Vorbemerkungen zu Liszts Komposition und ihrer Rezeption
Das Beispiel der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 von Franz Liszt, publiziert 1851, ist ein besonders lehrreiches. Denn hier könnte man meinen, dass sich wesentliche Interpretationsfragen gar nicht stellen. Wohl kein anderes Stück hat das Liszt-Bild so geprägt wie dieses, sein populärstes Klavierstück neben dem „Liebestraum“, das in unzähligen Bearbeitungen existiert für zwei und mehr Klaviere, mit eingefügter Kadenz (meine Ausgabe ist herausgegeben vom Liszt-Schüler Eugen d´Albert und enthält eine von ihm komponierte Kadenz), erleichtert für den Hausgebrauch von Amateurpianisten, dann in der Bearbeitung für diverse Kammer-Ensembles und für Orchester. Walt Disney produzierte als witzige Variante eines Animationsfilm mit Bugs Bunny als Virtuosen, die Lang Lang als Kind so faszinierte, dass er Klaviervirtuose werden wollte. All das zeigt, wie Liszt zumeist wahrgenommen wird, als „der“ Virtuose auf dem Klavier schlechthin, der mit einem pianistischen Schaustück zu glänzen versteht und den Pianisten für alle Zeiten die Möglichkeit bietet, zu zeigen, was an Virtuosität in ihnen steckt. Ich selbst habe die Ungarische Rhapsodie Nr. 2 durch Vladimir Horowitz´ Konzertmitschnitt von 1953 kennengelernt. Und das hat man natürlich gehört, nicht zuletzt deshalb, um zu ermessen, was Horowitz als „Über“-Virtuose wirklich vermag: Da kann sich der Virtuose Horowitz ungeniert austoben! Liszts Komposition wurde da eher zweitrangig – ein gefälliges Stück, hat man natürlich gedacht. Aber geschätzt hat man den Vortrag des Virtuosen, weniger das virtuose Stück. Als Ernst zu nehmenden Komponist kennen und schätzen gelernt habe ich Franz Liszt so auch erst viel später, als ich mir Lazar Bermans Aufnahme der Années de Pèlerinage kaufte und dann auch selber einige Stücke daraus unbedingt spielen wollte. Bei jenem Zyklus braucht man nicht darüber zu diskutieren, ob sich Interpretationsfragen stellen. Sie ergeben sich allein schon aus der Verbindung von Musik, Literatur und bildender Kunst, die schon im Notentext angelegt ist. Seit meiner Beschäftigung mit den Années... bin ich ein großer Liszt-Liebhaber geworden.
Dagegen erweckt die Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 wohl bei den meisten Hörern den Eindruck von Zigeunermusik-Folklore, effektvoll vorgeführt zur Unterhaltung des Publikums. Was man da erleben will ist atemberaubender Tastenzirkus, den ein Vladimir Horowitz zweifellos bietet. Alle jungen Virtuosen kennen natürlich die beiden berühmtesten Aufnahmen der Ungarischen Rhapsodien, die nämlich der beiden „Über“-Virtuosen Horowitz (der nur einzelne von ihnen aufführte) und Cziffra (der den kompletten Zyklus zweimal aufnahm), und spielen ihre Bearbeitungen. Wie man so eine Ungarische Rhapsodie gestaltet, lernt der Virtuosen-Nachwuchs also letztlich durch diese beiden großen Vorbilder. Wozu brauchen sie sich da eigentlich noch große Gedanken über Interpretationsprobleme zu machen? Aber ist es wirklich so einfach – abgesehen vom klaviertechnischen Aspekt – diese Ungarische Rhapsodie Nr. 2 zu