Was ist eine "werkgerechte" Interpretation?

  • Ich habe mir Järvis Gesamtaufnahme inzwischen einmal angehört, einmal reicht aus, um die ersten Eindrücke wiederzugeben, aber noch nicht für detaillierte Beschreibungen.


    Ich stimme Wolfgang zu bei der Beurteilung der Sinfonien 1, 3 und 6. Das sind sehr gelungene, schwungvolle und "werkgerechte" Interpretationen. Wie andernorts schon einmal geschrieben, habe ich erst einen sehr späten Zugang zur 6. Sinfonie gefunden. Järvi lädt ein, mich auch mit dieser für problematischen Sinfonie öfter zu beschäftigen.


    Bei der 4. ist ihm auch das nicht gelungen, weil dieser berühmte "Zugang" mir hier nicht gelingen will, in keiner meiner zahlreichen Aufnahmen. Das ist halt so und geht mir z.B. bei Mahlers 8. Sinfonie auch nicht anders und das, obwohl ich alle anderen Mahler Sinfonien heiß und innig liebe.


    Bei der 7. empfinde ich keinen "zu kontrollierten" Zugang, aber da werde ich einen Hörvergleich zu Ormandy, Bernstein oder Barbirolli durchführen, um mir vorstellen zu können, was Wolfgang (teleton) meint.


    Bei der 2. und 5. Sinfonie hatte ich leichte Schwierigkeiten mit der Tempogestaltung. Bei der 2. empfand ich es stellenweise wie Wolfgang:

    Zitat

    Paavo gestaltet einige Spannungsbögen zu separat, manchmal zu abgehackt ohne richtigen Zusammenhang; er lässt die Musik nicht fliessen.


    Aber all das werde ich mir demnächst noch einmal genauer zu Gemüte führen und hier berichten. Unterm Strich ist das auch für mich eine sehr erfreuliche Neuaufnahme.


    Zum gleichen Fazit komme ich bei der 1. Sinfonie und Santtu-Matias Rouvali.


    Würde man einen Hörvergleich der Aufnahmen mit Järvi und Rouvali machen, ohne zu wissen, wer welche Aufnahme dirigiert hat und nur mit den Informationen, dass einer der Dirigenten 33 Jahre alt ist und der andere knappe 50 (zum Zeitpunkt der Aufnahme), dann würde man womöglich die Sinfonien falsch zuordnen.


    Im ersten, indirekten, Vergleich beider Aufnahmen empfand ich Järvi als "gradliniger", "vorwärtsstürmender" und das, obwohl die Zeitmaße beider Aufnahmen recht identisch sind. Rouvali akzentuiert stellenweise anders, er betont stellenweise mehr Details und lässt mehr aufhorchen, weil Nebenstimmen deutlicher hervortreten als gewohnt.


    Das sind beides ganz hervorragende Aufnahmen und auch hier gilt: demnächst mehr...;)

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Hallo lieber Norbert, was ist denn für dich eine....

    Zitat von Norbert

    "werkgerechte" Interpretation

    ....? Irgendwie stehe ich da auf dem Schlauch!:(


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Zugegeben, lieber Fiesco, "werkgerecht" ist eine Bezeichnung, unter der man sich alles oder gar nichts vorstellen kann. ;)


    Die 1. Sinfonie erscheint mir als romantisch, intensives Werk, in dem immer wieder eine Nähe zu Tschaikowski festgestellt wird. Bei der 6. Sinfonie spricht Sibelius selbst sinngemäß von "reinem Quellwasser", das er im Gegensatz zum melodiösen Überschwang der damaligen Zeit komponiert hatte und die 3. Sinfonie wird von Paavo Järvi gut charakterisiert: "...weniger um Grandezza bemüht und vom Charakter eher intim; sie entspringt einer nordischen Wehmut."


    Und all das und noch mehr möchte ich in der jeweiligen Sinfonie hören. Höre ich es oder meine ich es zu hören, dann ist eine Interpretation "werkgerecht".

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Höre ich es oder meine ich es zu hören, dann ist eine Interpretation "werkgerecht".

    Ja, "werkgerecht" ist schon eine schwierige Definition. Werkgerecht heisst aber auch für den Dirigenten, sich an die Metronomvorgaben des Komponisten wenigstens ansatzweise zu halten.

