieder« erstmals von einem Bassisten gesungen werden, Neuland.«

  • Jetzt habe ich aber ein verdammt schlechtes Gewissen!!

    Morgen werde ich diese CD mit dem vielsagenden Titel "Herz-Tod" in Händen halten und mir sie sofort anhören.

    Und wenn die "Wesendonck-Lieder" hier dran sind - das wird der Fall sein, wenn die zwei "französischen Kompositionen" "Adieux de Marie Stuart" und "Les deux Grenadiers" hier vorgestellt und besprochen sind -, werde ich versuchen, abweichend von meinem bisherigen Konzept auch den gesanglich-interpretatorischen Aspekt der Liedmusik zu berücksichtigen.

    Dafür bin ich aber der Falsche. Es gibt hier eine ganze Reihe Taminos, die das besser können und, wie andeutungsweise dem von WoKa gestarteten Thread "Richard Wagner - Wesendonck Lieder" zu entnehmen ist, diesbezüglich über ein besseres Urteilsvermögen verfügen.

    Darf ich auf deren Beteiligung hier hoffen?

    Ich selbst werde jedenfalls verfolgen, wie sich dieses "Betreten von Neuland", wie das hart im Falle von Günther Groissböck nennt, anhört, und auch wagen, ein eigenes Urteil abzugeben.

  • „Adieux de Marie Stuart“, WWV 61

    Adieu, charmant pays de France
    Que je dois tant chérir!
    Berceau de mon heureuse enfance,
    Adieu! Te quitter c'est mourir!

    Toi que j'adoptai pour patrie
    Et d'où je crois me voir bannir,
    Entends les adieux de Marie,
    France, et garde son souvenir.

    Le vent souffle, on quitte la plage,
    Et peu touché de mes sanglots,
    Dieu, pour me rendre à ton rivage,
    Dieu n'a point soulevé les flots!

    Lorsqu'aux yeux du peuple que j'aime,
    Je ceignis les lis éclatants,
    Il applaudit au rang suprême
    Moins qu'aux charmes de mon printemps.

    En vain la grandeur souveraine
    M'attend chez le sombre Écossais;
    Je n'ai désiré d'être reine
    Que pour régner sur des Français.

    France, du milieu des alarmes
    La noble fille des Stuarts,
    Comme en ce jour, qui voit ses larmes,
    Vers toi tournera ses regards.

    Mais, Dieu! le vaisseau trop rapide
    Déjà vogue sous d'autres cieux;
    Et la nuit, dans un voile humide,
    Dérobe tes bords à mes yeux!

    Adieu, charmant pays de France
    Que je dois tant chérir!
    Berceau de mon heureuse enfance,
    Adieu! Te quitter c'est mourir!

    (J.-P. de Béranger)

    In diesen Versen des französischen Lyrikers Pierre-Jean de Béranger (1780-1857) nimmt Maria Stuart Abschied von Frankreich, um sich zurück nach Schottland zu begeben. Der Vorgang fand 1561 stand und hing mit der Übernahme der Regentschaft durch Katharina von Medici zusammen. Frankreich wird als Land der Sonne besungen, als geliebte Heimat und Wiege der Kindheit, - was ja zutrifft, denn Maria kam 1548 im Alter von fünf Jahren in dieses Land. Für ihre Zukunft findet sie nur die Worte „En vain la grandeur souveraine M'attend chez le sombre Écossais“. Der überaus wortreiche Abschied ereignet sich auf dem Schiff im Augenblick des Ablegens von der Küste und er mündet in die schmerzensreichen Worte „Adieu, charmant pays de France … Adieu! Te quitter c'est mourir!“

    Was Wagner aus diesen acht Strophen kompositorisch macht, hat mit Liedmusik nichts mehr zu tun. Herausgekommen ist eine sich an der Form des Rondos orientierende Konzertarie mit Klavierbegleitung, die, weil alle Register der emphatischen Expressivität gezogen werden, klanglich geradezu gewaltig anmutet. Wagner wollte in Paris ganz offensichtlich Eindruck machen, und er greift deshalb auf die musikalische Sprach der französischen Oper zurück. Überdies ließ er sich wohl auch inspirieren von den Sangeskünsten der gefeierten belgischen Sopranistin Julie Dorus-Gras (1805 – 1896). Die überaus kunstvoll angelegte Melodik, die sich sehr wohl in einer Oper Meyerbeers finden könnte, stellt mit ihrem Formenreichtum und den unzähligen, zu immer größeren Höhen strebenden Aufgipfelungen und Koloraturen große Anforderungen an die gesanglich-interpretatorischen Fähigkeiten.
    Mir ist, ich gestehe es offen, dies alles zu dick aufgetragen zu stark auf Effekthascherei angelegt. Als reichten ihm die acht Strophen nicht, um seinen Drang nach melodischem Exzess ausleben zu können, wiederholt Wagner die vierte Strophe einmal und die erste gleich zwei Mal, und am Ende erklingen die Worte „Te quitter c´est mourir“ sage und schreibe neun Mal!

    Gewiss, das ist ein ganz und gar subjektives Urteil, - das eines Menschen, der das subtile, auf intimen Dialog ausgerichtete kammermusikalische Zusammenspiel der Klavierlied-Musik schätzt und liebt. Aber ich denke, es sollte wohl erlaubt sein. Und vielleicht ist dieser liedkompositorische Ausbruch in den Gestus der großen Bühnenmusik ja auch nicht nur durch die Absichten bedingt, die Wagner in Paris damit verfolgte, möglichweise schlägt sich darin auch nieder, dass er zu dieser Zeit an seiner Oper „Rienzi“ arbeitete. Eine die Komposition in ihrem vollen Umfang berücksichtigende Besprechung kann hier nicht geleistet werden. Es sollte genügen, ihren spezifischen Charakter durch die Beschreibung repräsentativer Passagen aufzuzeigen.

    Die Musik steht in E-Dur als Grundtonart, ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, und die Tempoanweisung lautet „Andante con moto“. Schon das achttaktige Vorspiel verrät viel vom Geist dieser Musik, ihrer wesenhaft orchestralen Anlage und der damit einhergehenden hochexpressiv-kühnen harmonischen Modulation. In Diskant und Bass steigen aus drei- und vierstimmigen Akkorden Achteltriolen in hohe Lage auf, die Akkorde selbst beschreiben, verbunden mit einem Accelerando und einem Crescendo, ebenfalls eine Aufwärtsbewegung und gehen mit vorgelagerten Sechzehntelfiguren in Arpeggien über. Harmonisch ereignet sich dabei eine geradezu abenteuerliche Rückung von E-Dur über c-Moll, g-Moll, As-Dur, Es-Dur, C-Dur, Ces-und Fes-Dur hin zu einem arpeggierten B-Dur-Schlussakkord, der als Dominante für die in Es-Dur einsetzende melodische Linie fungiert.

    Diese entfaltet sich in der ersten Strophe in durchaus noch gemäßigt-ruhigen, partiell von Tonrepetitionen geprägten Bewegungen, geht aber schon bei dem Wort „france“ erstmals zu einem in hoher Lage ansetzenden und lang gedehnten Oktavfall über. Das ist typisch. Das hohe emotionale Potential der Verse Bérangers speist sich in erster Linie aus dem auf die „charmants pays de France“ und sein „peuple“ sich richtenden Patriotismus, und der Notwendigkeit, nun – wohl für immer – Abschied davon zu nehmen. Und daraus bezieht Wagners Musik auch den sie in hohe Expressivität treibenden Gestus, der sich immer dann in seine Hochform steigert, wenn diese Faktoren lyrisch-sprachlich explizit werden. Die dreizehn Takte in Anspruch nehmende und ausschließlich um den letzten Vers kreisende Musik legt in ihrer geradezu exzessiven Expressivität davon am Schluss das eindrucksvollste Zeugnis ab.

    Diese kompositorische Intention Wagners soll in detailliertem Zugriff auf die Musik der ersten Strophe in exemplarischer Weise aufgezeigt werden. Auf die Worte „heureuse enfance“ legt er einen lang gedehnten, in hoher Lage ansetzenden und am Ende mit einer melismatischen Sechzehntel-Triole angereicherten Sekundfall, der vom Klavier mit ansteigenden Triolen begleitet wird, bei „c´est mourir“ lässt er die melodische Linie in die Tiefe sinken, und das „Adieu“ erklingt bei ihm, abweichend vom lyrischen Text, gleich drei Mal. Dies in einer in der Expressivität sich steigernden melodischen Gestalt: Erst in einem in c-Moll harmonisierten und in eine Dehnung mündenden Quartsprung, dann in einem, nun in As-Dur stehenden Oktavsprung und schließlich in einem in die harmonische Verminderung führenden kleinen Terzsprung in hoher Lage. Bei den eine zentrale Rolle einnehmenden und hier erstmals deklamierten Worten „Te quitter c'est mourir!“ beschreibt die melodische Linie eine expressive Sprungbewegung in Tonrepetitionen über eine verminderte Sexte und dann, nach einer Achtelpause, einen Fall über eine große Sexte mit nachfolgendem Sekundanstieg. Das Klavier schweigt dazu, lässt nur einen einsamen Achtel-Akkord erklingen, und die Harmonik vollzieht eine Rückung von as-Moll über die Dominante B-Dur hin zur Tonika Es-Dur.

    In dieser detaillierten Betrachtung der Musik soll nun nicht weiterverfahren werden. Deshalb nur ein schweifender, kurzer und von der gleichen Intention geleiteter Blick auf die nachfolgenden Strophen. Auf dem Wort „patrie“ (1.Vers, 2.Strophe) beschreibt die melodische Linie einen in f-Moll harmonisierten Oktavfall in artifiziell anmutenden Zweiunddreißigstel-Schritten, und das wiederholt sich noch einmal bei den Worten „les adieux de Marie“: Wieder ein Anstieg der melodischen Linie in hohe Lage in Es-Dur-Harmonik, und dann dieser in c-Moll stehende und nun sogar noch eine Sekunde ansetzende Oktavfall, der nicht in einem einfachen Legato, sondern eben in Zweiunddreißigstel-Sekundschritten erfolgt. Wagner setzt diese arienhafte, affektiv aufgeladen wirkende melodische Figur noch mehrfach ein und steigert sie sogar noch in dem ihr eigenen Koloratur-Gestus.

    Die Gefühle, die in Maria in der vierten Strophe bei der Erinnerung an ihre Jugend in Frankreich aufkommen, bringt Wagner mit triolenhaft in hohe Lage aufsteigender Melodik und schließlich mit einem aus einer langen Dehnung in hoher Lage hervorgehenden Sextolenbogen auf dem Wort „suprême“ zum Ausdruck. Und der hohe affektive Gehalt der dem Bekenntnis „Je n'ai désiré d'être reine / Que pour régner sur des Français“ (6.Strophe) innewohnt, veranlasst ihn, auf den letzten Vers einen mit einer Sechzehntel-Triole in hoher Lage eingeleiteten langen und unter Schweigen des Klaviers sich ereignenden Zweiunddreißigstel-Fall zu legen, der in eine aufsteigende Sechzehntel-Sextole übergeht, wobei die Harmonik eine ausdrucksstarke Rückung vom vorangehenden g-Moll nach Ces-Dur und Fes-Dur beschreibt.
    Und das ist ihm nicht genug der musikalischen Expressivität: Er lässt diese Worte wiederholen, wobei der Zweiunddreißigstel-Fall sich nun über das große Intervall einer Duodezime bis in tiefe Lage fortsetzt und die Harmonik die höchst kühne Rückung von Fes-Dur nach G-Dur vollzieht. Auch hier breitet sich wieder eine lange Pause im Klaviersatz aus, zuvor aber hat das Klavier eine hochexpressive Folge von in hohe Diskantlage aufsteigenden Achteloktav-Triolen erklingen lassen.

    Bezeichnend für den gar nicht klavierliedhaften, sondern sich an der Arie orientierenden und wesenhaft pathetisch aufgeladenen kompositorischen Ansatz, den Wagner hier verfolgt, ist die Art und Weise, wie er die Worte „Et la nuit, dans un voile humide, / Dérobe tes bords à mes yeux!” in Musik setzt. Dieses lyrische Bild legt eigentlich eine sanft in relativ kleinem tonalem Raum sich entfaltende, wehmütige und schmerzliche Gefühle zum Ausdruck bringende und deshalb in Moll harmonisierte Melodik nahe. Wagner aber legt auf sie eine in Es- und As-Dur stehende melodische Linie, die bei „voile humide“ in einen rasanten, eine ganze Oktave einnehmenden Sechzehntel-Sekundanstieg übergeht und diesen Gestus beim nachfolgenden Vers dergestalt fortsetzt, dass sie, mit einem Crescendo versehen und am Ende das Forte erreichend, in Achtel- und Sechzehntel-Sekundschritten über das Intervall einer Septe in hohe Lage aufsteigt. Erst dann, bei dem hohen „As“, das sie damit erreicht hat, klingt im Klavier ein kurzer f-Moll-Akkord auf.

    Die Musik der letzten Strophe wird in geradezu klassischer Arienmanier mit in einer in eine lange Fermate mündenden Sekundfall-Figur mit triolischem Sechzehntel-Melisma eingeleitet. Immer wieder geht die melodische Linie dann, den Schmerz des Abschied-nehmen-Müssens zum Ausdruck bringend, zu Sprüngen in hohe Lage über, überlässt sich – wie nicht anders zu erwarten – bei dem Wort „france“ erneut einem aus einer langen Dehnung hervorgehenden Zweiunddreißigstel-Fall aus hoher in mittlere Lage und gerät bei dem, wieder abweichend vom Text, drei Mal wiederholten Wort „Adieu“ mit den durch Achtelpausen unterbrochenen und in der tonalen Ebene ansteigenden Sprüngen erst über eine Quarte, dann über Sekunden auf beeindruckende Weise ins Stocken.

    Es folgt die das Ganze beschließende und die Worte „Te quitter c´est mourir“ in ihrem affektiven Gehalt durch neunfache Wiederholung regelrecht ausschlachtende Musik auf den letzten Vers Bérangers. Erst wir die melodische Anfangsfigur dabei noch einmal wiederholt, beim zweiten Mal aber schon mit einem um eine Terz angehobenen Ansatz. Danach ereignet sich eine permanente, durch Wortwiederholungen und Variationen der melodischen Figuren bewirkte Steigerung der Expressivität, aufgipfelnd schließlich in dem geradezu gewaltig anmutenden, weil sich an eine Fermate in hoher Lage anschließenden Zweiunddreißigstel-Sekundfall über eine Duodezime hin zu einem „D“ in tiefer Lage. Er ereignet sich beim Wort „quitter“.

    Aber damit will Wagner es nicht genug sein lassen. Noch einmal werden diese Worte deklamiert. Nun ohne Klavierbegleitung, aber auf einer erneut sprunghaft ansteigenden, bei „c´est“ in einer Fermate innehaltenden und danach mit einem Sekundfall auf dem Grundton „Es“ in hoher Lage endenden melodischen Bewegung.
    Ein viertaktiges Fortissimo-Nachspiel aus aufsteigend angelegten Sechzehntelfiguren schließt sich an, mündend in einen Es-Dur-Akkord, aber nicht ohne ein „tranquillo“ auszuführendes Piano-Zwischenspiel aus sich im Intervall erweiternden bitonalen Akkorden.