spielen? Die Aufnahmen von George Cziffra (es gibt zwei, die ältere von 1956 und die spätere von 1972) und von Vladimir Horowitz unterscheiden sich doch sehr erheblich. Cziffras Aufnahmen haben mir persönlich, der ich von Horowitz geprägt bin, überhaupt erst den tieferen Sinn dieser Virtuosen-Stücke erschlossen – vor allem durch die 1956iger Aufnahme, die besonders poetisch und deutlich langsamer noch gespielt ist als die von 1972. Cziffra erhebt die Ungarischen Rhapsodien in den Rang von Symphonischen Dichtungen für Klavier (Liszt war es, der diese Gattung begründet hat!) – für mich, und wohl für die meisten Kenner auch, ist er deshalb „der“ Interpret dieses Werkzyklus schlechthin. Durch Cziffra, der von seiner ungarischen Herkunft her mit der Zigeunermusik-Idiomatik wirklich vertraut ist, lernt man allererst, dass dieses Virtuosenstück mehr ist als Tastenzirkus und spektakulär-virtuose Unterhaltung. Um sich die geistige Dimension dieser Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 zu erschließen, empfiehlt es sich, mit einem der schönsten Liszt-Lieder zu beginnen: Liszts Vertonung von Nikolaus Lenaus Gedicht Die drei Zigeuner. Hier sieht man nämlich, dass Liszts Zigeuner-Romantik keine bloße und sei es auch anspruchsvolle Unterhaltung ist, sondern einen aufrührerischen, emanzipatorischen Sinn hat, den das Publikum des 19. Jhd. unmittelbar verstand, wir heute allerdings so selbstverständlich nicht mehr. Dass das „schiefe“ Liszt-Bild vom Nur-Virtuosen überhaupt entstanden ist, hat also nicht zuletzt auch damit zu tun, dass man den dazu gehörenden Zeitgeist, die „romantische“ Bedeutung eines solchen Virtuosenstückes, nicht mehr vergegenwärtigt. Dazu sind wir in der glücklichen Lage, Franz Liszt´s Schrift über die Zigeuner hinzuziehen zu können, der für das Verständnis ungemein aufschlussreich und hilfreich ist.
Was bedeutet Zigeuner-Musik?
(Anmerkung: Da die „Zigeuner“ zum erheblichen Teil ein ästhetisches Konstrukt der Romantik und keine bloße Spiegelung von Tatsachen einer sozialen Realität sind, behalte ich die historische Prägung und Verwendung des Begriffs „Zigeuner“ in diesem Kontext bei. Es gibt nur eine „Zigeuner“-Romantik, von einer „Roma“-Romantik zu sprechen wäre schlicht unsinnig.)
Nikolaus Lenau:
Die drei Zigeuner
Drei Zigeuner fand ich einmal
Liegen an einer Weide,
Als mein Fuhrwerk mit müder Qual
Schlich durch sandige Heide.
Hielt der eine für sich allein
In den Händen die Fiedel,
Spielte, umglüht vom Abendschein,
Sich ein feuriges Liedel.
Hielt der zweite die Pfeif im Mund,
Blickte nach seinem Rauche,
Froh, als ob er vom Erdenrund
Nichts zum Glücke mehr brauche.
Und der dritte behaglich schlief,
Und sein Zimbal am Baum hing,
Über die Saiten der Windhauch lief,
Über sein Herz ein Traum ging.
An den Kleidern trugen die drei
Löcher und bunte Flicken,
Aber sie boten trotzig frei
Spott den Erdengeschicken.
Dreifach haben sie mir gezeigt,
Wenn das Leben uns nachtet,
Wie mans verraucht, verschläft, vergeigt
Und es dreimal verachtet.
Nach den Zigeunern lang noch schaun
Mußt ich im Weiterfahren,
Nach den Gesichtern dunkelbraun,
Den schwarzlockigen Haaren.