    Die dänische Gesamtaufnahme von Segerstam (Brillant) ist weit davon entfernt, weil diese sich mit ihrem langsamen Tempo so ganz und gar nicht an die Metronomvorgaben hält.


    Viele Sibelius-Hörer schätzen diese GA (nebenbei: Ich mag auch die spätere und zügigere Segerstam/Helsinki PO auf ONDINE lieber.) ... ... ... ist diese nun weniger werkgerecht ?

    Eigentlich schon ... aber das hält Niemanden davon ab, auch solche Aufnahmen weniger oder mehr zu schätzen.


    Interessant in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf die Sinfonie Nr.2 mit Paul Paray (Mercury) in "Heute gehört". Der ist auch verdammt zügig unterwegs, was mir entgegenkommen würde.

    S2 mit Paray = 8:36 - 12.29 - 5:20 - 12:40


    ----------------------------------------------------

    PS.

    Seltsam mit dem Bilder einstellen. Ich hatte gestern auch plötzlich Probleme, sodass bei kleiner Schrift aus amazon kopiert einfach kein Bild kommt ... ???

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Lieber Wolfgang,


    ich bin sicher, die Aufnahme mit Paray wird dir gefallen. Er ist nicht "nur schnell", sondern bei ihm spürt man die Leidenschaft, das Temperament, den Esprit, die Hingabe an die Musik. Er spielt nicht über die "Schroffheiten der Musik" hinweg, er glättet nicht, sondern reißt mit.

    Für eine 60 Jahre alte Aufnahme ist die Klangqualität absolut zufriedenstellend.


    Nebenbei schien Paul Paray über eine angenehme Singstimme zu verfügen, denn zu Beginn des ersten Satzes ist er zwei, dreimal kurz mitsingend zu hören. Das aber empfinde ich nicht als störend.



    Zu der "werkgerechten" Interpretation: Ich weiß nicht, ob Sibelius explizite Metronomangaben verwendet hat, aber gemäß deiner Definition wäre z.B. Soltis Interpretation von Beethovens 9. Sinfonie nicht werkgerecht, denn in Relation zu den recht zügigen anderen Sätzen benötigte er für den dritten Satz, dem "Adagio molto e cantabile" aus dem Gedächtnis heraus um und bei 19 Minuten, war also viel zu langsam unterwegs.

    Bei den für mich komplett zerdehnten Tempi von Bernsteins späten Sibelius stimme ich dir in Bezug auf Werkgerechtigkeit und Tempi hingegen zu.


    Ein interessanter Aspekt, den wir vielleicht genauer betrachten sollten...


    Schließlich zum verlinken: Ich neige inzwischen dazu, Joseph II zuzustimmen und zu meinen, es ist ein neu aufgetretenes Problem dieser Forumssoftware, denn copy and paste inkl. korrekter Verlinkung klappt "woanders" durchaus. Mit dem kleinen Umweg über den Windows Editor kann man aber problemlos korrekt verlinken.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


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  • Hallo lieber Norbert, ja ja das mit werkgerecht ist so eine Sache, für dich ist das ja so in Ordnung, wie du es mir erläutert hast, aber andere sehen das ja völlig anders!

    Aber DANKE für deine Antwort!

    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Die vorstehenden Beiträge habe ich aus dem Jean Sibelius: Symphonien – Welcher Zyklus ist der beste? -Thread hierher kopiert, weil ich den Aspekt der "Werkgerechtigkeit" interessant finde und genauer beleuchten möchte.


    Lieber Fiesco, meine Auffassung ist keinesfalls die allein gültige, deswegen interessiert mich: Wie sehen es denn andere?

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • PS.: Gemeint ist ausschließlich das Konzert und nicht die Oper. Über diese wird in anderen Threads zu Genüge diskutiert.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Schönes Thema, über das ich bei Tamino immer wieder stolpere. Zuletzt in der Diskussion über Ravels G-dur Konzert. Für Holger ist die Aufnahme Michelangeli/Gracis die absolute Überreferenz, ich halte für Francois/Cluytens die Fahnen hoch. Holger argumentiert mit einem objektivierenden musikwissenschaftlichen Ansatz heraus, der meine ist affektiv. Nun kann ich auch mit musikwissenschaftlichen Argumenten nicht aufwarten, was aber insofern nichts zur Sache tut, als sich hier -so meine Wahrnhemung- die Begründung vor allem auf ein Außenstehendes Drittes bezieht, das der eigenen Auffassung sekundiert. Somit mag die Wertschätzung objektiv richtig sein, ich greide dennoch zu einer anderen Aufnahme, die in meinen Ohren insofern werkgerecht ist, als daßß ich mir das Werk so gespielt wünsche. Oder wie Haas/Isserstdt.