  • Zur Konkretion der obigen Ausführungen zu "Adieux de Marie Stuart" dieser Link zu einer Aufnahme vom Mai 2013. Es singt Elisabeth Meister, begleitet von Nigel Foster:


  • Lieber Helmut,

    wieder eine umfangreiche, bereichernde Studie mit hohem Niveau und Audruckskraft von Dir. Danke.


    herzlichst

    Operus (Hans)

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • „Les deux grenadiers“, WWV 60

    Longtemps captifs chez le Russe lointain,
    Deux grenadiers retournaient vers la France;
    Déjà leurs pieds touchent le sol germain;
    Mais on leur dit: Pour vous plus d'espérance;

    L'Europe a triomphé, vos braves ont vécu!
    C'en est fait de la France, et de la grande armée!
    Et rendant son épée,
    l'Empereur est captif et vaincu!

    Ils ont frémi; chacun d'eux sent tomber
    des pleurs brülants sur sa mâle figure.
    "Je suis bien mal" ... dit l'un, "je vois couler
    des flots de sang de ma vieille blessure!"

    "Tout est fini," dit l'autre, "ô, je voudrais mourir!
    Mais au pays mes fils m'attendent, et leur mère,
    qui mourrait de misère!
    J'entends leur voix plaintive; il faut vivre et souffrir!"

    "Femmes, enfants, que m'importe!
    Mon coeur par un seul voeu tient encore à la terre.
    Ils mendieront s'ils ont faim,
    l'Empereur, il est captif, mon Empereur! ...

    Ô frère, écoute-moi, ... je meurs! Aux rives que j'aimais,
    rends du moins mon cadavre, et du fer de ta lance,
    au soldat de la France
    creuse un funèbre lit sous le soleil français!

    Fixe à mon sein glacé par le trépas
    la croix d'honneur que mon sang a gagnée;
    dans le cerceuil couche-moi l'arme au bras,
    mets sous ma main la garde d'une épée;

    de là je prêterai l'oreille au moindre bruit,
    jusqu'au jour, où, tonnant sur la terre ébranlée,
    l'écho de la mêlée
    m'appellera du fond de l'éternelle nuit!

    Peut-être bien qu'en ce choc meurtrier,
    sous la mitraille et les feux de la bombe,
    mon Empereur poussera son coursier
    vers le gazon qui couvrira ma tombe.

    Alors je sortirai du cerceuil, tout armé;
    et sous les plis sacrés du drapeau tricolore,
    j'irai défendre encore
    la France et l'Empereur, l'Empereur bien aimé."

    Dieser Komposition liegt eine Übertragung der Ballade Heinrich Heines ins Französische zugrunde, die Francois-Adolphe Loeve-Veimar verfasst hat. Wagner maß ihr wohl große Bedeutung zu, denn er ließ sie, versehen mit einer Widmung an Heine, auf eigene Kosten beim Pariser Verlag Schlesinger drucken. Als er von Robert Schumanns Vertonung des Heine-Textes erfuhr, richtete einen Brief an diesen und verwies darin auf die Tatsache, dass sie beide die Marseillaise in die Komposition integriert hatten. Natürlich spekulierte er dabei darauf, dass dieser in seiner „Neuen Zeitschrift für Musik“ auf diesen Sachverhalt in einem ausführlichen Artikel eingehen würde. Diese Hoffnung erfüllte sich aber nicht, Schumann erwähnte die Wagner-Komposition nur in Gestalt einer kleinen Notiz in anderem Zusammenhang. Auf Wagners Brief reagierte er nicht. Auch spätere Versuche Wagners, Schumann und seine Zeitschrift für seine Zwecke einzuspannen, blieben erfolglos. Er hatte ihm sogar die Partitur vom „Fliegenden Holländer“ zugesandt und musste die Rücksendung brieflich einfordern, weil Schumann nichts von sich hören ließ. Die Beiden waren sich nicht nur als Menschen wesensfremd, sondern auch als Musiker und Komponisten.

    Eine vergleichende Betrachtung der beiden Kompositionen auf diesen Balladen-Text könnte einen vielsagenden Beleg dafür liefern. Dort, bei Schumann, ein in liedmusikalischem Geist erfolgendes, mit den Ausdrucksmitteln der Melodik zustande gebrachtes und darin hochdifferenziertes Sich-Einlassen auf die seelische Dimension des sich aus dem Dialog in den Monolog zurückziehenden Grenadiers; hier, bei Wagner, eine intentional aus dem Geist der Oper hervorgegangene, und deshalb im Ansatz szenisch-dramatisch angelegte, deshalb stark rhetorisch geprägte, den dialogischen Aspekt deklamatorisch akzentuierende und dabei unter Einbeziehung des ariosen Gestus das Potential des Pathos voll ausschöpfende Musik. Ein solcher, ins Detail gehender Vergleich kann hier nicht geleistet werden. Wagners Musik ist Gegenstand der Betrachtung. Was Schumanns Komposition anbelangt, so sei auf ihre Besprechung im Thread „Schumann und Heinrich Heine“ verwiesen. (Robert Schumann und Heinrich Heine. Eine künstlerische Begegnung und ihre liedmusikalischen Folgen)

    Ein Vierviertaltakt liegt der Musik zugrunde, und die Tempo-Vorgabe lautet „Moderato“. Ein die Tonart betreffendes Vorzeichen gibt es nicht. Würde man dementsprechend a-Moll oder die Dur-Parallele „C“ als Grundtonart vermuten, so läge man richtig, wenn hier nicht Richard Wagner am Werk gewesen wäre. Will heißen: Die Harmonik durchläuft, ohne dabei ein wirkliches Zentrum auszubilden, eine weit im Quintenzirkel ausgreifende und dabei beide Tongeschlechter berücksichtigende Modulation. Im viertaktigen, in a-Moll mit Rückung nach E-Dur stehenden Vorspiel folgen auf ansteigende und wieder fallende Oktaven im Bass jeweils ein Sechzehntel- und ein Viertelakkord, und das mutet an wie die klangliche Imaginationen eines stockenden, müden, ja erschöpften Schreitens. Die danach einsetzende melodische Linie auf den Worten „Longtemps captifs chez le Russe lointain, / Deux grenadiers retournaient vers la France“ ist in der gleichen Weise harmonisiert, und weil sie in Gestalt von Tonrepetitionen in tiefer Lage verharrt, sich von der tonalen Ebene eines „E“ zwar um eine Quarte erhebt, danach aber um eine Sekunde zurückfällt und am Ende eine Fallbewegung zu einem tiefen „D“ beschreibt von dem aus sie sich nur um eine Sekunde erhebt, bringt auch sie Müdigkeit und Erschöpfung zum Ausdruck.

    Die Harmonik beschreibt bei dieser ersten Melodiezeile eine Rückung von a-Moll über D-Dur nach E-Dur. Bei der kleinen, von einer Viertelpause gefolgten Zeile auf den Worten „Déjà leurs pieds touchent le sol germain“, in der die melodische Linie nach einem Fall über zwei Terzen in tiefe Lage beschreibt, der sich nach einer Tonrepetition daselbst über zwei Sekundschritte bis zu einem tiefen „A“ hin fortsetzt, geht die Harmonik – typisch für dieses Lied – in den Bereich von C-Dur und F-Dur über. Das ist die musikalische Eröffnung des Balladen-Geschehens: Die beiden Grenadiere haben mit ihren Füßen den Boden Deutschlands berührt. Die melodische Linie verbleibt nun zwar, dem Text der beiden ersten Strophen entsprechend, weiterhin im narrativen Gestus, es ereignet sich aber bereits eine erste affektive Aufladung, denn der Jubel ringsum bedeutet, dass die „grande armée“ geschlagen ist und der „empereur“ „captif et vaincu“. Das drückt sich in der Liedmusik dergestalt aus, dass die melodische Linie partiell vom repetitiven Gestus ablässt, mit einem Crescendo aus tiefer in mittlere Lage aufsteigt und das Klavier zur Begleitung erst mit Tremoli und dann mit Akkordfolgen im Diskant übergeht, die im Bass mit repetierenden Zweiunddreißigstel-Oktavsprüngen begleitet werden.

    Die Harmonik, die bislang Rückungen im Bereich von F-Dur, B-Dur und C-Dur beschrieb, geht bei “la France” nach A-Dur über und die Worte „grande armée“ werden vom Klavier mit tremolierenden verminderten Cis-Akkorden begleitet. Das Wort „l´empereur“ lässt Wagner zweimal deklamieren, und die melodische Linie steigert sich dabei in Gestalt von Tonrepetitionen um eine Quarte in obere Mittellage, dies verbunden mit einer neuerlichen Eintrübung der vorangehenden C-Dur Harmonik durch ein vermindertes „Es“ und ein nachfolgendes d-Moll. In dieser Harmonisierung ereignet sich dann auch die expressive melodische Bewegung auf den Worten „captif e vaincu“: Eine Kombination aus Sext- und Sekundfall mit nachfolgendem Wiederanstieg über eine verminderte Sexte.

    Ein ungewöhnlich langes, zehn Takte in Anspruch nehmendes Zwischenspiel schließt sich an, in dem das Klavier erst chromatisch in die Tiefe von Diskant und Bass fallende Oktaven erklingen lässt, und das fortissimo, die auf den Ausdruck von Schmerz angelegte Aussage der melodischen Linie nachträglich akzentuierend. Dann hält es plötzlich inne, legt eine lange Pause ein und geht anschließend zur Artikulation ganz neuer Figuren über: Erst fallende Achtel, dann eine Folge von stockend angeschlagenen, weil durch Achtelpausen voneinander abgehobenen harmonisch verminderten Akkorden, denen im Bass repetierende Zweiunddreißigstel-Oktavsprünge nachfolgen. Mit diesem zweiten Teil des Zwischenspiels wird zur Liedmusik der dritten Strophe übergeleitet, und das Ganze lässt auf eindrückliche Weise vernehmen, wie stark die Musik dieser Ballade von ihrem kompositorischen Grundkonzept her wesenhaft klanglich-orchestral angelegt und auf dramatische Expressivität ausgerichtet ist.

    Anhand einiger, dafür repräsentativer Passagen der Liedmusik soll dies noch in der gebotenen Kürze konkretisiert und in diesem Zusammenhang aufgezeigt werden, dass es Wagner dabei primär um das auf höchstmögliche Expressivität ausgerichtete musikalische Erschließen des affektiven Potentials eines an der Person Napoleons sich festmachenden französischen Patriotismus ging. Die „pleurs brülants“ von denen die dritte Strophe handelt, bewirken, dass sich die melodische Linie, nun ganz und gar in Moll (a-Moll) gebettet und von fallend angelegten Achtelfiguren im Diskant begleitet, in Tonrepetitionen langsam absenkt, um dann aber am Ende, der schmerzlichen Aussage Nachdruck verleihend; bei den Worten „des flots de sang de ma vieille blessure“ mit einem Sprung in hohe Lage die Fallbewegung noch einmal zu vollziehen, nun aber in E-Dur mir Rückungen nach A-Dur und H-Dur harmonisiert. Der Dialog zwischen den beiden Grenadieren hat eingesetzt, und die melodische Linie reflektiert, nun dementsprechend in ihrer Struktur rhetorisch ausgerichtet, die unterschiedliche Haltung, die sie den Gegebenheiten ihrer Lebenssituation gegenüber einnehmen.

    Der Ausruf des einen "ô, je voudrais mourir!“ greift die melodische Linie mit einem Oktavsprung und einem nachfolgenden, durch eine Achtelpause unterbrochenen Fall über das Intervall einer Septe auf, der in a-Moll harmonisiert ist, das am Ende aber im H-Dur umschlägt. Vom Tod hält ihn nämlich die Tatsache ab, dass zu Hause Frau und Kinder auf ihn warten, und die gedankliche Vergegenwärtigung dieser Tatsache bewirkt, dass die melodische Linie nun zu etwas lebhafteren, einen größeren tonalen Raum in mittlerer einnehmenden Bewegungen übergeht. Bei den Worten „J'entends leur voix plaintive“ beschreibt sie zwei Mal eine in H-Dur harmonisierte sprunghafte Aufwärtsbewegung“, die nach einer Pause bei „il faut vivre“ in einen ausdrucksstarken, nun in a-Moll-Harmonisierung erfolgenden Fall in tiefe Lage über geht, der sich nach einer neuerlich Pause bei den Worten „et souffrir“ fortsetzt.

    Der zweite Grenadier hebt sich in seinem Denken und Fühlen deutlich davon ab und wird darin für Wagner zum Anlass, eben dieses in allen seinen Dimensionen auf expressive Weise und sich dabei stark an der Opernmusik orientierenden Mitteln zum Ausdruck zu bringen. Die Liedmusik der fünften Strophe lässt dies höchst eindrücklich vernehmen. Sie setzt tatsächlich in der Manier „Rezitativ und Arie“ ein. Bei den Worten „Femmes, enfants“ beschreibt sie eine von einer Achtelpause unterbrochene Folge von Sekundfall in tiefer Lage und anschließendem Quartsprung. Das wirkt, auch weil das Klavier in die Pause einen vierstimmigen, mezzoforte angeschlagenen C-Dur-Akkord setzt, stark rezitativisch, und in dieser Weise setzt sich die Melodik auf den Worten „que m´importe“ fort. Wieder ein vierstimmiger Akkord, nun in F-Dur, in der Achtelpause, anschließend eine ähnliche Kombination aus Fall und Wiederanstieg, nun aber in mittlerer Lage und nicht von einer Pause unterbrochen. Diese folgt erst danach, nun aber länger und mit gleich zwei G-Dur-Akkorden gefüllt.

    Danach geht die melodische Linie bei den Worten „Mon coeur par un seul voeu tient encore à la terre“ in einen in As-Dur, Es-Dur und Des-Dur harmonisierten arios anmutenden Gestus über, der am Ende, bei dem Ausruf „l'Empereur, il est captif, mon Empereur!“ in emphatischer Weise aufgipfelt: Sie beschreibt, verbunden mit einer starken harmonischen Rückung von Des-Dur nach C-Dur, einen aus einer rhythmisierten Tonrepetition hervorgehenden und in eine Dehnung mündenden Sextsprung, setzt die Tonrepetitionen in dieser hohen Lage fort und beendet sie mit einem wiederum in eine Dehnung übergehenden Sekundsprung. Die Harmonik, die zuvor schon von C-Dur nach B-Dur gerückt war, vollzieht nun eine ausdrucksstarke Rückung nach A-Dur. Eine lange (fermatiertes Viertel) Pause für Singstimme und Klavier folgt nach, in der dieser emphatische Gefühlsausbruch seine Wirkung entfalten kann. Die nachfolgenden, wieder stark in rezitativischem Gestus ausgerufenen Worte gewinnen dadurch eine hohe Ausdruckskraft: Auf „Ô frère“ ein Sekundfall in d-Moll, Dreiachtelpause, auf „écoute moi“ ein Sekundfall nach dreifacher Tonrepetion in d-Moll mit Rückung nach A-Dur, Zweiviertelpause, und schließlich auf dem bitteren „je meurs“ ein Quartfall in tiefe Lage, der vom Klavier pianissimo mit einem verminderten Gis-Akkord begleitet wird, der allerdings dann in eine bitonale Achtelfigur in Es-Dur übergeht. Das ist hohe – durchaus dem Geist der Bühnenszene verpflichtete – musikalische Ausdruckskunst.