In mehrererlei Hinsicht ist dieses Gedicht von Nikolaus Lenau, das Franz Liszt in seiner Schrift über die Zigeuner (Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn, Deutsch bearbeitet von Peter Cornelius, Pesth 1861) auch kommentiert, erhellend. Da ist einmal die Erzählperspektive: Das, was die „Zigeuner“ sind oder vermeintlich sind, wird nicht aus der Perspektive dieser Menschen, der Roma selbst also, wie sie tatsächlich leben, geschildert, sondern von einem, der sie von außen betrachtet. Dies ist wichtig zu betonen, denn nach heutigen historisch-kritischen Maßstäben beruht Liszts Auffassung, dass es sich bei derjenigen Musik, die er in Ungarn von Roma-Kapellen vorgetragen hörte, um Zigeunermusik als originärer ungarischer Volksmusik handele, auf einem grundlegenden Missverständnis, denn diese Musik ist weder ungarische Volksmusik noch „Zigeuner“-Musik im originären Sinne. Dieses Missverständnis zeigt aber letztlich, dass es Romantikern wie Lenau und Liszt um ganz etwas anderes ging als darum, eine Wirklichkeit so genau wie möglich widerzuspiegeln. Im romantischen Blickwinkel entsteht ein Bild von Parias, die außerhalb der Gesellschaft leben, in die das von der Gesellschaft enttäuschte Indiviuum seine unerfüllten Wünsche und Träume projizieren kann. Die Weltverachtung, die Lenau den Zigeunern zuschreibt, sie ist letztlich die Verachtung für die Gesellschaft, die der Dichter selber in sich trägt, enttäuscht von der Stagnation der Restaurationszeit und gescheiterten Revolutionen. Warum nun werden die „Zigeuner“ zur Projektionsfläche? Als Paria-Gestalten sind sie kein Teil der Gesellschaft, sondern leben von dieser unabhängig „außerhalb“, in der Natur und im Einklang mit der Natur. Und sie pfeifen deshalb auf all das, was die bürgerliche Gesellschaft an Normen aufstellt. Vor allem pflegen sie den Müßiggang, das, was die protestantische Arbeitsethik, auf der – wie Max Weber zeigte – der moderne Kapitalismus beruht, als die Untugend und das Unerlaubte schlechthin betrachtet.
Solche Zigeuner-Romantik, sie ist also geradezu subversiv gesellschaftskritisch. Die Faszination für die Zigeuner entspringt letztlich eigenen Wunschvorstellungen, die das gesellschaftlich Verbotene als das Idealbild vom Zigeunerleben der Gesellschaft entgegenstellen als ein utopisches, von allen gesellschaftlichen Zwängen befreites Leben. Die in der Zigeuner-Romantik zum Ausdruck kommende Utopie von individueller Freiheit betrifft bezeichnend das „Gefühl“, das Bedürfnis, sein Gefühl von keiner gesellschaftlichen Konvention gezähmt mit all seinen Extremen und Exzessen bedingungsloser Leidenschaft ausleben zu können. Das romantische Individuum ist nicht mehr bereit, sein Gefühlsleben von dem, was sich gesellschaftlich schickt, den Grenzen der sogenannten Wohlanständigkeit, eindämmen zu lassen und setzt sich damit über alle „Moral“ rücksichtslos hinweg. Franz Liszt nennt das den „naiven poetischen Egoismus“, den die „Civilisation“ erstickt habe. Anders als der „prosaische Egoismus“ der bürgerlichen Gesellschaft, dem es nur um Besitzstandwahrung geht, entsteht dieser „poetische Egoismus“ „aus dem Streben nach unendlicher Befriedigung des Gefühls, und kann niemals und durch nichts im menschlichen Herzen vernichtet werden; er wurzelt selbst in den schönsten und größten Seelen...“ Der Zigeuner-Virtuose ist also letztlich die Verkörperung dieses „poetischen“ Egoismus der uneingeschränkten Behauptung der Freiheit des „Gefühls“. Die Romantik entwirft ein Bild des „Zigeuners“, der sich über alle gesellschaftlichen Regeln und Konventionen hinwegzusetzt, um nur die eigene Individualität zu leben. Eine solche individuelle Freiheit ist allerdings alles andere als „realistisch“. Denn im realen sozialen Leben sind Roma-Gemeinschaften normativ sehr streng organisierte Kollektive, welche dem Individuum reichlich wenig Spielräume geben, was die Romantik jedoch schlicht nicht interessiert. Zigeuner werden bezeichnend allein und ausschließlich in Gestalt des Zigeuner-Virtuosen und ihrer Musik wahrgenommen. Die Verbindung von Lebenstil und Musik macht entsprechend das romantische fascinosum der Zigeunerexistenz aus, indem sie das Bild gelebter individueller Gefühlsfreiheit abgibt. Ein Interpret der Ungarischen Rhapsodien sollte deshalb in der Lage sein, diesen künstlerisch-emanzipatorischen Sinn zu vermitteln, weil von Liszts Zigeunerromantik sonsts nichts übrig bleibt außer billiger Volkloristik und virtuosem Tastenzauber. Die Ungarischen Rhapsodien haben als Virtuosenstücke sicher auch einen unterhaltenden Charakter, sie sind aber eben weit mehr als nur anspruchslose Unterhaltungsmusik.
