Wozu Interpretationsvergleiche? (I) Antworten auf die Frage am Beispiel von Franz Liszts Ungarischer Rhapsodie Nr. 2

  • Vorbemerkungen zu Liszts Komposition und ihrer Rezeption


    Das Beispiel der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 von Franz Liszt, publiziert 1851, ist ein besonders lehrreiches. Denn hier könnte man meinen, dass sich wesentliche Interpretationsfragen gar nicht stellen. Wohl kein anderes Stück hat das Liszt-Bild so geprägt wie dieses, sein populärstes Klavierstück neben dem „Liebestraum“, das in unzähligen Bearbeitungen existiert für zwei und mehr Klaviere, mit eingefügter Kadenz (meine Ausgabe ist herausgegeben vom Liszt-Schüler Eugen d´Albert und enthält eine von ihm komponierte Kadenz), erleichtert für den Hausgebrauch von Amateurpianisten, dann in der Bearbeitung für diverse Kammer-Ensembles und für Orchester. Walt Disney produzierte als witzige Variante eines Animationsfilm mit Bugs Bunny als Virtuosen, die Lang Lang als Kind so faszinierte, dass er Klaviervirtuose werden wollte. All das zeigt, wie Liszt zumeist wahrgenommen wird, als „der“ Virtuose auf dem Klavier schlechthin, der mit einem pianistischen Schaustück zu glänzen versteht und den Pianisten für alle Zeiten die Möglichkeit bietet, zu zeigen, was an Virtuosität in ihnen steckt. Ich selbst habe die Ungarische Rhapsodie Nr. 2 durch Vladimir Horowitz´ Konzertmitschnitt von 1953 kennengelernt. Und das hat man natürlich gehört, nicht zuletzt deshalb, um zu ermessen, was Horowitz als „Über“-Virtuose wirklich vermag: Da kann sich der Virtuose Horowitz ungeniert austoben! Liszts Komposition wurde da eher zweitrangig – ein gefälliges Stück, hat man natürlich gedacht. Aber geschätzt hat man den Vortrag des Virtuosen, weniger das virtuose Stück. Als Ernst zu nehmenden Komponist kennen und schätzen gelernt habe ich Franz Liszt so auch erst viel später, als ich mir Lazar Bermans Aufnahme der Années de Pèlerinage kaufte und dann auch selber einige Stücke daraus unbedingt spielen wollte. Bei jenem Zyklus braucht man nicht darüber zu diskutieren, ob sich Interpretationsfragen stellen. Sie ergeben sich allein schon aus der Verbindung von Musik, Literatur und bildender Kunst, die schon im Notentext angelegt ist. Seit meiner Beschäftigung mit den Années... bin ich ein großer Liszt-Liebhaber geworden.


    Dagegen erweckt die Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 wohl bei den meisten Hörern den Eindruck von Zigeunermusik-Folklore, effektvoll vorgeführt zur Unterhaltung des Publikums. Was man da erleben will ist atemberaubender Tastenzirkus, den ein Vladimir Horowitz zweifellos bietet. Alle jungen Virtuosen kennen natürlich die beiden berühmtesten Aufnahmen der Ungarischen Rhapsodien, die nämlich der beiden „Über“-Virtuosen Horowitz (der nur einzelne von ihnen aufführte) und Cziffra (der den kompletten Zyklus zweimal aufnahm), und spielen ihre Bearbeitungen. Wie man so eine Ungarische Rhapsodie gestaltet, lernt der Virtuosen-Nachwuchs also letztlich durch diese beiden großen Vorbilder. Wozu brauchen sie sich da eigentlich noch große Gedanken über Interpretationsprobleme zu machen? Aber ist es wirklich so einfach – abgesehen vom klaviertechnischen Aspekt – diese Ungarische Rhapsodie Nr. 2 zu spielen? Die Aufnahmen von George Cziffra (es gibt zwei, die ältere von 1956 und die spätere von 1972) und von Vladimir Horowitz unterscheiden sich doch sehr erheblich. Cziffras Aufnahmen haben mir persönlich, der ich von Horowitz geprägt bin, überhaupt erst den tieferen Sinn dieser Virtuosen-Stücke erschlossen – vor allem durch die 1956iger Aufnahme, die besonders poetisch und deutlich langsamer noch gespielt ist als die von 1972. Cziffra erhebt die Ungarischen Rhapsodien in den Rang von Symphonischen Dichtungen für Klavier (Liszt war es, der diese Gattung begründet hat!) – für mich, und wohl für die meisten Kenner auch, ist er deshalb „der“ Interpret dieses Werkzyklus schlechthin. Durch Cziffra, der von seiner ungarischen Herkunft her mit der Zigeunermusik-Idiomatik wirklich vertraut ist, lernt man allererst, dass dieses Virtuosenstück mehr ist als Tastenzirkus und spektakulär-virtuose Unterhaltung. Um sich die geistige Dimension dieser Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 zu erschließen, empfiehlt es sich, mit einem der schönsten Liszt-Lieder zu beginnen: Liszts Vertonung von Nikolaus Lenaus Gedicht Die drei Zigeuner. Hier sieht man nämlich, dass Liszts Zigeuner-Romantik keine bloße und sei es auch anspruchsvolle Unterhaltung ist, sondern einen aufrührerischen, emanzipatorischen Sinn hat, den das Publikum des 19. Jhd. unmittelbar verstand, wir heute allerdings so selbstverständlich nicht mehr. Dass das „schiefe“ Liszt-Bild vom Nur-Virtuosen überhaupt entstanden ist, hat also nicht zuletzt auch damit zu tun, dass man den dazu gehörenden Zeitgeist, die „romantische“ Bedeutung eines solchen Virtuosenstückes, nicht mehr vergegenwärtigt. Dazu sind wir in der glücklichen Lage, Franz Liszt´s Schrift über die Zigeuner hinzuziehen zu können, der für das Verständnis ungemein aufschlussreich und hilfreich ist.


    Was bedeutet Zigeuner-Musik?


    (Anmerkung: Da die „Zigeuner“ zum erheblichen Teil ein ästhetisches Konstrukt der Romantik und keine bloße Spiegelung von Tatsachen einer sozialen Realität sind, behalte ich die historische Prägung und Verwendung des Begriffs „Zigeuner“ in diesem Kontext bei. Es gibt nur eine „Zigeuner“-Romantik, von einer „Roma“-Romantik zu sprechen wäre schlicht unsinnig.)


    Nikolaus Lenau:


    Die drei Zigeuner


    Drei Zigeuner fand ich einmal
    Liegen an einer Weide,
    Als mein Fuhrwerk mit müder Qual
    Schlich durch sandige Heide.


    Hielt der eine für sich allein
    In den Händen die Fiedel,
    Spielte, umglüht vom Abendschein,
    Sich ein feuriges Liedel.


    Hielt der zweite die Pfeif im Mund,
    Blickte nach seinem Rauche,
    Froh, als ob er vom Erdenrund
    Nichts zum Glücke mehr brauche.


    Und der dritte behaglich schlief,
    Und sein Zimbal am Baum hing,
    Über die Saiten der Windhauch lief,
    Über sein Herz ein Traum ging.


    An den Kleidern trugen die drei
    Löcher und bunte Flicken,
    Aber sie boten trotzig frei
    Spott den Erdengeschicken.


    Dreifach haben sie mir gezeigt,
    Wenn das Leben uns nachtet,
    Wie mans verraucht, verschläft, vergeigt
    Und es dreimal verachtet.


    Nach den Zigeunern lang noch schaun
    Mußt ich im Weiterfahren,
    Nach den Gesichtern dunkelbraun,
    Den schwarzlockigen Haaren.



    In mehrererlei Hinsicht ist dieses Gedicht von Nikolaus Lenau, das Franz Liszt in seiner Schrift über die Zigeuner (Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn, Deutsch bearbeitet von Peter Cornelius, Pesth 1861) auch kommentiert, erhellend. Da ist einmal die Erzählperspektive: Das, was die „Zigeuner“ sind oder vermeintlich sind, wird nicht aus der Perspektive dieser Menschen, der Roma selbst also, wie sie tatsächlich leben, geschildert, sondern von einem, der sie von außen betrachtet. Dies ist wichtig zu betonen, denn nach heutigen historisch-kritischen Maßstäben beruht Liszts Auffassung, dass es sich bei derjenigen Musik, die er in Ungarn von Roma-Kapellen vorgetragen hörte, um Zigeunermusik als originärer ungarischer Volksmusik handele, auf einem grundlegenden Missverständnis, denn diese Musik ist weder ungarische Volksmusik noch „Zigeuner“-Musik im originären Sinne. Dieses Missverständnis zeigt aber letztlich, dass es Romantikern wie Lenau und Liszt um ganz etwas anderes ging als darum, eine Wirklichkeit so genau wie möglich widerzuspiegeln. Im romantischen Blickwinkel entsteht ein Bild von Parias, die außerhalb der Gesellschaft leben, in die das von der Gesellschaft enttäuschte Indiviuum seine unerfüllten Wünsche und Träume projizieren kann. Die Weltverachtung, die Lenau den Zigeunern zuschreibt, sie ist letztlich die Verachtung für die Gesellschaft, die der Dichter selber in sich trägt, enttäuscht von der Stagnation der Restaurationszeit und gescheiterten Revolutionen. Warum nun werden die „Zigeuner“ zur Projektionsfläche? Als Paria-Gestalten sind sie kein Teil der Gesellschaft, sondern leben von dieser unabhängig „außerhalb“, in der Natur und im Einklang mit der Natur. Und sie pfeifen deshalb auf all das, was die bürgerliche Gesellschaft an Normen aufstellt. Vor allem pflegen sie den Müßiggang, das, was die protestantische Arbeitsethik, auf der – wie Max Weber zeigte – der moderne Kapitalismus beruht, als die Untugend und das Unerlaubte schlechthin betrachtet.


    Solche Zigeuner-Romantik, sie ist also geradezu subversiv gesellschaftskritisch. Die Faszination für die Zigeuner entspringt letztlich eigenen Wunschvorstellungen, die das gesellschaftlich Verbotene als das Idealbild vom Zigeunerleben der Gesellschaft entgegenstellen als ein utopisches, von allen gesellschaftlichen Zwängen befreites Leben. Die in der Zigeuner-Romantik zum Ausdruck kommende Utopie von individueller Freiheit betrifft bezeichnend das „Gefühl“, das Bedürfnis, sein Gefühl von keiner gesellschaftlichen Konvention gezähmt mit all seinen Extremen und Exzessen bedingungsloser Leidenschaft ausleben zu können. Das romantische Individuum ist nicht mehr bereit, sein Gefühlsleben von dem, was sich gesellschaftlich schickt, den Grenzen der sogenannten Wohlanständigkeit, eindämmen zu lassen und setzt sich damit über alle „Moral“ rücksichtslos hinweg. Franz Liszt nennt das den „naiven poetischen Egoismus“, den die „Civilisation“ erstickt habe. Anders als der „prosaische Egoismus“ der bürgerlichen Gesellschaft, dem es nur um Besitzstandwahrung geht, entsteht dieser „poetische Egoismus“ „aus dem Streben nach unendlicher Befriedigung des Gefühls, und kann niemals und durch nichts im menschlichen Herzen vernichtet werden; er wurzelt selbst in den schönsten und größten Seelen...“ Der Zigeuner-Virtuose ist also letztlich die Verkörperung dieses „poetischen“ Egoismus der uneingeschränkten Behauptung der Freiheit des „Gefühls“. Die Romantik entwirft ein Bild des „Zigeuners“, der sich über alle gesellschaftlichen Regeln und Konventionen hinwegzusetzt, um nur die eigene Individualität zu leben. Eine solche individuelle Freiheit ist allerdings alles andere als „realistisch“. Denn im realen sozialen Leben sind Roma-Gemeinschaften normativ sehr streng organisierte Kollektive, welche dem Individuum reichlich wenig Spielräume geben, was die Romantik jedoch schlicht nicht interessiert. Zigeuner werden bezeichnend allein und ausschließlich in Gestalt des Zigeuner-Virtuosen und ihrer Musik wahrgenommen. Die Verbindung von Lebenstil und Musik macht entsprechend das romantische fascinosum der Zigeunerexistenz aus, indem sie das Bild gelebter individueller Gefühlsfreiheit abgibt. Ein Interpret der Ungarischen Rhapsodien sollte deshalb in der Lage sein, diesen künstlerisch-emanzipatorischen Sinn zu vermitteln, weil von Liszts Zigeunerromantik sonsts nichts übrig bleibt außer billiger Volkloristik und virtuosem Tastenzauber. Die Ungarischen Rhapsodien haben als Virtuosenstücke sicher auch einen unterhaltenden Charakter, sie sind aber eben weit mehr als nur anspruchslose Unterhaltungsmusik.