    Anderes ThemaH HIP. Gestern hörte ich Beethovens 9 unter Frans Brüggen. Gilt aber auch für Koopmans Einspielung der Händelschen Orgelkonzertevor 30 Jahren. Objektiv betrachtet sind diese Aufnahmen werkgerecht. Sie führen die Werke mit den Instrumenten auf, die der Komponist vorsah und dei aus der genannten Zeit stammen, die alten Orchestergrößen werden berücksichtigt, historische Spielweisen etc. Wer da nun streikt ist der Hörer. Denn der ist mitnichten ein Kind dieser Zeiten. Mir fehlt das Raum-/Zeitgefühl eines Menschen des frühen 18. oder frühen 19. Jahrhunderts, in meinem musikalischen Gedächtnis sind Instrumenten und Orchesterklangentwicklungen der Jahre nach der Werkentstehung abgespeichert inkl. -und das ist fatal- unterschiedliche Werkaufführungen und -einspielungen. Objektiv ist der Koopman werkgetrue und korrekt. Man nehme es mir nicht übel, wenn ich dennoch zu Richter greife, weil der einen Emotionalität transportiert, die ganz sicher in den Werken steckt und die sein Proto-Hip-Orchester besser vermittelt als die historisch korrekte Aufführung. Das gleiche gilt für Beethoven: geprägt hat mich die mono-Aufnahme mit Jascha Horenstein. An der messe ich alles. Mit dem Ergebnis, dass ich da noch die Bayreuther Furtwängler-Aufnahme zulasse, viel andere auch gut interessant und hörenswert finde (die von Brüggen war gar nicht so übel, nur zu schnell, da kann man doch einiges noch mehr auskosten).


    Ich glaube, dass der Versuch, die Qualität von Aufführungen zu objektivieren, dem Wesen der Musik wiederspricht. Wie sagte doch Rubinstein: "Die jungen Musiker spielen fantastisch. Sie spielen besser als ich es je tun werde. Ich frage mich nur: wann fangen die an ,Musik zu machen".



    Also, bitte her damit, mit den subjektiven Auffassungen von Werkgerechtigkeit.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • "Werkgerecht" ist - zumindest seit meiner Jugend (vermutlich aber schon früher) ein "Dauerbrenner" - auch - und vor allem - von seiten der Kritik her.


    Und natürlich wurde immer wieder was anderes drunter verstanden.

    Und ausserdem wurde "werkgerecht " nicht immer als anstrebenswert erachtet.


    Prinzipiell wird unter einer werkgerechten Interpretation (und auch ich spreche hier ausschließlich über Instrumentalmusik) eigentich "KEINE" Interpretation verstanden, also das Weglassen jeglicher persönlichen Auslegung des Notentextes, eine Art neutraler Widergabe der Partitur. Ein Computerprogramm wäre in der Lage das zu realisieren. Die Ergebnisse - das dürfte unbestritten sein - sind aber nicht berauschend.


    Also schliesst man einen Kompromiss - und realisiert eine Minimalinterpretation, Man interpretiert also nur dort, wo es scheinbar zwingend notwendig ist

    Gute Kapellmeisterarbeit eben und gutes Solistenhandwerk.


    Ein Teil der Kritiker (auch von der Zeit in der rezensiert wurde abhängig) lobt solch sauberes Handwerk - werkgetrau - brav exekutiert - mit schönem Klang (wenn möglich) und dezentem Abmildern der vom Komponisten nicht gut kompensierten Brüche im Notentext.


    Im gegenzug dazu gab es immer wieder die "Revoluzzer" unter den Interpreten - Sie wurden unterschiedlich gesehen, Die einen meinten, die Interpretationen dieser Leute wären "voll von Unarten", "Manierismen" und "Eigenwilligkeiten", die noch dazu "modisch" gefärbt seien (im Letzteren Fall stimme ich zu), die anderen lobten den "Mut", diese Werke auch anders zu sehen.