Czárdás
Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 2 nimmt zum ersten Mal in der Musikliteratur den ungarischen Czárdás (oder Csárdás) in die Kunstmusik auf. Der Czárdás hat zwei Teile – den „Lassan“ und die „Friska“, zwei in ihrem Charakter sehr gegensätzliche Tänze. Liszt notiert im Notentext auch den Beginn beider Teile, die er mit „Lassan“ und „Friska“ jeweils überschreibt – der Lassan erröffnet nach der mit Lento a capriccio überschrieben Einleitung und ist mit Andante mesto überschrieben. Die Friska beginnt nach dem im morendo verlöschenden „Lassan“ im geheimnisvollen Pianissimo mit der Vorschrift Vivace. Der Vergleich der Aufnahmen von Vladimir Horowitz und George Cziffra zeigt, dass ein – wenn nicht das – zentrale Interpretationsproblem dieser Ungarischen Rhapsodie darin besteht, die Idiomatik der beiden Tänze zu treffen. Man darf ja nicht vergessen, dass Liszt mit den Ungarischen Rhapsodien so etwas wie ein Nationalepos ungarischer Musik komponieren wollte, was voraussetzt, dass man den idiomatisch ungarischen Ton auch trifft. Es empfiehlt sich also, Horowitz und Cziffra im Vergleich zu hören – den Notentext kann man glücklicher weise bei Youtube mitlesen. (Anmerkung: Um die Feinheiten wirklich wahrzunehmen, sollte man aber auf das Hören mit einer hochwertigen Hifi-Anlage nicht verzichten!)
Unterschiedlicher könnte die Gestaltung gerade des Lassan bei Horowitz und Cziffra nicht sein! Horowitz macht zum Ende der Einleitung (Liszt schreibt dort più ritenuto vor) statt eines Diminuendo (der bei Liszt notierten sich schließenden Klammer >) ein großes Crescendo hin zum Forte, mit der er dann die Bassfigur im kräftigen Forte ausführt und entsprechend den kompletten ersten Teil bis zur Dolce con grazia-Passage, wo nach Liszt Piano vorgeschrieben ist, Forte spielt. Cziffra dagegen nimmt das Mezzoforte der Bassfigur gleich im nächsten Takt ins Piano zurück. Liszt hat für diesen kompletten ersten Teil keine dynamische Bezeichnung gegeben, der Interpret ist von den Vorgaben des Notentextes her also scheinbar frei in der Gestaltung. Bei Cziffra bekommt der ganze Lassan mit dem bei ihm dominierenden Piano und Pianissimo einen traumhaften und schmerzhaften Charakter, während Horowitz theatralisiert und dem Lassan-Teil den Eindruck eines bunten Potpourris gibt, wo bombastisches Auftrumpfen mit betörender Zartheit wechselt – denn Horowitz kann wahrlich nicht nur auf dem Flügel donnern, sondern auch ein hochpoetisches Piano spielen – Liszts Vortragsanweisung cappriccioso und zugleich dolcissimo wirklich buchstäblich und betörend realisieren. Welche der beiden Interpretationen ist nun „richtig“ oder besser gesagt: angemessen oder angemessener?
Lesen wir, wie Liszt selbst in seiner Schrift über die Zigeuner den Lassan und die Friska charakterisiert:
„Der Zigeunervirtuose suchte eine Form die allem Ungestüm seiner Lustigkeit übereinstimmte und seiner Trauer den klagenden Ausdruck verliehe. Diese beiden Gefühlsströmungen haben in den beiden, anfangs ernsten dann lebhaften Tanzweisen (gemeint sind Lassan und Friska beim Czárdás, H.K.) ihr Bett gefunden. (...)
