Gegenstand der nachfolgenden, sich weniger als Rezension, vielmehr als Präsentation verstehenden Ausführungen ist eine in Buchform erschienene Betrachtung der „Winterreise“ von Hans May, auf die mich unser Tamino-Mitglied Caruso41 aufmerksam gemacht hat und das er mir auf meine Bitte hin freundlicherweise zukommen ließ, wofür ich ihm noch einmal ausdrücklich danken möchte. Das kleine Buch trägt den Titel:
„Hans May D.H.:
Winterreise. Geschichte einer Passion. Versuch, sie zu verstehen“.
Es erschien 2018 im Harfe-Verlag Rudolstadt, ist aber, so meine Recherche, im Buchhandel nicht mehr erhältlich.
https://www.tamino-klassikforu…tachment/299-may-001-jpg/
Die Deutung zielt nicht auf eine liedanalytisch ausgerichtete Betrachtung der einzelnen Lieder ab, vielmehr geht es Hans May um eine reflexive Auseinandersetzung mit dem musikalischen Werk unter der Fragestellung, worin seine Grundaussage in ihrem Kern besteht und worin deren Relevanz für den Rezipienten der heutigen Zeit gründen könnte. Ansatzpunkt ist dabei ein Sachverhalt, den er in den diesbezüglichen „Erklärungsversuchen“ vorfand und mit den Worten beschreibt: „Auffallend ist, dass der Kontext großer Erzählungen unserer Kultur und deren Wirkungsgeschichte in diesen Erklärungsversuchen kaum Berücksichtigung finden“. Unter diesen „großen Erzählungen“ versteht er insbesondere die drei „Stiftungserzählungen unserer europäischen Kultur“, nämlich die von der Vertreibung aus dem Paradies, dem Auszug Israels aus Ägypten und der „Passion des Jesus von Nazareth“. Sie vermögen „den Menschen in einem kalten Universum“ zu „beheimaten“, „oder sie führen ihm (…) in Gegenbildern seine Heimatlosigkeit vor Augen“.
Schuberts „Winterreise“ sieht er als in der Tradition dieser „großen Erzählungen“ stehend. „Liebe und Freiheit, Paradies und Exodus, das sind die zwei Motivkomplexe im Hintergrund der >Winterreise<. Beide sind tief in großen Erzählungen der religionskulturellen europäischen Tradition verwurzelt. Beide haben immer wieder der Lebensdeutung Orientierung angeboten, haben immer wieder auch ihre musikalischen Interpreten gefunden.“ Die Gegenwartsrelevanz der „Winterreise“ gründet für ihn darin ,dass sie sich mit Grundfragen der menschlichen Existenz auseinandersetzt, wie sie in der Zeit tiefgreifender geistiger, gesellschaftlicher und politischer Umbrüche Ende des achtzehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts aufgeworfen wurden und wie sie etwa in den Worten Friedrich Schlegels Ausdruck fanden: „Ich Flüchtling habe kein Haus, ich ward ins Unendliche hinaus verstoßen (der Kain des Weltalls) und soll aus eigenem Herzen und Kopfe mir eins bauen.“
Und so ist für ihn offenkundig, „dass die >Winterreise< in radikaler Reduktion der künstlerischen Ausdrucksmittel einen einzelnen Wanderer zum Stellvertreter einer wandernden Gesellschaft werden lässt. Er stellt Fragen, die die Moderne je länger um so mehr beschäftigen werden. Kafkas >Landvermesser<, Musils >Mann ohne Eigenschaften<, Camus >Der Fremde<, Sartre >Das Spiel ist aus<, Beckett und viele andere sind späte Weggefährten des Wanderers der >Winterreise<.“
In diesem Zusammenhang stellen sich für ihn folgende, bei der Betrachtung der „Winterreise“ in ihren einzelnen Liedern gleichsam eine Leitfunktion übernehmende Fragen:
„Wäre es denkbar, dass uns in der >Winterreise< an ihrem Ende eine ästhetische Säkularisierung und Transformation des großen Schmerzensmannes begegnet? Der Wanderer der >Winterreise< ist ein metaphysisch Obdachloser. Aus der Vorstellung eines von Gott lebensdienlich geordneten und darin >schönen< Kosmos ist er, wie Friedrich Schlegel, herausgefallen ins Bodenlose.“
„Formuliert die >Winterreise<“, so fragt er, „damit hellsichtig ein Grundproblem der säkularen Moderne: den Exodus aus den Sinngewissheiten eines religiös verstandenen Lebenszusammenhangs?“
In dem an diese allgemeinen Ausführungen zur „Winterreise“ sich anschließenden reflexiven Sich-Einlassen auf die einzelnen Lieder will Hans May eine Antwort auf diese Fragen finden. Genauer gesagt: Es geht ihm darum, zu konkretisieren und zu untermauern, was er in allgemeiner Form, sich dabei auf die Ausführungen von Ludwig Stoffels zur „Winterreise stützend, schon vorab feststellt:
„>Es soll gezeigt werden, dass der Pendelschlag von Ruhe und Bewegung in der >Winterreise< zu einer als illusionslos und unsentimental begriffenen Wanderschaft ohne Vergangenheit und Ziel führt<. Der Exodus der Moderne, das >Wandern ohne Maßen< hält an und mit ihm die >Suche nach Ruh<“.
Jedem Lied wird in der von Schubert festgelegten Reigenfolge eine Betrachtung gewidmet, die sich auf den – jeweils zitierten – Text Müllers stützt und die Liedmusik darauf einbezieht, ohne dass dies freilich in Gestalt eines ins Detail gehenden Zugriffs auf die Faktur geschieht. Der Verfasser begnügt sich zumeist mit einem Verweis auf grundlegende Merkmale derselben.
Nun ist es gewiss nicht sinnvoll, hier in detaillierter Weise wiederzugeben, was Hans May zu den einzelnen Liedern zu sagen hat. Wohl aber soll anhand von drei repräsentativen Beispielen aufgezeigt werden, auf welche Weise er sein interpretatorisches Vorhaben einlöst und zu welchen Ergebnissen er dabei kommt. Dabei bietet sich an, sich dabei an seiner einleitenden Feststellung zu orientieren. : „Der ganze Zyklus wird strukturiert durch drei Aufbrüche. Am Anfang >Gute Nacht<, in der Mitte „>Im Dorfe< und am Schluss >Der Leiermann<“
In welcher Weise er Bezug auf Schuberts Liedmusik nimmt und auf sie eingeht, das zeigen gleich die Ausführungen zum ersten Lied „Gute Nacht“, und sie sind darin durchaus repräsentativ. Sie setzen ein mit den Worten: „Mit dem ersten Schritt übernimmt die Komposition die Führung des Hörers. Sie stimmt ihn auf eine Gefühlslage ein, die den ganzen Zyklus dominiert. Man hört den schweren Schritt des Flüchtlings, noch bevor ein Wort gesungen ist. Die Klangwelt des Liedes kündigt einen Winter an, der über allem Leben und seinen Träumen liegt. Nur kurz wird diese Stimmung aufgebrochen durch einen unvermittelten Wechsel von Moll nach Dur:>Will dich im Traum nicht stören…< (…) Die unerbittliche rhythmische Monotonie schon des >Vorspiels< bringt dem Hörer die Gangart dessen nahe, der weiß, dass er einen weiten Weg zu gehen hat.“
Sein grundlegender interpretatorischer Ansatz, der Blick auf die „Winterreise“ von den „großen Erzählungen“ her, führt bei „Gute Nacht“ dazu, dass er der Frage nachgeht: „Von welcher >Fremdheit< ist hier die Rede?“