    Czárdás


    Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 2 nimmt zum ersten Mal in der Musikliteratur den ungarischen Czárdás (oder Csárdás) in die Kunstmusik auf. Der Czárdás hat zwei Teile – den „Lassan“ und die „Friska“, zwei in ihrem Charakter sehr gegensätzliche Tänze. Liszt notiert im Notentext auch den Beginn beider Teile, die er mit „Lassan“ und „Friska“ jeweils überschreibt – der Lassan erröffnet nach der mit Lento a capriccio überschrieben Einleitung und ist mit Andante mesto überschrieben. Die Friska beginnt nach dem im morendo verlöschenden „Lassan“ im geheimnisvollen Pianissimo mit der Vorschrift Vivace. Der Vergleich der Aufnahmen von Vladimir Horowitz und George Cziffra zeigt, dass ein – wenn nicht das – zentrale Interpretationsproblem dieser Ungarischen Rhapsodie darin besteht, die Idiomatik der beiden Tänze zu treffen. Man darf ja nicht vergessen, dass Liszt mit den Ungarischen Rhapsodien so etwas wie ein Nationalepos ungarischer Musik komponieren wollte, was voraussetzt, dass man den idiomatisch ungarischen Ton auch trifft. Es empfiehlt sich also, Horowitz und Cziffra im Vergleich zu hören – den Notentext kann man glücklicher weise bei Youtube mitlesen. (Anmerkung: Um die Feinheiten wirklich wahrzunehmen, sollte man aber auf das Hören mit einer hochwertigen Hifi-Anlage nicht verzichten!)




    Unterschiedlicher könnte die Gestaltung gerade des Lassan bei Horowitz und Cziffra nicht sein! Horowitz macht zum Ende der Einleitung (Liszt schreibt dort più ritenuto vor) statt eines Diminuendo (der bei Liszt notierten sich schließenden Klammer >) ein großes Crescendo hin zum Forte, mit der er dann die Bassfigur im kräftigen Forte ausführt und entsprechend den kompletten ersten Teil bis zur Dolce con grazia-Passage, wo nach Liszt Piano vorgeschrieben ist, Forte spielt. Cziffra dagegen nimmt das Mezzoforte der Bassfigur gleich im nächsten Takt ins Piano zurück. Liszt hat für diesen kompletten ersten Teil keine dynamische Bezeichnung gegeben, der Interpret ist von den Vorgaben des Notentextes her also scheinbar frei in der Gestaltung. Bei Cziffra bekommt der ganze Lassan mit dem bei ihm dominierenden Piano und Pianissimo einen traumhaften und schmerzhaften Charakter, während Horowitz theatralisiert und dem Lassan-Teil den Eindruck eines bunten Potpourris gibt, wo bombastisches Auftrumpfen mit betörender Zartheit wechselt – denn Horowitz kann wahrlich nicht nur auf dem Flügel donnern, sondern auch ein hochpoetisches Piano spielen – Liszts Vortragsanweisung cappriccioso und zugleich dolcissimo wirklich buchstäblich und betörend realisieren. Welche der beiden Interpretationen ist nun „richtig“ oder besser gesagt: angemessen oder angemessener?


    Lesen wir, wie Liszt selbst in seiner Schrift über die Zigeuner den Lassan und die Friska charakterisiert:


    „Der Zigeunervirtuose suchte eine Form die allem Ungestüm seiner Lustigkeit übereinstimmte und seiner Trauer den klagenden Ausdruck verliehe. Diese beiden Gefühlsströmungen haben in den beiden, anfangs ernsten dann lebhaften Tanzweisen (gemeint sind Lassan und Friska beim Czárdás, H.K.) ihr Bett gefunden. (...)


    Ihr (gemeint sind die Czárdás-Tänze, H.K.) wenn nicht vorherrschender doch mindestens gleichbedeutender Werth ist ganz insbesondere dem poetischen Genius des Zigeuners zuzuschreiben, der hier frei und fessellos alle zurückgehaltenen Thränen seines Herzens ausweinen, alle Traumbilder schauen und Züge ganzer Welten in Pracht oder Trauer an uns vorüberführen konnte. Das in sehr langsamem Tempo gehende Stück heißt Lassan (lassù, lassan) nach einem Worte welches Langsamkeit bedeutet und lässt sich durch „Maestoso“, „Dolente“, „Pomposo“ bezeichnen. Hierher gehören die feierlichen, nationalen Märsche. Unter der Benennung Frischa (einem aus Friss, Frissen corrumpirten Wort) begreift man die zweite Hälfte der Hongroise, die in sehr schnellem Takt plötzlich und allmählig zu einem Rhythmus sich steigert, dessen Raserei und hinreißende Gewalt kein auf unsren fashionablen Bällen üblicher Tanz gleichkommt. Die Frischkas haben etwas Brüsques, Stoßweises, Unregelmäßiges, Unterbrochenes und scheinen wie von plötzlichen Sprüngen begleitet.“


    Liszt betont den Charaktergegensatz: Während den Lassan „Trauer“ in einem „klagenden Ausdruck“ auszeichnet, zeigt sich die Friska im Kontrast dazu lebhaft, sprunghaft, mit rasanten Tempowechseln und Temposteigerungen. Liszts Ausdrucks- und Tempobezeichnungen geben diesen Wechsel der Stimmungen der beiden Tänze auch wieder: Andante für den Lassan und Vivace für die Frisca. Insbesondere aber das Andante „mesto“ weist auf die traurige Grundstimmung des Lassan hin. Es lohnt sich hier das Damen-Conversationslexikon von 1834 zu zitieren, weil es zeigt, wie die Bezeichnung „mesto“ zu Liszts Zeiten verstanden wurde:


    Mesto (Musik), betrübt, traurig, beim Vortrage in der Musik jene Stimmung stiller Resignation, die auf ihre eigenen Seufzer lauscht und in gleichmäßig schleichendem Trübsinn fortträumt.


    In Liszts Ausführungen wie auch in seinen Vortragsbezeichnungen spiegeln sich diese lexikalischen Charakterisierungen genau wieder: das Traumhafte, die „Traumbilder“ durch das trübsinnige „mesto“ und den „Seufzer“, den „klagenden Ausdruck“ durch die Kennzeichnung des Lassan und entsprechend die Vortragsbezeichnung molto espressivo für das Lassan-Thema. Cziffra trifft nun diese traurig-schmerzhafte Stimmung in seiner 1956iger Aufnahme wie kein Anderer: Die Rücknahme ins Piano in der Bassfigur eröffnet nicht nur einen trübsinnigen Traum, sie bringt auch das molto espressivo des Lassan-Themas zur Geltung, den schmerzhaften Ton. Und Cziffra bemüht sich sehr, diesen einheitlichen Ton traumhaften Trübsinns nicht durch allzu äußerliche Charakterwechsel zu verdecken. Freilich interpretiert auch er individuell und spielt nicht nur sklavisch notentexttreu – wobei man sagen muss, die stupend notentextgenaueste Aufnahme ist diese von Cziffra! Das morendo („verlöschend“) und rallentando am Schluss des Lassan dehnt Cziffra auf den ganzen Schlussteil von diesem aus, so dass er am Ende allmählich ins Nichts versinkt. So wird dann der Kontrast zur keineswegs laut-lustig lärmend anhebenden Frisca, die im mystischen Pianissimo beginnt, eindrucksvoll spürbar. Cziffras spätere Interpretation von 1972 spielt diesen Lassan dann merklich anders: improvisatorisch-freier und kontrastreicher. Gleichwohl versteht er es, den traurigen Grundton des Lassan nicht zu verlassen.


    Genau das, den Grundton des Lassan nicht zu treffen, muss man nun Horowitz zum Vorwurf machen: Horowitz brüske, sprunghafte Spielweise verfehlt die Idiomatik dieses Lassan vollständig, der bei ihm eher so klingt wie eine Friska. Und gerade auch der theatralische Forte-Beginn erweist sich als Fehlgriff. Wie kommt Horowitz eigentlich dazu, die Bassfigur in einem so bombastischen Forte zu nehmen? Horowitz ist damit übrigens nicht allein: Auch etwa Grigory Ginsburg als ein Vertreter der russischen Pianistenschule spielt diese Bässe sehr mächtig, was immer zur Folge hat, dass die viel zu schweren Bässe das molto espressivo des Lassan-Themas erdrücken und damit den Ton von Klage und Trauer ersticken. Um sich gegen die vorlauten Bässe zu behaupten, muss dann nämlich das Lassan-Thema zwangsläufig auch munter und laut sein. Die Antwort auf diese Frage, sie liegt in Liszts Spielanweisung l´accompagnamento pesante. Die Begleitung soll nach Liszt pesante genommen werden, was u.a. „schwer“, „gewichtig“ bedeuten kann. Doch meint Liszt damit wirklich, wie Horowitz und Andere es offenbar verstehen, dass das zu Beginn der Einleitung notierte Forte durch diesen ganzen ersten Lassan-Teil durchzuhalten ist? Dagegen spricht einmal, dass Liszt ein p nicht erst für den kontrastierenden folgenden Teil (dolce con grazia) notiert, sondern einen Takt früher, als Rückkehr zur Stimmung des Anfangs nach dem virtuosen ad libitum Einschub. Zudem kann man hier zum Vergleich die Eröffnung der Dante-Sonate hinzuziehen, wo die in die Hölle abstürzenden Oktaven ebenfalls Forte und mit Keilakzenten notiert sind, worauf dann die mühsam aufsteigenden Akkorde pesante gespielt werden sollen. Es ist offensichtlich, dass man sie da nicht mit Forte-Gewicht versehen kann – und so spielt sie auch Niemand. Nach dem Schock des Höllensturzes richtet sich das musikalische Subjekt verstört und sachte-hilflos ein wenig wieder auf. Es ist also klar, dass der Sinn von pesante wechselt je nach dem musikalisch-semantischen Kontext: Zu Beginn der Dante-Sonate bedeutet pesante entsprechend nicht „schwer“, sondern „schleppend“. Liszt gibt selbst den Hinweis, wie das pesante mit der traurigen Stimmung des Lassan zusammengehen kann, indem er in seiner Schrift über die Zigeuner als Ausdrucksbezeichnung für den Lassan das „Pomposo“ anführt, was „feierlich“ bedeutet. Wenn man die Pesante-Gewichtigkeit als einen feierlich-würdevollen Ton versteht, dann kann er sich mit Traurigkeit und dem Ausdruck von klagendem Schmerz verbinden. Ich kenne allerdings keine Interpretation, der dieses Kunststück gelingen würde, dieses pesante feierlich-würdevoll und zugleich traurig klingen zu lassen. Andeutungshaft realisiert ist das allenfalls in der sehr hörenswerten, hochpoetischen Aufnahme von Alfred Cortot von 1923 (Victor 1.3.1923, CD 2 der EMI Anniversary-Box), der dem Lassan auch einen traurigen Ton zu verleihen vermag. In Horowitz´ Theatralisierung ist diesem Lassan bezeichnend jede Art von Traurigkeit und traumhaftem Trübsinn ausgetrieben.


    Cziffras Vortrag der Friska zeigt einfach sämtliche Facetten, die man von einem solchen romantisch-poetischen Virtuosenstück erwartet. Da werden alle Wechsel der Charaktere, Rhythmen und Tempi präzise nachgezeichnet – das „Tempo giusto“ ist wirklich „giusto“, also ein „richtiges“, dem wechselhaften Charakter des Tanzes absolut entsprechendes Tempo. Eindrucksvoll auch, wie Cziffra die Beschleunigungen mal rasant, mal kontinuierlich aufbauen kann. Die Idiomatik der vitalen und sprunghaft-übermütigen Frisca trifft er so traumwandlerisch sicher, dass er – wiederum vorbildlich notentexttreu – Übertreibungen nicht nötig hat. Die spektakuläre Virtuosität, sie hat Liszt schließlich im Notentext festgehalten, so dass Forcierungen der ohnehin auf den ungemilderten Ausdruck von Extremen abzielenden Zigeuner-Virtuosität eigentlich gar keinen Sinn machen. Horowitz dagegen meint, das Übertreibende noch einmal übertreiben zu müssen und theatralisiert damit die Musik zu einem großorchestralen Theaterdonner auf Kosten der Idiomatik. Horowitz´ genialische Exzentrizität und virtuose Ausnahmefähigkeiten sind unbestreitbar – sie verschlagen einem den Atem. Nur geht seine sehr weitreichende virtuose Bearbeitung zu Lasten der Vielfältigkeiten und dem, was Liszt selbst die „Raserei und hinreißende Gewalt“ der Friska nennt. Horowitz´ Vortrag steht ständig unter Hochspannung, bewegt sich im dynamischen Ausnahmezustand eines Forte-Fortissimo um dann wieder ins Piano zurückzufallen, betont also die extremen Kontraste und wird damit episodisch. So gibt es keine zeitlich horizontalen Entwicklungen, denn die Möglichkeit dynamisch-rhythmischer Steigerungen schließt seine aufs Äußerste zugespitzte Gegenüberstellung von Kontrastextremen aus. Horowitz ist die Monumentalität, die Demonstration virtuoser Kraftakte wichtiger als eine Verlaufsdynamik nachzuzeichnen, die statt ständig dynamische Höhepunkte zu setzen auf den dynamischen Aufbau und den Rausch der Beschleunigung von Beschleunigungen setzen würde, wie es die Friska – und die Notierungen im Notentext – eigentlich erfordern. Horowitz Bombastik wirkt so auch merkwürdig einförmig und statisch, womit die fehlende Dynamisierung des Zeitverlaufs spürbar wird, lebt vom explosiven Moment des Ausbrauchs von ungeheurer Kraft und der unglaublichen Schnelligkeit seiner Oktavkaskaden. Das ist zwar brüsk und sprunghaft, wie es zu einer Friska gehört, hat aber keinen tänzerischen „Takt“ mehr. Das Tanzstück hat Horowitz so vollständig in virtuos überwältigendes Tastentheater verwandelt.