Ihr (gemeint sind die Czárdás-Tänze, H.K.) wenn nicht vorherrschender doch mindestens gleichbedeutender Werth ist ganz insbesondere dem poetischen Genius des Zigeuners zuzuschreiben, der hier frei und fessellos alle zurückgehaltenen Thränen seines Herzens ausweinen, alle Traumbilder schauen und Züge ganzer Welten in Pracht oder Trauer an uns vorüberführen konnte. Das in sehr langsamem Tempo gehende Stück heißt Lassan (lassù, lassan) nach einem Worte welches Langsamkeit bedeutet und lässt sich durch „Maestoso“, „Dolente“, „Pomposo“ bezeichnen. Hierher gehören die feierlichen, nationalen Märsche. Unter der Benennung Frischa (einem aus Friss, Frissen corrumpirten Wort) begreift man die zweite Hälfte der Hongroise, die in sehr schnellem Takt plötzlich und allmählig zu einem Rhythmus sich steigert, dessen Raserei und hinreißende Gewalt kein auf unsren fashionablen Bällen üblicher Tanz gleichkommt. Die Frischkas haben etwas Brüsques, Stoßweises, Unregelmäßiges, Unterbrochenes und scheinen wie von plötzlichen Sprüngen begleitet.“
Liszt betont den Charaktergegensatz: Während den Lassan „Trauer“ in einem „klagenden Ausdruck“ auszeichnet, zeigt sich die Friska im Kontrast dazu lebhaft, sprunghaft, mit rasanten Tempowechseln und Temposteigerungen. Liszts Ausdrucks- und Tempobezeichnungen geben diesen Wechsel der Stimmungen der beiden Tänze auch wieder: Andante für den Lassan und Vivace für die Frisca. Insbesondere aber das Andante „mesto“ weist auf die traurige Grundstimmung des Lassan hin. Es lohnt sich hier das Damen-Conversationslexikon von 1834 zu zitieren, weil es zeigt, wie die Bezeichnung „mesto“ zu Liszts Zeiten verstanden wurde:
Mesto (Musik), betrübt, traurig, beim Vortrage in der Musik jene Stimmung stiller Resignation, die auf ihre eigenen Seufzer lauscht und in gleichmäßig schleichendem Trübsinn fortträumt.
In Liszts Ausführungen wie auch in seinen Vortragsbezeichnungen spiegeln sich diese lexikalischen Charakterisierungen genau wieder: das Traumhafte, die „Traumbilder“ durch das trübsinnige „mesto“ und den „Seufzer“, den „klagenden Ausdruck“ durch die Kennzeichnung des Lassan und entsprechend die Vortragsbezeichnung molto espressivo für das Lassan-Thema. Cziffra trifft nun diese traurig-schmerzhafte Stimmung in seiner 1956iger Aufnahme wie kein Anderer: Die Rücknahme ins Piano in der Bassfigur eröffnet nicht nur einen trübsinnigen Traum, sie bringt auch das molto espressivo des Lassan-Themas zur Geltung, den schmerzhaften Ton. Und Cziffra bemüht sich sehr, diesen einheitlichen Ton traumhaften Trübsinns nicht durch allzu äußerliche Charakterwechsel zu verdecken. Freilich interpretiert auch er individuell und spielt nicht nur sklavisch notentexttreu – wobei man sagen muss, die stupend notentextgenaueste Aufnahme ist diese von Cziffra! Das morendo („verlöschend“) und rallentando am Schluss des Lassan dehnt Cziffra auf den ganzen Schlussteil von diesem aus, so dass er am Ende allmählich ins Nichts versinkt. So wird dann der Kontrast zur keineswegs laut-lustig lärmend anhebenden Frisca, die im mystischen Pianissimo beginnt, eindrucksvoll spürbar. Cziffras spätere Interpretation von 1972 spielt diesen Lassan dann merklich anders: improvisatorisch-freier und kontrastreicher. Gleichwohl versteht er es, den traurigen Grundton des Lassan nicht zu verlassen.
