Peter Cornelius. Ein Dichtermusiker und seine Lieder

  • Zit. Rheingold1876: "... Du wirst uns hier noch alle zu leidenschaftlichen Streitern für die Lieder von Cornelius machen"

    Schöner Gedanke, lieber Rheingold. Da hätte ich ja doch tatsächlich mal etwas Gutes bewirkt.

    Aber zu Deiner Frage. Ja, ich bin ganz auf diese koreanische Sängerin angewiesen, weil es, das Opus 1 betreffend, nur ganz wenige Aufnahmen bei YouTube gibt. Und bei einigen der nachfolgend noch zu besprechenden Liedern gibt es gar keine. Die Lieder von Cornelius sind ein unbekanntes Terrain, hier bei uns in Deutschland. Und das ist ja doch so schade, denn sie sind, wie man hier hören kann, oft in der Schlichtheit und volksliedhaften Einfachheit ihrer Melodik von faszinierender Schönheit. Ist melodische Schönheit vielleicht wesenhaft eine der strukturellen Einfachheit?


    Du hast recht: Sie singt in der zweiten und dritten Strophe nicht den von mir hier vorgelegten Text des Liedes. Mit den Worten "Wo sehnsuchtsvoll lauschet manch Blümlein auf der Wies" ist sie wohl bei der zweiten Strophe in den Text der dritten gerutscht.

    Es weiß keine Erklärung dafür. Der der Vorstellung des Liedes beigegebene Text ist das Original von Cornelius. Es gibt in seinem Gedicht nur folgende Varianten davon:

    Strophe 1, Vers 5 und 6: "Weil schmeichelnd er schwebet / Um dich im Fluge webet."

    und Strophe 3, Vers 3: "Wo sehnsüchtig lauschet".

    Aber wie schön finde ich das doch, dass Du so genau hinhörst!


  • Peter Cornelius hält man wohl heutzutage nicht für wert, ihm eine ausführliche, sein Leben und Schaffen in detaillierter Weise erfassende Biographie zu widmen.

    Sag das nicht, denn genau ein solches Buch ist erst im Herbst des vergangenen Jahres erschienen:



    :hahahaha:;(


    (Ich gebe zu, dass das nicht nur komisch ist, sondern auch traurig...)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Über die musikalischen Produkte dieses Herrn stolpert man permanent auf der Suche nach Lied-Aufnahmen von Peter Cornelius, - bleibt buchstäblich in der Fülle davon hängen und geht zumeist am Ende leer aus.

    Ja, ich sehe das auch so, lieber Stimmenliebhaber: Es ist traurig.

    Aber in Korea wird er ja ganz offensichtlich gesungen, - und das sogar, sein ganzes Opus 1 umfassend, in einem regelrechten Liederabend.

  • „Nachts“, op.1, Nr.5

    Nachts bin vom Traum
    schlaftrunken ich erwacht.
    Wach war ich kaum,
    da hab ich gleich an Dich gedacht.

    Die Lippe sprach
    ein wunderheimlich Wort
    dem Herzen nach,
    dann träumt ich selig weiter fort.

    Flieht einst auch dich
    treulos die süße Ruh,
    denk auch an mich,
    sprich auch der Liebe Wörtlein Du!

    Sanft lockst du dann
    die Ruhe, die dich mied,
    in Traumesbann
    wiegt dich aufs Neu der Liebe Lied.

    Die vier Strophen sind metrisch gleich angelegt. Der erste und der dritte Vers weisen drei Hebungen auf, wobei nach der zweiten eine Senkung folgt. Dem zweiten und dem vierten Vers liegt ein jambisches Versmaß mit stumpfer Kadenz zugrunde, sie unterscheiden sich aber in der Zahl der Hebungen. Beim vierten sind es vier, beim zweiten hingegen nur drei. Der metrischen Grundstruktur kommt große Bedeutung für die lyrische Aussage zu. Den Worten des ersten und des dritten Verses wird durch das Fehlen von Senkungen hohes Gewicht verliehen, während die jeweils nachfolgenden Verse so wirken, als würden sie in gleichsam fließender Bewegung semantisch einlösen, was da zuvor in konstatierendem Gestus gesetzt wurde. Und durch die Vierhebigkeit wirkt dann der letzte Vers wie ein Ausklingen der lyrischen Aussage.

    Dieses Aufzeigen der metrischen Anlage der Strophen wurde deshalb hier vorgenommen, weil sie in unveränderter Weise in die Anlage der Melodiezeilen des Liedes Eingang gefunden hat. Und hier hat das nun zur Folge, dass die Liedmusik durch diesen Wechsel von konstatierendem deklamatorischem Gestus und nachfolgender jambisch-fließender Melodik einen großen klanglichen Reiz zu entfalten vermag. An klanglichem Liebreiz ist die Musik dieses Liedes kaum zu überbieten. Dabei gerät sie zwar in die Nähe von Süßlichkeit, weiß aber, und das ist bemerkenswert, in allen Melodiezeilen den letzten Schritt dahin sehr wohl zu vermeiden.

    Auch diese Komposition ist als Strophenlied angelegt, wobei jeweils zwei Gedichtstrophen zu einer Liedstrophe zusammengefasst sind. Ein Zweivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, die Grundtonart ist G-Dur, und die Vortragsanweisung lautet „Träumerisch, ruhig“. Wie alle Lieder dieses Opus 1 setzt es ohne Vorspiel ein und weist ein kurzes Nachspiel auf, das zugleich als Zwischenspiel fungiert. Wie auch das auch in den anderen Bereichen der Faktur durchweg in diesem Opus der Fall ist, weicht die Harmonik nur wenig von der modulatorischen Entfaltung zwischen Tonika, Dominante und Subdominante ab – hier beschränkt sie sich sogar ausschließlich darauf -, und das Klavier erfüllt seine Aufgabe, der melodischen Linie der Singstimme ein klangliches Bett zu bereiten, sie in ihren deklamatorischen Bewegungen zu begleiten und dabei da und dort kleine, deren Aussage akzentuierende Beiträge zur Liedmusik zu liefern.

    Die enge, von der sprachlichen Gestalt des lyrischen Wortes über die Struktur des Textes, seine Semantik und seine prosodische Figuration reichende Bindung der Melodik an das vorgegebene lyrische Gedicht, die ganz offensichtlich ein Markenzeichen des Liedkomponisten Peter Cornelius ist und ihn – in schönster Gesellschaft mit Richard Wagner – als „Dichtermusiker“ ausweist, ist auch bei diesem Lied zu vernehmen, zu erkennen und – auf zweifellos beeindruckende Weise – zu erleben. Dieses Lied ist bei all der, zweifellos ganz bewusst gewollten, strukturellen Einfachheit seiner kompositorischen Faktur ein klanglich beeindruckendes musikalisches Werkchen, - beeindruckend deshalb, weil es mit seiner Musik die Situation dieses lyrischen Ichs, das sich da in seiner nächtlichen, von Träumen beflügelten Seligkeit mit schwärmerischen Worten an seine Geliebte wendet, in all der unreflektierten lyrischen Schlichtheit, in der das geschieht, in durchaus in adäquater Weise einzufangen vermag. In diesem Zusammenhang kommt dem Klaviersatz in seiner strukturellen Entfaltung aus dem Quartsextakkord eine wesentliche Funktion zu.

    Aber das gilt in gleicher Weise auch für die Struktur der melodischen Linie. Sie reflektiert in vollkommener, das heißt sich an keiner Stelle ihrer deklamatorischen Entfaltung davon emanzipierender Weise die sprachliche Struktur und die prosodische, also auch die metrischen Gegebenheiten einschließende Gestalt des lyrischen Textes. Aber dies tut sie unter Nutzung des klanglichen Potentials, über das sie per se verfügt, und sie vermag ihm auf diese Weise eine durchaus beachtliches musikalisches Aussage-Plus beizugeben.
    Man meint, als Rezipient dieser Liedmusik, dieses schlichte, in all seiner träumerischen Verliebtheit sich äußernde lyrische Ich, das sich darin, weit entfernt von der Gebrochenheit eines Heine-Ichs, als typische poetische Cornelius-Figur outet, tatsächlich singend vor sich zu sehen.

    Die vier Melodiezeilen, aus denen sich die Liedstrophe zusammensetzt, beinhalten jeweils zwei Verse. Zwischen dem ersten Zeilenpaar und dem zweiten liegt eine eineinhalbtaktige Pause, die das Klavier mit einem kurzen Zwischenspiel ausfüllt. Ansonsten sind die Zeilen durch Achtelpausen voneinander abgesetzt. Von ihrer Struktur her wirken diese Melodiezeilen wie die perfekte Umsetzung der Verse in ihrer je eigenen sprachlichen Gestalt in Liedmusik, so dass man meinen könnte, Cornelius hätte sie eigens dafür verfasst.

    Die Dreihebigkeit mit nur einer unbetonten Silbe, die den ersten und den dritten Vers metrisch und rhythmisch prägt, greift die melodische Linie bei der ersten Melodiezeile, also die Worte „Nachts wie vom Traum“ betreffend, mit einem einfachen Doppelfall unter Absenkung der tonalen Ebene auf, wobei allerdings der erste und der letzte deklamatorische Schritt ein gedehnter ist, die Worte „nachts“ und Traum“ also, dem lyrischen Metrum entsprechend, einen Akzent erhalten. Bei „Traum“ wird dieser noch dadurch verstärkt, dass an dieser Stelle eine Rückung in die Dominante D-Dur erfolgt, die auch die Harmonik im zweiten Teil dieser Melodiezeile bestimmt.

    In diesem zweiten Teil, also auf den Worten „schlaftrunken ich erwacht“ geht die melodische Linie nun in syllabisch exakten deklamatorischen Schritten nach einem Sekundfall in tiefer Lage in eine Aufstiegsbewegung über, innerhalb derer das Wort „ich“ eine kleine Dehnung trägt und infolgedessen die Vorsilbe von „erwacht“ nur mit einem Sechzehntel-Schritt versehen ist, der über einen Sekundfall in eine Dehnung auf der zweiten Silbe des Wortes übergeht. Im Unterschied zum statisch wirkenden ersten Teil der Zeile entfaltet die melodische Linie nun einen eher fließenden Gestus, und das Klavier folgt ihr darin mit Terzen und Quarten, die ihr die Anmutung von klanglicher Lieblichkeit verleihen. Bei der Dehnung auf der Silbe „wacht“ lässt das Klavier allerdings dann einen Fall von Quarten im Diskant erklingen, die zusammen mit den bitonalen Figuren im Bass Quartsextakkorde bilden, was die Lieblichkeit der Liedmusik noch steigert.