    Stolz und Schmerz


    „Das Entzücken höchsten Jubels und das erschlaffte Schmachten unbeweglicher Apathie begegnen sich, wie in dem Leben ihrer Sänger, fortwährend in diesen Melodien. Sie bilden unausgesetzte Contraste unter allen Formen welche die Seele in ihrem Oscilliren zwischen Orgie und Ekel annimmt, zwischen dem stolzen Dünkel des Lebensrausches und der schauerlichen Leere der Übersättigung.“


    Von der Lustigkeit und dem überschwenglichen Jubel ungarischer Musik darf man sich nach Franz Liszt also nicht täuschen lassen. Höchste Freude und tiefstes Leid treffen unmittelbar aufeinander, alles Lichte, Heitere hat letztlich seine dunkle Gegenseite. Dies sollte der Interpret der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 bedenken und den Gegensatz von traurigem Lassan und vital-ausgelassener Friska nicht durch eine virtuose Vitalisierung des Lassan einzuebnen suchen – wie das beispielsweise auch bei Valentina Lisitsa geschieht –, sondern den Gegensatz der grundverschiedenen Befindlichkeiten der Tänze hart und unvermittelt aufeinanderprallen lassen im Sinne eines wirklichen Altierens.


    Dasselbe gilt nun gerade auch für den Gegensatz der Lento a capriccio-Einleitung und dem sich unmittelbar anschließenden Lassan. Das Kapriziöse dieses a capriccio umfasst die Spannbreite zwischen den Ausdruckscharakteren des Launenhaften und Eigenwilligen. Auch hier ist für eine wirklich schlüssige Deutung letztlich der musikalisch-semantische Kontext entscheidend. Cziffra – wie auch Horowitz – nehmen diese Takte rhetorisch streng als komplementäre Ergänzungen: Ein initial auftrumpfender Bass-Akzent wird jeweils durch einen mit marcato nochmals verstärkten Tiefbass-Akzent beantwortet und damit quasi tautologisch verdoppelt, wie das Echo seiner selbst. Es ereignet sich damit so etwas wie die Selbstaffirmation herrischen Auftrumpfens, Eigenwilligkeit im Sinne des Bekundens von Eigenwillen, von Stolz und grimmigem Trotz, der dann bei Cziffra auf die traumhaft-traurige zarte Empfindsamkeit des Lassan prallt, womit er dem Geiste Liszts sehr genau entspricht: Trotz und Schmerz, sie bilden nach Liszt die ambivalente Grundbefindlichkeit des Zigeuners, welche sich offenbar gleich zu Anfang seines Czárdás manifestieren:


    „Unter den Gefühlen welche die Zigeuner in der Musik Ausdruck verleihen konnten ist das hervortretendste: Stolz, das zugänglichste: Schmerz.“


    Ganz anders nun gestaltet Katia Buniatishvili die einleitenden Takte. Sie versteht das a capriccio im Sinne des Launenhaften, weicht entsprechend die feste Metrik auf, entrhetorisiert und dynamisiert so die Phrase im Sinne einer Sentimentalisierung, welche sie dem Lassan im Charakter damit angleicht und auf diese Weise sanft zum Lassan-Thema hinübergleitet. Der Eindruck ihrer Interpretation bleibt so zwiespältig: Zwar spielt sie – Cziffra im Ohr – den Lassan mit schöner Empfindsamkeit, hat die Ambivalenz des Zigeuners, die sich gleich zu Beginn offenbart, auf diese Weise aber beseitigt, Trotz und Stolz in die einfache Sentimentalität eines nur noch Traurig-Schönen verwandelt. Dagegen wird bei ihr der Gegensatz von Lassan und Friska scharf betont – leider aber die Frisca allzu Horowitz nah zum virtuos-theatralischen, die tänzerischen Rhythmuswechsel egalisierenden Bombast. (Auch klaviertechnisch ist das der in den Höchstschwierigkeiten am wenigsten durchsichtige und saubere Vortrag, den ich gehört habe.)


    Man muss Katia Buniatishvili allerdings zugute halten, dass ihre sentimentalisierende Aufweichung der Lento a capriccio-Einleitung Sinn macht, nämlich eine Audrucksbeseelung bedeutet. Letztlich weiß man auch das um so mehr zu schätzen, wenn man Lang Lang zum Vergleich heranzieht. Der angeblich „beste Pianist der Welt“ stellt mit seinem Vortrag der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 bei den Proms 2008 den Weltrekord auf, die wohl scheußlichste Verhunzung von Liszts Werk für alle Zeiten dargeboten zu haben. Lang Lang macht eine Fermate nach dem ersten Cis, um dann völlig zusammenhanglos nach diesem Loch den zweiten Akkord wie einen Dampfhammer besinnungslos in den Flügel zu hämmern. Launenhaft ist das sicher, aber lediglich im Sinne des Verschroben-Skurrilen eines Vortrags ohne jeglichen Ausdruckswert. Und mit dem Lassan kommt dann die Katastrophe musikalischen Unverständnisses. Lang Lang donnert den Bass rücksichtslos im Fortissimo, Horowitz weit übertrumpfend, und haut entsprechend das Lassan-Thema hohl und leer in den Flügel wie das tönende Nichts. Die dolce con grazia-Passage präsentiert er anschließend mit infantil verzücktem Lächeln. Geschmackloser geht es wirklich nicht! Ist der gestandene Virtuose Lang Lang nicht reifer geworden als der Knirps Lang Lang von einst, der Franz Liszt mit Bugs Bunny verwechselte? Bei Lang Lang kippt romantische, poetische Virtuosität um in den Virtuosen-Nihilismus eines Zirkus hochmanieristischer Eitelkeiten.


    Wer wie Lang Lang meint, Liszts romantisches Virtuosenstück habe nur einen laut lärmenden Vordergrund und keinen Hintergrund, der sollte sich die folgenden erstaunlichen Zeilen aus seiner Schrift über die Zigeuner zu Gemüte führen, die fast schon psychoanalytisch den Lärm lauten Jubels als eine Strategie der Verdrängung entlarven, den tiefen und alles durchdringenden Schmerz im Innersten der Seele zu übertönen


    „Während dem Lärmendsten Jubel toller Trunkenheit muß man jeden Augenblick eines halb erstickten Stöhnens gewärtig sein, welches daran erinnert, daß hier ein unendlicher Schmerz nur durch die Lust verkappt ist (...).“


    In Cziffras 1972ger Aufnahme könnte man meinen, diese Doppelbödigkeit am Ende des Lassan zu vernehmen. Während die 1956iger Aufnahme die dort notierten Keilakzente und das Rinforzando traumhaft weich zeichnet, werden sie nun zum Stachel und Weckruf, zum trotzigen Aufbegehren, das sich meldet, um gleich wieder zu verschwinden, wie eine für den kurzen Moment über die Bewusstseinsschwelle tretende Botschaft aus dem verdrängten Unbewussten. Wird so das folgende Friska-Vivace nicht zu einer Trotzreaktion, vitalistische Ausgelassenheit damit zum „Dennoch“ und „Trotzdem“ dem Traumhaft-Schmerzhaften gegenüber, welches der Lassan als die tragende Grundbefindlichkeit für den ganzen Czárdás vorgibt?

  • Reinhard

    Hat den Titel des Themas von „Wozu Interpretarionsvergleiche? (I) Antworten auf die Frage am Beispiel von Franz Liszts Ungarischer Rhapsodie Nr. 2“ zu „Wozu Interpretationsvergleiche? (I) Antworten auf die Frage am Beispiel von Franz Liszts Ungarischer Rhapsodie Nr. 2“ geändert.
  • Aktuelle Ergänzung (auch hier zu lesen):


    Interpretationsvergleiche Klavier - Diskussionsforum


    So ein Interpretationsvergleich macht richtig Freude, wenn man nur absolut herausragende Aufnahmen zu besprechen hat. Und das ist heute der Fall!




    Arcadi Volodos wählt Horowitz´ Bearbeitung, und folgt Horowitz sehr genau, auch was seinen Vortrag angeht. So übernimmt er etwa Horowitz´ dynamische Gestaltung der Einleitung, macht also gegen Liszts Vorschrift ein crescendo im Übergang zum Lassan-Teil, nimmt die wuchtige Begleitung aber sogleich bei der Wiederholung in der Art von Cziffra ins mp zurück. Aber was bei Volodos herauskommt, ist wahrlich kein Horowitz Plagiat! Volodos macht aus Horowitz´ Virtuosenspektakel einen ästhetischen Genuss und verwandelt dessen Übertreibungen in hochpoetische Natürlichkeit, was eigentlich eine Quadratur des Kreises zu sein scheint, so, als sei er die Synthese von Feuer und Wasser unter den großen Klaviertitanen und Antipoden: Vladimir Horowitz und Artur Rubinstein. Das Stück klingt bei Volodos wie aus einem Guss – die Horowitz-Exzentrizitäten an der Grenze zum schlechten Geschmack sind in seinem absolut organischen Vortrag verschwunden. Pianistisch ist das eine olympische Leistung in jeder Hinsicht, vom Klangästhetischen her und von der Beherrschung des Instruments in den absoluten Extremen: Wie Volodos das immense dynamische Spektrum von pp zu fff ausspielt, ohne dass der Flügel jemals hässlich hart klingt, sondern voll und saftig, das ist absolut einmalig und unverwechselbarer Volodos! So hat diese skurrile Horowitz-Bearbeitung Bestand – auch wenn das Liszt-Stück auf diese Art gespielt natürlich nicht eigentlich ungarisch-idiomatisch, also vor allem kein Tanz-Stück mehr ist, aber eben eine durch Volodos zum Rein-Poetischen geläuterte höchstvirtuose Liszt-Bearbeitung. Einzigartig!


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    Alfred Cortot


    Aufnahmen (EMI Anniversary-Box):

    28.1.1920 (CD 1) (nur der Lassan)

    1.3.1923 (CD 2)

    27., 28.12.1926 (CD 4)

    Tokyo 1. u. 3.12.1952 (CD 25)


    Für mich sind die verschiedenen Aufnahmen von Cortot maßstabsetzend, stellen den Gipfel dar, was die Interpretationskunst in Einheit mit virtuoser Souveränität in Sachen Ungarische Rhapsodie Nr. 2 darstellt. 1920 hat Alfred Cortot nur die Einleitung und den Lassan aufgenommen. Die Friska fehlt. Schon dieses Fragment ist beeindruckend! Cortot nimmt die Einleitung in einem Sostenuto-Ton, die akzentuierten Akkorde dabei mit dem nötigen Trotz, aber jedoch (die Vorschlagsakkorde) zum Teil arpeggiert, was man heute sicher nicht mehr so spielen würde. Auch das Mittel der Bassoktavierung (im Lassan) scheut Cortot nicht. Ein Wunder in dieser ersten Aufnahme ist das Lassan-Thema, das Cortot scherzando rhythmisierend spielt aber zugleich mit der Schwere eines Trauermarsches: ein Tanz im Marschgang wie der Trauermarsch der 5. Symphonie von Gustav Mahler, ein Satz, der bei Mahler überschrieben ist mit: „In gemessenem Schritt, streng, wie ein Kondukt“. Das passt, bis auf das „streng“. Genau diese Strenge hat Cortots genialische Intuition mit der Freizügigkeit tänzerischer Rhythmisierung gekonnt ausgetrieben, weil sie mit einem Zigeuner-Czárdás unvereinbar ist. Man darf bei Alfred Cortot annehmen, dass er Franz Liszts Schrift über die Zigeuner gelesen hat. Dort steht über den Lassan:


    „Das in sehr langsamem Tempo gehende Stück heißt Lassan (lassù, lassan) nach einem Worte welches Langsamkeit bedeutet und lässt sich durch „Maestoso“, „Dolente“, „Pomposo“ bezeichnen. Hierher gehören die feierlichen, nationalen Märsche.“


    Das pesante interpretiert Cortot im Sinne des „Pomposo“ der „feierlichen, nationalen Märsche“ – besser kann man die Idiomatik hier, Liszt beim Wort nehmend, eigentlich nicht treffen, ein feierliches Marschieren, das zugleich die tänzerische Rubato-Freiheit des Zigeuners wahrt. Es dominiert ein schmerzvoller Ton – wie es sich für den Lassan gehört. Hervorzuheben in Bezug auf Cortots Pianistik der 20iger Jahre ist eine eindrucksvolle virtuose Leichtigkeit und Mühelosigkeit, mit der er sämtliche technischen Höchstschwierigkeiten bewältigt. Die kadenzartigen rasenden Läufe kommen wie Leuchtraketen, ungemein brillant. Und auch in der Friska packt Cortot zu – Virtuosität mit müheloser Leichtigkeit aus dem Handgelenk geschüttelt von der elegantesten Art, immer rhythmisch, präzise, nie dick und aufdringlich. Das ist die höchste Schule von Klaviertechnik!