Genau das, den Grundton des Lassan nicht zu treffen, muss man nun Horowitz zum Vorwurf machen: Horowitz brüske, sprunghafte Spielweise verfehlt die Idiomatik dieses Lassan vollständig, der bei ihm eher so klingt wie eine Friska. Und gerade auch der theatralische Forte-Beginn erweist sich als Fehlgriff. Wie kommt Horowitz eigentlich dazu, die Bassfigur in einem so bombastischen Forte zu nehmen? Horowitz ist damit übrigens nicht allein: Auch etwa Grigory Ginsburg als ein Vertreter der russischen Pianistenschule spielt diese Bässe sehr mächtig, was immer zur Folge hat, dass die viel zu schweren Bässe das molto espressivo des Lassan-Themas erdrücken und damit den Ton von Klage und Trauer ersticken. Um sich gegen die vorlauten Bässe zu behaupten, muss dann nämlich das Lassan-Thema zwangsläufig auch munter und laut sein. Die Antwort auf diese Frage, sie liegt in Liszts Spielanweisung l´accompagnamento pesante. Die Begleitung soll nach Liszt pesante genommen werden, was u.a. „schwer“, „gewichtig“ bedeuten kann. Doch meint Liszt damit wirklich, wie Horowitz und Andere es offenbar verstehen, dass das zu Beginn der Einleitung notierte Forte durch diesen ganzen ersten Lassan-Teil durchzuhalten ist? Dagegen spricht einmal, dass Liszt ein p nicht erst für den kontrastierenden folgenden Teil (dolce con grazia) notiert, sondern einen Takt früher, als Rückkehr zur Stimmung des Anfangs nach dem virtuosen ad libitum Einschub. Zudem kann man hier zum Vergleich die Eröffnung der Dante-Sonate hinzuziehen, wo die in die Hölle abstürzenden Oktaven ebenfalls Forte und mit Keilakzenten notiert sind, worauf dann die mühsam aufsteigenden Akkorde pesante gespielt werden sollen. Es ist offensichtlich, dass man sie da nicht mit Forte-Gewicht versehen kann – und so spielt sie auch Niemand. Nach dem Schock des Höllensturzes richtet sich das musikalische Subjekt verstört und sachte-hilflos ein wenig wieder auf. Es ist also klar, dass der Sinn von pesante wechselt je nach dem musikalisch-semantischen Kontext: Zu Beginn der Dante-Sonate bedeutet pesante entsprechend nicht „schwer“, sondern „schleppend“. Liszt gibt selbst den Hinweis, wie das pesante mit der traurigen Stimmung des Lassan zusammengehen kann, indem er in seiner Schrift über die Zigeuner als Ausdrucksbezeichnung für den Lassan das „Pomposo“ anführt, was „feierlich“ bedeutet. Wenn man die Pesante-Gewichtigkeit als einen feierlich-würdevollen Ton versteht, dann kann er sich mit Traurigkeit und dem Ausdruck von klagendem Schmerz verbinden. Ich kenne allerdings keine Interpretation, der dieses Kunststück gelingen würde, dieses pesante feierlich-würdevoll und zugleich traurig klingen zu lassen. Andeutungshaft realisiert ist das allenfalls in der sehr hörenswerten, hochpoetischen Aufnahme von Alfred Cortot von 1923 (Victor 1.3.1923, CD 2 der EMI Anniversary-Box), der dem Lassan auch einen traurigen Ton zu verleihen vermag. In Horowitz´ Theatralisierung ist diesem Lassan bezeichnend jede Art von Traurigkeit und traumhaftem Trübsinn ausgetrieben.
Cziffras Vortrag der Friska zeigt einfach sämtliche Facetten, die man von einem solchen romantisch-poetischen Virtuosenstück erwartet. Da werden alle Wechsel der Charaktere, Rhythmen und Tempi präzise nachgezeichnet – das „Tempo giusto“ ist wirklich „giusto“, also ein „richtiges“, dem wechselhaften Charakter des Tanzes absolut entsprechendes Tempo. Eindrucksvoll auch, wie Cziffra die Beschleunigungen mal rasant, mal kontinuierlich aufbauen kann. Die Idiomatik der vitalen und sprunghaft-übermütigen Frisca trifft er so traumwandlerisch sicher, dass er – wiederum vorbildlich notentexttreu – Übertreibungen nicht nötig hat. Die spektakuläre Virtuosität, sie hat Liszt schließlich im Notentext festgehalten, so dass Forcierungen der ohnehin auf den ungemilderten Ausdruck von Extremen abzielenden Zigeuner-Virtuosität eigentlich gar keinen Sinn machen. Horowitz dagegen meint, das Übertreibende noch einmal übertreiben zu müssen und theatralisiert damit die Musik zu einem großorchestralen Theaterdonner auf Kosten der Idiomatik. Horowitz´ genialische Exzentrizität und virtuose Ausnahmefähigkeiten sind unbestreitbar – sie verschlagen einem den Atem. Nur geht seine sehr weitreichende virtuose Bearbeitung zu Lasten der Vielfältigkeiten und dem, was Liszt selbst die „Raserei und hinreißende Gewalt“ der Friska nennt. Horowitz´ Vortrag steht ständig unter Hochspannung, bewegt sich im dynamischen Ausnahmezustand eines Forte-Fortissimo um dann wieder ins