    Die zweite Melodiezeile setzt bei den Worten „Wach war ich kaum“ mit genau den gleichen deklamatorischen Schritten ein wie die erste, einschließlich der harmonischen Rückung in die Dominante am Ende. Der nachfolgende letzte Vers der Strophe führt infolge seiner jambischen Vierhebigkeit dazu, dass der fließende Gestus der melodischen Linie sich noch ausgeprägter entfalten kann. Die beschreibt, mit der Vortragsanweisung „belebter“ versehen, zunächst einen Bogen in mittlerer Lage, den das Klavier mit Quarten im Diskant – die mit den Einzeltönen im Bass wieder einer Quartsextakkord bilden – mitvollzieht, beschreibt aber dann bei zu dem Wort „gedacht“ hin einen Sextsprung, der in eine lange, den Takt übergreifende Dehnung übergeht, die am Ende einen wiederum gedehnten Sekundfall beschreibt, der mit einer Rückung in die Subdominante C-Dur verbunden ist. Das Klavier vollzieht diesen Fall mit Terzen im Diskant und Quinten im Bass mit und setzt ihn im Zwischenspiel weiter fort, dabei die Harmonik aus der Subdominante wieder zur Tonika G-Dur zurückführend. Die zärtlichen Gefühle, die sich im lyrischen Ich im Denken an die Geliebte einstellen, sollen in diesem kurzen Zwischenspiel wohl in klanglicher Schönheit imaginiert werden.

    Der Melodik des zweiten Teils der Strophe liegt, obwohl sie sich auf einer anderen Linie entfaltet, der gleiche deklamatorische Gestus wie in den beiden Zeilen des ersten Teils zugrunde, so dass man fast versucht ist, darin eine strophische Variante zu sehen. Auf den Worten „die Lippe sprach“ und „dem Herzen nach“, also dem jeweiligen ersten Teil der beiden Melodiezeilen, liegt nun die identische Kombination aus Sekundsprung, Tonrepetition und Sekundfall, und dies wieder in den Notenwerten wie bei den entsprechenden Zeilen des ersten Strophenteils, das heißt wieder diesen eher statischen deklamatorischen Gestus verkörpernd. Danach beschreibt die melodische Linie bei der ersten Zeile, also bei den Worten „ein wunderschönes Wort“ eine mit seinem Sekundsprung einsetzende und nachfolgend in Sekunden sich vollziehende Fallbewegung in mittlerer tonaler Lage, die, wie das für diese auf klangliche Schönheit ausgerichtete Musik diese Liedes so charakteristisch ist, mit einer Rückung von der Dominante in die Tonika verbunden ist. Und bei der zweiten Zeile geht die Melodik dann zum Gestus der Kadenz über. Sie beschreibt bei den Worten „dann träumt´ ich selig weiter fort“ erst – wieder wie am Ende des ersten Strophenteils „etwas bewegter“ – eine Anstiegsbewegung, die bei dem Wort „selig“ in einen Terzfall übergeht.

    Es folgt eine Dreiachtelpause, und danach ein im Vortrag „ruhig“ auszuführender und in einen zwei Takte übergreifende Dehnung auf dem Grundton mündender Sekundfall der melodischen Linie, den das Klavier mit einer bogenförmigen terzen- und quartenbetonten melodischen Figur begleitet, in der das Lied im dreitaktigen Nachspiel auch ausklingt.
    Man vernimm ein Lied, das in seiner ganz und gar sich in klanglicher Schönheit ergehenden Musik von einer träumerisch beseligten Nacht singt.

  • Wieder kann ich, weil bei YouTube keine weitere Aufnahme von diesem Lied zu finden ist, nur die gesangliche Interpretation durch die koreanische Sopranistin Kohei Young anbieten. Hier muss man zur Zeitmarke 7.20 gehen, um sie hören zu können:


  • Wieder kann ich, weil bei YouTube keine weitere Aufnahme von diesem Lied zu finden ist, nur die gesangliche Interpretation durch die koreanische Sopranistin Kohei Young anbieten.

    Kohei Young gibt sich ja mit Erfolg große Mühe, aber gerade habe ich mir im Anschluss daran dieses Lied in einer Aufnahme mit Emmi Leisner (aufgenommen am 27. Oktober 1942) angehört; es ist auf der CD 28/66 der Raucheisen-Serie als 7. Lied drauf. Da liegen Welten dazwischen, wie man sagt ... also da ist jetzt nicht von gut oder schlecht die Rede, aber vom Unterschied des ordentlich gesungenen Soprans zu dieser tiefen, warmen Altstimme der Emmi Leisner... Interpretation ist und bleibt für mich eine ganz wichtige Sache.

  • "Da liegen Welten dazwischen"


    Das ist ja richtig, lieber hart, nur kann man diese "Welten" hier nicht zu Gehör bringen. Wie Emmi Leisner diese Cornelius-Lieder gesanglich interpretiert, und wie sehr sie dabei auf höchst beeindruckende Weise deklamatorisch auf das lyrische Wort ausgerichtet ist, war hier schon einmal zu vernehmen:

    Peter Cornelius. Ein Dichtermusiker und seine Lieder

    Im Stillen hoffte ich damals auf eine Reaktion, denn ich hatte noch einen Link zu einer anderen Interpretation des Liedes "Untreu" eingestellt.

    Na ja!

  • Leider hat man dabei so sehr gespart, dass die Booklets zwar kurze Kommentare zu den jeweiligen Liedgruppen enthalten, jedoch nicht die Lied-Texte.

    Lieber Helmut, schon bei der Ausgabe der kompletten Lieder von Franz Schubert hat NAXOS die Texte online zur Verfügung gestellt. Das finde ich eigentlich ganz praktisch. Auch im Falle der Lied-Edition von Peter Cornelius wird so verfahren. Die entsprechehenden Hinweise findet man allerdings nur sehr kleingedruckt auf den Rückseiten der jeweiligen CDs. Ich stelle mal die Links hier ein:


    Vol 1: http://www.naxos.com/libretti/572556.htm

    Vol. 2: http://www.naxos.com/libretti/572557.htm

    Vol. 3: http://www.naxos.com/libretti/572558.htm

    Vol. 4: http://www.naxos.com/libretti/572859.htm


    Die Texte können auch heruntergeladen und ausgedruckt werden.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Im Stillen hoffte ich damals auf eine Reaktion, denn ich hatte noch einen Link zu einer anderen Interpretation des Liedes "Untreu" eingestellt.

    Lieber Helmut,

    das ging aus technischen Gründen an mir vorbei, aber ich habe das jetzt nachgehört und bin der Meinung, dass man dazu wenig sagen sollte, denn Herr Wanders gibt sich redlich Mühe und ich habe vor jeder künstlerichen Leistung einen gewissen »Grundrespekt«.

  • … und bin der Meinung, dass man dazu wenig sagen sollte, denn Herr Wanders gibt sich redlich Mühe und ich habe vor jeder künstlerichen Leistung einen gewissen »Grundrespekt«.

    Ich glaube verstanden zu haben, was Du meinst, lieber hart, und warum Du vergleichende Betrachtungen von gesanglichen Liedinterpretationen scheust. Mich aber drängt es manchmal dazu, und das immer dann, wenn ich von einer solchen Interpretation so stark beeindruckt bin, dass ich darüber sprechen zu müssen meine. Dieses „Beeindruckt-Sein“ ergibt sich daraus, dass ich beim Hören der Aufnahme von einem Lied zu der Auffassung gelange, dass der Sänger oder die Sängerin den musikalischen Gehalt des Liedes interpretatorisch in seiner ganzen Tiefe auslotet und dies auch stimmlich adäquat zum Ausdruck zu bringen vermag.


    So ist es mir beim Hören von „Nachts“ im Vortrag durch Emmi Leisner ergangen. Ich kannte dieses Lied erst in der – durchaus bemerkenswerten - Interpretation durch Christina Landshamer, wie sie in der Naxos-Gesamtaufnahme vorliegt, dann folgte die durch die oben verlinkte koreanische Sopranistin, und schließlich griff ich in die Raucheisen-Edition. Und da geschah es: Hingerissen war ich von der gesanglichen Interpretation durch Emmi Leisner.


    Warum? Ich will´s kurz andeuten, ohne mich auf eine ausführliche Betrachtung einlassen zu wollen. Es wird auch so – glaube ich – deutlich, was ich meine.

    Die gestufte, über eine Quinte und eine Terz erfolgende Fallbewegung auf den Anfangsworten „Nachts bin ich vom Traum““ gestaltet sie stimmlich so markant, dass das kurze Zur-Ruhe-Kommen“ der melodischen Linie auf „Traum“ hervortritt und überdies auch noch hörbar wird, dass dieser melodische Fall gleichsam als einleitende Vorstufe zu der Anstiegsbewegung fungiert, die die melodische Linie auf den Worten „schlaftrunken ich erwacht“ beschreibt. Darin drückt sich ja das „Erwachen“ aus, von dem das lyrische Ich spricht. Und bei Emmi Leisner ist – und das ist ganz typisch für ihr stark interpretierendes, am lyrischen Wort ansetzendes Konzept - eben dieses zu hören, was die Melodik zu sagen hat.

    Das gilt für das ganze Lied. Weil bei ihr die melodische Linie gleichsam zu sprechen beginnt, gewinnt jede Melodiezeile ihren ganz eigenen Charakter, und man vergisst, dass es sich dabei ja um ein Strophenlied handelt.


    Auf beindruckende Weise ist das in der Art und Weise zu erleben, wie sie die Melodik auf den Worten „Da hab´ ich gleich an Dich gedacht“ gestaltet. Dabei handelt es sich ja um ein höchst bedeutsames Bekenntnis des lyrischen Ichs. Cornelius bringt das in der Weise zum Ausdruck, dass er die melodische Linie eine vom Klavier mit bitonalen Akkorden mitvollzogene bogenförmige Bewegung beschreiben lässt, die dann bei dem lyrisch zentralen Wort „gedacht“ zu einem Sextsprung in hohe Lage übergeht und sich dort nun einer fast zwei Takte übergreifenden Sekundfall-Dehnung überlässt.
    Emmi Leisner setzt dies so gesanglich um, dass sie bei der melodischen Bogenbewegung das Tempo leicht beschleunigt, dann aber die Dehnung in hoher Lage voll auskostet, indem sie das Tempo wieder zurücknimmt, den Sekundfall durch ein ausgeprägtes Legato betont und die Enddehnung auf der Silbe „-dacht“ lang ausklingen lässt. Die lyrisch-melodische Aussage wird auf diese Weise in ihrem vollen Gehalt und ihrer ganzen Bedeutsamkeit vernehmlich.