    In der erstmals kompletten 1923iger Aufnahme wirkt die Einleitung noch intensiver, getragener. Dafür bekommt das Lassan-Thema eine an Chopin erinnernde Eleganz und Leichtigkeit – da finde ich, dass er die Idiomatik 1920 (und dann wieder 1926) besser getroffen hat. Aber auch hier hat der Lassan den erforderlichen traurigen Ton. Die Friska ist ein Hochgenuss zu hören – so unglaublich leicht und zart, mit eleganter Virtuosität gespielt: das ist Anti-Horowitz, eine Apotheose des Poetisch-Tänzerischen. Cortot spielt – wohl eine eigene – ausladende Kadenz, hoch brillant und sehr farbenreich. Eindrucksvoll ist gar kein Ausdruck!


    1926 trägt Cortot die Einleitung noch einmal etwas wuchtiger, gertragener vor. Vor allem aber nimmt er das Lassan-Thema wieder ähnlich der 1920iger Aufnahme feierlich marschierend wie bei einem Kondukt. Beeindruckend auch, wenn er zu Beginn der Friska die Marschcharaktere aus dem Lassan nachklingen lässt. Idiomatisch richtiger, poetischer und virtuos-müheloser kann man das nicht spielen – nur die charakteristischen Friska-Beschleunigungen vermag nur George Cziffra so vorzuführen, wie sie sein sollen. Insgesamt ist der Anschlag 1926 vielleicht eine Spur irdischer und kräftiger als die dämonische Leichtigkeit in der 1923iger Einspielung. Angesicht von Corots Höhenflügen fragt man sich: Wer sonst spielt die Ungarische Rhapsodie Nr. 2 so geistvoll, so tiefgründig? Alfred Cortot setzt gerade bei diesem Stück bis heute die Maßstäbe – alle jungen Pianisten sollten seine Aufnahmen hören, zur Schulung des Geschmacks!


    Aus Tokyo von 1952 gibt es nun noch ein weiteres Tondokument, wohl auch eine Studioaufnahme. Man merkt Cortot an, dass er in seinen späten Tagen nicht mehr über die mühelose, leichtgängige Virtuosität der 20iger Jahre verfügt. Diese Aufnahme ist langsamer, bedächtiger, sie legt mehr Wert auf sorgfältige Detailcharakterisierung. Ihre unverwechselbare Eigenart und Stärke ist und eine typisierende Deutlichkeit in der Darstellung. Das ist ungemein plastisch und solche aufs Höchste gesteigerte Plastizität wiegt letztlich die weniger dämonisch-rauschhaften Tempi auf. 1952 spielt Cortot wuchtiger, langsamer, das Eidetische betonend: Aus Liszts Ungarischer Rhapsodie Nr. 2 ist endgültig reine Poesie geworden im Sinne einer Klassizität der „charakteristischen Melodie“ (wiederum ganz im Sinne von Liszt), welche Tastenzauber nicht mehr nötig hat, um eindringlich zu wirken. Eine zeitlose Aufnahme!


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    Alfred Brendel (Wien 1968)


    Auch Brendel spielt die Einleitung Cortot verwandt in einem getragenen Ton (ob er Cortots Aufnahmen, die er sehr schätzt, in diesem Falle kennt?) und gibt der Einleitung das Gewicht eines selbständigen Formteils, so wie er sie als eine kleine Binnenerzählung geradezu liebevoll ausgestaltet. Auch Brendel vermag dem Lassan einen traurigen Ton zu geben – das Lassan-Thema (das ja nicht aus Ungarn, sondern Liszts Heften zufolge aus Moldawien stammt!) bekommt aber einen stolz-trotzigen Ton, was der Zigeuner-Idiomatik – Trotz und Schmerz zugleich nach Liszt – entspricht. Insgesamt verleiht er dem Lassan einen sehr eigenen, denkend-nachsinnenden Ton. Die Zymbal-Klänge nimmt er dagegen sehr „realistisch“ – um nicht zu sagen naturalistisch, ohne dass sie jedoch mechanisch klappern würden. So kann man diesen Lassan idiomatisch treffend und zugleich persönlich gestalten! Sehr intuitiv treffsicher auch, wie Brendel der im Pianissimo anhebenden Friska einen etwas kräftigeren, frischen Vivace-Ton gibt, so dass er sich vom Lassan deutlich abhebt. Brendels Chrakterisierungen der verschiedenen Stimmungen und Rhythmen sind vorbildlich, seine Tempo-Gestaltung eher gemäßigt „bürgerlich“ als virtuos überschäumend. Die hochvirtuose und harmonisch kühne Kadenz, die er spielt, ist vermute ich von Ferruccio Busoni oder von ihm selbst. Das ist Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 2 als reine Poesie, zum poetischen Klavierstück geadelt. Ebenfalls eine klassische, zeitlos gültige Interpretation!


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    Gregory Ginsburg (Moskau 1947)


    Es ist schön, wenn sich beim Wiederhören der erste Eindruck einer Aufnahme bestätigt, auch wenn diese erste Hörbegegnung lange zurückliegt. Ich mochte diese Aufnahme von Anfang an besonders – und das bleibt auch so! Schon in der Einleitung zeigt sich der Grundcharakter bei Ginsburg: ein tragisch-schwermütiger Ton. Diese Getragenheit erinnert an Cortot. Hochpoetisch, wie er das Forte-Marcato dieser Einleitung ins Piano zurücknehmen kann: Das ist nachdenkliche Poesie, fernab jeglicher virtuoser Bedenkenlosigkeit. Die schwermütige Gewichtigkeit durchzieht den ganzen Lassan – mit wunderbar nachdenklich-leisen und poetisch antinaturalistisch gespielten Zymbal-Effekten. Ginsburgs Aufnahme ist auch die einzige, welche die Schwermütigkeit in die Friska übernehmen und so zur Grundstimmung des ganzen Czárdás machen kann, ohne den Charakterwechsel der Tänze einzuebnen. Da werden die Fortissimo-Akkorde nicht theatralisch „gedonnert“, sondern beim ersten Auftreten mit eleganter Leichtigkeit dezent in die Tasten gesetzt, welche so die getragene Stimmung nicht zerstören, sondern als Aufhellungen und Belebungen des düsteren Grundcharakters wirken. Wo es sein muss, kann Ginsburg selbstverständlich „zulangen“. Wohltuend ist das virtuoser Liszt ohne jegliche Effekthascherei – überlegene Virtuosität braucht Gregory Ginsburg nicht zu demonstrieren, er hat sie einfach zur Verfügung in überreichlichem Maße. Die Friska ist treffsicher charakterisiert mit wunderbar einleuchtenden, sehr persönlichen Tempowechseln. Ginsburg spielt eine kurze – wohl eigene – Kadenz, wo sich die Virtuosität im begrenzten Raum der improvisatorisch freien Kadenz ungehemmt austoben darf für einen Moment, wodurch die Gefahr gebannt ist, dass sich das ganze Stück in eine Virtuosen-Zirkusnummer verwandelt aber auch improvisatorische Virtuosität nicht völlig verschwindet. Eine der schönsten, zeitlos gültigen Aufnahmen – Liszt, gespielt mit „russischer Seele“, „für die Ewigkeit“ aufgenommen! Unbedingt hörenswert! :) :) :)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Fortsetzung II: Ohne Begeisterung: Sergio Fiorentino, Cyprien Katsaris


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    Die Liszt-Einspielungen von Sergio Fiorentino sind dankenswerter Weise in einer günstigen Box erhältlich. Darin findet sich auch eine am 5. August 1963 aufgenommene Auswahl-Reihe der Ungarischen Rhapsodien – eröffnet mit der berühmten Nr. 2. Fiorentino, der immer noch Unbekannte unter den großen Pianisten, ist mit höchsten virtuosen Fähigkeiten gesegnet, die er aber in seiner bescheidenen Art nie effekthascherisch auftrumpfend präsentiert. Genau das sollte der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 eigentlich zugute kommen, will man meinen. Doch leider erweist sich Fiorentinos vornehme Distanziertheit und zudem etwas uninspiriert wirkende Solidität des Vortrags als ein Fehlgriff: Dass Fiorentino den Hörer nicht zu begeistern vermag, liegt daran, dass der Interpret für dieses Stück schlicht keine romantische Begeisterung entwickelt. Da ist rein gar nichts vom Hinreißenden und Mitreißenden der Zigeunervirtuosität zu spüren, wie sie einst Franz Liszt in den Bann zog, und somit teilt sich auch kein Bedürfnis nach dem hemmungslosen Ausleben des Gefühls im Sinne leidenschaftlichen Mitgenommenseins mit. Die Lento a capriccio-Einleitung beginnt bei Fiorentino stimmungshaft im feierlichen Sostenuto-Ton. Der getragene Charakter, wie anders zeigt er sich hier jedoch verglichen mit Alfred Cortot! Keine innere Ergriffenheit, kein subjektiver Ausdrucksgestus meldet sich, sondern statt dessen versucht der Interpret, eine getragene Stimmung „darzustellen“, ästhetisch als Eindruck, als atmosphärischen Sinnesreiz in einem Stimmungsbild zu präsentieren. Fiorentino zieht die Fermaten in die Länge oder baut solche, wo sie nicht geschrieben stehen, ein, verbreitert also immer wieder das Tempo, nimmt der Musik so die Reibungen und das Aufregende des unmittelbaren Aufeinanderpralls von rhetorischen Antwortreaktionen. Das geschieht nicht nur in der Einleitung, sondern zieht sich als Manier durch den ganzen Lassan hindurch. Gleichsam malt Fiorentino auf diese Weise ein großes Atelierbild von einer Ungarischen Rhapsodie auf einer großen und breiten Kinoleinwand, monumental und mit schönen Farben: Das ist eher dekorativer Impressionismus statt aufwühlender Expressionismus.


    Mit einem Crescendo leitet er zum Lassan-Thema über, das im kräftigen Forte-Ton allerdings völlig untheatralisch klingt. Dass Sergio Fiorentino das Stück unüberlegt spielen würde, kann man ihm wahrlich nicht vorwerfen! Den Lassan interpretiert er durchgehend gewichtig pesante: als einen schwerfälligen, bedächtigen Marsch, wo man den Eindruck bekommt, die Bewegung des Tanzes müsste ständig feierlich aufgehalten werden: Nicht nur, dass die statischen Passagen förmlich zum Stehen gebracht werden wie beim ins Unendliche verlängerten Triller Takt 57 ff. Wenn Cziffra in seiner 1956iger Aufnahme den Lassan allmählich verlöschen lässt, so berührt und überzeugt sein unendliches Ritardando durch seine sehr suggestive negative Dynamik als ein gleichsam umgekehrtes Accelerando. Bei Fiorentino dagegen wirkt die Breite wenig natürlich, lediglich in die Breite gezogen. Nein – idiomatisch ist dieser Lassan nicht: Das ist ein kunstvolles Leinwandbild mit einem ungarischen Motiv, gemalt von einem Italiener im italienischen Geiste. Die Friska ist gediegen, aber einfach zu gediegen. Von wegen cappriciosamente (Takt 143)! Diese Zymbal-Klänge tönen nicht burlesk, nicht kapriziös, zu kultiviert und leider auch wenig inspiriert, einfach nur schulmäßig sauber gespielt ohne besonderen Ausdruckswert. Das Wort „Enthusiasmus“ häuft sich in Franz Liszts Schrift über die Zigeuner – und das nicht ohne Grund. Novalis, der Erzromantiker, sprach von einer „Kultur des Enthusiasmus“. Genau diese urromantische Dimension inneren Feuers fehlt Fiorentinos allzu abgewogener Kultiviertheit: Dem Hörer als Betrachter wird eben keine fauvistische Naturstudie unter freiem Himmel, sondern statt dessen ein sorgfältig abgewogenes Atelierbild von einer Ungarischen Rhapsodie dargeboten.


