Betr.: "Niemand", op.25, Nr.22. Anmerkungen zur Faktur der Komposition und zu ihrer liedmusikalischen Aussage
(Einführung und Aufnahme zu diesem Lied am Ende der vorangehenden Seite)
Im zweitaktigen Vorspiel lässt das Klavier, und dies forte, mit zwei- und dreistimmigen Akkorden im Diskant das melodische Grundmotiv erklingen, das von der Singstimme auf den ersten beiden Versen vorgetragen wird. Im Bass folgen Oktaven zunächst dieser Bewegung, im zweiten Takt beschreiben sie jedoch eine gegenläufige Bogenbewegung und verengen sich am Ende im Intervall erst zu einer Septe und dann zu einer Terz. Schon hier verrät die Liedmusik den großen Klavierkomponisten Schumann, und im Nachspiel geschieht dies auf wesentlich komplexerer Weise noch einmal. Das melodische Grundmotiv entfaltet in seiner strukturellen Einfachheit – und vielleicht ja gerade durch sie – große Eindrücklichkeit, und da die ganze Melodik ja im Grunde aus Variationen desselben besteht, vermag sie ihre Hörer regelrecht in Bann zu schlagen.
Was die Struktur dieses melodischen Motivs anbelangt, so stellt sie sich dar als eine zweimalige, beim zweiten Mal um eine kleine Terz tiefer ansetzend Aufstiegsbewegung der melodischen Linie, der ein wellenartiger, dabei im Intervall sich verkleinernder Fall nachfolgt. Das Klavier folgt dieser Bewegung mit zwei- und dreistimmigen Akkorden im Diskant, die sich als Wiederkehr des Vorspiels darstellen, und die Harmonik beschreibt – wie dort – eine Rückung von F-Dur nach B-Dur und kehrt von dort über die Dominante C-Dur zur Tonika F-Dur zurück. Und was den Klaviersatz betrifft: Diesen Gestus, der melodischen Linie in ihren deklamatorischen Schritten im Diskant exakt zu folgen, behält das Klavier durchweg und bis zum Ende der Strophe bei.
Bei den Worten „Nicht Hahnrei will ich sein, zum Hahnrei mach' ich Niemand“ beschreibt die melodische Linie in strukturell identischer Weise die Bewegung auf dem ersten Verspaar noch einmal. Die Variation besteht aber darin, dass sie, nun eine Sekunde tiefer ansetzend, den ersten Anstieg, also den auf „nicht Hahnrei“ über größere Intervalle (nun Quarte und Terz, statt Sekunden) vollzieht und der zweite nicht aus einem verminderten Sextfall, sondern nur aus einem über eine kleine Sekunde heraus erfolgt, was einen Aufstieg der melodischen Linie in deutlich höhere Lage und eine Steigerung ihrer Expressivität zur Folge hat. Und damit geht einher, dass die Harmonik sich nun auf der Grundlage der Dominante C-Dur entfaltet und bei der zweiten melodischen Aufstiegsbewegung sogar eine Rückung nach d-Moll beschreibt, die sie fast bis zum Ende dieser zweiten Melodiezeile beibehält. Erst bei dem Wort „Niemand“ am Ende ereignet sich eine Rückung von einem nun als Dominante fungierenden G-Dur nach C-Dur. Diese Moll-Harmonisierung der melodischen Grundfigur will wohl, so möchte man das verstehen, zum Ausdruck bringen, dass dieses lyrische Ich seine selbstbewussten Äußerungen in einer durchaus reflektierten Weise vorbringt.