    Schade, dass man das hier nicht nachhörbar werden lassen kann.
    Übrigens,- weil ich von „hingerissen“ sprach: Ich war es so sehr, dass ich mich anschließend ein wenig näher mit dieser Sängerin befasste, die mir bislang nur dem Namen nach bekannt war. Dabei war mir das, was Du hier im Forum zu ihr ausführtest, sehr hilfreich: Der Musiker Gräber

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  • „Denkst du an mich?“, op.1, Nr.6

    Ein grünes Spinnchen gaukelte
    mir um die Schläfe luftig,
    und wiegte sich und schaukelte
    sich an dem Fädchen duftig:
    Denkst du an mich?
    O, denkst du an mich?

    Ich hörte einen Ton so fein
    mir in den Ohren klingen,
    als tät ein Elfenknab' im Hain
    der Ros' ein Ständchen bringen:
    Denkst du an mich?
    O, denkst du an mich?

    O spinn´ den Faden nur recht lang,
    du Glücksspinn' um die Schläfe;
    ach, wenn doch stets so süßer Klang
    ins bange Herz mir träfe:
    O. denk an mich!
    O, denk an mich!

    Mit dem ersten Lied dieses Opus 1 zusammen ist dieses wohl dasjenige, in dem man den Geist der cornelianischen Liedmusik in ihren Anfängen am reinsten und vollkommensten zu vernehmen meint. Und das liegt, was bei diesem „Dichtermusiker“ ja auch letzten Endes gar nicht verwunderlich ist, auch am lyrischen Text. Dieser evoziert nämlich in durchaus treffenden lyrischen Bildern, dem vom „grünen Spinnchen“ und jenem vom „Elfenknab´ im Hain“, die Situation eines lyrischen Ichs, das sich der Frage ausgesetzt sieht, ob das geliebte „Du“ an es denke, und sich dabei dieses „Du“ in überaus zarten, fein gezeichneten, geradezu filigranen Bildern vergegenwärtigt. Und dies, und das ist das durchaus Subtile an dieser Lyrik, in der Weise, dass sie das sehnsüchtige Denken an die Geliebte auslösen.

    Für die Liedmusik sollte das zur Folge haben, dass ihr ein sehnlicher Geist innewohnt. Und dem ist auch so, - was dieses Lied so sehr überzeugend werden lässt. Es ist, wie immer in diesem Opus 1, ein Strophenlied, in das diese Verse liedmusikalisch gefunden haben. Ein Dreivierteltakt liegt ihm zugrunde, die Grundtonart ist A-Dur, und die Vortragsanweisung lautet „Ziemlich schnell“. Die Liedmusik ist ganz und gar auf die Fragen des Refrains ausgerichtet, in denen die Sehnsucht nach der Geliebten einen emphatischen Ton annimmt. In der dritten Strophe wandeln sie sich zwar zu einer Bitte, die Liedmusik bleibt gleichwohl die gleiche. Sie bildet den Schwerpunkt des Liedes, und alles, was sich davor deklamatorisch ereignet, wirkt wie eine Vorbereitung und Hinführung darauf. Das recht lange Zwischen- und Nachspiel empfindet man in seiner sextenbetonten und melodiösen Anlage wie ein überaus liebliches Nachklingen der innigen Emphase, die die Liedmusik in diesem Refrain entfaltet.

    Dass man die Liedmusik auf den ersten vier Versen als eine Art auftaktiges Vorspiel zu der auf den beiden letzten Versen empfinden kann, liegt nicht nur an ihrer Lebhaftigkeit, wie sie sich aus der „ziemlich schnell“ zu deklamierenden melodischen Linie ergibt, die damit in einen starken Kontrast zu den langen Dehnungen im Refrain-Teil tritt, auch ihre Struktur trägt dazu maßgeblich bei. Denn diese konstituiert sich aus deklamatorischen Schritten, die sich wiederholen, dies aber auf ansteigender tonaler Ebene, verbunden mit einer harmonischen Rückung tun, was einen liedmusikalischen Steigerungseffekt zur Folge hat. Und hinzu kommt, dass sich dies in den beiden Melodiezeilen, die aus dem ersten und dem zweiten Verspaar gebildet sind, auch noch in nahezu gleicher Weise wiederholt, mit dem Unterschied freilich, dass bei der zweiten Zeile die Harmonisierung eine andere ist. Während die Harmonik bei der ersten Melodiezeile in konventioneller Weise in der Dominante E-Dur einsetzt, dann eine Rückung in die Tonika A-Dur vollzieht und sich dasselbe danach noch einmal wiederholt, ereignet sich bei der zweiten eine Modulation nach a-Moll, das am Ende eine starke Rückung nach B-Dur vollzieht. Damit öffnet sich die Liedmusik in gleichsam auftaktiger und harmonisch wirkungsstarker Weise für die Emphase, die die melodische Linie, nun wieder in der Dominante zur Grundtonart einsetzend, bei den Worten „Denkst du an mich?“ entfaltet.

    Darin, in dieser melodisch und harmonisch konstruktiven Anlage der Liedmusik wird ihr kompositorisch artifizieller Charakter vernehmlich und fassbar, wie er sich hinter diesem sich volksliedhaft gebenden Strophenlied-Muster verbirgt. Und noch markanter ist dies bei der Struktur des Klaviersatzes ausgeprägt, - was freilich erst der Blick in die Noten wirklich voll und ganz erkennen lässt. Nur dem genauen Hinhören erschließt sich, dass dieser im Diskant aus einem einzigen Ton besteht, einem „E“ nämlich, dies freilich in der kunstvollen Gestalt eines Oktavsprungs mit nachfolgendem Sekundvorschlag, wobei dieser immer erklingt, der Oktavsprung aber im Refrain-Teil entfällt.


    Ein Cornelius-Biograph – Max Hasse mit Namen – sieht den „Ursprung dieser motivischen Führung“ des Klaviersatzes „in der Meisterkunst der lateinischen Kirchenmusik“. Das mag so sein. Viel bedeutsamer ist freilich die Funktion, die diesem strukturellen Merkmal des Klaviersatzes zukommt: Es fungiert wie ein Basso ostinato als klangliche Konstante der Liedmusik und hält deren beide, in der Melodik so stark auseinanderdriftende Teile zusammen. Überdies erfüllt diese permanent repetierende Figur des Diskants die Aufgabe eines ruhenden Gegenpols zu den im Bass sich schweifend unablässig auf und ab bewegenden Achteln. Auch darin setzt sich der erste Liedteil gleichsam vorspielhaft vom zweiten ab. Dort treten nämlich an die Stelle der schweifenden Achtel im Bass mit einem Einzelton auftaktig eingeleitete Achtelakkord-Repetitionen, die als klangliches Fundament für die sich in emphatisch langen Dehnungen entfaltende Melodik dienen.

    Auf fast jedem Wort der beiden letzten Verse liegt ein den ganzen Takt ausfüllender Ton. Nur das kleine Wort „an“ schränkt mit seinem Viertel-Ton, den es in Anspruch nehmen darf, die Dehnungs-Emphase ein wenig ein, die in diesem Schlussteil des Liedes, der ja eigentlich sein Hauptteil ist, waltet. Es sind einfache, aber gewichtige und deshalb ausdrucksstarke deklamatorische Schritte, die die melodische Linie hier vollzieht. Und dabei kommt, wie das ja für den artifiziellen Charakter dieser Liedkomposition bezeichnend ist, der Harmonik wieder eine wichtige Funktion zu. Während die melodische Linie bei ersten Vers des Refrains in drei Schritten, einen Terzsprung einen Quintfall und einen neuerlichen Sprung über das Intervall einer Sexte beinhaltend, einen relativ großen tonalen Raum durchmisst, verharrt sie beim zweiten fast bis zum Ende auf der Ebene eine „Cis“ in oberer Mittelage, bevor sie bei den Worten „du an mich“ einen doppelten Sekundfall vollzieht.

    Dieser ist in der für eine Kadenz konventionellen Weise mit einer harmonischen Rückung von der Dominante E-Dur in die Tonika „A“ verbunden. Zuvor aber, bei dem langen, fast drei Takte übergreifenden Verharren der melodischen Linie, rückt die Harmonik in den extrem dominanten Bereich nach Fis-Dur und verleiht auf diese Weise den Worten „O denkst du“, beziehungsweise „O denk an“ ganz besonderes liedmusikalisches Gewicht.
    Das ist ein weiteres Merkmal der Faktur dieses Liedes, das es als hochgradig artifizielles, weil den lyrischen Text adäquat in Liedmusik umsetzendes kompositorisches Werk ausweist.

  • Ich muss, da es bei YouTube keine andere Aufnahme von diesem Lied gibt, noch einmal auf die Interpretation des ganzen Opus 1 durch die koreanische Sopranistin Kohei Young zurückgreifen. Aber sie macht ihre Sache ja gar nicht so schlecht. Zu hören ist das Lied von der Zeitmarke 9.33 an.


  • Zitat von Helmut Hofmann

    Glücklicherweise liegt für die Lieder von Peter Cornelius eine Gesamtaufnahme vor. Sie ist bei Naxos erschienen und erfasst in Gestalt von vier CDs alle Lieder und Duette mit Klavierbegleitung. Beteiligt daran sind Christina Landshamer (Sopran); Markus Schäfer (Tenor), Hans Christoph Begemann (Bariton), Mathias Hausmann (Bariton) und Mathias Veit

    Lieber Helmut, ungefähr zeitgleich, als ich dieses Threads ansichtig wurde, stöberte ich mal wieder bei JPC, wie ich das ab und zu tue, und siehe da, alle 4 CD's mit den Liedern von Peter Cornelius waren zum großen Teil zum Schnäppchenpreis zu haben. Ich habe sie natürlich sofort bestellt, und dieser Tage müssten sie ankommen. Christina Landshamer habe ich am 16. März noch in Köln als Solistin im Mozart-Requiem erlebt, und wenn ich das richtige im Gedächtnis habe, müsste sie in der neuen Saison dort auch wieder vertreten sein.