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    Ist es zufällig, dass Cyprien Katsaris auf dem Coverbild seiner Doppel-CD mit einer ziemlich heterogenen Zusammenstellung von Aufnahmen, die 35 Jahre auseinanderliegen, so kauzig-infantil wirkt? Katsaris kann – die Rundfunk-Aufnahme der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 stammt vom Februar-April 2011 – immer noch charakterisieren, er weiß, was eine musikalische Phrase ist und phrasiert die ungarischen Melodien im Unterschied zu vielen anderen Kollegen sorgfältig aus. Nur hat man von Beginn an nicht den Eindruck, dass der Pianist wirklich ernsthaft und glühend leidenschaftlich bei der Sache ist bei diesem expressionistischen Virtuosenstück von Liszt. Katsaris bewegt sich statt dessen durch das Stück wie ein naiv sein wollendes, spielendes Kind, so dass man sich fragt: Ist dieses Virtuosen-Spiel eigentlich nur eine freilich kunstvoll-lustvolle Spielerei? Da wird mit der Musik gespielt – etwa der Schlussteil des Lassan mit einer sehr eigenwilligen Bearbeitung eingeleitet und der Rhythmus mit kauzigen Akzenten bereichert. Einen wirklichen Ausdruckswert – nämlich den von Schwermut und tiefer Trauer – bekommt dieser Lassan bei Katsaris aber zu keinem Moment. Vielmehr zerfällt die Musik am Ende ganz und gar spielerisch zerpflückt in ihre Einzelteile. Die Friska beginnt im Rhythmus schön schwingend, wirkt gleichwohl aber, so begeisterungsfrei sie vorgetragen ist, irgendwie „tot“. Was sich da in Katsaris´ hastiger Verspieltheit abspielt erinnert dann doch mehr an den Habitus eines Barpianisten. Man denkt so auch unweigerlich an Alfred Brendel, der in den Zeiten der 1968iger Revolte schrieb, man müsse die Ungarischen Rhapsodien vor den Kaffee- und Kurhauspianisten in Schutz nehmen, ihnen das „Feuer“ des „Zigeuners“ Liszt zurückgeben. Was schrieb Liszt über die Friska? „Unter der Benennung Frischa (eimem aus Friss, Frissen corrumpirten Wort) begreift man die zweite Hälfte der Hongroise, die in sehr schnellem Takt plötzlich und allmählig zu einem Rhythmus sich steigert, dessen Raserei und hinreißende Gewalt kein auf unsren fashionablen Bällen üblicher Tanz gleichkommt. Die Frischkas haben etwas Brüsques, Stoßweises, Unregelmäßiges, Unterbrochenes und scheinen wie von plötzlichen Sprüngen begleitet.“ Und was passiert bei Katsaris? Aus der „Raserei und hinreißenden Gewalt“ wird ein kommoder Tanz auf einem fashionablen Ball: Die rasanten Tempobeschleunigungen der Friska, sie haben bei Katsaris keinerlei Feuer, keinen Sog, vielmehr ist der Zigeuner-Revoluzzer Liszt in Katsaris-Gestalt zum Conférencier mit Zylinder und Stock mutiert, zu einem virtuosen Spaßmacher also, der seinem Publikum mit ein paar Kabinettstückchen und Zaubertricks, die er aus dem Hut zaubert, einfach nur gefallen möchte. Entsprechend erscheint das Extravagante als ein immer Angenehmes annehmbar gemacht, das Virtuos-Spektakuläre statt umstürzlerisch und beängstigend frei nur noch harmlos spielerisch und verspielt. Was Cyprien Katsaris da vorführt, ist virtuoses Entertainment, sich aufhaltend im ungefährlichen, die Extreme meidenden Mittelmaß der Aufregung (die dynamischen Kontraste sind merklich eingeebnet!), was nur nur einem dient: der Beförderung von ästhetischem Genuss als einer Art aufreizender Paprika-Würze für die ansonsten unempfindlichen Geschmacksnerven. Nur zum Schluss in der Prestissimo-Coda, nachdem er eine kurze und effektvolle Triller-Kadenz eingeschoben hat, blitzt der Katsaris aus früheren Zeiten kurz auf mit seiner einst so frappierenden Impulsivität und Cziffra verdächtigen virtuosen Explosivität, wo er ansonsten leider wirkt wie ein inzwischen zahnlos gewordener Virtuosen-Tiger. Diese Aufnahme ist wahrlich kein großer Wurf – vielmehr absolut verzichtbar!


    Zur Diskussion ist hier der Raum:


    Interpretationsvergleiche Klavier - Diskussionsforum

  • Fortsetzung III: Roberto Szidon, Alicia de Larrocha, Emil Gilels, Maurizio Baglini



    Der Brasilianer Roberto Szidon (1941-2011), der seit 1967 seinen Wohnsitz nach Deutschland verlegte und zunächst an der Musikhochschule Hannover und dann als Nachfolger von James Levine an der Robert Schumann Musikhochschule in Düsseldorf wirkte, machte 1972 bei der DGG eine Gesamtaufnahme der Ungarischen Rhapsodien, die eines Klassikers der Aufnahmegeschichte wahrlich würdig ist. Ob es an einem seiner bedeutenden Lehrer – Claudio Arrau – liegt, dass er, klaviertechnisch absolut souverän, auf jeden Tastenzirkus und jegliches virtuose Blendwerk verzichtet? Diese Aufnahme ist jedenfalls dazu angetan, diesen Werkzyklus von Liszt als Klaviermusik von hohem musikalischem Rang, die weit mehr ist als virtuose Unterhaltungsmusik, Ernst zu nehmen. Die Einleitung mit den kurz und trocken gespielten Bass-Vorschlagsakkorden wirkt grimmig und wuchtig. Den Lassan nimmt er in kräftigem Stil, trotzig, wuchtig schwerfällig, aber immer sehr sorgfältig und präzise charakterisiert, expressiv, aber ohne depressive Töne, eher innerlich gefestigt durch Stolz und Trotz. Die Lassan-Schwere zieht sich bei Szidon auch durch die Friska hindurch. Sein Forte hat Wucht und Durchschlagskraft ohne aber zu „knallen“ – eine sehr irdische Tanzfreude, der es dann doch ein wenig am Zigeunerhaften, dem Überschwang, überschäumender Vitalität und auch etwas an Flexibilität und Eleganz (man denke an Alfred Cortot!) fehlt. Vor der Coda spielt Szidon eine kurze Triller-Kadenz. Insgesamt beeindruckt die Aufnahme durch ihre Geschlossenheit und Schlüssigkeit der Gestaltung in jedem Moment. Der einzige errnsthafte Einwand wäre, dass Lassan und Friska mit ihrer durchgehenden Erdenschwere insgesamt etwas zu wenig im Charakter kontrastieren. Aber das ist auch nicht Szidons Interpretationsansatz, der Liszts Virtuosenstück von allen virtuosen Exaltiertheiten befreien möchte. Wer Schwierigkeiten mit diesem Werkzyklus von Liszt hat, dem sei diese großartig uneitle und ernsthafte Aufnahme – nicht nur in Sachen Ungarischer Rhapsodie Nr. 2 – wärmenstens empfohlen, die durchgehend auf höchstem Niveau ist! (Ich höre Szidons Aufnahme gerade durch und bin beglückt – das sind Qualitäten, die an Claudio Arrau erinnern!)


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    Auch Alicia de Larrochas Aufnahme (Aufnahmeort und Datum (?)) adelt wahrlich dieses abgedroschene Virtuosenstück. Beeindruckend, wie sie das Prinzip der komplementären Ergänzung aus dem Einleitungsmotiv auch beim Lassan-Thema herausarbeitet – so genau und schlüssig analysiert die rhythmische Syntax sonst niemand. Anders als bei Szidon spürt man bei ihr die Langsamkeit das Lassansatzes, die durch eine allerdings nie übertreibende Belebung unterbrochen wird. Die Bassschäge im Schlussteil machen sich sehr sprechend als „Einsprüche“ bemerkbar. Insgesamt ist dieser Lassan sehr poetisch, aber völlig unsentimental im Ton. Die Friska beginnt bei Alicia de Larrocha eher kräftig im Ton und wiederum analysiert sie sorgfältig die Syntax, die widerständigen Antwortreaktion im Bass kommen deutlich heraus. Sehr eindringlich sind die Friska-typischen Tempobelebungen herausgearbeitet. Sie fügt eine kurze Triller-Kadenz und ihre Presto-Coda klingt ungemein locker und souverän. In der Art von Artur Rubinstein betont sie eher die ausgeglichene Mitte als die Musik exzentrisch in ihre Extreme auseinanderzutreiben. Das ist die Ungarische Rhapsodie Nr. 2 nicht als Tastenzirtkus, sondern poetisches Klavierstück. Wunderbar!


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    Von Emil Gilels gibt es diverse Mitschnitte der 6. und 9. Ungarischen Rhapsodie – aber glücklicherweise auch diesen einen Konzertmitschnitt der Nr. 2 aus Moskau vom 12.2.1976, der mir bislang gar nicht bekannt war. Gleich zu Beginn macht Emil Gilels mit seiner zupackenden Souveränität deutlich, dass er über den Flügel auch in einem solchen Virtuosenstück wie ein absoluter Herrscher gebietet. Der Lassan klingt bei ihm so gar nicht traurig, sondern trotzig monumental. Es ist immer wieder beindruckend, über welches Formverständnis der große Russe verfügt. Er weiß beispielsweise, eine stabilen Rhythmus zu wahren, was die Einheit in der Mannigfaltigkeit garantiert. Die Gegensätze im Charakter der größeren Formabschnitte sind ungemein klar herausgearbeitet. Der Schlussteil des Lassan im Staccato bleibt im kräftigen Forte-Bereich, statt im Piano und Pianissimo zu verdämmern. Romantisierende, angekränkelte Sentimentalität lässt der sensible Lyriker Gilels so gar nicht aufkommen, das verbietet ihm sein klassischer Geist. Die Friska beginnt schön sich absetzend von der Kraft des Lassan im Piano. Auch hier, in der vitalen Friska, „gebietet“ König Emil über sein Instrument – der Hörer hat immer das Gefühl, da ist noch Luft nach oben. Beeindruckend, wie er die Spannung über weite Strecken halten und aufbauen kann. Wie soll man Gilels´ Interpretation zusammenfassend charakterisieren? Von idiomatischer Zigeunerromantik ist das weit entfernt – ein Vortrag von klassischer Souveränität eines der größten Klaviertitanen, der sich aber nie von seiner immensen virtuosen Fähigkeiten versklaven lässt. Und diese Transformation von virtuoser Romantik in romantische Klassizität bekommt der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 merklich gut! Ein Dokument von Emil Gilels´ Größe als ungemein besonnener Interpret.


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    Maurizio Baglini (Aufnahme Decca 2011, wohl auf einem Fazioli-Flügel gemacht) war mir bislang kein Begriff. Eine sicher sehr bemühte Interpretation, die aber an das überragende Niveau der drei zuvor besprochenen Aufnahmen einfach nicht heranreicht. Schon die Einleitung ist mit dem Pedal aufgeweicht etwas schwammig gestaltet, was sich dann in einer wenig klaren und immer etwas unpräzisen rhythmischen Charakteristik und Agogik des Lassan-Themas fortsetzt. Die Tempowechsel machen einen wenig schlüssigen und ein wenig „gewollten“ Eindruck – insgesamt erscheint die Pianistik etwas „mühevoll“ statt souverän beherrscht. Insgesamt gerät der Lassan bei Baglini langatmig um nicht zu sagen zäh, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass der Fazioli-Flügel mit seinen mächtigen Bässen etwas schwerfällig wirkt, wenn man sie nicht absolut präzise nimmt. Der Beginn der Friska hat einen schönen Ton – was hier jedoch fehlt, ist eine gewisse Leichtigkeit. In den burlesken Teilen fehlt die Souveränität und eine klare Linie der Gestaltung. Dass das Forte dann, wenn es bei Baglini tatsächlich kommt, etwas lärmig wird, hat sicher auch mit den manuellen, klaviertechnischen Grenzen des Interpreten zu tun. Wirklich originell ist die eigene, fantasieartige Kadenz, die stellenweise an Beethoven erinnert. Der Coda fehlt es dann wieder an der nötigen Durchsetzungskraft und Präzision. Das ist keine schlechte Aufnahme – sie gehört aber eindeutig nur in die zweite Reihe.

