Ottorino Respighi (1879-1936) / Gioachino Rossini (1792-1868):
LA BOUTIQUE FANTASQUE (Der Zauberladen)
Ballett in einem Akt - Nach Klavierstücken von Rossini zusammengestellt und orchestriert von Ottorino Respighi
Uraufführung am 5. Juni 1919 im Alhambra Theater, London,
Ausstattung von André Derain, Choreographie von Léonide Massine, dargestellt durch
Sergej Diaghilews „Balletts Russes“
INHALTSANGABE DES EINZIGEN AKTES
Versetzen wir uns träumerisch in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und dann noch in eine schöne Kleinstadt am Mittelmeer während der warmen Jahreszeit. Gemütlich schlendern wir durch diesen malerischen Ort mit seinen schmalen Gassen - und stehen plötzlich vor dem Geschäft eines Puppenmachers. Erstaunt registrieren wir, dass auch noch etliche andere Leute, unterschiedlichen Standes und, wie am Sprachengwirr zu hören ist, aus allerlei Nationen an diesem Laden stehen geblieben sind und den Blick durch das Schaufenster werfen. Und dieser Blick offenbart, dass hier ein Meister seines Fachs arbeitet, der Geschöpfe herstellt, die sich bewegen, sprechen und tanzen können. Wir sehen Puppen der unterschiedlichsten Völker, wie Schwarze, Russen mit malerischen Trachten, Figuren aus dem Alltagsleben wie Polizisten oder auch die Figuren König, Dame und Bube aus dem Kartenspiel. Allerliebst anzusehen ist aber das Pärchen, das einen richtigen Cancan tanzen kann.
Im Geschäft wird erklärt, wie ein Auftrag abzuwickeln ist: Der Kunde bezahlt zuerst die Ware und kann sie dann ab dem nächsten Tag abholen oder sich auch zustellen lassen. Aufhorchen und jedem Kunden zu denken geben lässt jedoch die Aussage des Puppenmachers, dass es ihm jedes Mal schwerfällt, sich von seinem jeweils neuen „Kind“ trennen zu müssen. Und es gibt ein weiteres Geheimnis, das niemand kennt: Die genialen Wunderwerke des Puppenmachers haben Emotionen, beispielsweise empfinden sie Abschiedsschmerz. Der wird immer nächtens erfahrbar, wenn sich die Puppen tanzend von verkauften Spielgefährten verabschieden müssen.
Gerade jetzt geht es um das von vielen bewunderte Pärchen, das den Cancan aus dem Effeff beherrscht - es wird eine lange Reise mit dem Schiff nach Übersee antreten und wohl nie mehr zurückkehren (was manchmal geschieht, wenn es „Auffrischungen“ vorzunehmen gilt). Aber genau diese Nachricht des Abschieds auf Nimmerwiedersehen macht die Puppengesellschaft traurig, auch wenn es momentan nicht nach Abschiedsschmerz aussieht - es herrscht nämlich totale Tanzfreude. Aber das ominöse Wort „Sabotage“ macht die Runde, und man darf gespannt sein, wie die Puppengemeinschaft vorgehen wird.
Und der große Knall kommt tatsächlich am folgenden Tag: Als die Kunden ihre Puppen abholen wollen sind die entsprechenden Schachteln leer. Der Aufstand der Kundschaft muss nicht besonders hervorgehoben werden, die Leute fühlen sich natürlich betrogen, der Puppenmacher ist ratlos und geschockt! Plötzlich stürmt das Puppenvolk aus alle Ecken hervor und schlägt unter der Führung eines Kosakenhauptmanns die gesamte Kundschaft in die Flucht. Höchst zufrieden mit ihrem Erfolg (den der menschliche Verstand aber als Betrug ansieht) tanzen die Puppen mit ihrem „Vater“ durch den Laden - bis das Morgenlicht den ganzen Spuk beendet.
INFORMATIONEN ZUM WERK
Das hier vorgestellte Ballett ist eine Hommage an Joseph Bayers „Puppenfee“-Ballett von 1888, das von Wien aus die Ballettwelt erobert hatte. Ottorino Respighi war offensichtlich von dem heiteren Stück angetan und hat in Gioachino Rossinis Sammlung „Péchés de vieillesse“ (zu Deutsch etwa Alterssünden, von Rossini selbst so betitelt und in den Jahren 1857 bis 1868, dem Todesjahr des Komponisten, entstanden) eine Auswahl aus den 150 verschiedensten Klavier- und Vokalstücke getroffen, die er bearbeitete und instrumentierte.
© Manfred Rückert für den Tamino-Ballettführer 2019