Es bleibt halt die Frage, was denn wirklich gegen den Inhalt eines Stückes spricht bzw. was diese ominöse Werktreue eigentlich ist!? Für mich ist eine Inszenierung oder besser allgemein eine Interpretation dann werktreu, wenn sie den Geist des Werkes transportiert. Dabei ist mir natürlich vollkommen klar, dass ich den Geist des Werkes nur für mich und nur schwer allgemein bestimmen kann. Klar ist aber, dass insbesondere Äußerlichkeiten, wie Bühnenbild, Kostüme, zeitlicher Rahmen bzw. Bezug für mich in den allermeisten Fällen eher zweit- bis drittrangig sind, und so kann denn auch eine Carmen durchaus in der Psychatrie spielen. - Die RT-Kritiker und ich haben da einfach so unterschiedliche Maßstäbe, dass wir wohl nie übereinkommen werden.
Lieber Michael,
was mich einfach stört ist die Dialogverweigerung und fehlende Ehrlichkeit. Wenn eines so sicher ist, wie das Amen in der Kirche, dann das, dass es bei so einer Inszenierung wie in Verona um etwas nicht geht: um "Werktreue". Da geht es vielmehr einzig und allein darum, eine möglichst effektvolle Bühnenshow nach den Bedürfnissen des touristischen Publikums zu inszenieren. Und warum immer über Kulissen geredet wird, ist auch klar: Eine Zeffirelli-Inszenierung kann doch so wenig "werktreu" und kitschig sein wie sie will, sie wird akzeptiert und bejubelt aus dem einzigen Grund, weil das Illusionstheater ist. Carmen in der Psychiatrie und die Biogasanlage bei Wagner sind auch nicht "werktreu" bzw. librettotreu (was "werktreu" oder "werkgerecht" ist, ist eine sehr komplizierte Frage, welche das Niveau in diesem Forum hier übersteigt, wo nur der Austausch von polemischen Plattitüden zählt), nicht mehr und nicht weniger als so ein Zeffirelli-Pomp. Warum das aber nicht akzeptiert wird, ist auch klar: Solche Bühnenausstattung konfrontiert den Operngänger mit der Wirklichkeit seines tatsächlichen Lebens, an die er schlicht nicht erinnert werden will sondern diese seine Lebensrealität im Opernhaus so weit weg wünscht wie die Oberfläche des Mondes. Es interessiert also die Frage, ist nun der Ausstattungspomp a la Zeffirelli mehr oder weniger werkgerecht als die Versetzung der Handlung in ein zeitgenössisches Milieu, in Wahrheit Niemanden. Es geht um die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und um sonst gar nichts. Selbstreflexion ist unerwünscht. Man wirft einem Intellektuellen wie mir ja immer gerne vor, graue Theorie zu treiben. Im Unterschied zu den RT-Phoben lese ich aber zeitgenössische Berichte aus dem 19. Jhd., wie da Operninszenierungen ausgesehen haben. Da wurden rücksichtslos gegenüber dem "Werk" auch die berühmtesten und bedeutendsten Opern als Bastelkasten betrachtet, wo man nach Belieben den Wünschen des zeitgenössischen Publikums entsprechend etwas nach eigenen Vorstellungen zusammengezimmert hat, was oft mit dem Originalwerk kaum mehr etwas gemein hatte. Da nehmen sich im Vergleich die Veränderung des Regietheaters von heute in den meisten Fällen reichlich harmlos dagegen aus. Die RT-Gegner sollten ihre rosarote Wunschbrille absetzen, wenn sie meinen, was eine "traditionelle" Operninszenierung ist und zumindest ehrlich sein und zugeben, dass es ihnen nicht anders als dem Publikum vor 50, 100 oder 150 Jahren auch letztlich nur um die ganz egoistische Wunscherfüllung geht, das serviert zu bekommen, wie sie gerne eine Oper sehen möchten.
Schöne Grüße
Holger