  • Nachtrag zu Fortsetzung III: Marc-André Hamelin und Sergei Rachmaninow


    zum Diskussionsforum hier der Link:


    Interpretationsvergleiche Klavier - Diskussionsforum






    Lange mied Marc-André Hamelin das „konventionelle“ Repertoire, um sich dem Virtuos-Abgelegenen zu widmen. Heute ist er zu diesem längst zurückgekehrt. Man nahm ihm allerdings immer ab, dass er auch die „Klassiker“ souverän beherrscht und mehr darstellt als nur ein Über-Virtuose, den er ohne Zweifel verkörpert ie kaum ein Anderer. Hamelin verfügt nicht nur über grenzenlose manuelle Fähigkeiten, sondern eben auch einen höchst kultivierten Klavierton – sein Flügel klingt nie hässlich hart, sondern wahrt immer den „Ton“, den schönen Klang. In dieser Hinsicht beglückend „ästhetischer“ Virtuosität ist er eigentlich nur Arcadi Volodos vergleichbar. Es ist keine Frage – Marc-André Hamelin ist eine Ausnahmeerscheinung unter den Pianisten von heute. Am 14. Januar 1996 gastierte er in London mit einen exquisiten Liszt-Programm, wo die Ungarische Rhapsodie Nr. 2 ganz sicher ein Höhepunkt ist, nicht zuletzt auch durch die äußerst originelle und aberwitzig virtuose, weit ausladende, von ihm selbst komponierte Kadenz. Hört man Hamelins Programm durch, dann muss man allerdings auch konstatieren, dass er kein „Romantiker“ ist in der Hinsicht zumindest, dass solche idiomatisch romantischen Liszt-Stücke wie die poetisch-virtuose Etüde „Waldesrauschen“ dann doch etwas wenig romantisch-geheimnisvoll im Ton und eher „positivistisch“ ernüchtert in ihrer Virtuosität wirken. Hoch expressiv dagegen sind die beiden späten Liszt Stücke: Nuages gris ist bei Hamelin eine wahre Agonie in Tönen. In der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 zeigt Hamelin eindrucksvoll, dass er zu gestalten versteht. Die Einleitung hat Trotz und der Lassan ist – freilich ohne tiefe Trauer und jeglichen Weltschmerz – sehr poetisch schön gespielt, wenn auch das Lassan-Thema etwas vordergründig unwirsch wirkt. Sehr schön auch die Einbrüche von Trotz in diesem langsamen Tanz. Das Friska-Thema klingt bei Hamelin poetisch – die Eröffnung dieses schnellen Tanzstücks aber eher gemächlich im Tempo. Der damals 35jährige Kanadier vermeidet die Extreme und Übertreibungen, so dass diese Friska auch nicht vor Lustigkeit und Lebensfreude überschäumt trotz transzendentaler Virtuosität. Allerdings macht sich in den Forte-Passagen auch der gewisse virtuose „Positivismus“ bei Hamelin bemerkbar: Es fehlt eine gewisse Distanznahme durch betonte Charakterisierung oder dosierte Übertreibung, welche virtuosen Überschwang dann doch als etwas erscheinen lässt, was sich nicht direkt zeigt: Virtuosen-Lust als die Verdrängung von Weltschmerz nämlich. Im Unterschied zu Arcadi Volodos wirkt Hamalins Virtuosität dann doch etwas „naiver“ und vordergründiger. Während Volodos ästhetisiert, vereinheitlicht und das Heterogene homogenisiert und so ein integrales Ganzes, einen musikalischen Organismus, herstellt, fehlt bei Hamelin, der direkter und unmittelbarer gestaltet, eine solche übergeordnete ästhetische Perspektive. Hamelins Kadenz hat eine überdimensionale Ausdehnung, die allein deshalb doch ein wenig zur Selbstdarstellung des Virtuosen auf Kosten von Liszt gerät. Kompositorisch ist das allerdings wirklich gekonnt gemacht, wie er von Modernismen bis zur virtuosen Verspieltheit alle Facetten einer Quasi-Improvisation zeigt. Das ist ganz große Kunst und eine verloren scheinende Kultur vergangener Zeiten, die durch Hamelin wieder auflebt, vor der man sich verneigen muss! Eine nicht zuletzt wegen der Kadenz eindrucksvollsten Aufnahmen der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2.


    An dieser Stelle ist auch der überaus sachkundige und geistreiche CD-Klappentext von Francis Pott zu erwähnen, der wahrlich Seltenheitswert hat. Pott erwähnt dort u.a. die Kadenz von Sergei Rachmaninow und ruft mir Rachmaninows Aufnahme ins Gedächtnis zurück, die ich doch glatt vergessen hatte! Deswegen folgt die Besprechung von Rachmaninows Aufnahme im Anschluss.




    Sergei Rachmaninow gehört zu den Interpreten von Liszt Ungarischer Rhapsodie Nr. 2, die eine selbstkomponierte Kadenz vor der Coda einfügten, was Liszt den Interpreten ausdrücklich zugestand. Davon wird noch zu reden sein. Diese Aufnahme zeigt einmal mehr, dass Rachmaninow wirklich ein großer Pianist war. Er hat einmal einen sehr persönlichen, unverwechselbaren Stil, der aber zugleich ein Beispiel für moderne und nicht etwa altmodische Pianistik ist: Bei Rachmaninow gibt es keine Subjektivismen und virtuosen Exaltiertheiten, sondern eine sehr sachliche, „dienende“ Einstellung im Umgang mit dem Notentext, die es aber immer versteht, das Aufgeschriebene nicht nur dem Buchstaben nach zu reproduzieren, sondern ihm poetischen Geist einzuhauchen. „Idiomatisch“ kann man Rachmaninows Aufnahme freilich nicht nennen, es ist vielmehr eine Transformation von ungarischem Liszt in seine eigene musikalische Welt, die aber Liszts Komposition keine Gewalt antut, sondern sie sozusagen in einem stilvoll-eleganten Rachmaninow-Kostüm auftreten lässt. Einleitung und Lassan bilden bei Rachmaninow eine Einheit. Wohl kein anderer Interpret spielt diesen ersten Teil mit einer solchen tänzerischen Eleganz, wobei es Rachmaninow in höchst origineller Weise versteht, seelische Komplexität darzustellen: Der Marschcharakter des Lassan bleibt grundlegend, um dann durch die tänzerische Rhythmisierung in die Schwebe gebracht zu werden, was den Themengestalten eine magische Wirkung verleiht. Rachmaninow spielt fein, mit Wärme, Abgründe an Traurigkeit offenbart sein Lassan-Thema allerdings nicht. Doch darf man sich bei ihm nicht in den Einzelheiten sozusagen verbeißen: Das Unglaubliche und geradezu Abenteuerliche sind die quasi unendlichen rhythmischen Transformationen und Wechsel der Töne, die Rachmaninow diesem Thema in der Folge zu geben versteht. So schleppt auf einmal der Rhythmus und bekommt den Ausdruck des Gequälten. Rachmaninow bekommt sogar das Kunststück fertig, den marschierenden 2/4-Takt im Schlussteil des Lassan so wie im Walzertakt schwingen zu lassen, den er poetisch leise ausklingen lässt. Überhaupt muss man betonen, dass Rachmaninow, Horowitz´ väterlicher Freund, im Unterschied zu diesem völlig unbombastisch spielt mit einer beeindruckenden virtuosen Leichtigkeit. Und was für ein kluger Interpret er war, zeigt der zugleich mystische aber eher schleppende Beginn der Friska. Rachmaninow wählt ein relativ gemächliches Tempo, um dann umso mehr Luft für tempodynamische Modifikationen der Beschleunigung und Verlangsamung zu haben. Der Komponist Rachmaninow versteht also durchaus sehr sachverständig, was eine ungarische Friska auszeichnet! Sein Forte lärmt nicht und bleibt locker. Gerade hier vermag Rachmaninow hoch reflektierte Virtuosität zu zeigen, wozu so viele naive Klaviervirtuosen bis heute wenig im Stande sind: Statt zu „donnern“ spielt er eine charakteristische Melodie, demonstriert also, dass Liszt nicht einfach Zigeunermusik imitiert, sondern diese – wie er es in seiner Schrift ja auch ausdrücklich betont – in Kunstmusik verwandelt. Das ist ein sehr ästhetisches Spiel mit der Zigeuner-Idiomatik. Hier ist es sicher so, dass diese Einsicht Rachmaninow nicht zuletzt deshalb kommt, weil er Komponist und Klaviervirtuose in Personalunion ist. Die eigene Kadenz, die er komponiert hat, ist originärer Rachmaninow und auch als solche sofort zu erkennen: eine Eigenkomposition als virtuose Paraphrase. Kompositorisch ist das hochspannend – nur wirkt die Kadenz dann doch etwas wie ein Fremdkörper, wenn Rachmaninow schließlich zu Liszts Coda zurückfindet. Dazu muss man allerdings bemerken, dass die Kadenz in der romantischen Tradition eben auch der Ort war, wo man die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen konnte, im Geiste seiner Zeit mit der Originalkomposition fantasierte und eben nicht klassizistisch und historisierend an stilistischer Einheitlichkeit orientiert war. Dieses Dokument (mit deutlich hörbarem Plattenrauschen) ist und bleibt eine singuläre Aufnahme nicht nur wegen ihrer unbestreitbaren, außergewöhnlichen musikalischen und pianistischen Qualitäten, sondern auch, weil sie zeigt, wie mit dieser Virtuosenliteratur interpretatorisch-rezeptionsgeschichtlich umgegangen wurde. Ferruccio Busoni, der noch ein Liszt-Schüler war, schrieb, dass eine aufgeschriebene Komposition bereits die Transkription eines musikalischen Gedankens und nicht etwa dieser selbst sei, welche man deshalb auch weiter transkribieren könne und dürfe. Genau in diesem Geist interpretiert Sergei Rachmaninow hier Franz Liszt – zugleich frei aber eben auch mit großem stilistischem Einfühlungsvermögen. Was letzteres angeht, könnte so mancher Jung-Virtuose von heute, der glaubt, es reiche hier geschmacklosen Tastendonner um des puren Effektes willen zu produzieren, etwas von Rachmaninows Noblesse lernen.



  • Moritz Rosenthal und Marc Hambourg (Aufnahmen 16. April 1930 u. 30. September 1932)


    Ward Marston, dem Produzenten und Tontechniker des britischen Labels apr, ist es zu verdanken, dass historische Aufnahmen von Pianisten wieder zugänglich werden, die ansonsten gar nicht oder nur schwer greifbar sind. Dazu gehören die kompletten Tondokumente von Moritz Rosenthal und die erste Gesamtaufnahme der Ungarischen Rhapsodien durch Marc Hambourg. Der im polnischen Lemberg geborene Moritz Rosenthal (1862-1946) studierte bei Chopins Schüler Karol Mikuli, was sich auch rein quantitativ in der alle anderen deutlich überwiegenden Zahl seiner Chopin-Aufnahmen widerspiegelt. Verdienstvoll auch, dass Marston nicht nur die offiziell veröffentlichten Aufnahmen herausbrachte, sondern ebenfalls die nicht veröffentlichten wiederholten Aufzeichnungen derselben Werke. Sie zeigen, wie unterschiedlich Rosenthal sogar in derselben Aufnahmesitzung an die Interpretation der Chopin-Préludes heranging, was belegt, dass er zumindest bei den Aufnahmen über keine „gefestigte“ Vorstellung von ein und demselben Stück verfügte. Das mag auch daran liegen, dass er die Wirkung, welche das Hören einer Tonaufnahme auf den Hörer hat, vorher nicht kalkulieren konnte und so entsprechend experimentierte. Bestätigt wird so aber auch meine These, dass die Pianisten damals in der Situation im Studio ähnlich unberechenbar und spontan wie im Konzert agierten, während die späteren Pianistengenerationen mit der Arbeit im Studio vertraut die Perfektion und „Endgültigkeit“, die sie bestrebt sind ihren Tonaufnahmen zu verleihen, in den Konzertsaal tragen. Rosenthal war aber auch Schüler von Franz Liszt, zu einer gewissen Zeit sogar sein einziger. Es ist von daher zu vermuten, dass er Liszt vielleicht selbst noch gehört hat oder mit ihm durchgegangen ist, wie die Ungarische Rhapsodie Nr. 2 zu spielen ist. Wie es in Liszts Schrift über die Zigeuner dokumentiert ist, gehörte für Liszt die Freiheit der Bearbeitung zum geistigen Prozess einer virtuosen Interpretation mit hinzu – unsere heutige Vorstellung, dass eine – auch noch möglichst „werktreue“ – Interpretation vornehmlich „reproduktiv“ notentexttreu sein müsse, lag ihm völlig fern. Rosenthals Aufnahme, die er für das Berliner Label Ultraphon am 16. April 1930 machte, zeugt davon, dass Rosenthal, der u.a. auch Philosophie studiert hatte und wie Liszt selbst ein hoch gebildeter Mann war, nicht nur ein großer Virtuose, sondern als an Chopin geschulter Interpret einen guten Geschmack und großes stilistisches Einfühlungsvermögen besaß mit dem intuitiven Gespür auch für die formalen Zusammenhänge.