    Die beiden CD's, die Freund hart hier erwähnte, in der Gesamtausgabe der Michael-Raucheisen-Edition habe ich auch, da ich die gesamte Edition in meiner Sammlung habe.

    Wenn alles beisammen ist, werde ich mich wieder hier melden un d auch zu der einen oder anderen Aufnahme stellung nehmen, wie du es hier anregtest.


    Liebe Grüße


    Willi:)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Das ist allein schon deshalb zu wünschen, lieber Willi, weil ich nicht auf alle Lieder eingehen kann und will, die auf dieser Naxos-Gesamtaufnahme zu hören sind. Nicht nur aus dem rein praktischen Grund, dass mir nicht immer die entsprechenden Noten zur Verfügung stehen, muss ich eine Auswahl treffen, es ist auch der Aspekt der liedkompositorischen Relevanz, der mich dabei leitet. Cornelius hat ja – anders übrigens als Carl Loewe – als Liedkomponist eine Entwicklung durchlaufen, und für mich ist, wenn ich von meinem chronologischen Ansatz her eine Auswahl aus seinem Werk treffe, immer die Frage von Bedeutung, ob sich in dem anstehenden Lied-Opus oder dem einzelnen Lied etwas liedsprachlich Neues abzeichnet. Ist das nicht der Fall, gehe ich darüber hinweg und wende mich dem nächsten Opus oder Einzellied zu.

    So ist das hier nun schon der Fall. Die Betrachtung des Opus 1 ist abgeschlossen, und nun stünde die des Opus 2 an: „Neun Geistliche Lieder, op.2, >Vater unser<“. Darauf möchte ich mich nicht näher einlassen, weil ich nichts liedsprachlich Neues darin vernehmen kann. Das ist aber sehr wohl beim Opus 3 der Fall, dem kleinen Zyklus mit dem Titel „Trauer und Trost“, und ich hoffe, das aufzeigen zu können.

    Die „Neun Geistlichen Lieder“ stellen Paraphrasen der Bitten des Vaterunsers dar, und dies in Gestalt von in Musik umgesetzten Texten von Cornelius selbst. Hier als Beispiel das erste Lied mit zugehörigem Text in der gesanglichen Interpretation durch Hermann Prey.

    "Vater unser, der du bist im Himmel
    Des lauten Tages wirre Klänge schweigen, Und all der Lärm und Drang verschallt, verhallt; Nun will ich, Vater, dir mich kindlich neigen, Nun soll empor zu dir mein Flehen steigen, Verleih' den Tönen, die mein Mund dir lallt, Gewalt!

    Gleich dem verlornen Sohn mein Herze zaget, Dem reines Glück sein Heimatparadies verhieß, Und der nun in der Fremde irrt und klaget, An keine Pforte mehr zu pochen waget, Weil überall den Fremdling man verließ, verstieß.

    Nun öffne, Vater, wieder ihm die Arme, Daß jeder Schmerz, der es durchbebt, entschwebt; Daß es an deinem Segenshauch erwarme, Daß es genesend von der Irrfahrt Harme, In deiner Gnade Strahl sich neubelebt erhebt. "



    Cornelius verleiht hier seinem christlichen Glauben musikalischen Ausdruck und wählt dafür die Form des geistlich-religiösen Liedgesangs. Sein Biograph Hermann Kretzschmar meint zu diesem ersten Lied: „Als Stimmungspoesie für sich wunderschön, wird man dasselbe als Einleitung zu dem Ganzen nicht ganz passend nennen können“. Und in der Tat gelingt Cornelius ja auch hier wieder, wie das ja sozusagen sein Markenzeichen ist, eine höchst ansprechende und durchaus kunstvoll harmonierte Melodik. Kretzschmar merkt aber zu dem ganzen Opus kritisch an, „daß das Resultat des Unternehmens die Spuren der Absicht trägt und die Kompositionen deshalb nicht den Grad innerlicher Harmonie und Abrundung tragen, der in den meisten Fällen das beste Lob seiner Werke ist.“


    Für mich kommt, was den Aspekt der Auswahl für eine Besprechung anbelangt, hinzu, dass ich liedsprachlich darin keine Weiterentwicklung dessen vernehmen kann, was im Opus 1 vorliegt. Eher ist es ein Schritt zurück, bzw. in eine ganz andere Richtung. Der Prozess, der sich im Opus 1 eins bereits andeutet, nämlich von volkstümlich schlichter Melodik hin zu einer, wie das sechste Lied vernehmen lässt, den lyrischen Text tiefgreifend reflektierenden und deshalb als variiertes Strophenlied angelegten Komposition erfährt hier keine Fortsetzung.
    Wohl aber im Opus 3. Und deshalb werde ich mich diesem nun zuwenden.

  • Opus 2, Lied 8: „Führe uns nicht in Versuchung“


    Bevor ich, wie angekündigt, zur Betrachtung des Opus 3 von Cornelius übergehe, möchte ich, um ein wenig zu konkretisieren, was ich vorangehend zum Opus 2 ausführte, noch einen kurzen Blick auf Lied 8 werfen. Dies deshalb, weil hier in der für das ganze „Vater unser“ typischen Weise auf den melodischen Gestus und die Harmonik geistlicher Musik zurückgegriffen wird. Sein Biograph Hermann Kretzschmar charakterisiert das Lied mit den Worten:
    „Die 8. Nummer >Als Du auf Erden, Herr, gweiltt< mit ihren dorischen Harmonien klingt sehr wie aus alter Zeit, die er im Allgemeinen in diesem Werke durch die Verwendung der Kirchentonarten wiederholt vor die Phantasie holt.“

    „Als du auf Erden, Herr, geweilt, Hast alle Kranken du geheilt; Von jedem Weh Erlösung fand, Wen du berührt mit deiner Hand, Gestreift mit deines Kleides Rand.

    Der Blinde sehend vor dir stund, Der Stumme tat's dem Tauben kund, Du heiltest alles, was da wund; Und zu dem Toten sprach dein Mund: "Steh' auf und wandle!"

    Herr! Herr! meine Seele liegt im Staub, Ist krank und blind und stumm und taub. Sprießt auch ein Quell, der Heilung schafft, Ihn zu erreichen fehlt's an Kraft: O wär' ich frei aus Sündenhaft,

    O, dürft' ich schau'n dein Angesicht, Darum das goldne Himmelslicht Viel strahlenhelle Glorien flicht, Und hören, wie dein Mund mir spricht: "Steh' auf und wandle!"



    Das akkordische Vorspiel atmet choralhaften Geist. Zunächst bewegt sich die melodische Linie, darin den lyrischen Text reflektierend und in Dur-Harmonisierung, in erzählendem Gestus. Auf den Worten „mit deiner Hand“ tritt ein Ritardando in sie, als wolle sie Erwartung aufbauen, und danach geht sie bei den Worten „gestreift mit deines Kleides Rand“ in eine bogenförmige Bewegung über. In der zweiten Strophe ist sie bei den Worten „der Blinde sehend vor dir stund“ zunächst in Moll-Harmonik gebettet. Aber schon beim nächsten Vers tritt wieder Dur-Harmonisierung an ihre Stelle, denn die nachfolgende lyrische Aussage „du heiltest alles, was da wund“ hat hohes Gewicht, was die melodische Linie mit einem Aufschwung in höhere Lage aufgreift. Wenn dann mit den Worten „Steh auf und wandle“ biblische Jesus-Worte zitiert werden, geht sie zu langen, bedeutungsschweren stufenweise ansteigenden, fallenden und am Ende sich wieder erhebenden Dehnungen über. Ein langes, wieder choralartig anmutende Zwischenspiel folgt nach.

    Innigkeit, weil bei der Wiederholung in der Melodik zurückgenommen, atmet der Anruf „Herr! Herr! Danach geht die melodische Linie in lebhafte, den Zustand der Seele auf eindringliche Weise zum Ausdruck bringende Bewegung über. In der letzten Strophe aber, wenn das lyrische Ich mit viel Pathos den innigen Wunsch äußert, vor des Herrn Angesicht treten zu dürfen, entfaltet sie wachsende Expressivität, gipfelt bei „strahlenhelle Glorien“ bogenförmig auf, geht dann aber bei den Worten „und hören, wie dein Mund mir spricht“ in eine ruhige, leicht retardierende Bewegung in mittlerer Lage über, die wie eine Eröffnung für das neuerliche Zitat „Steh auf und wandle“ wirkt.

    Nun ist die aus einem Sprung hervorgehende Dehnung in hoher Lage bei „steh auf“ noch länger. Das Klavier begleitet sie mit einer melodischen Figur, und setzt diese danach in einem Zwischenspiel fort. Auf „Und wandle“ liegt dann ein wiederum in eine lange Dehnung mündender melodischer Fall, der am Ende über einen Terzsprung in eine dritte Dehnung, nun in hoher Lage übergeht. Viel Pathos atmet diese Schlusspassage des Liedes. Es folgt ein Nachspiel mit einer stark terzenbetonten, aus der Melodik der Singstimme hergeleiteten melodischen Figur.

  • „Trauer“, op.3, Nr.1

    Ich wandle einsam,
    Mein Weg ist lang;
    Zum Himmel schau ich
    Hinauf so bang.

    Kein Stern von oben
    Blickt niederwärts,
    Glanzlos der Himmel,
    Dunkel mein Herz.


    Mein Herz und der Himmel
    Hat gleiche Not,
    Sein Glanz ist erloschen,
    Mein Lieb ist tot.