Wie bei den ersten beiden Verspaaren, so ereignet sich bei den nächstfolgenden der Strophe eine Wiederkehr der melodischen Linie in variierter, auf eine Steigerung der Expressivität abzielender Gestalt. Zudem stellt sie in der Figur, die sie nun beschreibt, eine Verwandte derjenigen dar, die auf dem ersten Verspaar liegt, ist gleichsam eine Fortführung derselben, was der Liedmusik die innere Geschlossenheit verleiht, wie sie typisch für die Volksliedstrophe ist. Nun setzt die Melodiezeile, und das ist neu, nicht mit einer zweifachen Anstiegsbewegung, sondern mit einer Tonrepetition ein, im Anschluss daran geht sie aber in genau den gleichen wellenartigen, in einem Auf und Ab sich vollziehenden Fall über, den sie schon bei ersten Verspaar beschrieben hat. Auf den Worten „Ein Säckchen Gold ist mein“ liegt eine dreifache Tonrepetition auf einem „A“ in mittlerer Lage, die danach, auf dem Wort „Gold“ in einen verminderten und leicht gedehnten Sekundanstieg übergeht, der sich in zwei weiteren, nun großen Sekundschritten fortsetzt. Wieder vollzieht das Klavier dies, nun mit Terzen, im Diskant mit, und die Harmonik beschreibt eine Rückung von D-Dur nach g-Moll.
Bei den Worten „Doch dafür dank' ich Niemand“ senkt sie sich nach einem anfänglichen Terzsprung über eine Sekunde und eine verminderte Quarte bis zu einem „Fis“ in unterer Mittellage ab, um nach einem Terzsprung über einen Sekundfall auf einem „G“ in mittlerer Lage zu enden. Hier beschreibt die Harmonik erneut die Rückung von D-Dur nach g-Moll, und das gleich zwei Mal. Ganz offensichtlich hat Schumann ganz bewusst auf alle Verse, die auf das Wort „Niemand“ enden, die strukturell gleiche melodische Figur gelegt, und dies, um ihnen in ihrer Funktion als lyrischer Aussage-Kern den gebotenen Nachdruck zu verleihen. Und beim letzten Verspaar geschieht nun das gleiche wie beim zweiten: Die melodische Linie beschreibt ihre Bewegungen noch einmal, nun aber auf einer um eine Terz angehobenen Form und sowohl im Anstieg, als auch beim nachfolgenden wellenartigen Fall größere Intervalle in Anspruch nehmend. Ein für die Aussage durchaus gewichtiger Unterschied besteht zur Liedmusik auf dem zweiten Verspaar doch: Nun verbleibt die Harmonik durchweg im Bereich des Tongeschlecht Dur und beschreibt Rückungen auf der Basis der Grundtonart F-Dur hin zur Unter- und Oberdominante. Darin drückt sich die Entschiedenheit aus, die Schumann in den Äußerungen des lyrischen Ichs am Strophenende vernommen hat.
Bleibt noch das Nachspiel. Im Unterschied zum Vorspiel nimmt es nicht nur zwei, sondern vier Takte in Anspruch, und es hat etwas anderes, durchaus eigenes zu sagen. Während das Vorspiel sich darauf beschränkt die melodische Grundfigur vorzugeben, will das Klavier – in typischem Schumann-Gestus - im Nachspiel die melodische Aussage kommentieren. Das geschieht in Gestalt einer kontinuierlichen Fallbewegung von Figuren aus bitonalen, sich im Intervall verengenden Achteln und Sechzehnteln, wobei sich fortlaufend harmonische Rückungen aus der Tonika zur Dominante und im letzten Stadium auch zur Subdominante ereignen. Dort geht das Klavier, das bislang im Bass mit Akkorden begleitete, nun auch, den Schluss der Diskant-Fallbewegung akzentuierend, zu einer gegenläufigen Achtelbewegung über.
Wie will dieser Nachspiel-Kommentar, der ja einer zu beiden Strophen ist, verstanden werden? Als Infrage-Stellen des forschen Selbstbewusstseins, mit dem das lyrische Ich gerade auftrat? Auch wenn die Fallbewegung der klanglichen Figuren das nahelegen könnte, man nimmt sie nicht so wahr. Dazu ist sie zu gradlinig und weist keinerlei harmonische Brechung auf.
Es ist wohl eher als eine Art abschließende Bekräftigung der Haltung dieses lyrischen Ichs, was man da vernimmt.