    Sie erfährt im folgenden eine kontinuierliche Steigerung ihrer Expressivität, die im einzelnen nun nicht aufgezeigt werden kann. Aber die dafür repräsentativen Passagen verdienen eine Erwähnung. Es sind jene wo Wagner die mit der Vaterlandsliebe, der Napoleon-Verehrung und den daraus hervorgehenden Pflichten als Soldat zusammenhängenden Gefühlen musikalisch aufgreift und in ihrem affektiven Potential bis zum letzten erschließt. Auf die Worte „sous le soleil français“ (6. Strophe) legt er einen weit nach oben ausgreifenden und lang gestreckten melodischen Bogen, die Worte „dans le cerceuil couche-moi l'arme au bras” (7. Strophe) werden auf einer in C-Dur harmonisierten melodischen Linie deklamiert, die nach einem zweifachen Terzfall in fünfmaliger Tonrepetition auf der Ebene eines tiefen „C“ verharrt, um am eine einen Fall zu dem noch tieferen „A“ zu vollziehen, der mit einer Rückung nach F-Dur verbunden ist.

    Danach wird´s immer dramatischer: Das Klavier geht zur Begleitung mit Tremoli über und die melodische Linie ergeht sich in der sechsten und siebten Strophe fast nur noch in deklamatorischen Tonrepetitionen. Dies allerdings auf hochexpressive Weise. Vers für Vers steigt in der achten Strophe die tonale Ebene der Repetitionen um eine Sekunde an, was mit einer harmonischen Rückung von E-Dur über F-Dur und Fis-Dur nach G-Dur einhergeht, und am Ende ereignet sich dann bei den Worten „ ein sprunghafter repetierender Anstieg von einem „Gis“ in mittlerer Lage zu einem hohen „D“.

    Und dann kommt der Höhepunkt der Liedmusik: Das Klavier lässt in einer zweieinhalbtaktigen Pause für die Singstimme in akkordischer Gestalt die Anfänge der Marseillaise erklingen, und es folgt ein überaus kunstvolles Zusammenspiel von einem Klaviersatz, der die Artikulation der Marseillaise in einer Kombination aus bitonalen, mehrstimmig-akkordischen und aus Einzeltönen gebildeten Figuren weiter fortsetzt, und einer melodischen Linie, die in ihrer Entfaltung durchaus eigenständig verfährt und nur den rhythmischen Gestus der Marseillaise und vereinzelt melodische Figuren von ihr übernimmt. Sie wirkt dabei so, als sei sie von ihrem Geist erfasst, ja geradezu davon überwältigt, und das drückt sich dann darin aus, dass sie etwa bei „Alors“ in eine schmetternde Tonrepetition in hoher Lage verfällt und auf das Wort „tout“ in Gestalt einer extrem langen Dehnung auf der Ebene eines hohen „E“ zum Ausdruck bringt.

    Dieser hochexpressive Gestus sprunghafter und immer wieder in eine Dehnung in hoher Lage mündende Gestus der melodischen Linie wird, einhergehend mit einem entsprechend ausdrucksstarken, weil aus der Kombination von akkordischen Figuren mit repetierenden Einzeltönen bestehenden Klaviersatz, in der Musik auf den letzten beiden Versen buchstäblich auf die Spitze getrieben. Die anfängliche a-Moll-Grundton-Vorgabe ist vergessen: Dur-Harmonik in Gestalt von Rückungen zwischen A-Dur und Es-Dur herrscht vor. Bei den Worten „j'irai défendre encore“ beschreibt die melodische Linie einen mit einem Quartsprung in hohe Lage einsetzenden und am Ende in einen gedehnten Septfall mündende Bewegung. Auf „la France“ liegt dann eine lange Dehnung, die bei „l´empereur“ in eine expressive Kombination aus gedehntem Septfall und in eine Dehnung mündendem Oktavsprung übergeht. Aus dem zweifachen „l´empereur“ des Balladentextes macht Wagner ein dreifaches. Von klangmächtigen sechsstimmigen Akkordrepetitionen begleitet, erklingt erst die schon erwähnte melodische Figur. Dann, und das nun begleitet mit klangmächtigen sechsstimmigen Akkordrepetitionen, ein in eine Dehnung mündender Sextsprung und schließlich ein wiederum in einer Dehnung endender zweifacher und anfänglich verminderter Sekundfall in hoher Lage. Auf dem nachfolgenden Wort „bien“ liegt ein mit einer Fermate versehenes „D“ in hoher Lage. Mit einem Quintfall geht es über in den auf dem Grundton „A“ endenden Sekundsprung auf dem Wort „aimé“.

    Das alles erklingt – selbstverständlich, muss man anmerken – fortissimo. Und das gilt auch für das fünftaktige Nachspiel, das aus einer Folge von meist achtstimmigen Akkordrepetitionen besteht, die eine ansteigende, dann wieder fallende und mit harmonischer Rückung von A-Dur über D-Dur und fis-Moll verbundene Linie beschreibt, die am Ende, nach einem Oktavfall, in einen die Musik beschließenden achtstimmigen A-Dur-Akkord mündet.

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  • Meine Gedanken gehen um Jahre zurück; da fragte hier mal Helmut Hofmann was denn »YouTube« sei, er hatte davon noch nichts gehört ...


    Schön eingestellt, gut erklärt und gut gesungen - ich kannte das Stück bisher nur insoweit, dass ich wusste, dass es das gibt. Wenn man den Text von der Schumann-Vertonung her auswendig drauf hat stellt man fest - ja, man kann das auch so machen. Merci beaucoup für die akustische Belehrung.

  • Na, das freut mich aber wirklich, dass ich dem großen Liedmusik-Kenner hart tatsächlich noch etwas Neues zu bieten vermochte.

    Aber mir ging es wie Dir, lieber hart. Bis vor wenigen Monaten wusste ich nur, dass diese Wagner-Komposition existiert, ohne auch nur einen Ton von ihr je gehört zu haben. Neugierig wurde ich allerdings auf sie im Rahmen meiner Beschäftigung mit dem Thema „Schumann und Heine“ und der genaueren Betrachtung von dessen Vertonung der Heine-Ballade „Die beiden Grenadiere“.

    Interessant ist für mich in diesem Zusammenhang Deine Bemerkung: „Wenn man den Text von der Schumann-Vertonung her auswendig drauf hat stellt man fest - ja, man kann das auch so machen“.
    So ging´s mir nämlich auch, als ich die Wagner-Vertonung zum ersten Mal hörte. Sie ist mir zwar, wie die ganze Gruppe der „Französischen Kompositionen“, a bisserl zu laut, liedkompositorisch zu stark auf opernmusikalische Expressivität ausgerichtet. Aber das Pathos nationalistischer Vaterlandsliebe, wie es ja durchaus Gegenstand von Heines Versen ist, bringt Wagner auf eindrücklichere, weil seinen Kern musikalisch stärker herausarbeitende Weise zum Ausdruck als Schumann, dem es, wie das ja gar nicht anders sein kann, eher um die menschlich-existenzielle Dimension dieser Heine-Verse geht.
    Wie man diese als Leser in ihrer poetischen Polyvalenz unterschiedlich rezipieren kann, so auch auf unterschiedliche Weise in Liedmusik umsetzen.
    Das ist die so schöne, weil nicht nur emotional, sondern auch kognitiv bereichernde Erfahrung, die man beim vergleichenden Hören von Kompositionen auf den gleichen lyrischen Text machen kann.

  • „Fünf Gedichte für eine Frauenstimme mit Pianoforte-Begleitung“, sog. „Wesendonck-Lieder“, WWV 91A

    Nach den Liedern seiner Zeit in Paris komponierte Wagner keine Klavierliedmusik mehr, wenn man von der für Singstimme und Klavier gefassten Opernmusik einmal absieht. Erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre wandte er sich noch einmal dem Klavierlied im genuinen Sinne zu. Der Anlass war die – auf der Ebene einer platonischen Beziehung bleibenden - Liebe zu der Kaufmannsgattin Mathilde Wesendonck. Diese betätigte sich als Lyrikerin und ließ ihm eine ganze Reihe eigener Gedichte zukommen, aus denen er schließlich fünf auswählte, um sie in der Zeit von November 1857 bis Mai 1858 in Liedmusik zu setzen. Es war die Zeit, in der er an seiner Oper „Tristan und Isolde“ arbeitete. Die ersten Reinschriften dieser Lieder überarbeitete er, ungewöhnlich für ihn, während seines Aufenthalts in Venedig noch einmal, so dass Anfang Oktober die endgültigen, teilweise in ihrer musikalischen Substanz deutlich abgewandelten Endfassungen entstanden, die dann im Jahr 1862 unter dem Titel „Fünf Gedichte für eine Frauenstimme mit Pianoforte-Begleitung“ bei Schott publiziert wurden.

    Die Manuskripte der ersten Fassung schenkte er Mathilde Wesendonck: In seinem „Tagebuch für Mathilde“ vermerkte er: „"Besseres, als diese Lieder, habe ich nie gemacht, und nur sehr weniges von meinen Werken wird ihnen zur Seite gestellt werden können."
    Von den lyrischen Texten Mathilde Wesendoncks selbst hielt er allerdings anscheinend nicht so viel. Weil er sehr wohl deren sprachliche und metaphorisch-inhaltliche Nähe zu seinen Operntexten registrierte, sich aber für den mit Abstand größeren Lyriker hielt, wollte er sie anlässlich der Publikation seiner Kompositionen darauf als „Dilettanten-Gedichte“ deklariert wissen. Diesem Anliegen wollte der Schott-Verlag aber aus guten Gründen nicht nachkommen.

    Die Lieder sind nicht in der Reihenfolge entstanden, die sie in der Publikation einnehmen. Zunächst komponierte Wagner „Der EngeL“, dann folgte „Träume“, anschließend „Schmerzen“ und „Stehe still“, als letztes schließlich „Im Treibhaus“. Möglicherweise hat sich Wagner bei der endgültigen Anordnung von den Grundtonarten leiten lassen. Dass er „Im Treibhaus“ in der Mitte einordnete und nicht ans Ende stellte, dürfte der Tatsache geschuldet sein, dass es sich hierbei um das gewichtigste unter diesen Liedern handelt. Einen Zyklus im genuinen Sinn bilden die Lieder in dieser Anordnung allerdings nicht, dazu fehlen ihnen die dafür konstitutiven Merkmale. Wenn Christian Höltge meint, der gemeinsame Stimmungsgehalt sei für einen zyklischen Charakter hinreichend, so vermag ich ihm darin nicht zuzustimmen.

    Zweifellos aber handelt es sich bei ihnen um bedeutende musikalische Werke. Sie haben, wie Werner Oehlmann dies treffend formulierte, „eine seltsam zentrale Bedeutung in Wagners Schaffen; sie sind Ahnung, Entwurf und Skizze zu einer neuen musikalischen Welt, die sich dem Komponisten in konkreten Klängen und Motivgestalten ankündigte, ehe er noch ihren Umriss und ihre Dimensionen ermessen konnte“.
    Es ist die Welt von „Tristan und Isolde“, und nicht nur die beiden Lieder, die Wagner ausdrücklich als „Studien“ zu dieser Oper bezeichnete, „Im Treibhaus“ und „Träume“ nämlich, weisen in der Struktur und dem Gestus ihrer Melodik, ihrer spezifischen Harmonisierung und dem ihr zugeordneten Klaviersatz eine deutlich ausgeprägte Nähe zur Musik der Oper auf, das gilt – in etwas geringeren Grad - auch für die übrigen Kompositionen.

    Zumeist werden diese Lieder heutzutage in der orchestrierten Fassung gehört, die Felix Mottl verfasst hat. Er orientierte sich dabei an der einzigen Orchestrierung für acht Instrumente, die Wagner selbst vorgenommen hatte, und zwar in der Absicht, Mathilde Wesendonck anlässlich ihres neunundzwanzigsten Geburtstages ein Ständchen Im Treppenhaus ihrer Villa zu bringen, - bei geschäftsreisebedingter Abwesenheit des Hausherrn übrigens. Im Jahr 1976 fertigte Hans Werner Henze eine kammermusikalische Fassung an, die die kompositorische Eigenart und das klangliche Wesen dieser Klavierlieder besser hervortreten lassen, als dies bei den auf große klangliche Fülle angelegten Orchesterfassungen Mottls der Fall ist.

    Die fünf Lieder sollen nachfolgend in der von Wagner bei ihrer Publikation selbst vorgenommenen Anordnung vorgestellt werden. Abweichend von der üblichen Verfahrensweise soll aber nicht nur eine liedanalytische Betrachtung erfolgen, auch der Aspekt der gesanglichen Interpretation soll in die Ausführungen einbezogen werden. Zwei Gründe haben mich dazu veranlasst. Da war die anfänglich von Fiesco und Rheingold geäußerte Verwunderung darüber, dass ich mich bei der Beschäftigung mit diesen Liedern auf die Aufnahme mit Christine Brewer gestützt habe, was vonseiten Fiescos mit einem Hinweis auf die – von ihm wohl als qualitativ besser erachtete – Aufnahme mit Marie-Nicole Lemieux als Interpretin einherging. Damit war für mich von vornherein klar, dass das Interesse an diesen Liedern nicht so sehr auf ihre spezifische kompositorische Faktur, als vielmehr auf die interpretatorisch-gesangliche Realisation der Liedmusik ausgerichtet ist. Es kam dann noch die in Beitrag 32 an mich gerichtete Bitte von operus hinzu, die von Günther Groissböck in seiner CD mit dem Titel „Herz-Tod“ vorgelegte gesangliche Interpretation der Wesendonck-Lieder einer näheren Betrachtung zu unterziehen.

    Gründe genug also, diesen Thread in der Liedbetrachtung perspektivisch auszuweiten und seine gedankliche Trockenheit der Liedanalyse mit dem Sich-Vertiefen in den Zauber der Musik zu bereichern. Wie das organisatorisch ablaufen soll, ist mir noch unklar. Nur dass kein ausführlicher und detaillierter Vergleich verschiedener Aufnahmen der Lieder dabei herauskommen wird, dürfte sicher sein. Ich neige dazu, jeweils im Anschluss an die Vorstellung eines Liedes in die gesangliche Interpretation desselben durch Günther Groissböck und Marie-Nicole Lemieux hineinzuhören und in unsystematischer, also eher aspekthafter Weise anzumerken, was mir hinsichtlich der spezifischen Eigenart der Interpretation aufgefallen ist, was ich gut, aber auch was ich kritikwürdig finde. Ein besonderes Problem dürfte – für mich jedenfalls – die Frage aufwerfen, ob ein Bass Lieder gesanglich vortragen sollte, deren Texte von einer Frau verfasst und die ausdrücklich für eine Frauenstimme komponiert wurden.

    Sehr freuen würde ich mich, wenn sich möglichst viele unter den Tamino-Gesangsexperten beteiligten. Nur eine Bitte habe ich, und das aus sachlichen Gründen: Beschränkung auf die Klavierlied-Fassung der Lieder.