Ganz offensichtlich ist es für ihn die „Fremdheit“, die dem Menschen generell als dem aus dem Garten Eden vertriebenen Wesen eigen ist. Die Worte „Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh´“ bringen ihn zu den Fragen: „Waren sie einmal im Garten Eden als einer den anderen >endlich<, wie es im Mythos von Adam und Eva heißt, als den im angemessenen Partner erkannte? Hatte einer nicht erst am anderen begriffen, wer er selber war? Lebten sie nicht mit den Engeln und sahen einander ins Angesicht ohne zu blinzeln? Ohne Scham vor dem Menschen, mit dem uns der >Garten des Lebens< zum Paradies wird, - und ohne die Angst, es durch ihn zu verlieren?“
Der „Schatten“, aus dem der Protagonist der „Winterreise“ kam, kehrt nach diesem gescheiterten Versuch, in Liebe Erfüllung zu finden, zu ihm wieder zurück. Die Frage, wo dessen Hoffnung eine „Heimat“ finden könnte, wendet er wieder, darin ganz seinem interpretatorischen Konzept folgend, ins Grundsätzliche, die Einbettung der „Winterreise“-Erzählung in den Kontext der „großen Erzählungen“, wenn er mit den Worten fortfährt:
„Aber kann es das für uns und geben – Ankunft? Sagt nicht die Mythe schon, wir seien Ausgetriebene, verstoßen ins Unwirtliche von den Engeln mit dem flammenden Schwert? Denn wären wir je gegangen aus eigenem Entschluss?“
Und auch in den Müller-Worten „Die Liebe liebt das Wandern, - Gott hat sie so gemacht“ zeigt sich für ihn die mythische Dimension der „Winterreise“-Erzählung, wenn er sie mit der Frage kommentiert: „“Erzählt nicht schon die Mythe, es seien viele Versuche gewesen, viele und nicht einer, die der Herr des Gartens brauchte, um dem Menschen den Partner zu schaffen, der seine Einsamkeit aufhebt? So wird auch die Liebe zur Wanderschaft und kann nicht Heimat werden. >Gott hat sie so gemacht<. Und den Menschen jenseits von Eden wird ihre Fremdheit zur >Scham<, die sie bedecken, um die Verwundbarkeit des Herzens zu schützen.“
Das Lied „Im Dorfe“ wird relativ kurz, nur eineinhalb Seiten in Anspruch nehmend abgehandelt. Aber auch hier bleibt der Verfasser seiner Intention treu, die existenziell relevanten Dimensionen von Schuberts Liedmusik aufzuzeigen. Deren Faktur findet dabei nur in der einleitenden Feststellung Berücksichtigung: „Noch bevor der Sänger es erzählt, hört man im Vorspiel die Hunde bellen und die Ketten rasseln. Es kündigt sich ein neuer Auszug an. Die Träume des Dorfes sind vom Komponisten in Dur >gebettet<, aber mit dem Rasseln der Ketten unterlegt. Es sind nicht seine Träume. Im Nachspiel haben die Hunde das letzte Wort.“
Ansatzpunkt für die Interpretation sind für ihn „die Hunde“. Er sieht sie als „Wächter eines bourgeoisen Opportunismus“ und bindet sie als solche in die historische Zeit ein, indem er sie zu „Metternich, die Heilige Allianz und ihre Kettenhunde“ in Beziehung setzt. Die Welt, in der die Menschen ihre Träume von dem, was sie nicht haben, von Kettenhunden bewachen lassen und sich am Morgen, nach dem Erwachen, selbst „in Ketten“ vorfinden, kann nicht die des Wanderers sein. Ihm ist es lieber, dass ihn die „wachen Hunde“ vertreiben. Die zentrale Aussage des Liedes umschreibt er mit den Worten: „In der Unbedingtheit seiner Suche nach Liebe und Freiheit kann er >unter den Schläfernweilen<“.