    Idiomatisch treffsicher findet Rosenthal dann auch in der marcato-Einleitung den trotzigen Ton. Die Vorschläge werden wie in der Pianistengeneration damals verbreitet verkürzt und damit wirkungsrhetorisch aufreizend angerissen – ein für uns heute altertümlich wirkender Vortragsstil freilich, wobei man allerdings sagen muss, dass Rosenthal solche Mittel immer dezent und niemals manieriert aufdringlich einsetzt. Bemerkenswert, dass er die Überleitung zum Lassan wie später Horowitz mit einem großen Crescendo gestaltet, der damit wuchtig und marschartig beginnt. Doch Rosenthals feines stilistisches Empfinden sagt ihm, dass er hier nicht ins Klobige und Bombastische abgleiten darf: Das Forte nimmt er deshalb sogleich ins delikate Piano zurück. Der Lassan bekommt bei ihm so einen nachdenklich-versonnenen Ton. Bemerkenswert, dass Rosenthal es vermeidet, ins Sentimentale abzugleiten: So bekommt man einen zwar nicht tieftraurigen Lassan zu hören, aber einen solchen, der „Würde“ und Hintersinn hat: Das ist Liszt, gespielt mit dem polnisch-aristokratischen Geist von Chopin. Beeindruckend auch seine überlegene Fingertechnik: Die wie glitzernde Leuchtraketen abgefeuerten, irrsinnig schnellen Läufe der ad libitum-Passage Takt 23 sind schon aufregend! Nicht zufällig finden sich unter Rosenthals Aufnahmen auch zwei äußerst klangsinnige Einspielungen von Debussys Reflets dans l´eau. Entsprechend „flimmern“ bei ihm die Triller wie in impressionistischer Sommerhitze. Die „giocando“ (dt. „spielerische“) Passage Takt 51 ff. nimmt er jede Übertreibung meidend im eher moderaten Tempo – spielerisch gelassen statt übertrieben verspielt. Die Wiederholung der Einleitung Takt 62. ff. wird deutlich arpeggiert. Bemerkenswert für Rosenthals Stil der dezenten, unaufdringlichen Bearbeitung der Notentextvorlage ist seine Behandlung des Schlusses des Lassan: Statt das „morendo“ wörtlich zu nehmen als ein „Verlöschen“ im zartesten Pianissimo, spielt Rodenthal ein crescendo zum Forte, um damit eine deutliche Kontrastwirkung zu der im geheimnisvollen Pianissimo beginnenden Friska zu erreichen, deren Anheben er sehr klangschön zu gestalten vermag. Bemerkenswert ist gerade hier die Geschlossenheit seiner Interpretation: Rosenthal baut eine lang anhaltende, sich kontinuierlich belebende Steigerung auf. Das alles zeugt von sehr gutem Geschmack und dem von Chopin geschulten Sinn, sich statt in Einzelheiten zu verfransen die alles Einzelne in ein übergeordnetes Ganzes integrierende große Linie zu treffen. Manchmal vielleicht vermisst man etwas die mitreißende Impulsivität des damals immerhin schon 70jährigen Pianisten wie etwa in der eher Presto statt Prestissimo dahinrauschenden Coda. Aber dies passt zu Rosenthals klaviertechnisch absolut souveräner Noblesse, die jegliche Effekthascherei vermeidet. Die von ihm selbst komponierte Kadenz ist von großer Originalität und mit keiner anderen vergleichbar. Eine wirklich großartige Aufnahme eines bedeutenden Pianisten!


    Es gehört zu den großen Paradoxien, dass der im russischen Bogutschar geborene Marc Hambourg (1879-1960), der seit 1889 in London lebte und auch die britische Staatsbürgerschaft annahm, zu seiner besten Zeit ein großer „Star“ unter den Klaviervirtuosen war, heute dagegen selbst unter Kennern kaum bekannt ist und in der öffentlichen Wahrnehmung der Klaviergrößen der 1. Hälfte des 20. Jhd. so gut wie keine Beachtung mehr findet. Dabei hatte er immerhin das ihm auch gewidmete Klavierkonzert Ferruccio Busonis uraufgeführt. Er gehörte zudem zu den ersten Pianisten, welche die neuen Möglichkeiten der Tonaufzeichnung intensiv nutzten, unzählige Aufnahmen produzierte und so auch stolz darauf war, der erste Pianist zu sein, der Liszts Ungarische Rhapsodien komplett aufgenommen hatte. Marc Hambourg konnte bereits 1934 sein 25jährigens Aufnahmejubiläum feiern! In Großbritanien erfreute sich Hambourg größter Beliebtheit – galt dort als „der Volkspianist“. Die Aufnahme- und Verkaufspolitik der EMI setzte zuerst auf in Großbritanien präsente lokale „Größen“, bevor sie sich dann mehr international ausrichtete und Artur Schnabel favorisierte, der wie Hambour ein Leschetitzky-Schüler war. Damit war Hambourg mehr oder weniger zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Von James Agate, welcher ihm als Kritiker im Grunde wohlgesonnen war, gab es einmal die ätzende Kritik, dass er gespielt hätte, „als ob er einen Sturzhelm trüge“, womit er die Kopflosigkeit zum Ausdruck bringen wollte, mit der sich Hambourg in den Vortrag eines Musikstücks stürzen konnte. Genau davon zeugt auch diese Aufnahme der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2, die am 30. September 1932 gemacht wurde. So etwas wie Formsinn, auch nur der Versuch, ein Musikstück als ein irgendwie in Teile und Abschnitte gegliedertes Ganzes zu begreifen, ist bei Hambourg schlicht nicht vorhanden. Die Einleitung beginnt im dunklen Ton, aber gleich zu Beginn wird die in der Pianistengeneration von damals verbreitete Marotte doch allzu aufdringlich, die rhythmischen Figuren zu verschleifen. Hambourg hangelt sich von einer momentanen Eingebung zur nächsten – und gerade weil er sich schonungslos dem Augenblickseinfall hingibt, bekommt Liszts in ihren Grundzügen doch sehr klar geordnete Komposition den Charakter eines Potpourris, das wirkt wie ein zusammengestückeltes Schnipselwerk. Mit dem come prima-Teil Takt 62 beginnt seine sehr freizügige Bearbeitung des Notentextes. Welch ein Gegensatz zu Rosenthals so dezenter und zurückhaltender Bearbeitungkunst! Da werden rollende Basstriller „eingebaut“, die nur dem Effekt dienen und dröhnende Bassoktavierungen, welche den ohnehin schon kaum durchsichtigen Vortrag Hambourgs noch undurchsichtiger machen. Den Lassan lässt er in Pianissimo-Trillern verhauchen – auch hier kann er sich nicht zurückhalten, sucht selbst in der morendo-Wirkung den theatralischen Effekt. Im Friska-Teil meint man, Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 2 sei nicht Zigeunermusik, die sich Kunstmusik verwandelt hat – worauf Liszt in seiner Schrift so großen Wert legte hinzuweisen (!), sondern einfach nur die Imitation von Zigeuner-Unterhaltungsmusik. Das ist naivster Tastenzirkus und Tastenzauber, den Hambourg da entfaltet, der auch jeden irgendwie ernsthaften Gestaltungsversuch von sich abweist. Man muss allerdings sagen, dass er über einen poetischen Ton und leichten und schönen Anschlag verfügt. Nur gelangt er weder zu etwas, was man eine „Interpretation“, noch einen einheitlichen „Stil“ nennen könnte, wenn man denn nicht die Stillosigkeit und Kopflosigkeit seines Vortrags „mit Sturzhelm“ zum Stil erklären will. Hambourgs selbstkomponierte Kadenz artet – so muss man es deutlich sagen – in virtuoses Geklimper aus, was fast schon kindisch wirkt. Und weil diese Kadenz viel zu rasant vorgetragen ist, nimmt sie der Coda die Wirkung eines furiosen „Prestissimo“-Schlusses. Wo nichts mehr zu beschleunigen ist, kommt auch keine Beschleunigungs-Wirkung mehr zustande. Aber was bedeutet schon die „Form“ für Hambourg! Nichts – kann man nur sagen. Vielleicht war Hambourg – das zeigt dieses Tondokument - der kauzigste unter den berühmten Pianisten in der ersten Hälfte des 20. Jhd.


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  • Paul Badura-Skoda (Aufnahme Westminster 1953, veröffentlicht 1954, in: The Paul Badura-Skoda Edition (DGG), CD Nr. 15)


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    Gerade wird bekannt, dass Paul Badura-Skoda gestern, am 25.9., kurz vor seinem 92. Geburtstag verstorben ist. Aus diesem Anlass – zu seiner Würdigung als einer der großen Pianisten seiner Generation – als Nachruf bespreche seine Aufnahme der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2, die er 1954 in Berlin für die Deutsche Grammophon machte.


    Um es vorweg zu nehmen: Dies ist eine der schönsten Aufnahmen, die es von diesem so populären Virtuosen-Stück gibt. Schon die Einleitung nimmt gefangen: Niemand sonst singt sie so wunderbar aus – Badura-Skoda führt überhaupt dieses Liszt-Stück vor als klavieristischen Gesang. Er zelebriert es mit einer Chopin verwandten Ausgewogenheit, ohne aber die lebhaften Kontraste irgendwie einzuebnen. Von akademischer Steifheit ist bei ihm keine Spur! Das Einleitungsthema hat eine düster-depressive Note, eine Schwere, die aber niemals schwerfällig wirkt und die sich durch den ganzen Lassen zieht. Badura-Skodas Interpretation ist vielleicht die homogenste, die es von diesem Lassan-Teil gibt: poetischer Liszt, wie es schöner nicht geht. Besonders eindrucksvoll ist der äußerst einfühlsam und feinsinnig gestaltete Schluss, der traurig-nachdenklich verdämmert. Bruchlos schließt sich die im mysteriös leisen Ton anhebende Friska an. Sehr organisch versteht es Badura-Skoda, die Beschleunigungen und tempotionalen Belebungen aufzubauen. Das ist eine sehr lebendige Friska, die aber ohne exaltierten Tastenzirkus auskommt. Das alles wird überaus treffsicher charakterisiert – durchaus mit zigeunerhafter Freizügigkeit gespielt, aber ohne fahrlässig zu wirken und diese irgendwie über Gebühr zu betonen: Liszt als absolute Kunstmusik, als poetisches Bild von Zigeunermusik, ohne sie imitieren zu wollen. Auf eine Kadenz verzichtet Badura-Skoda und übertreibt auch in der Coda nicht. Wenn es eine „Ehrenrettung“ dieses immer wieder auch zur virtuosen Selbstdarstellung missbrauchten Liszt-Stücks gibt, dann ist es diese wunderschöne Aufnahme von Paul Badura-Skoda! :):):)


  • Ignacy Jan Paderewski

    Aufnahme 26. Juni 1922 Camden, New Jersey (Victor)



    Nach fast einem Jahr komme dazu, eine weitere – diesmal wieder historische – Aufnahme dem Interpretationsvergleich hinzuzufügen: Ignacy Jan Paderewski spielte für das US-amerikanische Label Victor (Camden (New Jersey) am 26.6.1922) drei Liszt-Stücke ein, darunter die Ungarischen Rhapsodien Nr. 2 und 10. Zeitlich fällt diese Einspielung als zweitälteste in die 1920iger Jahre, wo auch Alfred Cortot seine Interpretation zum ersten Mal dem Tonträger anvertraute. Der Vergleich reizt und zeigt, wie wenig aussagekräftig verallgemeinernde Charakterisierungen des Interpretationsstils dieser Pianistengeneration als „romantisch“ tatsächlich sind. Glaubt man den Zeugnissen seiner Zeit, dann war Paderewski, der Pianist und Diplomat in einer Person – er wurde sogar für kurze Zeit der erste Ministerpräsident des wiedervereinigten Polens – ein ungemein beliebter Künstler, der es vermochte ist, durch sein Charisma die Hörer in den Bann zu ziehen. In seinen Aufnahmen aus den 20iger Jahren, die ich bisher gehört habe, macht er jedoch einen anderen, überraschend „modernen“ Eindruck. Gerade mit Liszts Notentext geht Paderewsky sehr sachlich und verantwortungsvoll um. Ausgerechnet Paderewski notentexttreu – eine solche Behauptung mag verwundern, wo man gerade heute aus der zeitlichen Distanz mit Paderewskis Namen vornehmlich pianistische Marotten wie ausladende Rubati, das für ihn fast schon sprichwörtliche Arpeggieren der Akkorde und die Manier des „Nachklapperns“, d. h. die linke und rechte Hand zur Hervorhebung der Melodiestimme zeitversetzt zu spielen, in Verbindung bringt. All das ist erwartungsgemäß für Paderewski schon gleich im Lassan zu hören. Aber verblüfft muss man dann feststellen, wie behutsam Paderewski diese Mittel einsetzt, so dass sie sich nicht in den Vordergrund schieben, vielmehr stets die Noten, die Liszt aufgeschrieben hat, das Wichtigste bleiben. So baut Pasderwewski etwa an einer Stelle zur Verdeutlichung des Zymbaleffekts leise Tonrepititionen als Nachhall ein, die sich aber so gar nicht zigeunerisch effekthascherisch dem Ohr aufdrängen, sondern ungemein dezent im Hintergrund verbleiben, wie die sachte Kolorierung eines alten Schwarz-Weiß-Fotos. Paderewsky weiß also um die Spiel-Tradition von Liszt, wo die Grenze von „Interpretation“ und „Bearbeitung“ fließend ist, der Spieler also den Notentext verändern darf, wenn es der Charakterisierung der „poetischen Idee“ des Stückes dient. Doch die fast schon verschämt vorsichtige Art, mit der Paderewski als „Bearbeiter“ von Liszt auftritt, zeigt dann doch, dass die „Moderne“ von neusachlicher Nüchternheit und umsichtiger Notentexttreue auch bei ihm schon angekommen ist.