    Dies ist das erste von insgesamt sechs Liedern, die zusammen das Opus 3 bilden, einen „Liedercyklus“ darstellen, der den Titel „Trauer und Trost“ trägt und im Jahre 1858 publiziert wurde. Die fünf Jahre, die zwischen diesem Werk und dem Opus 1 liegen haben eine deutliche Weiterentwicklung der Liedmusik von Cornelius mit sich gebracht. Die dort durchgängig vorherrschende Einfachheit in der Faktur auf der Grundlage des Konzepts eines nicht variierten Strophenliedes und die diesem zugrunde liegende Intention, liedmusikalische Eingängigkeit und klangliche Schönheit zu realisieren, ist hier nicht mehr vorzufinden.
    Zwar behält Cornelius das Prinzip der kleinen Form bei, die Liedmusik weist aber einen höheren Grad der Verdichtung und deutlich gesteigerten Reichtum an Ausdrucksmitteln auf. Auch die zugrundliegenden lyrischen Texte sind von größerer lyrisch-sprachlicher poetischer Qualität.
    Vermutlich hängt dies alles mit einer tiefgreifenden existenziellen Verlust-Erfahrung zusammen, die sich hier künstlerischen Ausdruck sucht: Des Verlusts eines geliebten Menschen. In einem Brief an Liszt bekennt Cornlius: „Das erste Lied spricht einen unersetzlichen Verlust aus. Das zweite – Angedenken. Das dritte: Milderung der Schmerzen. Das vierte: Trost in Träumen. Das fünfte: Versprechen ewiger Treue. Das sechste Erhebung zu Gott.“

    Unter formalem Aspekt handelt es sich bei dieser Komposition um ein variiertes Strophenlied. Es steht in e-moll als Grundtonart, weist einen Zweivierteltakt auf und soll „nicht zu langsam“ vorgetragen werden. Da die Liedmusik auf der zweiten Gedichtstrophe nur am Ende, bei den Worten „dunkel mein Herz“, von der auf der ersten abweicht, die dritte Strophe aber eine ganz und gar eigene aufweist, ergibt sich das formale Strophenschema „A-A´-B“. Von der Faktur her bemerkenswert ist die Tatsache, dass es ein recht langes, nämlich achttaktiges Vorspiel aufweist, und die beiden Zwischenspiele ebenfalls immerhin fast fünf Takte einnehmen. Das deutet auf einen stark ausgeprägten, das Medium der Klanglichkeit in hohem Maße in Anspruch nehmenden, also auf die Evokation von Affekten ausgerichteten musikalischen Ausdruckswillen des Komponisten hin.

    Und diesen vernimmt man auch auf beeindruckende Weise. Das Vorspiel ist aus einem Motiv aufgebaut, das eine fast leitmotivische Funktion für die beiden ersten Strophen entfaltet. Dies nicht nur deshalb, weil es dort die Grundstruktur des Klaviersatzes prägt, sondern auch, weil man es wie das Grundmuster der deklamatorischen Schritte wahrnimmt, in denen sich die melodische Linie der A-Strophe entfaltet. Es ist eine Abfolge von einem gedehnten und zwei kurzen Schritten, denen eine kurzschrittige Fallbewegung folgt, die ihrerseits in eine nachfolgende Dehnung mündet. Im Vorspiel baut sich daraus eine melodische Linie auf, die eine harmonische Modulation zwischen den Tonika e.-Moll, ihrer Dominante und ihrer Subdominante durchläuft und der danach einsetzenden melodischen Linie den Auftakt bereitet.

    In klanglicher Wehmut, weil überwiegend im Tongeschlecht Moll harmonisiert, in dem nur vereinzelt ein Dur aufleuchtet, und von diesem lastenden Gestus geprägt, den das zentrale Motiv in seiner Fallbewegung aufweist, setzt die Liedmusik in ihrem Vorspiel ein. Und darin fährt sie mit dem Erklingen der melodischen Linie fort. Denn diese ist in den vier Melodiezeilen der A-Strophe, denen die vier Verse der Gedichtstrophen zugrunde liegen, nicht nur ebenfalls in diesen Moll-Varianten der Tonika harmonisiert, in die punktuell Dur-Harmonik herein klingt, sie weist in ihrer deklamatorischen Struktur auch diese Ausrichtung auf die Lastigkeit gegen Ende der Zeilen auf, wie man sie aus dem Grundmotiv des Vorspiels kennt.

    Auf den Worten „ich wandle einsam“ setzt die melodische Linie, begleitet vom Klavier mit der Grundfigur des Vorspiels, mit einer deklamatorischen Bewegung ein, der man in den Zeilen der A-Strophe in verschiedenen Varianten immer wieder begegnet. Auf einen auftaktig einsetzenden gedehnten Schritt folgt ein kurzer, der dann in einen deklamatorisch gewichtigen übergeht, der, wie das hier bei der ersten Zeile der Fall ist, aus einem in eine Dehnung mündenden Quartsprung auf dem Wort „einsam“ besteht. Es folgt eine Pause im Wert von zwei Vierteln, bevor die Singstimme mit dem Vortrag der melodischen Linie auf den Worten „mein Weg ist lang“ fortfährt. Diese beschreibt hier einen wiederum auftaktig einsetzenden und in genau der gleichen Weise rhythmisierten, nämlich aus einer Folge von gedehntem Viertel und Achtel bestehenden Terzfall, dem ein Sekundfall nachfolgt. Und wieder wird die melodische Linie von einer – diesmal noch längeren (mehr als einen Takt umfassenden) Pause unterbrochen, in der das Klavier, wie auch bei der ersten Pause, fallende dreistimmige (bzw. zweistimmige im ersten Fall) Akkorde in einer Fallbewegung erklingen lässt, die im Modus der Grundfigur rhythmisiert ist, wie man sie im Vorspiel erstmals vernehmen kann.

    Der Pause kommt in diesem Lied eine wichtige Funktion zu. Sie verleiht den Melodiezeilen dadurch, dass sie sie aus dem liedmusikalischen Kontext gleichsam heraushebt, in ihren Aussagen ein besonderes Gewicht, lässt diese nachwirken und gibt dem Klavier die Möglichkeit, sie im Zwischenspiel zu kommentieren. Und Cornelius setzt die Pause in der A-Strophe nur dort ein, wo der jeweilige Vers eine lyrische Einzelaussage enthält, also – bei der ersten Strophe: „ich wandle einsam“ und „mein Weg ist lang“. Bei den beiden nächsten Versen ist das nicht der Fall, also bindet er die Worte „Zum Himmel schau ich hinauf so bang“ in eine einzige, nicht durch eine Pause unterbrochene Melodiezeile ein. Sie endet aber, nach einem Auf und Ab der melodischen Linie in mittlerer Lage, in der gleichen Weise wie die vorangehende: Mit einer Kombination aus gedehntem Terzfall und nachfolgendem, in eine Dehnung mündenden Sekundfall, der mit einer Rückung vom bislang dominierenden Tongeschlecht Moll hin zum Dur verbunden ist. Es ist das rhythmische Grundmuster, das das Lied in der A-Strophe sowohl im Klaviersatz, wie auch in der Melodik maßgeblich prägt.

    Herrschte in der A-Strophe mit Ausnahme der ersten Melodiezeile die in Moll harmonisierte Fallbewegung vor, die am Ende zwar in Dur-Harmonik mündete, vom Klavier aber fortgesetzt und in ihrer musikalischen Aussage der schmerzerfüllten Klage vertieft wird, wie man das in beeindruckender Weise bei den Worten „dunkel mein Herz“ am Ende der zweiten Strophe vernehmen und erleben kann, so geht die Liedmusik in der dritten Strophe zu einem neuen Ton über. Es ist der einer stärker extrovertierten, das Piano verlassenden und sich in die Expressivität des Forte begebenden Klage, die infolgedessen zunächst auch den Gestus der melodischen Fallbewegung verlässt. Das gilt freilich nur für die Liedmusik auf den ersten drei Versen. Beim letzten, den in ihrem schlicht konstatierenden Charakter fast schon erschreckenden Worten „Mein Lieb ist tot“, nimmt sich die Liedmusik wieder in die Introversion zurück.

    Die markanteste Wandlung ereignet sich im Klaviersatz. Er besteht nun durchgängig – mit Ausnahme der letzten beiden Takte des viertaktigen Nachspiels - aus Achtelakkord-Repetitionen in Diskant und Bass, und er entspricht darin dem auf Expressivität ausgerichteten Gestus der melodischen Linie und verstärkt ihn auf diese Weise.. Diese verharrt bei den Worten „mein Herz und der Himmel“ zunächst ebenfalls in Tonrepetitionen auf oberer Mittellage, geht aber dann, nach einem Terzfall auf dem Wort „Himmel“ und einer nachfolgenden Achtelpause bei den Worten „hat gleiche Not“ zu einem dreifachen, in eine lange, den Takt übergreifende Dehnung in hoher Lage bei dem Wort „Not“ über, die das Klavier im Diskant mit im Intervall kontinuierlich sich verengenden bitonalen Akkorden begleitet. Die Harmonik rückt dabei vom Moll- in den Dur-Bereich, und das auf ebenfalls ausdrucksstarke Weise, nämlich von a-Moll nach G-Dur. Die Liedmusik, für deren Vortrag am Beginn der dritten Strophe die Anweisung „nach und nach immer bewegter und stärker“ gilt, erreicht hier den Höhepunkt ihrer Expressivität.

    Bei den Worten „sein Glanz ist erloschen“ beschreibt die melodische Linie forte eine zweimalige, jeweils in zwei deklamatorischen Schritten über das Intervall einer Terz erfolgende Fallbewegung, die deshalb einen so hohen Grad an Expressivität aufweist, weil sie beim zweiten Mal auf einer um eine kleine Sekunde angehobenen tonalen Ebene in hoher Lage ansetzt, was mit einer ausdrucksstarken harmonischen Rückung verbunden ist: Von Es-Dur nach es-Moll, und danach von A-Dur nach a-Moll. Die lyrische Aussage findet auf diese Weise einen ihren schmerzlichen Bekenntnischarakter auf beeindruckende Weise verstärkenden musikalischen Ausdruck.

    Und das gilt auch für den letzten Vers, die in sprachlich elementarer Weise auf schlichte Faktizität reduzierten Worte „mein Lieb ist tot.“ Welch enge Symbiose die Liedmusik mit dem lyrischen Wort bei Cornelius einzugehen vermag, wenn sie, wie hier im Opus 3 zu sich selbst gekommen ist, das zeigt sich nicht nur in diesem Lied ganz allgemein, es wird bei dieser, nach einer Pause im Wert von zwei Vierteln einsetzenden letzten Melodiezeile auf besonders beeindruckende Weise sinnfällig.
    Die melodische Linie geht mit einem Terzfall zunächst bei dem Wort „Lieb“ in eine lange Dehnung in mittlerer Lage über, die bemerkenswerterweise in Dur (D-Dur) harmonisiert ist. Danach erhebt sie sich noch einmal um eine Sekunde, aber nur, um erneut in einen Terzfall in die noch tiefere Lage eines „G“ überzugehen. Und daraus will sie gar nicht mehr herausfinden. Sie verharrt darin in nicht enden wollender Weise über fast vier Takte.
    Das Klavier begleitet sie dabei mit seinen repetierenden Akkorden in Bass und Diskant und moduliert dabei harmonisch permanent zwischen g-Moll und den zugehörigen Dur- und Moll-Dominanten, um am Ende sich dann doch in dem diesem Lied zugehörigen Tongeschlecht Moll mit einem Schlussakkord einzufinden.