    "Werkgetreu" agierende Interpreten werden vom "NEUgierigen" Teil des Publikums meist als "Langweiler" gesehen -"allzu individuellen" Interpreten wird Eitelkeit einerseits und das Umfärben klassischer Werke nachgesagt.


    Der Konflikt ist unauflösbar - aber interessant.


    Und wenn man sich fragt, zu welcher Seite man selbst gehört - dann wird man oft auf interessante Antworten stoßen...


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Prinzipiell wird unter einer werkgerechten Interpretation (und auch ich spreche hier ausschließlich über Instrumentalmusik) eigentich "KEINE" Interpretation verstanden, also das Weglassen jeglicher persönlichen Auslegung des Notentextes, eine Art neutraler Widergabe der Partitur.

    Das halte ich für ein grundlegendes Missverständnis, denn es gibt keine Aufführung ohne Interpretation. Notentexte lassen so vieles unbestimmt, dass es immer einen relativ großen Spielraum für unterschiedliche Ausführungen gibt. Und selbst wenn man wüsste, wie der Komponist selbst sein Werk aufgeführt hat - bei neueren Komponisten ist das ja möglich, weil Aufzeichnungen existieren -, dann wüsste man nur, wie er selbst sein Werk interpretiert hat, nicht wie es objektiv richtig ist.


    Die interessante Frage ist nun, nach welchen Kriterien man die Qualität einer Interpretation beurteilen kann. Wann liegt eine Interpretation noch im Rahmen dessen, was man als dem Werk gerecht werdend betrachtet, wann geht sie darüber hinaus? Ich glaube schon, dass man Urteile darüber abgeben kann jenseits eines bloß subjektiven Geschmacksurteils. Das wird aber ohne musikwissenschaftliche Kenntnisse nicht funktionieren. Und es wird in diesem Feld sicher auch kein wahr oder falsch geben, sondern nur mehr oder weniger gut begründete Urteile. Das teilt die Interpretation von Musik mit allen interpretierenden oder auslegenden Disziplinen.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Objektiv betrachtet sind diese Aufnahmen werkgerecht. Sie führen die Werke mit den Instrumenten auf, die der Komponist vorsah und die aus der genannten Zeit stammen, die alten Orchestergrößen werden berücksichtigt, historische Spielweisen etc. Wer da nun streikt ist der Hörer. Denn der ist mitnichten ein Kind dieser Zeiten. Mir fehlt das Raum-/Zeitgefühl eines Menschen des frühen 18. oder frühen 19. Jahrhunderts, in meinem musikalischen Gedächtnis sind Instrumenten und Orchesterklangentwicklungen der Jahre nach der Werkentstehung abgespeichert inkl. -und das ist fatal- unterschiedliche Werkaufführungen und -einspielungen.

    Das ist ein ganz wichtiger und selten angesprochener Punkt, den ich nochmal hervorheben möchte (Hervorhebung von mir).


    Wieso eine Aufführung auf späteren Instrumenten nicht werkgerecht sein kann, ist mir auch noch nie recht begreiflich gewesen. Es zeigt ja vielmehr, dass diese Werke (zum Glück) nicht derart zeitgebunden sind, dass sie späteren Generationen nichts mehr zu sagen hätten.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • denn es gibt keine Aufführung ohne Interpretation.

    DAs glaubte ich durch den Satzteil, " daß ledglich ein Computer dazu imstande wäre " hinreichen bestätigt zu haben.....


    Allerdings ist das erst seit Einführung der Schallplatte so richtig ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen.

    Und selbst wenn man wüsste, wie der Komponist selbst sein Werk aufgeführt hat - bei neueren Komponisten ist das ja möglich, weil Aufzeichnungen existieren -, dann wüsste man nur, wie er selbst sein Werk interpretiert hat, nicht wie es objektiv richtig ist.