  • Lieber Helmut,

    Text und Klavier ist der Inbegriff des Kunstliedes, da beißt die Maus keinen Faden ab, auch ich stand orchestrierten Liedern immer kritisch gegenüber und tue es heute noch. Aber keine Regel ohne Ausnahmen.

    Solche Ausnahmen sind für mich zum Beispiel »Vier letzte Lieder» von Richard Strauss, die er mit Orchesterbegleitung konzipiert hatte und deren Klavierversion erst später entstand.

    Bei Wagners Wesendonck-Liedern liegt dagegen der Sachverhalt ganz anders, die hatte der Komponist ja von Anfang an als Klavierlieder für eine Frauenstimme gesehen; nur die »Träume« instrumentierte er für Solovioline und kleines Orchester.

    Aber der große Dirigent Felix Mottl, ein exzellenter Wagner-Kenner, der schon 1875 mit dem Meister gefrühstückt hat und dann sein Assistent war, hat diese Wesendonck- Lieder orchestriert. Und er tat das nicht aus einer Laune heraus; die Gralshüterin selbst, Cosima Wagner, hatte dazu den Anstoß gegeben; durch ihre Empfehlung bekam Mottl 1893 vom Schott-Verlag in Mainz den Auftrag den Klaviersatz der vier ersten Wesendonck-Lieder zu instrumentieren, was er als große Ehre empfand.

    Da Wagner für das letzte Lied »Träume« selbst eine Orchesterfassung angefertigt hatte, war Mottls Ehrfurcht vor dem Werk Wagners so groß, dass er sich der Instrumentierung Wagners ganz sensibel anpasste, sodass die fünf Gesänge dem Hörer eine vollkommene Einheit bieten, als sei es ein originales Werk Wagners.


    Wenn man sich mit den Wesendonck-Liedern und ihrer Interpretation befasst, dann sollte man diese Lieder zumindest einmal mit Hanne-Lore Kuhse gehört haben ... nur mal so ein Tipp ...

  • Deinen Beitrag, lieber hart, habe ich so aufgefasst, dass Du mir - auf Deine so typisch feine Art - bedeuten wolltest, dass man, wenn man sich schon auf einen Interpretationsvergleich der Wesendonck-Lieder einlässt, die Mottl-Orchesterfassungen nicht ausklammern sollte.
    Und Du hast ja recht. Eben habe ich mir die von Dir empfohlene Interpretation durch Hanne-Lore Kuhse angehört – und war stark beeindruckt.


    Aber hinter der Bitte, die ich am Ende meines Einführungs-Artikels zu den Liedern geäußert hatte, standen zwei sachliche Gründe:
    Einmal sind das ja nun tatsächlich von ihrer Genese und ihrem kompositorischen Konzept her Klavierlieder, und Wagners Orchestrierung von "Träume" (WWV 91B) war ja kein Anlauf zur einer entsprechenden Umarbeitung aller Lieder, sondern tatsächlich nur ein originelles Geburtstagsgeschenk. Er wollte diese Kompositionen als Lieder für Singstimme mit Klavierbegleitung verstanden wissen.

    Und noch ein zweiter Gedanke bewog mich zu dieser Bitte. Ich glaube, dass man Aufnahmen von gesanglichen Interpretationen der Klavierlieder nicht mit denen der Orchesterfassungen vergleichen kann, was das Urteil über die Leistung der jeweiligen Interpretinnen oder Interpreten anbelangt. Zwar kann ich das nicht beweisen, aber ich bin mir sicher, dass eine Sängerin die - ja identische - Melodik in beiden Fällen nicht in absolut identischer Weise vorträgt. Sie wird, und das kann man etwa am Beispiel der Orchesterfassung von "Der Engel" hören, die für dieses Lied so charakteristischen weit gespannten bogenförmigen Dehnungen in hoher Lage mit mehr Emphase vortragen, wenn ihr ein Orchester darin folgt und sie dabei gleichsam trägt.


    Aber sei´s drum. Ich hätte nichts dagegen, wenn Tamino-Mitglieder hier auch die Mottl-Fassungen in den Interpretationsvergleich einbeziehen möchten. Ganz im Gegenteil, ich wäre dankbar. Denn ich selbst plage mich eben, wie angekündigt, mit dem Vergleich der Interpretation von "Der Engel" durch Marie-Nicole Lemieux und Günther Groissböck ab und fühle mich überfordert. Ich bin einfach der Falsche für so etwas, und es wird alsbald ersichtlich werden, warum dies keine Einbildung ist, sondern tatsächlich ein Faktum, - nach der Vorstellung des Liedes nämlich, die eigentlich für heute geplant war, aber nun morgen erfolgen wird.

  • „Der Engel“

    In der Kindheit frühen Tagen
    Hört´ ich oft von Engeln sagen,
    Die des Himmels hehre Wonne
    Tauschen mit der Erdensonne,

    Daß, wo bang ein Herz in Sorgen
    Schmachtet vor der Welt verborgen,
    Daß, wo still es will verbluten,
    Und vergehn in Tränenfluten,

    Daß, wo brünstig sein Gebet
    Einzig um Erlösung fleht,
    Da der Engel niederschwebt,
    Und es sanft gen Himmel hebt.

    Ja, es stieg auch mir ein Engel nieder,
    Und auf leuchtendem Gefieder
    Führt er, ferne jedem Schmerz,
    Meinen Geist nun himmelwärts!

    Wenn Wagner hinsichtlich der Wesendonck-Gedichte das Wort „Dilettantismus“ in den Mund nahm, so ist schon dieses erste, das er vertont hat, durchaus ein triftiger Beleg für die Berechtigung dieses Urteils. Diese Verse kreisen um den Engel-Mythos, der anfänglich im Bereich der Kindheit angesiedelt, dann aber in einer lyrischen Sprache ausgearbeitet wird, die in auffälliger Weise zwischen klischeehaft-kitschigen Bildern und adjektivisch aufgeladenen Abstrakta changiert. Sie enthüllen sich am Ende als subjektives Bekenntnis des lyrischen Ichs, das die Wahrheit dieser Erzählung vom aus dem irdischen Elend rettenden Engel am eigenen Leibe erfahren haben will. Matthias Goerne hat da schon recht, wenn er kritisch anmerkt:
    "Die schlimmsten Knittelverse Schuberts sind immer noch besser als die Texte von Mathilde Wesendonck. Es ist ein Mischmasch aus vagem Gefühl. Es gibt nichts Konkretes festzuhalten.“

    Wagner hat in seinen fünf „Wesendonck-Liedern“ ja eine Auswahl aus der Vielzahl der Anfang der fünfziger Jahre unternommenen lyrischen Versuche Mathilde Wesendoncks getroffen. Und bei all dem Berauscht- und Überwältigt-Sein von den Gefühlen, die ihn bei dieser Frau ergriffen hatten, muss bei einem mit großem künstlerischem Sachverstand versehenen Menschen wie ihm ein Motiv auszumachen sein, das den Griff nach dem jeweiligen Text erklärlich werden lässt. Gewiss, Wagner war, um noch einmal Matthias Goerne zu zitieren, „berauscht, als er die Lieder geschrieben hat. Die Harmonien, die endlosen Reihen: das ist der reine Wagner. Er bringt es fertig, eine Stimmung zu erzeugen, so dass Sie herzzerreißende Musik hören. Diese Glückseligkeit überwältigt die Worte."

    Damit, mit diesen an die Hörer seiner gesanglichen Interpretation der Lieder sich richtenden Worten, hat er zweifellos recht. Auf die Gründe dafür, geht er nicht ein, aber die Frage danach stellt sich jedem, der sich aus liedanalytisch-betrachtender Perspektive diesen Liedern zuwendet. Und dabei dürfte, so scheint mir, dem Aspekt des Motivs der Textwahl eine Art Schlüsselfunktion zukommen. Denn daraus könnte sich, eben weil es gleichsam den liedkompositorischen Quellgrund darstellt, eine Erklärung für die spezifische Qualität der Liedmusik finden lassen, die sie befähigt, von der Ebene des - qualitativ fragwürdigen - lyrischen Textes abzuheben und sich zu der großer Liedmusik aufzuschwingen.

    Hier, bei diesem ersten Wesendonck-Text, könnte das kompositorisch leitende Motiv das der Erlösung von irdischem Leid in der Sphäre himmlischer Transzendenz gewesen sein. So meint man das jedenfalls der Liedmusik entnehmen zu dürfen. Überall dort, wo dieses Motiv lyrisch-sprachlich direkt oder über den als Medium fungierenden „Engel“ indirekt angesprochen wird, schwingt sie sich zu besonderer Expressivität auf, dies in Gestalt von melodischen Dehnungen in hoher Lage, harmonischen Rückungen und Wandlungen in Tempo und Dynamik. Fast mutet es so an, als sei die Melodik geradezu angelegt darauf, an den entsprechenden Stellen des lyrischen Textes in auf diese ausdrucksstarke Weise aufzugipfeln, wobei dies allerdings durchweg im Bereich des Pianos geschieht.
    Die kompositorische Aussage geht aus einer Liedmusik hervor, die sich, so die Vortragsanweisung, „sehr ruhig bewegt“ entfaltet, und wenn es einmal eine Abweichung davon gibt, weil der lyrische Text von einem „brünstigen Gebet“ spricht, dann wird der Anweisung „gesteigert“ sofort der Zusatz „aber zart“ beigegeben. Und die Anweisungen „zart“ und „sanft“ finden sich bezeichnenderweise dort, wo das lyrischen Worte „Himmel“ und Geist“ die melodische Linie zu einer in eine Dehnung mündende Aufstiegsbewegung inspiriert. Immer wieder einmal meint man in diesem Lied das Wehen von „Lohengrin“-Geist zu verspüren.

    Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, und sie steht in G-Dur als Grundtonart. Das aber will nicht viel heißen, denn hier ist ein Richard Wagner am Werk, für den die Harmonik ein für die musikalische Aussage konstitutives Ausdrucksmittel ist, was weit ausgreifende Modulationen und Rückungen in den Tonarten und im Tongeschlecht zur Folge hat. Hier, in diesem ersten Lied, hält sich das zwar noch in Grenzen, weil chromatische Rückungen, wie sie etwa im dritten eine maßgebliche Rolle spielen, noch ausgespart bleiben, gleichwohl überspannen die harmonischen Rückungen einen weiten Bereich des Quintenzirkels. In G-Dur setzt das dreitaktige Vorspiel mit zwei Mal „sehr zart und weich“ nach oben sich erhebenden Terzen und Quinten ein. Und in G-Dur ist auch die melodische Linie auf den ersten beiden Versen der ersten Strophe harmonisiert. Aber nur anfänglich, bei ihren deklamatorischen Tonrepetitionen in tiefer Lage mit anschließend zweifachem Sekundanstieg auf den Worten „In der Kindheit frühen Tagen“.

    Auf diesem letzten Wort liegt ein Quartfall, der die melodische Line zu ihrem Ausgangspunkt, einem tiefen „D“, zurückführt, und nun ereignet sich das, was man in dieser Liedmusik immer wieder und in der Expressivität sich steigernden Varianten erlebt. Bei den Worten „Hört ich oft von Engeln sagen“ geht sie in einen ruhigen Anstieg über, der bei „Engeln“ einen Quartsprung beschreibt, dem eine extrem lange Dehnung mit nachfolgend zweifachem Sekundfall nachfolgt. Und dabei ereignet sich eine höchst ausdrucksstarke harmonische Modulation. Bei dem Wort „oft“ geht das G-Dur nach C-Dur über, und innerhalb der langen Dehnung auf „Engeln“ geschieht eine Rückung zur Doppel-Unterdominante F-Dur, die diesem und dem nachfolgenden Wort „sagen“ einen starken musikalischen Akzent verleiht. Das aber erweist sich alsbald als Vorstufe zu einer weiteren – und für Wagner so typischen - Steigerung der liedmusikalischen Expressivität durch harmonische Modulation. Bei den Worten „Die des Himmels hehre Wonne“ steigt die melodische Linie in zwei Sekundschritten zu einem hohen „E“ auf und senkt sich nach einer kleinen Dehnung auf „Himmels“ in dreimaligem Sekundfall wieder ab, um schließlich bei „Wonne“ in einem lang gedehnten Sekundfall überzugehen.

    Das harmonisch Bemerkenswerte daran ist nun, dass sich dabei eine – durchaus kühne – Rückung von F-Dur nach E-Dur ereignet, das bei der langen, und das Wort markant hervorhebenden Sekundfall-Dehnung auf „Wonne“ in A-Dur übergeht. Und beim letzten Vers dieser ersten Strophe, den Worten „tauschen mit der Erdensonne“ also, ereignet sich erneut eine derartige, auf einem hohen „E“ ansetzende melodische Fallbewegung mit nachfolgend weiterem, nun stark gedehntem Fall, nur dass dies nun zwar in den Intervallen gesteigert ist, sich aber harmonisch in der Tonika G-Dur mit kurzer Zwischenrückung in die Dominante ereignet. Und das ganz offensichtlich deshalb, um die Liedmusik der Strophe zu einem Abschluss hinzuführen.

    Nicht nur in diesen spezifischen harmonischen Modulationen trifft man bei diesem Lied – und auch in den nachfolgenden Liedern dieser Wesendonck-Gruppe – den Komponisten Richard Wagner in der ihm eigenen Musiksprache an, sondern auch im Bereich der Melodik und im ihr zugeordneten Klaviersatz. Um zunächst diesen zu charakterisieren: Er ist in seiner Funktion orchestral angelegt, darauf ausgerichtet, die melodische Linie zu tragen, sie klanglich einzubetten und ihr darüber hinaus auch noch dort in ihren Bewegungen zu folgen, wo sie im Aufgreifen der lyrischen Aussage besondere Expressivität entfaltet. Um es am Beispiel dieser ersten Strophe in repräsentativer Weise einmal aufzuzeigen: Die zweimalige Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten „tauschen mit der Erdensonne“ begleitet das Klavier mit den sprunghaft abgelegten akkordischen Figuren, die es durchweg in dieser Strophe anwendet, hier dergestalt, dass es sie in Form von Terzen und bis zu fünfstimmigen Akkorden aus tiefer Bass- in hohe Diskantlage aufsteigen lässt, also gegenläufig zur Melodik verfährt und ihre Aussage auf diese Weise intensiviert. Und was ihre – wiederum spezifisch Wagnerische – Struktur anbelangt, so ist festzustellen: Sie ist weit, hier die ganze Strophe übergreifend phrasiert, entfaltet sich in wiederkehrenden, aber variierten Grundfiguren und dies in deklamatorisch strikt gebundener Gestalt. Und in all dem atmet sie ein wenig ariosen Geist.