  • Beim Opus 3 liegt der für mich höchst erfreuliche Fall vor, dass ich einen Link zu einer herausragenden gesanglichen Interpretation anbieten kann. Hier ist das Lied "Trauer" zu hören: Es singt Margaret Price, und sie wir begleitet von Graham Johnson.


  • liegt der für mich höchst erfreuliche Fall vor, dass ich einen Link zu einer herausragenden gesanglichen Interpretation anbieten kann.

    Aus einem Nachruf von Markus Thiel im Münchner Merkur:

    »Eine Klang gewordene Melancholie und Sehnsucht ›sprach‹ aus dem Gesang der Price. Ihre Kunst war keine des gleißenden Tages, sondern die einer Nacht, die vom verführerischen Mondlicht erhellt wird.«

  • Zu dem von hart eingebrachten Zitat aus dem Münchner Merkur: „Eine Klang gewordene Melancholie und Sehnsucht ›sprach‹ aus dem Gesang der Price.“


    Ich meine, man kann das auch in dem vorangehend vorgestellten ersten Lied von Opus 3 mit dem Titel „Trauer“ auf höchst beeindruckende Weise vernehmen und erleben.
    Es sind ja große Einsamkeit, tiefe Bangigkeit, Melancholie und Trauer, die in seiner Musik zum Ausdruck kommen. Und Margaret Price trägt sie in einer interpretatorisch so tief auf die Melodik sich einlassenden Art und Weise vor, dass man in der Tat den Eindruck gewinnt, dass all das, was die Seele des lyrischen Ichs bedrückt, zu Klang geworden ist.

    Cornelius legt in der ersten Strophe auf die ersten beiden Verse eine je eigene Melodiezeile, der durch die nachfolgende Pause in dem, was die melodische Linie zu sagen hat, eine große Bedeutsamkeit verliehen wird. Und Margaret Price lässt diese in der gesanglichen Gestaltung derselben so vernehmen, dass man ihr dabei geradezu gebannt folgt.

    Es sind immer die letzten deklamatorischen Schritte einer Melodiezeile, denen sie so große Nachdrücklichkeit verleiht, - und das in jeweils höchst subtiler, die Aussage des lyrischen Textes reflektierender und dabei immer im vorgegebenen Piano verbleibender Form.
    Bei dem in a-Moll gebetteten Legato-Quartsprung auf dem Wort „einsam“ geht sie zu einem leichten Crescendo über und verleiht danach der Tonrepetition einen zarten Akzent.
    Die Fallbewegung auf den Worten „mein Weg ist lang“ gibt sie in einer jeden deklamatorischen Schritt betonender Nachdrücklichkeit wieder, dabei besonders den verminderten Sekundfall auf „lang“ hervorhebend.
    Und in ähnlicher Weise verfährt sie dann auch bei der längeren Melodiezeile auf dem zweiten Verspaar. Dadurch, dass sie die Dehnung, in die der kleine Sekundsprung auf dem Wort „hinauf“ mündet, lange hält, gewinnt der nachfolgende, eine Terz tiefer ansetzende und mit einer gewichtigen harmonischen Rückung von e-Moll nach F-Dur einhergehende Sekundfall auf den Worten „so bang“ eine so starke Ausdruckskraft, dass man die große seelische Bangigkeit des lyrischen Ichs geradezu zu verspüren meint.

  • „Angedenken“, Op.3. Nr.2

    Von stillem Ort,
    Von kühler Statt
    Nahm ich mit fort
    Ein Efeublatt.

    Ein Requiem
    Tönt leis´ und matt,
    So oft ich nehm´
    Zur Hand das Blatt.


    Wenn aller Schmerz
    Geendet hat,
    Legt mir aufs Herz
    Das Efeublatt.

    Die lyrische Sprache von Peter Cornelius zeichnet sich durch einen für sie charakteristischen Gestus der Reduktion auf die in gleichsam elementarer Form erfolgende konstatierende Aussage aus. Und das gilt, Dichtermusiker, der wesenhaft war, auch für die Liedmusik darauf.
    Wie das lyrisch-sprachlich in den drei Strophen der Fall ist, entfaltet sie sich in wie additiv-reihend anmutender Weise in Gestalt von einzelnen, durch Achtelpausen voneinander abgesetzten geradezu minimalistischen Melodiezeilchen, wobei die Pausen zwischen ihnen nur am Strophenende ein wenig länger werden, nämlich einen Takt einnehmen. Und das wundert ja auch nicht, angesichts dieser lyrischen Sprache, die sich auf schiere konstatierende Sachlichkeit beschränken zu wollen scheint. Nur in der zweiten Strophe bilden die vier Verse eine den konstatierenden Gestus vorübergehend verlassende syntaktische Einheit, durch das temporale „so oft“ hergestellt. Und siehe: Auch die Liedmusik findet hier, auf dem zweiten Verspaar dieser Strophe, zu einer, einmal nicht durch eine Achtelpause unterbrochene, sich in einer größeren Melodiezeile entfaltenden Einheit.

    Der Cornelius-Biograph Max Hasse („Der Dichtermusiker Peter Cornelius“, Leipzig 1922) hält diese Komposition für die „Blumenkrone dieser Lieder und der Cornelianischen reinen Liebeslyrik überhaupt“. Und er scheut sich, dazu irgendetwas liedanalytisch zu sagen, dies mit der Begründung: „Der Feder widerstrebt es, Gesang und Begleitung zu zergliedern; das analysierende Wort würde ihr wehe tun.“
    Das kann ich mir leider nicht zur Maxime machen, ich müsste dann nämlich meine Betätigung hier im Liedforum einstellen. Aber verstehen kann ich Max Hasse schon: Von dieser Liedmusik geht eine wunderbare Ruhe aus, wie von einem Requiem, das am Grab der Geliebten gesanglich zelebriert wird. Das Efeublatt, das als Symbol für das Leben das metaphorische Zentrum des lyrischen Textes und des Liedes darauf bildet, hatte Cornelius von der von Efeu überwachsenen Esche am Grab seiner Freundin gepflückt, die den Familiennamen Hestermann trug.

    Dem Lied liegt ein Zweivierteltakt zugrunde, die Grundtonart ist G-Dur, und es soll „sehr langsam“ vorgetragen werden. Die melodische Linie wird durchweg ausschließlich von im Bass staccato anzuschlagenden, aber mit Legato-Bögen versehenen vier- bis sechsstimmigen Viertel-Akkorden begleitet. Der Klavierdiskant bleibt leer. Wenn sich auch in der zweiten Strophe zweimal die Anweisung „betont“ findet, verbunden mit einem auf einen einzigen Takt beschränkten Ausbruch ins Forte, unmittelbar darauf, in der eineinhalbtaktigen Pause für die Singstimme am Ende der zweiten Strophe, geht das Klavier mit seinen Akkorden von diesem Forte ins Pianissimo über. Und das muss es auch, denn diese Liedmusik wirkt, als wäre sie der Stille des Herzens abgerungen.

    Auch wenn das Klavier im ersten Takt mit zwei Akkorden einsetzt, so handelt es sich hier doch nicht um ein Vorspiel, vielmehr um die Grundfigur des Klaviersatzes im Zusammenspiel mit der melodischen Linie der Singstimme. Denn diese setzt mit ihren kleinen, durchweg (mit einer Ausnahme) nur einen Vers umfassenden Zeilen immer erst auf dem dritten Akkord der zwei Takte einehmenden Vierergruppe ein und erstreckt sich in Gestalt einer Dehnung am Ende über die beiden ersten Akkorde der nächsten Gruppe. Das wirkt so, als würde das Klavier mit diesen Akkordgruppen die Singstimme mit ihren wie kleine melodische Inseln anmutenden Zeilen nicht nur tragen, sondern darüber hinaus auch noch auffangen.

    Den Eindruck, getragen und aufgefangen werden zu müssen, erweckt die melodische Linie durch die stockende Bewegung, in der sie sich entfaltet und die Anmutung von großer Müdigkeit, die davon ausgeht. Sechs Mal, jeweils auf den ersten beiden Versen der drei Strophen, beschreibt sie eine über zwei Terzen und eine Sekunde erfolgende und am Ende in eine Dehnung in tiefer Lage mündende Fallbewegung. Dabei ereignet sich jeweils eine Rückung in die harmonische Dominante. Die Tonarten wandeln sich dabei aber, denn diese melodische Figur setzt auf unterschiedlichen tonalen Ebenen ein. In der dritten Strophe ist diese freilich identisch mit der ersten. Immer aber gilt, und das darf man wohl als Ausdruck von Müdigkeit verstehen und werten, dass die Figur, die auf zweiten Vers der Strophen liegt, auf einer um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene einsetzt, so dass sich also in der ersten und der dritten Strophe eine harmonische Rückung erst von G-Dur nach D-Dur, und danach von B-Dur nach F-Dur ereignet. In der zweiten Strophe wird aus diesem Prinzip der Rückung in die Dominante eine von B-Dur nach F-Dur und von As-Dur nach Es-Dur.

    Warum aber immer wieder diese harmonischen Rückungen, – von der Tonika in die Dominante bei der Melodiezeilen der beiden ersten Verse der Strophen, und immer wieder vom Tongeschlecht Moll nach Dur bei der Melodik auf dem jeweils zweiten Verpaar? Diese ist zwar dort in allen drei Strophen nicht, wie beim ersten Verspaar, von einer Tendenz zum Fallen geprägt, neigt vielmehr dazu, auf mittlerer tonaler Ebene in Gestalt von Tonrepetitionen oder gar Dehnungen – wie in der zweiten Strophe – zu verharren und nur um eine Terz nach unten davon abzuweichen, gleichwohl mutet sie auch hier wesenhaft müde an. Denn die Bewegung bleibt ja nicht nur eine stockende, sie mündet auch in diesen kleinen Zeilen am Ende in eine Dehnung.