Piano zurückzufallen, betont also die extremen Kontraste und wird damit episodisch. So gibt es keine zeitlich horizontalen Entwicklungen, denn die Möglichkeit dynamisch-rhythmischer Steigerungen schließt seine aufs Äußerste zugespitzte Gegenüberstellung von Kontrastextremen aus. Horowitz ist die Monumentalität, die Demonstration virtuoser Kraftakte wichtiger als eine Verlaufsdynamik nachzuzeichnen, die statt ständig dynamische Höhepunkte zu setzen auf den dynamischen Aufbau und den Rausch der Beschleunigung von Beschleunigungen setzen würde, wie es die Friska – und die Notierungen im Notentext – eigentlich erfordern. Horowitz Bombastik wirkt so auch merkwürdig einförmig und statisch, womit die fehlende Dynamisierung des Zeitverlaufs spürbar wird, lebt vom explosiven Moment des Ausbrauchs von ungeheurer Kraft und der unglaublichen Schnelligkeit seiner Oktavkaskaden. Das ist zwar brüsk und sprunghaft, wie es zu einer Friska gehört, hat aber keinen tänzerischen „Takt“ mehr. Das Tanzstück hat Horowitz so vollständig in virtuos überwältigendes Tastentheater verwandelt.
Stolz und Schmerz
„Das Entzücken höchsten Jubels und das erschlaffte Schmachten unbeweglicher Apathie begegnen sich, wie in dem Leben ihrer Sänger, fortwährend in diesen Melodien. Sie bilden unausgesetzte Contraste unter allen Formen welche die Seele in ihrem Oscilliren zwischen Orgie und Ekel annimmt, zwischen dem stolzen Dünkel des Lebensrausches und der schauerlichen Leere der Übersättigung.“
Von der Lustigkeit und dem überschwenglichen Jubel ungarischer Musik darf man sich nach Franz Liszt also nicht täuschen lassen. Höchste Freude und tiefstes Leid treffen unmittelbar aufeinander, alles Lichte, Heitere hat letztlich seine dunkle Gegenseite. Dies sollte der Interpret der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 bedenken und den Gegensatz von traurigem Lassan und vital-ausgelassener Friska nicht durch eine virtuose Vitalisierung des Lassan einzuebnen suchen – wie das beispielsweise auch bei Valentina Lisitsa geschieht –, sondern den Gegensatz der grundverschiedenen Befindlichkeiten der Tänze hart und unvermittelt aufeinanderprallen lassen im Sinne eines wirklichen Altierens.
Dasselbe gilt nun gerade auch für den Gegensatz der Lento a capriccio-Einleitung und dem sich unmittelbar anschließenden Lassan. Das Kapriziöse dieses a capriccio umfasst die Spannbreite zwischen den Ausdruckscharakteren des Launenhaften und Eigenwilligen. Auch hier ist für eine wirklich schlüssige Deutung letztlich der musikalisch-semantische Kontext entscheidend. Cziffra – wie auch Horowitz – nehmen diese Takte rhetorisch streng als komplementäre Ergänzungen: Ein initial auftrumpfender Bass-Akzent wird jeweils durch einen mit marcato nochmals verstärkten Tiefbass-Akzent beantwortet und damit quasi tautologisch verdoppelt, wie das Echo seiner selbst. Es ereignet sich damit so etwas wie die Selbstaffirmation herrischen Auftrumpfens, Eigenwilligkeit im Sinne des Bekundens von Eigenwillen, von Stolz und grimmigem Trotz, der dann bei Cziffra auf die traumhaft-traurige zarte Empfindsamkeit des Lassan prallt, womit er dem Geiste Liszts sehr genau entspricht: Trotz und Schmerz, sie bilden nach Liszt die ambivalente Grundbefindlichkeit des Zigeuners, welche sich offenbar gleich zu Anfang seines Czárdás manifestieren:
„Unter den Gefühlen welche die Zigeuner in der Musik Ausdruck verleihen konnten ist das hervortretendste: Stolz, das zugänglichste: Schmerz.“
Ganz anders nun gestaltet Katia Buniatishvili die einleitenden Takte. Sie versteht das a capriccio im Sinne des Launenhaften, weicht entsprechend die feste Metrik auf, entrhetorisiert und dynamisiert so die Phrase im Sinne einer Sentimentalisierung, welche sie dem Lassan im Charakter damit angleicht und auf diese Weise sanft zum Lassan-Thema hinübergleitet. Der Eindruck ihrer Interpretation bleibt so zwiespältig: Zwar spielt sie – Cziffra im Ohr – den Lassan mit schöner Empfindsamkeit, hat die Ambivalenz des Zigeuners, die sich gleich zu Beginn offenbart, auf diese Weise aber beseitigt, Trotz und Stolz in die einfache Sentimentalität eines nur noch Traurig-Schönen verwandelt. Dagegen wird bei ihr der Gegensatz von Lassan und Friska scharf betont – leider aber die Frisca allzu Horowitz nah zum virtuos-theatralischen, die tänzerischen Rhythmuswechsel egalisierenden Bombast. (Auch klaviertechnisch ist das der in den Höchstschwierigkeiten am wenigsten durchsichtige und saubere Vortrag, den ich gehört habe.)