Das Schlusslied „Der Leiermann“ stellt für Hans May den Schlüssel für das Verständnis der „Winterreise“ dar, und so widmet er ihm denn auch die umfangreichste von allen seinen Liedbetrachtungen. „Wer ist dieser Leiermann?“, fragt er und fügt hinzu: „Die ganze >Winterreise< entscheidet sich an der Antwort auf diese Frage.“
Die Funktion des Liedes erschließt sich ihm aus seiner spezifischen musikalischen Faktur, die er mit den Worten umschreibt: „Schon in den ersten acht Takten des Vorspiels sagt Schubert, dass alles gesagt ist. Der Grundton bleibt liegen. Durch das ganze Lied! Die ganze Zeit dieser tiefe, dunkle glockenartige Ton. (…) Alles ist reduziert, der Tonraum, die Harmonik, die Dynamik. Es gibt nichts mehr zu sagen außer einer Frage: War das nun alles, was es über das Leben des Menschen zu sagen gibt? Ist alle Suche vergeblich?“
Zunächst geht der Verfasser jeden Vers Müllers durch, um das Wesen dieser Gestalt „Leiermann“ näher zu bestimmen. Das mündet in die Feststellung: „Ein Fremder auch er“, der weiß, „dass es eine Fremdheit gibt, die unaufhebbar ist“. In der Interpretation der Begegnung zwischen Wanderer und Leiermann geht er einen Schritt über die textfundierten Aussagen hinaus und leitet wieder die Einbindung des Geschehens in die „großen Erzählungen“ ein, wenn er feststellt:
„Der Wanderer hört die Leier. Und er begegnet >drüben hinterm Dorfe“, aus dem Paradies gefallen, wie er selber, einem Schmerzensmann, der trotz all der Hunde und Schläfer seine Leier dreht. Ihr Ton dringt in seine Todesnacht. Ihre Melodie rührt sein Herz, schlägt in ihm eigene Lieder an. Er erkennt in der Not des Anderen seine eigene Not und der andere wird im zum Trost in seiner Dunkelheit.“
Das ist eine gewagte Interpretation, auf die Hans May sich hier einlässt, denn von „Trost“ ist explizit in Müllers lyrischem Text nichts zu vernehmen, - und in Schuberts Liedmusik schon gleich überhaupt nicht. Sie muss gut begründet werden, und ich denke, dass Hans May das gelungen ist. In seinem interpretatorischen Rückgriff auf die „großen Erzählungen“ vermag er in der „Winterreise“ eine Dimension der künstlerisch-kompositorischen Aussage zu erschließen, die bislang in dieser Klarheit von ihren Interpreten noch nicht herausgearbeitet wurde.
Im letzten Lied ereignet sich für ihn eine Begegnung des Wanderers mit jemandem, „der zwischen Leben und Tod der Gebrochenheit des Lebens aus eigener Erfahrung Sprache verleiht“. Und das führt ihn zu der Frage: „Ist das ein Weg zwischen >Felsengründen< und >Felsenhöhen< für das ruhelose Herz?“
Weder „Lindenbaum“ noch „Wirtshaus“ hätten dem Wanderer eine Antwort auf die Erfahrungen gegeben, die er gemacht hat. Nun aber führe ihn die Begegnung mit dem Leiermann „zu einem neuen Aufbruch“.
Nur drei „Antworten“ gebe es in der „Winterreise“ auf die Frage, wie „die Unruhe der Wanderschaft“ jenseits von Illusionen zu „stillen“ sei:
„Die erste Antwort ist die Liebe, wenn sie denn zur glaubhaften Erfahrung würde.“ (…)
„Die zweite Antwort erwächst aus der Erfahrung fremden Leidens“. (…)
„Die dritte Antwort stiften Lieder und Leier – also die Kunst, die der Wanderschaft Sprache gibt“.