    Die zweite und die ersten beiden Verse der dritten Strophe fasst Wagner zu einer liedmusikalischen Einheit zusammen. Sie konstituiert sich darin, dass die melodische Linie auf jeweils zwei Versen die strukturell gleiche Bewegung beschreibt, dies jedoch auf einer erst um eine Sekunde, danach aber um eine Quinte ansteigenden tonalen Ebene, was mit entsprechenden harmonischen Rückungen im dominierenden Tongeschlecht Moll einhergeht und den Geständnissen seelischen Leidens, die das lyrische Ich hier vorbringt, eine höchst eindringlich sich steigernde Ausdrucks-Intensität verleiht. Das Klavier liefert dazu in der Weise einen gewichtigen Beitrag, dass es von seinen bisher praktizierten akkordischen Sprungfiguren ablässt und die melodische Linie nun durchweg mit in Bass und Diskant synchronen Achtel-Akkordrepetitionen begleitet. Drei Mal setzt diese mit einer deklamatorischen Tonrepetition erst in tiefer, dann in mittlerer Lage ein und beschreibt danach eine weit gespannte und mehrfach mit Dehnungen versehene bogenförmige, darin allerdings durchaus unterschiedliche Bewegung. Beim ersten Mal ist sie dabei in g-Moll mit Rückungen nach Es-Dur und A-Dur harmonisiert, beim zweiten Mal in a-Moll mit Rückung nach H-Dur, und beim dritten Mal beschreibt die Harmonik eine Rückung von e-Moll über B-Dur nach d-Moll, das bei dem lang gedehnten verminderten Sekundfall mit nachfolgender Dehnung über einen Sekundsprung bei den Worten „Erlösung fleht“ in die Dominant-Sept-Variante der Tonart „E“ übergeht, - darin den Übergang zur melodischen Linie auf den Worten „Da der Engel niederschwebt“ einleitend. Denn diese setzt in D-Dur-Harmonisierung ein.

    Auch hier, in diesen drei jeweils durch eine Viertelpause voneinander abgehobenen Melodiezeilen kommt der sich in kühnen Modulationen entfaltenden Harmonik eine maßgebliche Rolle in der musikalischen Aussage zu. Und das setzt sich im letzten Liedteil fort, in dem die Liedmusik, weil es im lyrischen Text nun um die Rettung durch den Engel geht, zum Höhepunkt ihrer Aussage kommt. Hier kehrt das Klavier zur Begleitung mit seinen aus dem Bass sprunghaft in den Diskant aufsteigenden akkordischen Achtelfiguren zurück, nun allerdings in einer komplexeren Konfiguration, und die Harmonik entfaltet sich in wiederum kühnen Rückungen ausschließlich im Tongeschlecht Dur. Eingeleitet durch die sich in lang gedehnten Sprüngen ergehende und am Ende, mit einer kühnen harmonischen Rückung von G-Dur nach Fis-Dur verbunden, wie erwartungsvoll in einen Anstieg mit Dehnung übergehende Melodik auf den Worten „Da der Engel niederschwebt, / Und es sanft gen Himmel hebt“, bringt die Liedmusik auf faszinierend innige, weil von gleichsam introvertierter Emphase getragene Weise das zentrale lyrische Bild der letzten Strophe zum Ausdruck.

    Das geschieht in drei Melodiezeilen, je eine auf den ersten beiden Versen, die dritte das letzte Verspaar umfassend. Bei den Worten „Ja, es stieg auch mir ein Engel nieder“ steigt die melodische Linie, auf einem „Fis“ ansetzend und in Fis-Dur harmonisiert, zu einem hohen „E“ auf und überlässt sich dort, bei dem Wort „Engel“ einer langen Dehnung in Gestalt eines Falls über zwei kleine Sekunden, wobei die Harmonik eine Rückung nach A-Dur beschreibt. Diese Fallbewegung in kleinen Sekundschritten setzt sich bei dem Wort „nieder“ fort, nun aber in E-Dur-Harmonisierung. Das Bild vom „leuchtenden Gefieder“ erhält dadurch einen starken Akzent, dass die melodische Linie zweimal in eine Dehnung übergeht und die Harmonik von dem vorangehenden E-Dur eine kühne Rückung nach dem hellen und klaren C-Dur beschreibt.

    Auf den beiden letzten Versen liegt eine in sich geschlossene Melodiezeile, die ausdrücklich „mit Enthusiasmus“ vorgetragen werden soll. Und sie bietet von ihrer Struktur und ihrer Harmonisierung her allen Anlass dazu. Auf den Worten „Führt er, ferne jedem Schmerz“ liegt eine mit einem Quartsprung in hohe Lage einsetzende Fallbewegung in ruhigen Sekundschritten, die zunächst in F-Dur-Harmonik einsetzt, das dann aber anschließend die ausdrucksstarke Rückung über E-Dur nach A-Dur vollzieht. Und den Worten „Meinen Geist nun himmelwärts“ verleiht die Liedmusik den Ausdruck, der dem Bild von der Erlösung durch die Transzendenz gebührt. Mit einer auftaktigen Tonrepetition geht die melodische Linie nach einem Quartsprung in eine zweifache, stark gedehnte und sich dabei langsam absenkende Fallbewegung über: Erst über eine Quinte und danach über eine Sekunde, um schließlich auf den letzten beiden Silben von „himmelwärts“ über einen weiteren Sekundfall in einer langen Dehnung auf dem Grundton „G“ zu enden. Die Harmonik hat hier von allen kühnen Rückungen Abstand genommen und verbleibt ausschließlich im Bereich der Tonika G-Dur und ihrer Dominante.

    Und das Klavier, das seine Sprungfiguren akkordisch bis zu fünf Stimmen angereichert hat, lässt diese in immer höhere Lage aufsteigen und verfällt im fünftaktigen Nachspiel in eine Art Entzückung, indem es in hoher Oktavlage eine melismatische Zweiunddreißigstel-Figur erklingen lässt, bevor es seine Sprungfiguren in reiner G-Dur-Harmonisierung mit einem Diminuendo langsam wieder absinken und im einem Pianissimo erlöschen lässt.

  • „Der Engel“ in der gesanglichen Interpretation durch Marie-Nicole Lemieux, begleitet von Daniel Blumenthal




    Der spezifische klangliche Charakter dieses Liedes, die im Geist introvertierter Emphase „ruhig bewegt“ sich entfaltende, dabei durchweg im Bereich des Pianos verbleibende, starke dynamische Abstufungen meidende und wesenhaft schwebend angelegte Melodik wird von Lemieux gesanglich perfekt getroffen. Sie trägt die Liedmusik zwar nicht in der Original-Grundtonart G-Dur vor, sondern in E-Dur, das mindert aber in keiner Weise den Grad, in dem sie interpretatorisch deren Aussage erfasst.

    Den in eine lange, schwebende Sekundfall-Dehnung auf dem Wort „Engeln“ mündenden Anstieg der melodischen Linie auf dem ersten Verspaar gestaltet sie gesanglich in der behutsamen, jede übersteigerte Expressivität meidenden Weise, wie das von Wagner gewollt ist. Der von ihm hier vorgeschriebene dynamische Rückgang vom Piano ins Pianissimo ist tatsächlich zu vernehmen. Bei dem bogenförmigen Anstieg und Fall der melodischen Linie auf den Worten „die des Himmels hehre Wonne“ behält sie diesen Gestus der introvertierten Verhaltenheit bei, und das gilt auch für die Wiedergabe des neuerlichen melodischen Aufschwungs mit nachfolgendem Ausklang auf den Worten „tauschten mit der Erdensonne“. Das ist Liedgesang im Geist der introvertierten Emphase, wie er dieser Liedmusik zugrunde liegt.

    Bezeichnend für ihre, ein tiefes Erfassen eben dieses Geists vernehmen lassende gesangliche Interpretation ist die Tatsache, dass sie dort, wo die Liedmusik in ihrer spezifischen Gestalt zur Entfaltung größerer Expressivität zu verführen scheint, dort also, wo sie sich etwas lebhafter entfaltet, sich in höhere Lage aufschwingt und sich dort Dehnungen hingibt, dieser Verführung eben nicht erliegt sondern in ihrem Grund-Gestus introvertierter Verhaltenheit verbleibt. Auf eindrückliche Weise ist das zu vernehmen bei der Melodik auf den Worten „Daß, wo brünstig sein Gebet / Einzig um Erlösung fleht“, denn hier schwingt sich die melodische Linie, vom Klavier mit akkordischen Tonrepetitionen begleitet, gleich zwei Mal mit Sprüngen erst über eine Quarte und dann über eine Quinte zu Dehnungen in hoher Lage auf. Aber Wagner gibt hier ganz bewusst die Anweisung „gesteigert, aber zart“ vor, und diese „Zartheit“ kann man im Gesang von Marie-Nicole Lemieux“ auf wahrlich beeindruckende Weise hörend erleben.

    Der Gestus des Schwebens, zu dem die Melodik bei dem Wort „Engel“ übergeht, also die lang gedehnte, über einen Quartsprung in hoher Lage aufgipfelnde und danach in einen Sextfall übergehende Melodik auf den Worten „da der Engel niederschwebt und die bogenförmige Dehnung auf „Ja, es stieg auch mir ein Engel nieder“ werden von ihr auf überaus behutsame und zarte Weise gesanglich realisiert, und dort, wo Wagner die Anweisung „mit Enthusiasmus“ vorgibt, übt sie bei der Wiedergabe der wieder mit einem Quartsprung in eine Dehnung in hoher Lage übergehenden und mit der ausdrucksstarken harmonischen Rückung nach C-Dur verbundenen melodischen Linie die Zurückhaltung, die vom Geist dieser Liedmusik her geboten ist. Das Diminuendo, das Wagner in die nachfolgende melodische Fallbewegung gelegt hat, ist deutlich zu vernehmen, und ebenso auch die Zartheit, die dem lang gedehnten Auf und Ab der melodischen Linie auf den Worten „meinen Geist nun himmelwärts“ innewohnt.

    Fazit:
    An dieser gesanglichen Interpretation des Liedes ist nichts auszusetzen. Sie wirkt auf mich voll überzeugend, weil ich in ihr die liedkompositorischen Intentionen vernehme, die der Liedmusik laut Notentext innewohnen.

  • Lieber Helmut Hofmann, ich bin völlig perplex wie du das Lied analysierst hast und dann auch noch in meiner Lieblingsaufnahme mit Marie-Nicole Lemieux, das hat mich besonders gefreut, zumindest fühle ich mich darin bestätigt das ich doch ziemlich gute Ohren habe ;)!

    Ich habe Marie-Nicole Lemieux zweimal Live im Konzert in Metz gehört, (immer mit Daniel Blumenthal) unglaublich gut ist mir auch in Erinnerung geblieben, wie sie "Die Löwenbraut" von Schumann interpretiert hat!

    Natürlich ist oft ein erstes Empfinden beim anhören wichtig, aber manchesmal trügt auch die erste Empfindung und es erschließt sich erst beim wiederholten hören, z.B. bei den Wesendonck-Liedern von Roman Trekel (auch mit Piano, Oliver Pohl), die mir erst beim wieder und wieder hören ihren Reiz offenbarten, gerade beim Zusammenspiel von Text, Musik und der Gesangslinie


    Danke und mit lieben Grüßen

    Fiesco


    Noch etwas zum Dilletantismus Wagners hinsichtlich der Wesendonck-Lieder, ich bin mit Wagners Aussage nicht so ganz einverstanden, er schrieb ja aus Venedig Hymen an Mathilde über die Lieder, und gerade das stört mich, Wagner bog sich alles zurecht gerade wie er es gebraucht hat, wenn die Lieder wirklich soooo schlecht waren/sind, warum hat er sie nicht vernichtet!? Oder, warum hat er sich soviel Mühe gemacht sie so wunderschön zu vertonen?! Für mich sind diese Lieder ein Kind ihrer Zeit und die Schwärmerei einer (verliebten)jungenFrau (denn war sie wirklich in ihn verliebt?), ich denke sie sah in ihm den genialen Komponisten und ihre Schwärmerei in diesem Bereich zu suchen ist, denn sie hätte sich nie von Wesendonck getrennt, das war eine gesicherte Existenz für sie! Ich denke auch das Wagner dies wusste und gute Miene zum bösen Spiel machte, denn wie schon erwähnt, Wagner wusste immer (meistens :)) was er tat und so hat er sich auch hier einen Vorteil irgendwelcher Art gesucht, erhofft, denn bei ihm ging es doch immer um das liebe Geld und die Wesendoncks hat es!

    Auch Goernes Einwurf sagt für mich nichts aus, warum? werden sie sooft aufgenommen?, nur der Musik wegen?, ich sehe da schon eine große Verbindung in Wort und Ton!

    Auch stört mich bei Goerne der Vergleich mit den Schubertliedern, wenn Schubert nicht so ein genialer Komponist gewesen wäre, hätten so manche trivialen Lieder nicht ihren Weg gefunden!

    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Freut mich, dass meine Besprechung der Aufnahme mit Marie-Nicole Lemieux auf Zustimmung bei Dir gestoßen ist, lieber Fiesco.
    Du selbst hattest mich ja auf sie aufmerksam gemacht. Die Tatsache, dass ich mich bei meiner Beschäftigung mit den Wesendonck-Liedern auf die Aufnahme mit Christine Brewer gestützt hatte (weil es die einzige für mich greifbare in der Original-Tonart war), hatte bei Rheingold Verwunderung und bei dieser den dezenten Verweis auf die Lemieux-Interpretation ausgelöst. Ich habe mir deshalb sofort die entsprechende CD beschafft, und als ich mich in sie eingehört hatte, war mir klar: Das ist ein anderes gesanglich-interpretatorisches Niveau. Rheingolds Verwunderung war berechtigt.


    Gar gerne wüsste ich freilich, ob auch andere Taminos, vor allem die Gesangsexperten, unsere Hochschätzung der Aufnahme mit Lemieux teilen.


    Was Deine Anmerkungen zur literarischen Qualität der Wesendonck-Gedichte anbelangt: Sie ist aus meiner Sicht – und diesbezüglich verfüge ich infolge meiner beruflichen Ausbildung über ein gewisses Urteilsvermögen – wirklich gering. Die Kumulation von affektiv aufgeladener Metaphorik ist dafür ein sicherer Indikator. Beim Urteil Wagners darüber geht es aber – und da hast Du sehr wohl recht – um etwas anderes. Er hat sich wohl deshalb abfällig über Mathilde Wesendoncks Verse geäußert, weil er sich für den größeren Lyriker hielt. Dass er sein Urteil sogar publik machen wollte, indem er es der Publikation seiner Kompositionen darauf beigab, ist für mich schwer akzeptabel, - um´s mal vorsichtig auszudrücken. Und dass er das, was er für literarisch indiskutabel hielt, gleichwohl in Musik gesetzt hat, ist nicht nur auf seine Gefühle für die Autorin zurückzuführen, sondern, wie diese Musik überdeutlich vernehmen lässt, darauf, dass sie ihn in ihrer lyrisch-sprachlichen Aussage und der sie tragenden Metaphorik sehr wohl – und das tiefreichend! – anzusprechen vermochte.