    Im Vergleich mit Cortots hermeneutischer Expressivität und rhetorischer Kraft wirkt Paderewskis Spiel allerdings eher wie das eines vorsichtigen Diplomaten. Wie dieser sich nie selbst in den Vordergrund spielt, sondern stets konziliant bleibt in der Erfüllung seiner Mission diplomatischer Vermittlung, macht Paderewskis Vortrag deutlich: Ich diene dieser Musik und vermittle sie so treu wie möglich meinen Zuhörern! Paderewskis Vortragstil hat die Noblesse und Geschmackssicherheit eines großen Chopin-Spielers. Aber nicht nur, dass der große polnische Pianist Liszts Bravourstück völlig kitschfrei, ohne jede Virtuosen-Eitelkeiten und Effekthaschereien, vorführt. Paderewskis musikalische Redlichkeit übt vornehme Zurückhaltung, welche das Wissen darum, was das romantische Ideal von Zigeunermusik ist, partout nicht dazu einsetzen will, pianistischen Virtuosenglanz und -zauber hervorzubringen. Man merkt in jedem Moment, wie gut Paderewski die Idiomatik dieser Musik versteht. Doch was bei seinem jegliche Übertreibungen meidenden Vortragsstil so letztlich nicht aufkommen will ist Begeisterung, romantischer Enthusiasmus. Paderewskis polonisiertem ungarischen Liszt fehlt der scharfe ungarische Paprika, jene für einen romantisch „zigeunerhaften“ Vortrag so typische Würze und aufreizende Pikanterie, Kontraste, die ohnehin schon da sind, noch einmal kontrastierend zu schärfen. Die unsentimentale und unaffektive Art eines solchen jegliche Übertreibung meidenden Vortrags will offensichtlich eines um keinen Preis: die Nerven reizen. Höchst bemerkenswert popularisiert der populäre Pianist Paderewski seinen Liszt nicht, lässt die zweite so wenig wie die zehnte Ungarische Rhasodie zu dem werden, was Claude Debussy, von dessen Préludes er für das Label Victor einige auch einspielte, so verachtete, dass Musik zum „Anreißer auf einer Jahrmarktbude“ herunterkommt. Und so wird der bunte Karneval gegensätzlicher Empfindungen einer solchen Ungarischen Rhapsodie nicht exaltiert ausgekostet, sondern zur vorsichtigen Andeutung und zum dezenten Kolorit im Verzicht auf jegliche plakative Wirkungsrhetorik. Indem sich auf diese Weise das Unklassische und Unkünstlerische des „Zigeunerhaften“ auf das kleinstmögliche Maß von Erkennbarkeit verringert, übermittelt der Interpret Paderewski einmal mehr als diplomatischer Vermittler auch auf am Klavier die Warnung von Liszts Schrift über die Zigeuner, wonach romantische Zigeunermusik keineswegs als Folklore-Imitation anzusehen ist, sondern ihre Transkription in Kunstmusik darstellt. Was sie zum Ausdruck bringt ist so auch nicht „Zigeunermusik“ als Ausdruck von vermeintlich wirklichem „Zigeunerleben“, indem sie nur ein Bild von ihm auf indirekte, ästhetisierende Art vermittelt.


    Bezeichnend, dass Paderewski in der wilden Friska so gar nicht wild agiert, penibel im Takt spielt und die im Notentext markierten Tempobeschleunigungen mit diplomatischer Vorsicht überliest: Paderewski will nicht beeindrucken, sondern die musikalische Botschaft so uneitel wie möglich übermitteln – ohne alle verführerischen pianistischen Rauschmittel, auch wenn sie von Liszt selbst, wie die Vortragsanweisungen verraten, durchaus gewünscht sind. Paderwewski misstraute den Tonaufzeichnungen, die für ihn nicht die Lebendigkeit und Dynamik einer Konzertaufführung vermitteln konnten. Seine Aufnahme ist klaviertechnisch erstaunlich makellos, stets sauber im Ton ohne falsche Noten. Wenn man nicht vergisst, dass damals Schnitte nicht möglich waren, der Pianist also bei einem Fehler das Stück komplett neu aufnehmen musste, dann weist dies auf ein Bemühen um Perfektion hin, eine möglichst fehlerfreie Aufnahme für die Nachwelt zu hinterlassen. Dass Paderewski so wenig spontan und übervorsichtig wirkt, ist vielleicht auch diesem Umstand geschuldet. Klaviertechnisch beherrscht Paderewsky dieses Virtuosenstück jedenfalls mühelos – nirgendwo ist erkennbar, dass er an irgendwelche manuellen Grenzen stößt. Die Kürze der Schlusskadenz, die wie gekürzt wirkt, ist wohl den Umständen der Aufnahmetechnik geschuldet. Die Spieldauer auf den Matrizen von damals war auf ca. 8 Minuten begrenzt. Man kann sich denken, dass sein Vortrag im Konzert eindrucksvoller, mitreißender gewesen sein muss. Doch das können wir in Ermangelung eines Konzertmitschnitts leider nur vermuten. :)


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    Samson François (Aufnahme Paris März 1954)


    Künstlerexistenz? Die Einheit von Kunst und Leben? Samson François war der „Existenzialist“ unter den bedeutenden Pianisten des 20. Jahrhunderts – jedenfalls entspricht er nur allzu gut diesem Klischee. So stürzte er sich regelmäßig ins Nachtleben, rauchte eine Zigarette nach der anderen und konsumierte reichlich alkoholische Getränke bis zum Exzess – ein extrovertierter Lebenswandel, der ihm schließlich auch das Leben kostete. Ist da nicht das Urteil eines Kritikers aus den 50igern einleuchtend, er spiele Klavier „so ungestüm und wild wie seine Haarpracht“? Und dann – ausgerechnet – möchte man meinen, widmet er sich exaltierter Zigeunerromantik, den Ungarischen Rhapsodien von Franz Liszt. Eigentlich – wäre man durch solche „Vor“-Urteile besetzt – dürfte man von seiner Aufnahme der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2, die im März 1954 in Paris entstand, so etwas wie das Wetterleuchten von Marc Hambourgs exzentrischer Einspielung erwarten, also eine Spurtreue auf geraden Straßen des guten Geschmacks und Stils nicht kennen wollende, draufgängerisch schlingernde Achterbahnfahrt durch die Partitur „mit Sturzhelm“. Aber weit gefehlt! François zeigt sich in dieser Aufnahme als überraschend „moderner“ Interpret, der sich sogar von der poetisierenden, expressionistischen Deutung seines Lehrers Alfred Cortot deutlich distanziert. Zu konstatieren ist ein penibel sorgfältiger Umgang mit dem Notentext, der an neusachliche Ernüchterung grenzt – absolut stil- und geschmackssicher, hörbar von einem Drang nach größtmöglicher pianistischer Perfektion und (Selbst-)Kontrolle geprägt. Nein – bei diesem nüchtern hellwachen Vortragsstil hatte Francois wohl kein Alkohol im Blut und auch seine Haarpracht will so gar nicht zu seinem Vortragsstil passen, dem jegliche Wildheit, also gerade das Ungezähmte und Ungestüme von Zigeunermusik, nicht nur reichlich fremd bleiben – sie werden aus Liszts virtuosem Glanzstück schlicht eliminiert. Fast scheint es so, als wolle Samson François gerade an diesem exaltierten Stück virtuoser Zigeunerromantik beweisen, dass er ein absolut seriöser Musiker ist, indem er Liszts virtuosen Reißer völlig unreißerisch darbietet, also überhaupt nicht sentimentalisch ausschweifend in extreme Gefühlslagen auseinandergerissen, sondern geläutert zur innerlich gefassten klassischen Romantik. François nimmt Liszts Warnung beim Wort, dass es sich bei den Ungarischen Rhapsodien nicht um eine Imitation von vermeintlicher „Volks“-Musik, sondern reine Kunstmusik handelt, indem sein Spiel so gar nicht herumzigeunert: Liszts Verwandlung von Zigeunermusik in Kunstmusik vollzieht sich in Samson François´ interpretatorischem Regiekonzept in der Disziplinierung des Zigeunerhaften, der Bändigung ihres rhapsodisch ausschweifenden Charakters, mit der Verwandlung von spontaner, improvisatorischer Unbeherrschtheit in die absolute Beherrschung von Stil und Form.


    Schon der Übergang Einleitung-Lassan verrät, dass Samson François eher eine klassisch-einheitliche Gestaltung im Sinn hat als das Ausleben sentimentalisch-romantischer Extreme, das Zur-Schau-Stellen von Zerrissenheit. Das Lento „steht“ nicht bei François, tritt nicht trotzig pochend auf der Stelle, sondern die Musik bleibt auch im energischen Auftrumpfen im Fluss, so dass sich der Lassan-Teil bruchlos anschließt. Samson François verrät mit diesem Bemühen um einen durchgehenden rhythmischen Puls, dass er ein moderner, von Debussy und Ravel herkommender französischer Interpret ist. Seine absolute Geschmacks- und Stilsicherheit, die große Natürlichkeit und beeindruckende musikalische Geschlossenheit verbunden mit pianistischer Perfektion lässt sogar den Gedanken aufkommen, er sei vielleicht bei Artur Rubinstein in die Schule gegangen, von dem Daniel Barenboim einmal sagte, bei ihm gehe alles durch einen „Natürlichkeitsfilter“. Ein solcher „Natürlichkeitsfilter“ führt aber auch dazu, dass die Idiomatik Lisztscher Zigeuner-Romantik mit ihrer Betonung des Exzentrischen, ihrer Neigung zur überlichtenden Überpointierung von Gegensätzen und Kontrasten, klassisch-vornehm in den Hintergrund gedrängt wird: Es entstehen bei Samson François kaum Zäsuren, keine abrupten, überraschenden Charakterwechsel der aufeinanderfolgenden Abschnitte, die den Hörer verblüffen, überrumpeln und überraschen könnten – zwischen Einleitung und Lassan nicht und auch sonst nicht. Dabei wird der Lassan keineswegs seines Ausdruckswillens machtvoll sich vordrängender Subjektivität beraubt, der wuchtig und kernig im Ton genommen mit einer Geste von Trotz und Grimm hervortritt. Ein solcher Tonfall – darf man hier nun doch kritisch einwenden – passt allerdings eher zu einem burschikos-aufmüpfigen jugendlichen Beethoven als hochromantisch-sentimentalischem Liszt – denn er kennt keinen Ausdruck von quälerischem Schmerz. Zum Schluss des Lassan irritiert dann doch ein wenig die etwas unpassend wirkende klobige Monumentalität und zu hohe Lautspärke. Hier handelt es sich aber wohl um die aufnahmetechnische Kuriosität, dass der Pegel der Aufnahme nicht einheitlich ist.


    Wiederum so gar nicht zigeunerhaft verführerisch beginnt die Firsca im trockenen Tonfall. Samson François möchte dieses Liszt-Stück offenbar als Charakterstück und so gar nicht als romantisch-virtuose Verführungs-Illusionskunst darstellen, die den Hörer becircen und durch ihren Überwältigungszauber in den Bann schlagen könnte. So reduziert er die Pianissimo-Magie dieser Passage, die sein Lehrer Alfred Cortot so betörend vortragen konnte, auf eine pulvertrockene musikalisch charakterisierende Nachahmung des Ungarischen, des Zymbal-Spiels. So gut Samson François diese asketische Vermeidung virtuoser Verführungskünste damit auch gelingt, so stellt sich letztlich doch die Frage: Ist Liszts Spielanweisung Tempo giusto damit wirklich umgesetzt, zu der eben auch die von Liszt notierten rasanten Beschleunigungen und Tempowechsel gehören, die letztlich das Überschwängliche einer Frisca ausmachen, mit der sich die alle Fesseln sprengende Freiheit des Zigeuner-Musikers verrät? Samson François mit seiner Askese des guten klassischen Geschmacks, alle wirkungsrhetorischen Mittel zu verbannen, erlaubt es sich hier, Liszts sehr genaue Spielanweisungen ganz einfach zu übergehen. Zu dieser Reduktion des allzu Zigeunerhaften passt auch, dass der Franzose sich dem Rhapsodischen einer ausladenden Kadenz verweigert, die er schlicht auslässt und direkt zum Coda-Schluss kommt, wo er freilich mit flinken Händen im wahrhaftigen Presto ein beeindruckendes virtuoses Feuerwerk abbrennt. Die großen Qualitäten dieser Interpretation, Samson François´ unanfechtbare Seriosität und musikalische Gewissenheit im Umgang gerade mit diesem heiklen Virtuosenstück, haben großen Respekt verdient. Die Frage bleibt allerdings, ob die Umwandlung von naiver Zigeunermusik-Folklore in Kunstmusik, die einerseits ganz dem Geist von Liszts Schrift über die Zigeuner entspricht, andererseits hier nicht doch zu weit geht, wenn sie um den Preis der musikalischen Zähmung, der Reduktion des Ungebändigten auf eine gebändigte Klassizität, geschieht. :)


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