    Das gilt auch für die melodische Linie auf dem zweiten Verspaar der zweiten Strophe, den Worten „so oft ich nehm´ zur Hand das Blatt“ also. Hier ist sie zwar nicht, abweichend von der Melodik auf allen anderen Versen, nicht von einer Pause unterbrochen, aber sie verharrt in bemerkenswerter Beharrlichkeit, sogar in Gestalt von zwei Dehnungen auf der Ebene eines „As“ in mittlerer tonaler Lage, das sich am Ende, bei den Wort „Blatt“ um eine kleine Sekunde zu einem gedehnten „A“ erhebt, verbunden mit der geradezu kühnen harmonischen Rückung von As-Dur nach A-Dur. Aber diese Dehnung auf dem „As“, auf dem das Wort „nehm´“ deklamiert wird, ist ja doch im Grunde ein Ersatz für die ansonsten hier übliche Pause, und bei beiden Teilen dieser versübergreifenden Melodiezeile ereignet sich die übliche Rückung von Moll nach Dur, wie das generell für die Liedmusik auf den zweiten Verpaaren der drei Strophen gilt.

    Warum also?
    Die Liedmusik selbst gibt die Antwort darauf, - in ihrer so engen, geradezu symbiotischen Verbindung, die sie mit dem lyrischen Text eingeht, und sich darin als Werk des Dichtermusikers Cornelius ausweist.
    Das Efeublatt fungiert in diesen Versen als lyrisches Symbol für Leben, - ein Leben, das in Trauer um die Geliebte verharrt, gleichwohl sich als solches darin bewahren will, so dass, wenn es denn wirklich einmal erloschen sein sollte, das Efeublatt auf das Herz gelegt werden möge. Dieser Wille zu leben, zum Fortleben im Schmerz und in der Trauer um die Geliebte ist es, der diese Liedmusik in allen ihren Bereichen in fundamentaler – und durchaus beeindruckender Weise prägt.

    Daher also diese harmonischen und tongeschlechtlichen Rückungen, die sich permanent in den akkordischen Vierergruppen ereignen, darin die wie von Schmerz und Müdigkeit zerstückt wirkende melodische Linie immer wieder auffangen und sie am Ende, auf den Worten „das Efeublatt“, bei dem letzten mit einem Terzsprung eingeleiteten Fall über eine kleine Sekunde, auf der Quarte zum Grundton enden lassen, dieses Mal von der Dominante A-Dur zur Tonika D-Dur.
    Die Liedmusik will sagen: Dieses lyrische Ich hat einen schweren Verlust erlitten, - aber es will den Schmerz und die Trauer darum leben.

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  • Hier dieses Lied wieder in der sein klangliches Wesen voll erfassenden und deshalb so stark beeindruckenden Interpretation von Margaret Price:


  • So positiv habe ich mich über die gesangliche Interpretation des Liedes „Angedenken“ durch Margaret Price geäußert, weil es mir darin in all der sich in seiner Musik niederschlagenden Zartheit der Bilder und Gefühle begegnete und mich tief anzurühren vermochte.
    Nun höre ich diese Interpretation von Emmi Leisner …



    …und bleibe ein wenig ratlos zurück.
    Dasselbe Lied, und doch ein ganz anderes.
    Im Vergleich zu Margaret Price wirkt – ein wenig mitbedingt wohl auch durch die Tatsache, dass man ihr das Mikrophon direkt vor den Mund gehängt hat - der gesangliche Zugriff auf die melodische Linie bei Emmi Leisner ungemein direkt, bis hin zu dem geradezu schroff anmutenden Abschluss der Melodiezeilen in der harten Artikulation der dentalen und sonoren Konsonanten am Ende.


    Und doch! Diese Interpretation rührt mich nicht zart und sanft an, sie packt mich!
    Warum?
    Emmi Leisner zielt auf das schmerzliche Getroffen-Sein des lyrischen Ichs durch seelisches Leid ab und bringt es auf solch geradezu ungeheuerlich direkte Art und Weise zum Ausdruck, dass man sich als Hörer selbst getroffen fühlt.


    Sehr gerne wüsste ich, wie die Liedgesang-Freunde des Forums darüber denken.

  • Mir gefallen beide Interpretationen, wobei die explosionsartig gesungenen Endkonsonanten in der zweiten Version schon das romantische Bild stören. Die erste Version ist insgesamt runder, die zweite eckiger, direkter, packender. Im Augenblick weiß ich noch nicht, welche Version ich öfter wiederhören werde, aber ich werde beide Versionen in den nächsten Tagen mehrfach hören, beide sind berührend.

  • Und doch! Diese Interpretation rührt mich nicht zart und sanft an, sie packt mich!
    Warum?
    Emmi Leisner zielt auf das schmerzliche Getroffen-Sein des lyrischen Ichs durch seelisches Leid ab und bringt es auf solch geradezu ungeheuerlich direkte Art und Weise zum Ausdruck, dass man sich als Hörer selbst getroffen fühlt.

    Was soll man dazu sagen? Zunächst ganz großen Dank für die Einstellung dieser beiden ganz hervorragenden Aufnahmen! Dieses wunderschöne Lied wäre ohne diesen Thread wahrscheinlich an mir vorbeigegangen ... und das wäre schade gewesen.


    Das kommt davon, wenn man 74 Interpretationen von Schumanns op. 42 im Regal stehen hat, was aber auch aufzeigt, wie wichtig es ist verschiedene Interpretationen zu kennen. Beim Vergleich dieser beiden Aufnahmen wurden die Wörter »hervorragend« und »wunderschön« benutzt, was vielleicht floskelhaft wirkt, aber aus einer gewissen Begeisterung heraus so gewählt wurde.


    Bei diesen beiden Aufnahmen geht es ja nicht um Nuancen, da sind ganz erhebliche Unterschiede zu konstatieren, die da wären:

    In der Aufnahmetechnik besteht eine Zeitspanne von etwa 70 Jahren, und wir hören so unterschiedliche Stimmlagen wie Sopran und Alt. Auch aussprachetechnisch hat sich in dieser Zeit einiges geändert. Wenn ich es recht erinnere, hat Elisabeth Schwarzkopf einmal in einem ihrer Meisterkurse eine Studentin wegen einer zu starken r-Betonung korrigiert und darauf hingewiesen, dass man ja auch kein gerolltes rrr am Ende eines Wortes spricht, gab aber auch zu, dass das eben früher so in der Gesangsausbildung eingeübt wurde. In der Bühnensprache war das überbetonte r in früheren Jahren auch stärker verbreitet. Emmi Leisner macht auch die t und tt deutlich hörbar, was bei Margret Price so gut wie nicht zum Ausdruck kommt, aber überhaupt nicht zu bemängeln ist.

    Also ratlos bin ich da nicht, soweit man von mir keine Entscheidung verlangt, welche Interpretation besser sei. Natürlich stört der exzessive Gebrauch des rollenden r aus heutiger Sicht, aber die Exklusivität dieser Altstimme ist nicht zu überhören, das packt einen in der Tat; eine Stimme, die absolut zum Text passt.


    Von stillem Ort,

    Von kühler Statt

    Nahm ich mit fort

    Ein Efeublatt.


    Ein Requiem

    Tönt leis´ und matt,

    So oft ich nehm´

    Zur Hand das Blatt.


    Wenn aller Schmerz

    Geendet hat,

    Legt mir aufs Herz

    Das Efeublatt.

  • ... aber ich werde beide Versionen in den nächsten Tagen mehrfach hören, beide sind berührend.


    Es freut mich, das zu lesen, lieber m-mueller!
    Wie ich sehe, haben wir gemeinsam, dass wir beide diese beiden Aufnahmen des Liedes trotz der großen Unterschiedlichkeit des gesanglich-interpretatorischen Ansatzes als gültige Wiedergaben der Liedmusik von Peter Cornelius empfinden.
    Und das zeigt doch, wie ich meine, dass diese bei all der Einfachheit und Bescheidenheit in ihrem Auftreten in ihrer Aussage alles andere ist als eindimensional.

  • Also ratlos bin ich da nicht, soweit man von mir keine Entscheidung verlangt, welche Interpretation besser sei.


    Du scheinst, lieber hart, eher der Interpretation von Emmi Leisner den Vorzug geben zu wollen. Und ich kann´s verstehen, fühlte ich mich doch selbst regerecht gepackt von ihrem gesanglichen Vortrag des Liedes.
    Auf der anderen Seite: Das ist ein sehr stilles Lied, Schmerz und Trauer des lyrischen Ichs sind innig und verhalten, „ein Requiem tönt leis´ und matt, so oft ich nehm´ zur Hand das Blatt“ heißt es darin. Und das kommt, wie ich finde, bei Margaret Price besser zum Ausdruck.

    Aber beides sind gültige Interpretationen des Liedes, insofern sie gerade in der großen Unterschiedlichkeit dessen, was sie zum Ausdruck bringen, die Polylvalenz der Liedmusik vernehmlich werden lassen.
    Und hier zeigt sich, wie recht Du hast, wenn Du darauf verweist, „wie wichtig es ist, verschiedene Interpretationen zu kennen.“ Das habe ich lange nicht sehen wollen, bei meiner Fixiertheit auf die Liedmusik als solche. Inzwischen habe ich mich da eines Besseren belehren lassen, - nicht zuletzt durch Deine Beiträge zum Liedforum.

    Dein Hinweis „In der Aufnahmetechnik besteht eine Zeitspanne von etwa 70 Jahren“ erklärt gut die deklamatorische Auffälligkeit, wie sie bei Emmi Leisner in Gestalt der prononcierten artikulatorischen Hervorhebung der sonoren und dentalen Konsonanten besteht.
    Aber er macht mich aus noch einem anderen Grund nachdenklich:
    Für dieses Alter der Aufnahme ist die Interpretation eigentlich erstaunlich modern: In der gesanglichen Ausrichtung auf die der Aussage des lyrischen Textes inhärenten affektiven Dimensionen.
    Emmi Leisner ist zweifellos eine der großen Liedinterpretinnen.
    (Und ich kannte sie nicht! Bis Du mich dankenswerterweise vor kurzem auf sie aufmerksam gemacht hast.)

  • „Ein Ton“, op.3, Nr.3

    Mir klingt ein Ton so wunderbar
    In Herz und Sinnen immerdar.
    Ist es der Hauch, der dir entschwebt,
    Als einmal noch dein Mund gebebt?
    Ist es des Glöckleins trüber Klang,
    Der dir gefolgt den Weg entlang?
    Mir klingt der Ton so voll und rein,
    Als schlöß´ er deine Seele ein.
    Als stiegest liebend nieder du
    Und sängest meinen Schmerz in Ruh.