    Das ist gut belegt, wie viele Komponisten schlechte Interpreten ihrer eigenen Werke waren

    Aber da gibt es noch weitere Fallstricke, und da wäre beispielsweise die Mentalität der einzelnen Komponisten zu nennen - aber auch die Umstände unter denen sie arbeiten mussten

    In vergangenen Jahrhunderten waren Komponisten, die nma eher kleineren (oder sparsamen) Höfen beschäftigt waren von den Möglichkeiten vorhandener Instrumente, bzw Solisten abhängig, ebenso wie von den Möglichkeiten des jeweiligen Orchesters. Man hat geändert, anders orchestriert etc.

    Ein "historisches Bewusstsein" war nur in geringem Maß vorhanden.

    Manche Komponisten beharrten auf einer Widergabe, die möglichst nahe ihren Vorstellungen entsprach. So "vernichtete" Strawinski quasi die Aufnahme seines "Sacre" unter Karajan, meinte aber generell, daß nur eine Live Wiedergabe dem Stück generell gerecht werden könne - Vermutlich hat er in diesem Punkt recht.

    Interessant auch Carl Orff. Er war immer wieder begeistert, wenn seine "Carmina Burana" aufgeführt wurde und er jedesmal neue Feinheiten in seinem Werk hören durfte. Er autorisiert zahlreiche durchaus unterschiedliche Interpretationen....

    Das wurde ihm oft als "Schwäche ausgelegt, kann aber durchaus auch als Freibrief für "individuelle" Interpretationen" gewertet werden.


    Das Problem ist hier lediglich, daß eben jeder Komponist ein anderes Temperament hatte


    Dazu kommt. daß es Abweichungen in verschiedene Richtungen gibt. Man kan in einem Werk die Brücke kitten und die schroffen Stellen überspielen und die "lieblichen Stellen betonen" - oder aber man kann zusätzlich Strenge einbauen und das ganze "Harsch" und "spröde" klingen lassen


    Ich glaube schon, dass man Urteile darüber abgeben kann jenseits eines bloß subjektiven Geschmacksurteils. Das wird aber ohne musikwissenschaftliche Kenntnisse nicht funktionieren

    Ich glaube das eigentlich nicht. Eduard Hanslick werden heute oft angezwefelt und bespöttelt - Tatsache ist aber, daß er zu Lebzeiten der wohl bedeutndeste Kritiker Österreichs - und darüber hinaus war.


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zit. Bertarido: "Ich glaube schon, dass man Urteile darüber abgeben kann jenseits eines bloß subjektiven Geschmacksurteils. "

    Konter Alfred Schmidt: "Ich glaube das eigentlich nicht. "


    Gerade hatte ich - ungewollt - mit solchen Fragen zu tun, bei der Wagner-Komposition "Lied des Mephistopheles II" nämlich. (Richard Wagner als Liedkomponist)

    Für mich geht daraus hervor, dass ich Bertarido in seiner Feststellung beipflichten kann, - ja muss. Man kann sehr wohl ein sachlich begründetes Urteil darüber abgeben, welche Interpretation der musikalischen Aussage eines Werkes näher kommt. Wobei der Notentext die Kriterien dafür liefert. Die treffendere Begriff wäre hier übrigens "Texttreue", - nicht Werktreue. Natürlich ist auch dann eine gehörige Portion Subjektivität im Spiel, aber in diesem Zusammenhang von "absoluter Subjektivität" zu sprechen, das halte ich angesichts der Verbindlichkeit der Vorgaben, wie sie durch den Notentext faktisch gemacht sind, für unangebracht.

    Übrigens: Alle meine drei dort verlinkten gesanglichen Interpreten verfuhren "textgetreu", - ein schöner Beleg für die unabdingbare und deshalb hier schon mehrfach und zu Recht reklamierte "Freiheit der Interpretation". Dennoch glaubte ich feststellen zu können, welcher von ihnen eben diesem Notentext Wagners nähergekommen ist. Und ich habe dieses mein Urteil auch begründet.

    War übrigens eine interessante Erfahrung, die sich dort gleichsam als Erkenntisprozess niedergeschlagen hat. Diese Erfahrung hat Alfred Brendel einmal sehr treffend mit den Worten beschrieben: "Musik genau lesen bedeutet nicht nur: Wahrnehmen, was niedergeschrieben ist; (…) es bedeutet darüber hinaus: die Zeichen verstehen".

    In diesem "Verstehen" konstituiert sich der Raum der Subjektivität, der jedem Akt der Interpretation innewohnt. Das aber ist kein unbegrenzter!

