18.04.2019 (Staatsoper Hamburg) George Benjamin "Lessons in Love and Violence"
Oper in zwei Teilen,
(UA 10. Mai 2018, Royal Opera House Covent Garden, London; siehe auch hier [zuletzt aufgerufen am 21.04.2019])
Text Martin Crimp nach Christopher Marlowes Edward II.
King Evan Hughes
Isabel Georgia Jarman
Gaveston Gyula Orendt
Mortimer Peter Hoare
Boy Samuel Boden
The Girl Ocean Barrington-Cook (stumme Rolle)
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg unter der musikalischen Leitung von GMD Kent Nagano
Inszenierung Katie Mitchell, Bühnenbild und Kostüme Vicki Mortimer.
(4. und letzte Vorstellung seit der Premiere am 7.April 2019)
Wer kennt nicht Shakespeares Königsdramen? Wer kennt Christopher Marlowes Edward II.? - Es ist dieser Stoff, den Martin Crimp zu einem Libretto für George Benjamin gemacht hat: Sieben Szenen um den homosexuellen König Edward II. und dessen geliebten Gaveston, seine Frau Isabel und deren Geliebten und Intriganten Mortimer. Und in jeder Szene diese beiden Kinder, der Sohn und spätere König Edward III. und seine jüngere Schwester, alles genau beobachtend, dem Geschehen um sie herum unverständig und abgestoßen gegenüber, und trotzdem haben beide am Ende ihre Lektionen mindestens über die Gewalt gelernt, und es ist anzunehmen, dass der Junge zukünftig ein "guter" König sein wird, dessen Vergnügen - wie er am Ende der letzten Szene singt - damit beginnt, dass "[…] ein menschliches Wesen / wieder und wieder gebrochen wird / durch die schlüssige Anwendung / menschlicher Gerechtigkeit, […]", und dieses menschliche Wesen - es ist der Intrigant Mortimer - gefoltert und mit ausgestochenen Augen, schließlich von der Schwester des neuen Königs erschossen wird.
Es braucht nicht viel für dieses Ende: Der König liebt seinen Berater Gaveston. Seinem Militärexperten Mortimer mißfällt dies, er zieht die Königin Isabel auf seine Seite, läßt erst Gaveston und dann sogar den König töten um den Jungen als Marionette zu installieren. Doch der Coup scheitert auf ebenso grausame Weise, wie er begangen wurde. Am Ende gibt es keine Gewinner, die Akteure sind tot oder sie werden den Weg ihrer "Lehrer" fortsetzen. Das Volk, arm, hungernd und wahnsinnig, hat einen schlechten König verloren und bekommt dafür vermutlich keinen besseren. Auch der Junge wird regieren "[…] durch die schlüssige Anwendung / menschlicher Gerechtigkeit, […]". - Interessant übrigens scheint mir die Entwicklung der beiden Kinder auch und gerade vor dem Hintergrund der hier aktuell geführten Diskussion um das, was wir unseren Nachkommen als kulturelle Traditionen mitgeben.
Was sich hier so lakonisch erzählt, wird von Katie Mitchell und ihrem Team genauso unspektakulär inszeniert: Ein großes Zimmer, an den vier Wänden ein Bild, ein riesiges Aquarium, eine Regal-Schrankwand und ein Fenster. In der ersten Szene blicken wir durch das Fenster in den Raum. In der Mitte ein großes Bett, auf dem im Verlauf des Abends geliebt, gelitten, gemordet und Theater gespielt wird. Der Raum dreht sich mit jeder Szene und der Zuschauer blickt aus der Schrankwand, aus dem Aquarium, aus dem Bild auf die Geschehnisse. Die Drehung geschieht für uns unsichtbar hinter dem Zwischenvorhang und es braucht ein paar Szenen, bis man versteht, was mit dem Raum passiert. Wie die beiden Königskinder beobachten wir, betrachten das Geschehen von jeder Seite, bleiben aber - anders, als der Junge und das Mädchen - auf Distanz. So müssen wir die erteilten Lektionen nicht annehmen, aber im Gegenzug müssen wir uns auch nicht positionieren - wir werden positioniert!
Die Musik, die Benjamin auf den Text von Crimp gefunden hat, wirkt vielleicht auch durch die Distanz der Inszenierung umso eindringlicher. Der Komponist findet trotz des großen Apparates viele ruhigere, den Gesang begleitende, fast melodiöse Linien, während die emotionalen Ausbrüche eher in den starken Zwischenspielen stattfinden. Während bei der Uraufführung am Covent Garden, die als DVD-Aufzeichnung in fast identischer Besetzung vorliegt (in den führenden Rollen singen dort Barbara Hannigan die Rolle der Isabel und Stéphane Degout den König), noch George Benjamin selbst am Pult stand, hat für die leider nur vier Aufführungen an der Staatsoper Hamburg der GMD Kent Nagano übernommen. Komponist (bei der Premiere in Hamburg anwesend) und Dirigent verbindet die große Verehrung bzw. Freundschaft zu Olivier Messiaen. Auch an diesem Abend war zu hören und zu spüren, wie sehr Nagano für die Musik des 20ten und 21ten Jahrhunderts eintritt und dieses Eintreten - auch gegen den "gängigen" Operngeschmack, denn leider war das Haus nur zu gut einem Drittel gefüllt - auf das Orchester zu übertragen vermag. So wirkte die Musik, die aus dem Graben erklang, den Musikern in keinem Moment fremd, sondern verstanden und damit umso verständlicher dem Publikum.
Gleiches kann über die sanglichen Leistungen gesagt werden: Die Partitur scheint mir sehr sängerfreundlich gestaltet und enthält meinem Gehör nach keine allzu großen Sprünge. In der dramatischen Partie der Isabel lieferte Georgia Jarman ein klares und strahlendes Bild, welches Barbara Hannigan in der Uraufführung in nichts nachstand. Peter Hoare sang einen rollendeckend "schmierigen" Mortimer. Besser, als in der Aufzeichnung aus Covent Garden gefiel mir zum einen Evan Hughes als König und auch Gyula Orendts Gaveston. Sowohl bei Degout, als auch bei Orendt scheint es mir in der Aufzeichnung einige Unsauberkeiten in der Intonation zu geben, welche mir an diesem Abend weder bei Hughes, noch bei Orendt aufgefallen sind. Etwas an der Grenze und in der Höhe enger werdend fiel Samuel Boden auf, der die nicht allzu umfangreiche, aber sehr hoch angelegte Rolle des Jungen sang. Ich weiß nicht, ob man hier nicht sogar einen Counter besetzen könnte. Sehr stark schließlich auch Ocean Barrington-Cook. In der stummen Rolle des Mädchens macht die junge Schauspielerin die Entwicklung des alles genau beobachtenden schlechten Gewissens hin zum kalten Rachewerkzeug ihres Bruders greifbar.
Leider wird es hier wohl keine Wiederaufnahme geben. Nach London und Hamburg wird die Produktion, ein Auftragswerk der Häuser Covent Garden, Nationale Opera Amsterdam, Hamburgische Staatsoper, Opéra National de Lyon, Lyric Opera of Chicago, Gran Teatre del Liceu Barcelona und Teatro Real Madrid, noch über einige andere Bühnen gehen.