    Du findest ihn, wenn du sagst „Wagner bog sich alles zurecht gerade wie er es gebraucht hat“, ja wohl charakterlich ein wenig problematisch. Ich aber habe Deinen Worten, zum Beispiel der Anmerkung „er schrieb ja aus Venedig Hymen an Mathilde über die Lieder“, entnommen, dass ich viel zu wenig über ihn weiß und habe mir auf der Stelle gleich mehrere Bücher bestellt, um mich kundiger zu machen.
    Es ist ohnehin seltsam: Durch die Beschäftigung mit seinen Liedkompositionen, insbesondere den Wesendonck-Liedern, ist mein Interesse am Komponisten Wagner wieder erweckt worden. In noch jungen Jahren hatte ich eine Wagner-Phase, in der ich mich durch seine ganze Opernmusik durchhörte. Das riss dann ab, und die entsprechenden Schallplatten-Kassetten stehen seit Jahrzehnten in einer einsamen Schrankecke, ohne dass ich auch nur eine wieder angerührt hätte.
    Jetzt habe ich die erste wieder hervorgeholt: Die 1972 von EMI publizierte „Tristan“-Aufnahme unter der Leitung von Herbert von Karajan.


    Jetzt höre ich mir noch einmal die Interpretation von „Der Engel“ durch Hanne-Lore Kuhse an, auf die hart mich aufmerksam machte.
    Setzt sie andere Akzente als Marie-Nicole Lemieux?
    Und morgen steht für mich der Wunsch von operus an, ein Urteil über die Interpretation dieses Liedes durch Günther Groissböck abzugeben.
    Das dürfte schwierig werden.

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  • Lieber Helmut Hofmann, dann musst du auch meine Orchester Lieblingsaufnahme anhören...



    .....von Dagmar Pecková!

    Ich mag z.B. nicht diese dicken Wagner Stimmen, die Pecková ist da ganz auf -meiner- Welle!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Sie enthüllen sich am Ende als subjektives Bekenntnis des lyrischen Ichs, das die Wahrheit dieser Erzählung vom aus dem irdischen Elend rettenden Engel am eigenen Leibe erfahren haben will.

    Zum Engel findet man im Booklet der von Hanne-Lore Kuhse gesungenen Lieder mit Orchesterbegleitung folgende Ausführungen:

    »Die Gestalt des zur Erde niedergestiegenen Himmelsboten in ›Der Engel‹ identifizierte die Textautorin zweifelsohne mit dem von ihr verehrten Komponisten, dieser hingegen bezog die himmlische Erscheinung auf Mathilde. Bei der Textstelle ›da der Engel niederschwebt‹ und noch deutlicher im Nachspiel zitiert er das Motiv aus ›Rheingold‹, das dort Loges Worte von ›Lieb´ und Weib‹ unterstreicht.«


    Ich denke auch das Wagner dies wusste und gute Miene zum bösen Spiel machte, denn wie schon erwähnt, Wagner wusste immer (meistens) was er tat und so hat er sich auch hier einen Vorteil irgendwelcher Art gesucht, erhofft, denn bei ihm ging es doch immer um das liebe Geld und die Wesendoncks hat es!

    Ob Wagner immer wusste was er tat? Da war ja schließlich dieser verräterische Brief, den der Gärtner ins Herrschaftshaus bringen sollte und den Frau Minna schließlich abfing und öffnete. Dann lief Frau Minna Wagner damit flugs zu Mathilde Wesendonck und drohte damit, diesen Brief ihrem Mann zu zeigen, worauf Mathilde dann ihren Gatten informierte ...

  • Danke für diesen Hinweis, lieber hart. Dieses Rheingold-Zitat hatte ich - schlechter Wagner-Opernkenner der ich bin - nicht bemerkt. Man kann es durchaus so interpretieren, wie es der/die Verfasser/in des Booklets tut.

    Inzwischen bin ich noch ein bisschen tiefer in diese Beziehung Wagner-Mathilde eingedrungen. Was das Thema "Engel" anbelangt: Am 31. Dezember überreichte Wagner Mathilde die Skizze zum ersten Akt des "Tristan". In der Widmung hieß es, er lege ihr zu Füßen, was Tristan und Isolde klagten, ihr Weinen und Küssen, auf "daß sie den Engel loben, der mich so hoch erhoben".

    Das muss wirklich eine tief reichend Liebe gewesen sein, die Wagner Mathilde Wesendonck gegenüber empfand. Man darf das briefliche Geständnis, das er am 5.Juni gegenüber Eliza Wille machte, durchaus ernst nehmen, die Worte nämlich: "Drum sag´ ich´s Ihnen: sie ist und bleibt meine erste und einzige Liebe! Das fühl ich nun immer bestimmter."

    Und diese Liebe ist ganz gewiss auch das entscheidende Motiv für die Vertonung ihrer Gedichte. Wenn sie in ihren Erinnerungen schreibt, er habe jedes ihrer Gedichte, so wie es entstand, an sich genommen, um ihm mit seiner Musik die höchste Weihe und Verklärung zu geben, so dürfte auch das, von der Selbstverklärung darin einmal abgesehen, den Tatsachen entsprechen.


    Die von Fiesco hier eingebrachte Interpretation von "Der Engel" habe ich mir natürlich angehört. Aber es hat sich bestätigt, was ich oben schon einmal anmerkte. Man kann die Orchesterfassungen mit dem Klavier-Original nicht gut vergleichen, was die sängerische Leistung anbelangt. Die Stimme ist hier so sehr in den Orchesterklang eingebettet, dass man diesen geradezu zwangsläufig mithört. Gleich in der ersten Strophe wird das sinnfällig: Bei den bogenförmig gedehnten Bewegungen der melodischen Linie auf den Worten "Die des Himmels hehre Wonne tauschten mit der Erdensonne". Hier folgen die Streicher der Singstimme in jedem ihrer deklamatorischen Schritte und werden damit zum klanglichen Bestandteil derselben.

    Wenn in der Klavierliedfassung die Singstimme an dieser Stelle "nur" mit einer Folge von aus dem Bass in den Diskant aufsteigenden zwei- und dreistimmigen Akkorden begleitet wird, kann man viel schöner und klarer hören, was sie melodisch zu sagen hat.

  • „Der Engel“ in der gesanglichen Interpretation durch Günther Groissböck, begleitet von Gerold Huber



    Vorbemerkung:
    Als ich von operus in seinem Beitrag zu diesem Thread (Nr.32) von der Existenz dieser gesanglichen Interpretation erstmals erfuhr, stellte sich mir sofort die Frage: Sollte ein Mann, noch dazu einer mit Bass-Stimme, diese Lieder gesanglich zu interpretieren versuchen? Diese Frage hat ja durchaus ihre sachliche Berechtigung: Wagner hat sie für eine Frauenstimme komponiert und sie in ihrer Publikation ausdrücklich als solche deklariert. Diesen Sachverhalt kann man nicht als reine Formalität abtun: Für einen eminent von der Stimme her denkenden Komponisten, wie Wagner es war, musste das Folgen für die Anlage und die spezifische Struktur der melodischen Linie haben. Und das ist ja auch tatsächlich der Fall, wie nicht nur dieses Lied sinnfällig werden lässt, sondern wie es – was noch aufzuzeigen sein wird – auch bei den übrigen der Fall ist. Kann eine Bassstimme die Anforderungen, die eine in dieser spezifischen Weise strukturierte Melodik an die adäquate gesangliche Realisierung stellt, wirklich bewältigen?

    In dem ausführlichen, vor allem um Thematik der CD kreisenden Interview, das im Booklet dieser CD zu finden ist, hat man Groissböck nicht mit diesen Problemen konfrontiert, sondern sich auf die schlichte Frage beschränkt:
    „Wie kamst du überhaupt dazu, diesen Zyklus aufzunehmen, der ja explizit für eine Frauenstimme komponiert wurde?“
    Und der hat die wohl auch gar nicht als solche gesehen. Denn seine Antwort darauf lautet:
    „Mich hat die Klangsprache der Wesendonck-Lieder immer schon fasziniert, da sie eben dem >Tristan< an vielen Stellen so nahesteht. Außerdem habe ich im Text keine verbindliche Geschlechtszugehörigkeit entdeckt, sodass ich mir einfach gedacht habe: Warum denn nicht mal diese >gender-neutralen< Lieder als Mann singen, weil es ja auch Titel wie >Schmerzen< oder >Stehe still< gibt, zu denen etwas draufgängerisches Testosteron sehr gut passt, wie ich finde.“

    Das möchte ich an dieser Stelle nicht kommentieren, auch vorab keine Antworten auf die Fragen geben. Sie werden aus der Besprechung der Liedinterpretationen ersichtlich werden die, wie nicht anders möglich, einen hohen Grad an Subjektivität aufweisen.
    Nur so viel vorab: Dass es sich – für mich - bei Günther Groissböck um einen großartigen Lied-Interpreten handelt, habe ich bei seiner Interpretation der „Vier ernsten Gesänge“ von Johannes Brahms erlebt. Ich war tief beeindruckt, meinte, diese „Gesänge“ noch nie treffender, ihren spezifischen kompositorischen Geist und ihren, durch die Gewichtigkeit der deklamatorischen Schritte geprägten klanglichen Charakter besser erfassender gesanglicher Interpretation gehört zu haben.
    Aber diese Lieder sind von Brahms für Bass-Stimme komponiert!

    Zu seiner Interpretation dieses Liedes:

    Die beeindruckend volle, klanglich substanzreiche und kernige Stimme wird in der Wiedergabe der melodischen Linie artikulatorisch und deklamatorisch makellos geführt. Aber sie mutet – und das ist mein subjektiver Eindruck – zu schwer und zu mächtig an, um der von Wagner der Melodik implementierten Zartheit ihrer Entfaltung gerecht werden zu können. Goissbröck ist um einen möglichst melodisch gebundenen und im Piano verbleibenden Vortrag bemüht, aber da setzen ihm die naturgegebenen Eigenarten seiner Stimme, die ihn zum Beispiel zu einem großartigen Interpreten der Melodik von Brahmssens „Vier ernsten Gesängen werden lassen, hier, bei der spezifischen Eigenart der Melodik dieses Wagner-Liedes immer wieder deutlich vernehmbare Grenzen.

    Es kommt noch ein weiterer, kritisch anzumerkender Aspekt hinzu: Er neigt dazu, der Aussage des lyrischen Textes in der Melodik ein, wie ich finde, unangemessen starkes deklamatorischen Gewicht zu verleihen, was ihr die von Wagner gewollte Leichtigkeit der schwebenden Entfaltung nimmt. Um dies erst einmal zu konkretisieren, bevor auf markante Beispiele für die Grenzen in der Flexibilität der Stimme und ihre zu große Gewichtigkeit eingegangen wird:
    Auf das Wort „dass“ legt er am Anfang der Melodik des ersten Verses der zweiten Strophe ein starkes Gewicht und steigert diesen deklamatorischen Gestus noch bei dem Wort „schmachtet“. Die lyrische Aussage „Ja, es stieg auch mir“ erhält einen deutlichen Akzent, und das ist auch bei den Worten „jedem Schmerz“ der Fall. Man kann die Melodik dieses Liedes selbstverständlich in dieser wortbetont-interpretatorischen Weise vortragen. Aus meiner Sicht ist das aber deshalb unangebracht, weil sie angesichts der von Wagner sehr wohl berücksichtigten Introvertiertheit der Aussagen des lyrischen Ichs einen zu hohen Grad an Introvertiertheit aufweist.

    Und nun zu jenen Beispielen, an denen die stimmenbedingten Defizite der Interpretation manifest werden. Sie erscheinen mir gravierender als die vorangehend aufgeführten des deklamatorischen Umgangs mit dem sprachlichen Gehalt der melodischen Linie. Sie werden vor allem dort vernehmlich, wo sie in die für sie typischen weit gespannten Dehnungen in hoher Lage übergeht und sich in kleinen Sekundschritten in die Innerlichkeit zurücknimmt. Diese Fälle meine ich:
    Die lange Dehnung in oberer Mittellage auf „oft von Engeln sagen“ hat für mich zu viel klangliches Gewicht, schwebt nicht genug;
    --- das Wort „tauschen“ („mit der Erdenssonne“) wird zu markant von dem gedehnten Sekundfall auf „Wonne“ abgesetzt;
    --- die Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „einzig“ („um Erlösung fleht“) weist (für mich) zu viel klangliche Mächtigkeit auf;
    --- der extrem lang gedehnte Quartsprung mit nachfolgendem Sextfall auf „da der Engel niederschwebt“ gelingt Goissbröck bemerkenswert gut, - Zeichen dafür, wie tief er bei allen stimmbedingten Defiziten seiner Interpretation den Geist dieser Liedmusik erfasst hat;
    --- aber bei dem von Wagner mit der Anweisung „zart, sehr ruhig“ versehenen und in eine lange Dehnung in hoher Lage mündenden Sekundanstieg der melodischen Linie auf den Worten „sanft gen Himmel hebt“ müsste er die Stimme verschweben lassen, weil ja eine Pause nachfolgt, in der das Klavier vom vorangehenden G-Dur harmonisch weitab liegende Fis-Dur Akkorde erklingen lässt. Das aber will – kann ihm stimmbedingt – nicht gelingen;
    --- und schließlich: Bei der der weit gespannt bogenförmigen und in eine lange Dehnung mit nachfolgend vermindertem Sekundfall übergehenden melodischen Linie auf den Worten „Ja, es stieg auch mir ein Engel nieder“ wird er für mich entschieden zu laut und zu expressiv.

  • Die von Fiesco hier eingebrachte Interpretation von "Der Engel" habe ich mir natürlich angehört. Aber es hat sich bestätigt, was ich oben schon einmal anmerkte. Man kann die Orchesterfassungen mit dem Klavier-Original nicht gut vergleichen, was die sängerische Leistung anbelangt.

    Man kann zwar alles Mögliche vergleichen, aber es macht in der Tat wenig Sinn, die Klavierlieder mit der Orchesterfassung zu vergleichen, aber dass man beides gewinnbringend hören kann ist keine Frage - wer wollte schon auf den Engel von Dagmar Pecková verzichten?


    Kann eine Bassstimme die Anforderungen, die eine in dieser spezifischen Weise strukturierte Melodik an die adäquate gesangliche Realisierung stellt, wirklich bewältigen?

    Nein, das kann sie nicht! Eine solche prächtige Bassstimme finde ich bei den Kompositionen des Tenors Carl Loewe weit besser aufgehoben, was wären da für prächtige Schätze zu heben ...


    Ein ähnliches Experiment hat schon vor vielen Jahren der englische Bariton Konrad Jarnot gemacht, als er »Vier letzte Lieder« von Strauss aufnahm, was die Fachwelt damals auch überraschte, aber ein Bariton hat eben in aller Regel auch mehr Farben auf der Palette.

  • Zit. hart: „Nein, das kann sie nicht! Eine solche prächtige Bassstimme finde ich bei den Kompositionen des Tenors Carl Loewe weit besser aufgehoben…“

    Diese Deine Stellungnahme hat große Bedeutung für mich, lieber hart. Ich war mir nämlich höchst unsicher, was die Beurteilung dieser Aufnahme mit Günther Groissböck anbelangt. Operus hatte ihn mir ja an´s Herz gelegt und sich in Beitrag 34 sehr positiv über ihn geäußert, dies verbunden mit der Frage „Sollte sich da vielleicht nach den immer mehr "vergeistigten" textzelebrierenden Aufnahmen à la Fischer Dieskau und Nachfolger wieder eine stärkere Hervorhebung der Musik ankündigen?“ Das ist ja immerhin eine Frage, die an grundsätzliche Aspekte der gesanglichen Liedinterpretation rührt.