  • Zit. Bertarido: "Ich glaube schon, dass man Urteile darüber abgeben kann jenseits eines bloß subjektiven Geschmacksurteils. "

    Konter Alfred Schmidt: "Ich glaube das eigentlich nicht. "


    Gerade hatte ich - ungewollt - mit solchen Fragen zu tun, bei der Wagner-Komposition "Lied des Mephistopheles II" nämlich. (Richard Wagner als Liedkomponist)

    Für mich geht daraus hervor, dass ich Bertarido in seiner Feststellung beipflichten kann, - ja muss. Man kann sehr wohl ein sachlich begründetes Urteil darüber abgeben, welche Interpretation der musikalischen Aussage eines Werkes näher kommt.

    Selbstverständlich! :thumbup:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • Ich werde versuchen meine Sichtweise zu begründen - wobei Helmut Homann ja sowieso schon den Begriff der Worttreue eingeführt hat.


    Um meine Sicht der Dinge transparent zu machen weiche ich von der Instrumentalmusik auf das gesprochene Wort aus und greife weit zurück.

    Wenn ich alte Gedicht wortgetreu rezitiere . und nichts anderes wäre legiti, - so erzeuge ich beim heutigen Hörer eine andere Wahrnehmung wie vo 200 oder 250 Jahren.

    Begriffe wie "herzallerliebst" reiten heutige Zuhörer allenfall um Lächeln, ebenso wie "Liebreiz", "tugendhaft", "Mägdelein". "hold" , fürwahr, etc etc

    Ebenso wie wir mit diesen Betriffen schwerlich Emotionen verbinden können, die den Aussagen des Dichters entsprächen, ebensowenig funktioniert das bei Interpretationen von Instrumentalwerken der Klassik. Sehr wohl aber funktioniert es IMO, wenn man sie - von jegleicher Emotion losgelöst - als Museumsstücke sieht, die gefallen - aber nicht mehr emotionell bewegen können.


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Wenn ich alte Gedicht wortgetreu rezitiere . und nichts anderes wäre legiti, - so erzeuge ich beim heutigen Hörer eine andere Wahrnehmung wie vo 200 oder 250 Jahren.

    Begriffe wie "herzallerliebst" reiten heutige Zuhörer allenfall um Lächeln, ebenso wie "Liebreiz", "tugendhaft", "Mägdelein". "hold" , fürwahr, etc etc

    Ebenso wie wir mit diesen Betriffen schwerlich Emotionen verbinden können, die den Aussagen des Dichters entsprächen, ebensowenig funktioniert das bei Interpretationen von Instrumentalwerken der Klassik. Sehr wohl aber funktioniert es IMO, wenn man sie - von jegleicher Emotion losgelöst - als Museumsstücke sieht, die gefallen - aber nicht mehr emotionell bewegen können.

    Lieber Alfred,


    da stimme ich dir voll zu. Zwar mag der heutige Zuhörer über den Inhalt von Gedichten anders denken, vielleicht auch über einige damals gängige Worte lächeln, aber das gibt mir nicht (und ich rezitiere häufiger ältere Gedichte, auch vor jüngeren Zuhörern) die Legitimation, diese Worte durch modernere zu ersetzen, denn dann wäre es nicht mehr das Gedicht. Und ich habe noch nicht erlebt, dass Zuhörer kein Verständnis mehr dafür hätten. Es ist eben eine Frage der Bildung. Leider wird in den heutigen Schulen nur noch wenig Wert auf ältere Werke und Gedichte gelegt. Ich habe z.B. erlebt, dass meine Enkel an Gedichten, die ich ihnen - natürlich auswendig, denn wir mussten in der Schule viele Gedichte lernen - vortrug, begeistert waren. Das ging soweit, dass meine Enkelin auf dem Gymnasium in ihrer Klasse vorschlug, man möchte doch auch einmal Gedichte lernen. Der Lehrer ging darauf ein und so wurde jede Woche einmal ein Gedicht aus verschiedenen Jahrhunderten von jeweils einem anderen Schüler vorgetragen. Wir haben im Deutschunterricht auch noch althochdeutsche und mittelhochdeutsche Gedichte gelernt und auch da hören sie mir immer noch mit Interesse zu. Allerdings muss ich bei althochdeutschen hinterher erklären, was die Worte bedeuten (bei mittelhochdeutschen, wie z.B. dem Nibelungenlied kann man sich mit einiger Aufmerksamkeit einiges zusammenreimen). Warum sind einige Leute nicht mehr bereit oder unvermögend, sich in die Welt vor 100 oder 200 Jahren hinein zu versetzen.