Und diesen gedanklichen Ansatz führt er mit den Worten fort:
„Schubert könnte in der doppelgängerischen Kunstfigur des Leiermanns >gemalt sein eignes Bild< gesehen haben, den Künstler, der aufbricht, um mit seinen Mitteln seiner Lebenserfahrung Form und Gestalt zu geben.“
Wenn er die sich aus diesen Gedankengängen ergebende und sich interpretatorisch weit vorwagenden Fragen aufwirft:
Weckt der >wunderliche Alte< im Wanderer das Wunder einer neuen aber anderen reichen BräuteDorfes<, einander zugewandt?“,
dann weiß er natürlich, dass Schubert selbst sie nicht beantwortet. Und er kommentiert diesen Sachverhalt mit den Worten:
„Es spricht für die Größe Schuberts, dass er sich der wagnerschen Versuchung verweigert, die Illusionslosigkeit seines Wanderers durch neue Illusionen >kunstvoll< im Wahn befrieden zu wollen.“
So ist für Hans May Schuberts „Winterreise“ denn „die Suche nach dem Leben ohne Illusionen“. Den Wanderer sieht er „über den Tod als möglicher >Lösung< seines Elends hinausgetrieben“. Er muss eine andere Antwort finden. Dass dies in der „Kunst“ geschehen könne, wird als Möglichkeit von ihm in Erwägung gezogen. Eher ihre zentrale Aussage erfassend ist für ihn aber die Deutung der „Winterreise“, wie sie sich aus der Interpretation der Figur des „Leiermanns“ als „Abschattung des Schmerzensmannes“ ergibt. Diese spiegelt für ihn „die Erfahrung, die dem Wanderer zur eigenen Wahrheit geworden ist: Liebe und Gerechtigkeit scheitern in der Welt, wie sie ist.“
Und damit ist er mit seiner an den „großen Erzählungen“ ansetzenden Deutung der „Winterreise“ an dem entscheidenden Punkt angelangt. „In der Vorstellungswelt der westlichen Religionskultur“ so stellt er fest, „ist es der Schmerzensmann der Passion, der stellvertretend diese Wahrheit am Kreuz verkörpert. Sein >Bild< steht im Zentrum des protestantischen Glaubens. Vom Dichter der >Winterreise< ist bekannt, dass er eine Phase pietistischer Glaubenspraxis erlebt hat. Er hat die Lieder Paul Gerhardts gekannt.“ (…)
Und daraus schließt Hans May, dass er mit der – in dem Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ sich exemplarisch ausdrückenden – „protestantischen Passionsfrömmigkeit“ wohl vertraut gewesen sei und kommt zu dem Schluss:
„Der Dichter der Winterreise übernimmt dieses Deutungsmuster und säkularisiert es. Die Figur des Schmerzensmannes wird im Leiermann zur Identifikationsfigur des Wanderers. (…) So wird der Leiermann dem Dichter der >Winterreise< zur Metapher, um die Gebrochenheit des Lebens zu beschreiben, von der die >Winterreise“ erzählt.“ (…)
Die „Fremdheit“, von der die „Winterreise“ spricht, ist für ihn Niederschlag der „Gebrochenheit zwischen Wollen und Vollbringen“, die „die Wahrnehmung des Menschen in der europäischen Kultur wesentlich bestimmt“ hat.“ „Und der Schmerzensmann“, so fährt er fort, „wird deshalb jenseits religiös dogmatischer Überhöhung zum kulturellen Symbol eines Daseinsverständnisses. Es findet seinen Grund in der Erfahrung des Scheiterns.“
„Bleibt es dabei?“
Das ist die Schlussfrage, der sich Hans May am Ende seiner Betrachtungen stellt.
„Nein, es bleibt nicht dabei“, lautet seine Antwort. Und er konkretisiert sie mit den Worten:
„Denn der Schmerzensmann hat gleichzeitig das stellvertretende Leiden zu seiner Entscheidung gemacht, um es zu durchbrechen. Er steht für eine Haltung, die den Scheiternden erlöst, indem sie sich ihm zuwendet wie der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Ihm wird das Scheitern des Anderen zur Herausforderung seiner Solidarität. So begründet er „Nähe< für den Fremden. (…) Das ist es, was die christliche Tradition >Liebe< nennt.“
Diese Deutung von Schuberts „Winterreise“, wie sie Hans May hier vorgelegt hat, stellt von ihrem weit ausgreifenden interpretatorischen Ansatz her, der in die Tiefe des Werks vordringenden Konsequenz, mit der er ausgeführt wird, und dem Resultat, in das sie mündet, eine zweifellos faszinierende und dem Verständnis des Werkes und der gedanklichen Auseinandersetzung mit ihm in vielfältiger Weise dienliche Bereicherung der Literatur über das so bedeutende liedmusikalische Werk dar. <>