    Ich habe mir aus diesem Grund alle Mühe gegeben, sehr genau hinzuhören, um ein Urteil abgeben zu können, das hinreichend begründet ist, die Wesensmerkmale der gesanglichen Interpretation erfasst und der Leistung des Sängers gerecht wird. Aber bei allem gutem Willen, gewichtige positive Aspekte hervorheben zu können: Es war mir nicht möglich, ich hätte lügen müssen. Für mich ist das eindeutig ein Fehlgriff, der Groissböck da unterlaufen ist. Er hätte die „Wesendonck-Lieder“ nicht in sein thematisches Programm mit dem Titel „Herz-Tod“ einbeziehen sollen. Seine Bass-Stimme kann die für eine Frauen-Sopranstimme geschaffene Melodik schlicht nicht bewältigen und erfasst damit geradezu zwangsläufig ihre musikalische Aussage nicht.

    Mein Problem ist nun: Das, was ich kritisch zur Interpretation des Liedes „Der Engel“ anzumerken hatte, würde sich bei den folgenden Liedern fortsetzen, - wenn ich denn bei meinem Vorhaben bliebe, an jede Liedbesprechung einen Vergleich zwischen Lemieux und Groissböck anfügen. Davon aber werde ich ablassen. Beim nächsten Lied („Stehe still“) habe ich es noch einmal versucht, weil Groissböck im Booklet-Interview bei ihm ja eine Art Begründung dafür gegeben hat, warum eine gesangliche Interpretation durch ihn sinnvoll ist. Aber ich kam zum gleichen Ergebnis und beschloss, dieses Vorhaben abzubrechen.

  • „Stehe still“

    Sausendes, brausendes Rad der Zeit,
    Messer du der Ewigkeit;
    Leuchtende Sphären im weiten All,
    Die ihr umringt den Weltenball;
    Urewige Schöpfung, halte doch ein,
    Genug des Werdens, laß mich sein!

    Halte an dich, zeugende Kraft,
    Urgedanke, der ewig schafft!
    Hemmet den Atem, stillet den Drang,
    Schweiget nur eine Sekunde lang!
    Schwellende Pulse, fesselt den Schlag;
    Ende, des Wollens ew'ger Tag!

    Daß in selig süßem Vergessen
    Ich mög alle Wonnen ermessen!
    Wenn Aug' in Auge wonnig trinken,
    Seele ganz in Seele versinken;
    Wesen in Wesen sich wiederfindet,
    Und alles Hoffens Ende sich kündet,
    Die Lippe verstummt in staunendem Schweigen,
    Keinen Wunsch mehr will das Innre zeugen:
    Erkennt der Mensch des Ew'gen Spur,
    Und löst dein Rätsel, heil'ge Natur!

    Das ist eine von gewaltiger Sprachlichkeit geradezu strotzende und in affektiv hochgradig aufgeladener Metaphorik kontrastiv sich entfaltende Lyrik, bei der man – wie das auch in den folgenden Texten der Fall ist – den Verdacht hegt, dass die Autorin von ihrem Richard Wagner sich hat inspirieren lassen. Hinzu kommt, dass hier wohl auch Schopenhauer gedanklich Pate gestanden hat, - in lyrische Sprache umgesetzte Philosophie also vorliegt. Daher der im Grunde ganz und gar unlyrische Charakter dieser Verse. Wüsste man es nicht, man würde vermuten, dass nur ein so denkender und fühlender Richard Wagner in der Lage hätte sein können, derlei in sprachlicher Schwülstigkeit kognitiv und emotional überladene Lyrik in Liedmusik hätte setzen können. Und siehe: Es ist ihm auf wahrlich überzeugende und hoch beeindruckende Weise gelungen.

    Die lyrische Grundaussage konstituiert sich aus dem Gegensatz zwischen dem permanenten Wandel in Welt und Leben, der vom lyrischen Ich als Dynamik der „urewigen Schöpfung“ erfahren wird, und seinem sehnlichen Begehren nach existenziellem Ruhen in sich selbst. Diese kontrastive Binnenspannung zwischen ontischem Werden und Sein, das sich im lyrischen Ich als es bedrängender Dualismus zwischen Begehren und wunschloser Glückseligkeit darstellt, findet in der Abfolge der Verse ihren Ausdruck und mündet in die Imagination einer allumfassenden inneren Ruhe, in der sich die Erfahrung von Ewigkeit einstellt und damit das Rätsel der „heiligen Natur“ offenbart. Wagners Liedmusik bringt diese Binnenspannung auf eine Weise zum Ausdruck, die dem ins Gewaltige und metaphorisch Große ausbrechenden Gestus der lyrischen Sprache voll und ganz gerecht wird, ohne dabei allerdings auf die Ebene des Peinlichen abzugleiten, wie das im lyrischen Text Mathilde Wesendoncks mehrfach geschieht.

    Sein hauptsächlich dabei in Anschlag gebrachtes kompositorisches Mittel ist – neben der Struktur der melodischen Linie – die Harmonik. Sie durchläuft lange Zeit geradezu aberwitzige Modulationen und Rückungen in den Tonarten und im Tongeschlecht, ohne dabei auch nur einen Augenblick Ruhe zu finden, und reflektiert darin eben dieses Motto, mit dem der lyrische Text einsetzt: „Sausendes, brausendes Rad der Zeit“. Erst bei den letzten beiden Versen ereignet sich tatsächlich liedmusikalische Ruhe: In der Bewegung der melodischen Linie, in der Harmonik und im Klaviersatz, - Zeugnis davon ablegend, wie ernsthaft und intensiv sich der Komponist auf dieses durchaus fragwürdige poetisch-lyrische Produkt eingelassen hat.

    Es dürfte wenig sinnvoll sein, die Struktur von Melodik, Klaviersatz und der hochkomplexen, in ihren Modulationen und Rückungen überaus vielgestaltigen Harmonik in detaillierter Weise wiederzugeben. Eine Beschränkung auf das die Liedmusik in ihrer spezifischen textbezogenen Klanglichkeit charakterisierende Detail ist angezeigt. Rein formal betrachtet liegt ihr ein Sechsachteltakt zugrunde, und sie soll „bewegt“ vorgetragen werden. Von einer „Grundtonart“ zu reden, wie es die drei „Bs“ (also c-Moll) suggerieren, ist sinnlos. Es konstituiert sich keine, und darin erweist sie sich als typisches Wagner-Geschöpf. Aber, um bei diesem Aspekt zu bleiben: Während die Liedmusik der ersten Wesendonck-Komposition den Lohengrin-Geist aufklingen lässt, ist der rastlos-dämonisch vorwärts drängende Gestus wohl dem „Fliegenden Holländer“ entlehnt, und den melodischen Grundfiguren in ihrer spezifischen Harmonisierung begegnet man im „Ring des Nibelungen“ immer wieder. Man fühlt sich als Hörer unwiderstehlich dorthin versetzt, und mir drängt sich, wenn ich mir diese persönliche Anmerkung erlauben darf, selbst bei diesem seinem ja doch so kleinen Werkchen Adornos Bemerkung über Wagner auf: „Seine Musik gebärdet sich, als ob ihr keine Stunde schlüge“.

    Ein Gestus des geradezu stürmischen Vorandrängens wohnt der melodischen Linie inne. Er deutet sich schon im zweitaktigen Vorspiel an, in dem vier Gruppen von Sechzehnteln in Sekundschritten nach oben eilen, wobei die Harmonik jeweils von c-Moll nach as-Moll rückt. Und ein anderes Merkmal der Melodik wird hier gleichsam programmatisch vorgegeben: Die Wiederholung von Bewegungs-Figuren zum Zwecke der Steigerung der Expressivität. Man kann es gleich auf den ersten vier Versen der ersten Strophe erfahren. Die Bewegung, die die melodische Linie auf den ersten beiden Versen beschreibt, wiederholt sich in ihrer Grundstruktur auf den beiden nachfolgenden, dies allerdings in Gestalt einer wesentlichen Variation, - wesentlich deshalb, weil sie zum Zwecke eine Steigerung der musikalischen Aussage zum Einsatz kommen.

    Das ist ein Grundprinzip Wagners in der Anlage seiner Opern-Melodik, das er auch hier einsetzt. Auf „sausendes“ und „brausendes“ die gleiche melodische Fallbewegung, nur beim zweiten Mal um eine Sekunde in der tonalen angehoben und mit einer Rückung von c-Moll nach as-Moll verbunden. Auf „Rad der Zeit“ dann eine Kombination aus Terzfall und Quartsprung, der die melodische Linie in höhere Lage führt, auf dass sie dann bei den Worten „Messer du der Ewigkeit“ in einen Fall übergehen kann, der aber nur dazu dient, am Ende in eine Art explosive Expression zu münden: Einem Oktavsprung zu dem Wort „Ewigkeit“ hin, der diesem einen starken Akzent verleiht, zumal auf ihm ein doppelter und im zweiten Fall verminderter Terzfall liegt, wobei die Harmonik die ausdruckstarke Rückung von d-Moll nach B-Dur beschreibt.

    Und auch das Klavier liefert seinen Beitrag zu diesem Steigerungseffekt: Es lässt seine Fünfer-Sechzehntelketten-Figuren aus dem Vorspiel vom Einsatz der melodischen Linie an in immer größere Höhe ansteigen, um sie dann bei dem Wort „Ewigkeit“ eine pyramidenartige, in hohe Lage ausgreifende Anstiegs- und Fallbewegung beschreiben zu lassen. Die Wiederholung all dieser Bewegungen in Melodik und Klaviersatz auf den Versen drei und vier ereignet sich dann auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene, und die Harmonik vollzieht nun Rückungen von es-Moll über as-Moll und B-Dur zurück nach es-Moll. Bei den Worten „Die ihr umringt den Weltenball“ erfolgt zunächst wieder der melodische Fall wie auf „Messer du der“, nur dass er sich dieses Mal ausschließlich in Sekundschritten vollzieht. Das aber hat zur Folge, dass der nachfolgende Oktavsprung, der dieses Mal einer ist, der auf einem „G“ ansetzt und die melodische Linie in noch größere Höhe führt, umso größere Ausdruckskraft entfaltet, zumal er, wiederum begleitetet mit der Pyramiden-Sechzehntel-Figur, nun mit einer geradezu kühnen harmonischen Rückung von As-Dur nach C-Dur kombiniert ist.

    Man erlebt schon bei diesen ersten vier Versen hochgradig dynamisch und kühn harmonisch sich entfaltende Wagner-Melodik, und das setzt sich bei den nachfolgenden in ähnlicher Weise und immer neuen, die lyrische Komponente „Werden und Bewegung“ reflektierenden und darin sich permanent steigernden Varianten fort. Ihre Größe findet die Liedmusik aber dann in der Art und Weise, wie die lyrische Komponente „Ruhe“ und „Ende des Wollens“ davon abgesetzt wird und in eine kontrastive Spannung dazu tritt. Bei den Worten „laß mich sein“ geht die in der üblichen Unruhe fallende melodische Linie auf den Worten „genug des Werdens“ mit einem Mal in einen in gewichtig gedehnten Schritten (punktierten Vierteln) erfolgenden Quintfall über, dem ein in eine Dehnung in hoher Lage mündender Sextsprung nachfolgt, wobei die Harmonik eine ausdrucksstarke Rückung vom vorangehenden es-Moll nach G-Dur und C-Dur am Ende vollzieht. Danach geht die melodische Linie wieder in ihren Gestus des stürmischen Vorwärtsdrängens mit permanentem deklamatorischem Schwerpunkt auf den ersten Taktschlag über, und das setzt sich bis zum Ende der zweiten Strophe so fort. Dort allerdings erfahren die Schlussworte „ew´ger Tag“ eine Hervorhebung durch eine lange, in einen Sekundfall mit nachfolgendem Terzsprung übergehende Dehnung auf der Silbe „ew-´“.

    Mit den die dritte Strophe einleitenden Worten „Daß in selig süßem Vergessen / Ich mög alle Wonnen ermessen“ tritt Ruhe in die Entfaltung der melodischen Linie. „Allmählich immer etwas zurückhaltend“ lautet hier die Vortragsanweisung. Und auch das Klavier geht zu einem neuen Gestus der Begleitung über. Sie erfolgt nun in Gestalt von Achtel-Akkordrepetitionen in Bass und Diskant, und das wird beibehalten bis zu dem Vers „Seele ganz in Seele versinken“, wobei allerdings schon vom dritten Vers an die Akkordrepetitionen im Bass abgelöst werden durch Einzelakkorde in Kombination mit aufsteigend angelegten Achtelfiguren. Lange Dehnungen prägen die Melodik. Die Worte „ermessen“, „Aug´“, „Seele“, „ganz“ und „versinken“ werden auf diese Weise mit einem starken Akzent versehen. Und in der Harmonik dominiert das Tongeschlecht Dur, dies allerdings in wiederum kühnen, der lyrischen Aussage starken Nachdruck verleihenden Rückungen. Sie erstrecken sich von G-Dur über As-Dur, Des-Dur, Es-Dur, Ges-Dur und Ces-Dur, um dann am Ende allerdings bei dem lang gedehnten verminderten Sekundfall auf dem Wort „versinken“ über ein vorgelagertes B-Dur nach es-Moll zurückzukehren.

    „Sehr ruhig und mäßig“ lautet die Anweisung für den Vortrag der mit den Worten „Wesen in Wesen sich wiederfindet“ eingeleiteten Schlusspassage des Liedes, in der sich die lyrische Imagination der allumfassenden kosmischen, die individuelle Existenz in sich einbeziehenden Ruhe ereignet, die das lyrische Ich in sich einbezieht und von allem Qual und Leid mit sich bringenden Hoffen und Begehren erlöst. In ruhigen und deklamatorisch gebundenen Schritten beschreibt die melodische Linie auf diesem Vers und dem nachfolgenden („Und alles Hoffens Ende sich kündet“) die strukturell gleiche bogenförmige Anstiegs- und Fallbewegung mit gedehntem Fall auf den Worten „wieder“ und „Ende“ in der Mitte. Aber Wagner wendet auch hier wieder das kompositorische Mittel der Variation der tonalen Ebene mitsamt der Harmonik an, so dass sich die melodische Bewegung, zunächst auf einem „Ges“ einsetzend, in Ces-Dur Harmonik mit Rückung nach Fes-Dur entfaltet, die zweite aber, nun auf einer um eine kleine Sekunde in der tonalen Ebene abgesenkt einsetzend, in Des-Dur mit ausdrucksstarker Rückung nach D-Dur harmonisiert ist.

    Bei den Worten „Die Lippe verstummt in staunendem Schweigen“ geht die melodische Linie auf höchst expressive Weise zur Entfaltung in kleinen, das „Verstummen“ gleichsam verkörpernden, durch Pausen voneinander abgesetzten und in c-Moll mit Rückung nach Es-Dur Zeilen über und mündet dabei schließlich in einen ausdrucksstarken, weil in verminderte Des-Harmonik gebetteten und sie in tiefe Lage führenden verminderten Septfall auf dem Wort „Schweigen“. Und die so sehr herbeigesehnte Vision „Keinen Wunsch mehr will das Innre zeugen“ wird musikalisch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die melodische Linie „wie gänzlich sich verlierend“ (Anweisung) in überaus ruhigen deklamatorischen Schritten aus mittlerer in tiefe tonale Lage absinkt, wobei sie das Klavier, nach dem es auf den Worten „Wunsch mehr will“ noch einen lang gehaltenen sechsstimmigen A-Dur-Akkord erklingen ließ, sie dabei nun völlig allein lässt. Es schweigt zweieinhalb Takte lang.