    Um auf die Musik zu kommen, warum sollte es bei älteren Werken anders sein. Auch wenn sie im Klangbild nicht der Auffassung mancher moderner Menschen entsprechen, warum sollten sie nicht dennoch gefallen? Musik ist für viele (sicherlich sogar den meisten) Menschen eher eine Frage des Gefühls, weniger der Analyse, wobei der Wiederkennungswert eine beträchtliche Rolle spielt.


    Liebe Grüße

    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Schönes Thema, über das ich bei Tamino immer wieder stolpere. Zuletzt in der Diskussion über Ravels G-dur Konzert. Für Holger ist die Aufnahme Michelangeli/Gracis die absolute Überreferenz, ich halte für Francois/Cluytens die Fahnen hoch. Holger argumentiert mit einem objektivierenden musikwissenschaftlichen Ansatz heraus, der meine ist affektiv. Nun kann ich auch mit musikwissenschaftlichen Argumenten nicht aufwarten, was aber insofern nichts zur Sache tut, als sich hier -so meine Wahrnhemung- die Begründung vor allem auf ein Außenstehendes Drittes bezieht, das der eigenen Auffassung sekundiert. Somit mag die Wertschätzung objektiv richtig sein, ich greide dennoch zu einer anderen Aufnahme, die in meinen Ohren insofern werkgerecht ist, als daßß ich mir das Werk so gespielt wünsche. Oder wie Haas/Isserstdt.

    Lieber Thomas,


    nicht nur ich habe diese Ansicht, auch Kritiker wie Peter Cosse und vor allem die meisten Pianisten. ^^ Selbst Svjatoslav Richter, der so eine ganz andere Musizierhaltung hat, fand nur bewundernde Worte über ABMs Aufnahme. Natürlich kann man auch Francois oder Monique Haas oder wen auch immer persönlich besonders und/oder mehr mögen. Ich glaube aber, die Bewertung der Qualität oder der Bedeutung einer Interpretation "objektiv" oder für einen selbst ist erst einmal weniger etwas, was mit mehr oder weniger Werkgerechtigkeit zu tun hat. Das kann sie freilich, wenn es z.B. um Musizierhaltungen geht (Neue Sachlichkeit, ein romantisierender oder rhetorisierendender Vortragsstil), muss es aber nicht unbedingt.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Das Thema ist schier unerschöpflich- Es wurde ja beispielsweise schon in anderen Spezialthreads darüber geschrieben, ob man beispielsweise Bach am modernen Flügel spielen dürfe.

    Das kann man aber auch auf Scarlatti etc ausdehnen. Und natürlich auf Mozart und Haydn

    Meine Meinung dazu hat sich im Laufe der Jahre mehrfach gewandelt - war aber auch nie richtig dogmatisch, sondern entstand imm unter dem Einfluß zeitnah gehörter Aufnahmen...


    Bach auf modernen Instrumenten - Ist das heute noch vertretbar ?

    Bach auf´m Cembalo (Solostücke)


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Wenn ich alte Gedicht wortgetreu rezitiere . und nichts anderes wäre legiti, - so erzeuge ich beim heutigen Hörer eine andere Wahrnehmung wie vo 200 oder 250 Jahren.

    Begriffe wie "herzallerliebst" reiten heutige Zuhörer allenfall um Lächeln, ebenso wie "Liebreiz", "tugendhaft", "Mägdelein". "hold" , fürwahr, etc etc


    Warum sind einige Leute nicht mehr bereit oder unvermögend, sich in die Welt vor 100 oder 200 Jahren hinein zu versetzen.

    Die folgende Aufnahme von Ludwig Wüllner entstand vor mehr als 100 Jahren. Wenn ich sie mir anhöre, dann kann ich gut verstehen, dass Menschen ihre Schwierigkeiten damit haben, sich in diese Zeit hinein zu versetzen.


    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

    2 Mal editiert, zuletzt von Rheingold1876 ()

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