Man muss Katia Buniatishvili allerdings zugute halten, dass ihre sentimentalisierende Aufweichung der Lento a capriccio-Einleitung Sinn macht, nämlich eine Audrucksbeseelung bedeutet. Letztlich weiß man auch das um so mehr zu schätzen, wenn man Lang Lang zum Vergleich heranzieht. Der angeblich „beste Pianist der Welt“ stellt mit seinem Vortrag der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 bei den Proms 2008 den Weltrekord auf, die wohl scheußlichste Verhunzung von Liszts Werk für alle Zeiten dargeboten zu haben. Lang Lang macht eine Fermate nach dem ersten Cis, um dann völlig zusammenhanglos nach diesem Loch den zweiten Akkord wie einen Dampfhammer besinnungslos in den Flügel zu hämmern. Launenhaft ist das sicher, aber lediglich im Sinne des Verschroben-Skurrilen eines Vortrags ohne jeglichen Ausdruckswert. Und mit dem Lassan kommt dann die Katastrophe musikalischen Unverständnisses. Lang Lang donnert den Bass rücksichtslos im Fortissimo, Horowitz weit übertrumpfend, und haut entsprechend das Lassan-Thema hohl und leer in den Flügel wie das tönende Nichts. Die dolce con grazia-Passage präsentiert er anschließend mit infantil verzücktem Lächeln. Geschmackloser geht es wirklich nicht! Ist der gestandene Virtuose Lang Lang nicht reifer geworden als der Knirps Lang Lang von einst, der Franz Liszt mit Bugs Bunny verwechselte? Bei Lang Lang kippt romantische, poetische Virtuosität um in den Virtuosen-Nihilismus eines Zirkus hochmanieristischer Eitelkeiten.
Wer wie Lang Lang meint, Liszts romantisches Virtuosenstück habe nur einen laut lärmenden Vordergrund und keinen Hintergrund, der sollte sich die folgenden erstaunlichen Zeilen aus seiner Schrift über die Zigeuner zu Gemüte führen, die fast schon psychoanalytisch den Lärm lauten Jubels als eine Strategie der Verdrängung entlarven, den tiefen und alles durchdringenden Schmerz im Innersten der Seele zu übertönen
„Während dem Lärmendsten Jubel toller Trunkenheit muß man jeden Augenblick eines halb erstickten Stöhnens gewärtig sein, welches daran erinnert, daß hier ein unendlicher Schmerz nur durch die Lust verkappt ist (...).“
In Cziffras 1972ger Aufnahme könnte man meinen, diese Doppelbödigkeit am Ende des Lassan zu vernehmen. Während die 1956iger Aufnahme die dort notierten Keilakzente und das Rinforzando traumhaft weich zeichnet, werden sie nun zum Stachel und Weckruf, zum trotzigen Aufbegehren, das sich meldet, um gleich wieder zu verschwinden, wie eine für den kurzen Moment über die Bewusstseinsschwelle tretende Botschaft aus dem verdrängten Unbewussten. Wird so das folgende Friska-Vivace nicht zu einer Trotzreaktion, vitalistische Ausgelassenheit damit zum „Dennoch“ und „Trotzdem“ dem Traumhaft-Schmerzhaften gegenüber, welches der Lassan als die tragende Grundbefindlichkeit für den ganzen Czárdás vorgibt?