    Erst bevor die melodische Linie mit den Worten „Erkennt der Mensch des Ew'gen Spur“ einsetzt, lässt es vorab pianissimo wieder einen A-Dur-Akkord erklingen, der aber alsbald über einen als Dominante fungierenden lang gehaltenen D-Dur-Akkord von einem ebenso langen G-Dur-Akkord gefolgt wird. Die Liedmusik hat, darin das vom lyrischen Ich ersehnte und hier angesprochene Ideal der Einheit mit der ewigen Ruhe göttlichen Seins reflektierend, ihren Höhepunkt erreicht, und Wagner gibt dementsprechend für den Vortrag des sich ganz und gar in lang gehaltenen fünf-bis sechsstimmigen Akkorden entfaltenden Klaviersatzes die Anweisung „Mit allmählicher Steigerung der Stärke“ und für den der melodischen Linie „Langsam (mit gesteigertem Vortrag)“. Diese setzt auf den Worten „erkennt der Mensch des Ew´gen“ mit gedehnten, mit einem Quartsprung in der tonalen Ebene sich anhebenden Tonrepetitionen ein, die am Ende wieder auf die Ausgangsebene eines „A“ in mittlerer Lage zurückfallen. Zu dem Wort „Spur“ hin geht sie in einen doppelten Sekundsprung über, wobei die Harmonik zur Dominantseptversion der Tonart „C“ rückt.

    Und nun, bei den Schlussworten „Und löst dein Rätsel, heil'ge Natur!“ geht sie in eine weit gespannte, überwiegend in Tonrepetitionen sich entfaltende und bei „Rätsel“ auf einem hohen gedehnten E“ aufgipfelnde und in F-Dur harmonisierte Bogenbewegung über, die auf „heil´ge“ noch einmal eine Dehnung in Gestalt eines Sekundfalls beschreibt, um dann bei „Natur“ mit einem Sekundsprung in eine lange Schlussdehnung auf einem „C“ in oberer Mittellage münden, das sich als Grundton erweist, denn es wird vom Klavier nach einem vorangehenden G-Dur-Dominantakkord forte mit einem lang gehaltenen sechsstimmigen C-Dur-Akkord begleitet. Er ist taktübergreifend angelegt, damit im Bass eine Achtelkette aufsteigen kann, die sich im Diskant dann weiter fortsetzt.

    Das Nachspiel ist erreicht. Über weiterhin lang gehaltenen Akkorden erklingt im Diskantbereich noch einmal, vom Forte diminuendo ins Piano übergehend, die bogenförmige melodische Schlussfigur, bevor das Lied in einem siebenstimmigen, zwei Takte einnehmenden C-Dur-Akkord pianissimo ausklingt.

  • Zu den biographischen Hintergründen von „Stehe still!“


    Diese Lieder sind, worauf in der Einführung ja schon hingewiesen wurde, nicht in der Reihenfolge entstanden, die Wagner ihnen in der späteren Publikation zugewiesen hat. Und wie sehr ihre Entstehung in das damalige Geschehen im Hause Wesendonck eingebunden, ja regelrecht dadurch bedingt ist, das wird an diesem Lied in besonderer Weise augenfällig. Aber es gilt für alle Lieder dieser Gruppe, und weil es dabei nicht nur um den äußeren Anlass der Komposition geht, sondern die zwischenmenschlichen Beziehungen in ihren hochkomplexen seelischen Dimensionen auch tatsächlich Auswirkungen auf den musikalischen Gehalt der Lieder haben, erscheint es sinnvoll, ihre jeweilige liedanalytische Betrachtung durch einen Blick auf die biographischen Hintergründe zu ergänzen. So manches, was diese Lieder zu sagen haben, dürfte dadurch ein wenig verständlicher werden.
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    Zur Komposition dieses Liedes kam es durch den Auftritt einer neuen männlichen Figur im Hause Wesendonck. Sie trug den klangvollen Namen Francesco de Sanctis, und dieser Herr war von Mathilde dazu engagiert worden, ihr Italienisch-Unterricht zu erteilen. Wagner war aus Anlass der Vorwürfe, die ihm von Otto Wesendonck gemacht worden waren, am 14. Januar 1858 nach Paris geflüchtet. Am 4. Februar kehrte er wieder nach Zürich zurück, um sich der Fortsetzung seiner Arbeit an „Tristan und Isolde“ zu widmen. Zehn Tage später erhielt er von Mathilde eine Einladung zu einem Diner, und dort war auch eben jener Francesco de Sanctis zugegen. Mathilde widmete sich ihm im Gespräch derart intensiv, dass Wagner eifersüchtig wurde. Schließlich war dieser Mann vier Jahre jünger, wohlaussehend, hoch gebildet und mit einer bemerkenswerten Biographie versehen, einschließlich eines Gefängnisaufenthalts wegen Teilnahme an einem Aufstand gegen die Bourbonenherrschaft. Von Wagner hielt er nichts, er war für ihn ein „corrutore della musica“ und ein Scharlatan. Die Abneigung zwischen beiden war wechselseitig, Wagner nannte De Sanctis Mathilde gegenüber den „Herrn von Heiligen“. Und es kam zur Verstimmung zwischen ihm und ihr, dieses Herrn wegen.
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    Um ihre Gunst wieder zu gewinnen, machte er sich an die Vertonung ihres Gedichts „Stehe still!“ und übergab ihr das Manuskript acht Tage nach jenem ominösen, ihre Beziehung so arg verstörenden Diner mit Francesco de Sanctis. Dass er in dieser Situation zu diesen Versen gegriffen hat, dürfte seine Ursache in dem für ihn damit einhergehenden seelischen Schmerz gehabt haben. Die Worte „Daß in selig süßem Vergessen I Ich mög´ alle Wonnen ermessen“ können als Beschwörung ihrer Liebe gelesen werden, - und das im Geist jener zwischen Tristan und Isolde.

  • „Stehe still!“ in der gesanglichen Interpretation durch Marie-Nicole Lemieux, begleitet von Daniel Blumenthal




    Das wogende, in immer wieder neuem Crescendo erfolgende nach oben Drängen der melodischen Linie bringt Lemieux auf eindrückliche Weise zum Ausdruck, wobei sie aber allzu starke Expressivität vermeidet. Das ist besonders bei den Worten bemerkenswert, auf die die Liedmusik der ersten Strophe gleichsam zuläuft: Das „laß mich sein!“ am Strophenende. Die Melodik auf diesen Worten, der aus einer langen Dehnung in hoher Lage hervorgehende und in einen Sextsprung mit Dehnung übergehende Quintfall verführt regelrecht dazu, beim Vortrag in eine Art fanfarenhaften Gestus zu verfallen. Das wäre aber ganz unangebracht. Wagner hat, wissend darum, dass sich hier ein lyrisches Ich äußert, das schon im nächsten Vers fordert: „Halte an dich, zeugende Kraft“, um dann von „selig süßem Vergessen“ zu schwärmen, hier ganz bewusst nur ein Forte, kein Fortissimo vorgeschrieben. Dazu geht erst das Klavier mit der in der Pause nach oben schießenden Sechzehntelfigur über. Und Lemieux realisiert diese melodische Sprungbewegung im Wissen um die Hintergründe dieser dynamischen Anordnung auf gesanglich ganz und gar angemessene Art und Weise.

    Wie tief sie den von drängender innerer Unruhe geprägten Geist der Melodik dieses Liedes erfasst hat, lässt sich permanent auf beeindruckende Weise vernehmen. Dann etwa, wenn sie bei dem unruhigen Auf und Ab der melodischen Linie bei den Worten „Schwellende Pulse, fesselt den Schlag“ ein unruhiges Zittern in ihre Stimme treten lässt, sie danach aber bei den Worten „Daß in selig süßem Vergessen“ aus dem stark deklamatorischen Gestus wieder in melodisch gebundene Entfaltung zurücknimmt. Geradezu großartig gelingt ihr die Wiedergabe der klanglichen Süße, die Wagner in die Melodik auf den Worten „Wenn Aug' in Auge wonnig trinken, / Seele ganz in Seele versinken“ gelegt hat. Hier zeigt sich der hohe Grad an Binnendifferenzierung, der ihren Vortrag der Melodik dieses Liedes auszeichnet.

    Das aus dunkler Ces- und Fes-Dur Harmonik sich ereignende Aufblühen der Melodik bei den Worten „Wesen in Wesen sich wiederfindet, / Und alles Hoffens Ende sich kündet“ realisiert sie stimmlich auf eindringliche Weise. Und noch mehr gilt das für die Wiedergabe des Sich-Verlierens der melodischen Linie, wie Wagner das bei den Worten „Die Lippe verstummt in staunendem Schweigen, / Keinen Wunsch mehr will das Innre zeugen“ auf geradezu staunenswerte Weise in Liedmusik gesetzt hat. Der in verminderte Des-Harmonik gebettete Septfall auf „Schweigen“ wird zum Erlebnis, und ebenso das in der Stille des schweigenden Klaviers sich ereignende Versinken der melodischen Linie im Raum eines tiefen „Cis“, aus dem sie der Quartsprung mit Sekundfall am Ende nicht wirklich zu erlösen vermag. Es ist eine Art hoffnungsloses Sich-Aufbäumen der Melodik, was sich da auf dem Wort „zeugen“ ereignet.
    Und Marie-Nicole Lemieux vermag das in ihrem Vortrag auf überzeugende Weise zum Ausdruck zu bringen.

  • „Stehe still!“ in der gesanglichen Interpretation durch Günther Groissböck, begleitet von Gerold Huber




    Zu diesem Lied (wie auch zu „Schmerzen“) passe, so meint Günther Groissböck, „etwas draufgängerisches Testosteron sehr gut“. Nun höre ich, wie er die Melodik gesanglich realisiert, und frage mich, ob er ihr klangliches Wesen und die dahinterstehende kompositorische Intention Wagners wirklich erfasst hat. „Draufgängerisches Testosteron“ „passt“ nicht nur nicht, es richtet sogar Schaden an.

    Er wählt ein zwar nur leicht höheres Tempo als Lemieux (Aufnahmedauer 3.31 gegenüber 3.35), aber sein Vortrag der melodischen Linie wirkt ungleich stürmischer und auf höhere Dynamik ausgerichtet. Das liegt daran, dass er, wie gleich die Wiedergabe der melodischen Linie auf den ersten beiden Versen vernehmen lässt, den drängenden Gestus, den Wagner in sie gelegt hat, unter Einsatz seiner mächtigen Stimme auf expressive Weise realisiert. Für mich ist das zu viel des Guten. Es wird dem Wesen dieser Melodik nicht gerecht, die zwar „bewegt“ vorzutragen ist, aber nicht in dieser Weise stürmisch. Denn Wagners Vortragsanweisung meint, so wie er Mathildes Verse verstanden hat, innere Bewegtheit, wie sie aus einer von vielerlei Gedanken und Gefühlen bewegten Seele monologisch-introvertierten Ausdruck sucht. Wie man als Sänger „draufgängerisch“ an eine solche Melodik herangehen kann, ist mir nicht recht begreiflich.

    Mich verstört ein solcher Vortrag dieses Liedes, und mehr noch als beim vorangehenden Lied „Der Engel“ meine ich in diesem Fall viele Belege für meine Auffassung zu finden, dass diese für eine Frauenstimme komponierten Lieder durch eine Bassstimme nicht in einer der spezifischen Struktur ihrer Melodik voll gerecht werdenden Weise gesanglich zu realisieren sind. An diesen Stellen wird das für mich vernehmlich:

    Die Worte „Ewigkeit“ und „Weltenball“ kommen deklamatorisch zu mächtig. Immerhin liegt doch in beiden Fällen eine melodische Fallbewegung auf ihnen. Die Worte „laß mich sein“ klingen bei Groissböck so, als kämen sie gesanglich von einer männlichen Heldenfigur aus Wagners „Ring“, nicht aber von einem weiblichen lyrischen Ich, das sich nach innerer Ruhe im Eigensein sehnt. Denn darum geht es ja hier, und so hat Wagner die mit einer ausdrucksstarken Rückung vom vorangehenden es-Moll nach klanglich mildem G-Dur einhergehende melodische Kombination aus gedehntem Quintfall und Sextsprung doch wohl gemeint. Erst dem Klavier hat er mit einer in hohe Lage aufschießenden und in C-Dur harmonisierten Sechzehntelfigur die Aufgabe des nachträglich expressiven Fortissimo-Kommentars dazu übertragen. Dem Septfall mit nachfolgender Tonrepetition auf „Sekunde lang“ verleiht er eine unangemessen hohe Expressivität, und die lange Dehnung mit Sekundfall und Terzsprung auf „ew´ger Tag“ gewinnt in ihrer – typisch wagnerischen - harmonischen Rückung von As-Dur nach G-Dur eine zu starke klangliche Mächtigkeit.

    Dass Groissböck sich sehr wohl um eine adäquate Wiedergabe der melodischen Linie bemüht, ihm dabei aber durch den Charakter seiner Stimme Grenzen gesetzt sind, kann man auf besonders deutliche Weise bei der Melodik auf den Worten „Daß in selig süßem Vergessen / Ich mög alle Wonnen ermessen“ vernehmen. Ihr hat Wagner, die um die Worte „selig“, „süß“ und „Wonne“ kreisende lyrische Aussage reflektierend, einen gewissen klanglichen Schmelz verliehen. Groissböck versucht ihn zum Ausdruck zu bringen und nimmt deshalb seine Stimme hier stark zurück. Und doch bleibt sie – für mich – immer noch zu schwer, zu mächtig, als dass man in ihr die zarte Süße in der Weise vernehmen könnte, wie das zum Beispiel bei Marie-Nicole Lemieux der Fall ist.

    Noch einmal erlebt man das stimmbedingte Nicht-Bewältigen der Anforderungen, wie sie sich aus der spezifischen Gestalt der Melodik ergeben, bei den Worten „Die Lippe verstummt in staunendem Schweigen, / Keinen Wunsch mehr will das Innre zeugen“. Groissböck gibt sich alle Mühe, das von Wagner auf kompositorisch beeindruckende Weise gestaltete Ersterben der melodischen Linie (Anweisung:„wie gänzlich sich verlierend“) gesanglich zu gestalten. Aber wenn man gehört hat, wie das einer weiblichen Stimme gelingt und dabei im Hinterkopf hat, dass sich hier ja auch ein weibliches lyrisches Ich äußert, kann man, so geht´s mir jedenfalls, mit dieser gesanglichen Wiedergabe nicht recht zufrieden sein.

    Apropos „weiblich“: Ich meine, dass Groissböck es sich mit diesem in dem Interview so locker hingesetzten Begriff „gender-neutral“ bei den Wesendonck-Liedern etwas zu leicht gemacht hat. Für den diesem Lied zugrunde liegenden lyrischen Text mag das infolge seiner philosophisch -weltanschaulichen Ausrichtung zutreffen, bei den vier anderen aber ist das so eindeutig nicht.

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