    Mir kommen, wenn diese persönliche Bemerkung gestattet ist, bei der Lektüre dieser Cornelius-Gedichte des Zyklus „Trauer und Trost“ immer wieder Rückerts „Kindertotenlieder“ in den Sinn. Und mir scheint: Sie sind der gültigere, lyrisch-sprachlich besser bewältigte und gelungene Niederschlag der künstlerischen Auseinandersetzung mit einer durch den Tod eines geliebten Menschen verursachten Verlust-Erfahrung.
    Selbst in einer imaginativen Wieder-Begegnung mit der Verstorbenen, wie sie durch einen Ton ausgelöst wird und das Als-Ob eines Niedersteigens aus dem Jenseits einschließt, meidet Cornelius jegliches unwahrhaftig wirkende Pathos, bleibt – was seine Art zu sein scheint – lyrisch-sprachlich bemerkenswert knapp, direkt, fast sogar nüchtern. Alle Erfahrungen werden – unter Umgehung jeglicher emotional überladenen Metaphorik - als Fragen notiert, sprachlich in das Als-Ob des Konjunktivs gebettet und in das pro Vers gleichförmig dahingehende Metrum des vierfüßigen Trochäus eingebracht.

    Und wie ist das mit der Liedmusik darauf? Die Antwort kann man wohl in klarer und eindeutiger Weise geben: Sie erfasst den lyrischen Text in seinem poetischen Wesen in vollkommener Weise, wird ihm mit ihren Mitteln nicht nur ohne Einschränkung gerecht, sondern erschließt darüber hinaus die gleichsam untergründigen Ebenen seiner Semantik. Und das Faszinierende dabei ist die Art und Weise, wie das hier geschieht. Nicht nach dem sozusagen klassischen Muster des Zusammen- und Wechselspiels von klanglich dominanter, ihr evokatives Potential im Aufgreifen des lyrischen Textes entfaltender Melodik und funktional mehr oder weniger komplexem Klaviersatz. Nein, in diesem Lied ereignet sich gleichsam eine Perversion dieses klassischen Musters: Die Singstimme deklamiert den lyrischen Text von Anfang bis Ende auf nur einem einzigen Ton, einem „H“ in mittlerer Lage und das Klavier singt dazu eine Melodie in Gestalt eines die Singstimme umspielenden, sie wie in ein klangliches Gewand bettenden Klaviersatzes.

    Der „Dichtermusiker“ Cornelius hat seine Verse auf geradezu ungeniert direkte Weise in Liedmusik gesetzt: Der Singstimme ist „der Ton“ zugewiesen, sie hat ihn in seiner klanglichen Substanz von Anfang bis Ende des Liedes zu halten und zu wahren. Aber diese Substanz ist ja, wie der lyrische Text dies ausführt, eine höchst komplexe, und so kommt es denn dem Klavier zu, diese inhaltliche Komplexität des singulären „Tons“ auszufalten, vernehmlich werden zu lassen. Aber auch dem gesanglichen Interpreten wird das, diese sozusagen nebenbei, abverlangt. Der melodramatische Auftrag, den Cornelius ihm da aufbürdet, ist ein zweifellos großer, beinhaltet er doch die Einbeziehung all der semantischen Dimensionen des lyrischen Textes auf der Basis der Deklamation eines einzigen Tones.

    Aber das Klavier leistet dabei ja Hilfestellung und bereitet der Singstimme sozusagen den Pfad, den sie bei der Aufgabe, die ihr im Rahmen dieses kompositorischen Konzepts des „liegenden Tons“ im Sinne einer klanglichen Ausleuchtung desselben zukommt, zu beschreiten vermag. Mit einem zwei Mal angeschlagenen und lang gehaltenen, weil mit einer Fermate versehenen Ton „H“ setzt es ein. Es ist der „Ton“, den die Singstimme dann übernimmt, um ihn silbengetreu immer wieder zu deklamieren. Dies freilich nicht durchweg in Gestalt von Achteln, vielmehr entsteht durch eingelagerte kleine Dehnungen eine rhythmische Struktur in dieser liegenden melodischen Linie. So tragen zum Beispiel bei den ersten beiden Versen die Worte „Ton“, die letzte Silbe von „wunderbar“ und die erste Silbe von „immerdar“ eine solche Dehnung. Und durchweg bilden je zwei Verse eine melodische Einheit, die am Ende in eine lange Dehnung mündet, der eine mehr als eintaktige Pause für die Singstimme nachfolgt, die das Klavier mit unterschiedlichen melodischen Figuren ausfüllt. In dieser metrisch-rhythmischen Grundstruktur setzt die liegende Melodik des Liedes Akzente auf semantisch relevante Worte und reflektiert mit der Gliederung in fünf Einheiten die syntaktische Struktur des lyrischen Textes.

    In der Folge der aus Einzeltönen und Akkorden gebildeten Figuren zeichnen sich im Klaviersatz tatsächlich melodische Linien ab. Und sie sind bemerkenswerterweise in genau der gleichen Weise phrasiert, wie die liegende Linie der Singstimme das ist. Der Klaviersatz ist also in fünf Einheiten untergliedert, denen dann noch ein langes, nämlich sich über zehn Takte erstreckendes Nachspiel folgt. Auf den beiden ersten Verspaaren ist der Klaviersatz identisch, bei den nachfolgenden drei Paaren variiert er, und dies recht stark. Wie er sich überhaupt durch eine ausgeprägte Vielgestaltigkeit auszeichnet. Und es ist recht deutlich zu vernehmen, dass sich darin die Reflexion der Aussage des lyrischen Textes niederschlägt.

    So besteht die erste, sich wiederholende Phrase des Klaviersatzes aus einer im Diskant in hohe Lage aufsteigenden Folge von Achteln, die sich immer wieder bitonal erweitern, wobei die Sexte und die Terz bevorzugt werden. Am Ende der beiden Verspaare, also bei den Worten „immerdar“ und „gebebt“, verharrt diese Folge von Achteln und bitonalen Achtel-Akkorden in hoher Lage und senkt sich danach in der Pause in Gestalt einer klanglich höchst eindrücklichen, weil ausschließlich aus Terzen und Sexten gebildeten Figur in tiefe Lage ab. Harmonisch ereignen sich dabei permanente Rückungen von der Grundtonart e-Moll in die Dur-Parallele „G“. Ihr kommt eine wichtige Funktion in der Liedmusik zu, denn sie wird, nachdem sie zweimal erklungen ist, im Nachspiel noch einmal aufgegriffen. Man darf sie wohl, wie die ganze Klaviersatz-Passage auf dem ersten und dem zweiten Verspaar, als musikalischen Ausdruck des stillen Einverständnisses mit den Empfindungen auffassen und verstehen, die sich beim lyrischen Ich im Zusammenhang mit dem „Ton“ einstellen.

    Auch die dritte Passage des Klaviersatzes reflektiert in deutlich vernehmlicher Weise die lyrische Aussage: „Des Glöckleins trüber Klang“ schlägt sich in ihm in Gestalt einer in hoher Lage wellenartig auf und sich vollziehenden Folge von Achteln nieder, in die sich Moll-Harmonik hineindrängt und die am Ende, nach der Dehnung der melodischen Linie auf dem Wort „entlang“, in eine Fallbewegung mündet. Es ist dabei aber durchaus aussagekräftig, dass die Harmonik hier eine Rückung in die Dur-Dominante der Tonika e-Moll macht, die wie eine Aufforderung an die Singstimme wirkt, sich nun noch einmal den lyrischen Aussagen über den „Ton“ zu widmen. Und das tut sie ja dann auch mit den Worten: „Mir klingt der Ton so voll und rein, als schlöß´ er deine Seele ein.“
    Und weil das ein gar so schönes Bild ist, geht das Klavier nun zu einer akkordischen Begleitung der Singstimme über, die zwar, weil es sich hier ja um die imaginative Vergegenwärtigung einer geliebten Verstorbenen handelt, in e-Moll harmonisiert ist, darin aber einen durchaus positiv anmutenden Gestus walten lässt, - in Gestalt von mehrfachen dreistimmigen Akkord-Repetitionen, die am Ende, noch während der sehr langen melodischen Dehnung auf dem Wort „ein“, in eine in hohe Lage führende und in einer Dehnung endende Folge von Achteln im Diskant übergeht, die im Bass von einem lang gehaltenen Dominant-Sextakkord begleitet wird.

    Auch die letzte Passage des Klaviersatzes, also die auf dem letzten Verspaar, ist in dieser Weise von Akkord-Repetitionen geprägt, die aber nun, mit der kleinen Ausnahme einer Rückung in Moll-Harmonik bei den Worten „meinen Schmerz“, ganz und gar im Tongeschlecht Dur harmonisiert sind. Das Wort „Ruh´“, in dem der lyrische Text endet, will das so. Das letzte „H“, das von der Singstimme in Gestalt einer langen Dehnung deklamiert wird, ist in E-Dur harmonisiert. Das Klavier kehrt allerdings in seinem Nachspiel, in dem es auf die Figuren aus der ersten und zweiten Phrase zurückgreift, zum Kern der lyrischen Aussage zurück: Die Vergegenwärtigung eines verstorbenen Menschen im Erlebnis eines Tones. Und das kann letzten Endes, bei aller Beseligung, die die einzelnen Bilder dabei mit sich bringen mögen, mit dem Eintritt in die Gegenwart musikalisch nur in Moll-Harmonik enden.

    Der letzte Ton des Liedes ist wieder das zweifache fermatierte „H“, mit dem das Klavier einsetzte und das es an die Singstimme weitergab. Es erklingt im Diskant, und der Bass schweigt dazu. Die aus ihm zuvor aufsteigende und bis in den Diskant reichende Folge von Achteln ist die eines e-Moll-Akkords. Womit dieses letzte einsame „H“ die maßgebliche klangliche Prägung erfahren hat.

  • Abweichend von meiner bisherigen Verfahrensweise möchte ich bei diesem Lied nicht die Interpretation von Margaret Price, sondern diese hier vorstellen. Felicity Lott trifft, wie ich finde, gesanglich seinen Geist noch um eine Spur besser, was besonders bei den beiden letzten Versen vernehmlich wird. Sie wird begleitet von Graham Johnson.


  • außerordentliches Stück, ziemlich genial!!

    Ja, lieber m-mueller! Und hier kannst Du hören, worin dieses Außerordentliche u.a. besteht:

    Wie überaus kunstvoll sich der Klaviersatz um das permanent gehaltene "H" schlingt und windet.



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