Quo Vadis Liedgesang?

  • Quo Vadis Liedgesang?

    diese Frage stelle ich mir seit ich am 12. August 2019 Günther Groissböck, Bass zusammen mit Alexandra Goloubitskaia, Klavier als Liedersänger im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth erleben durfte. Prachtvoll und ungewöhnlich wie das Ambiente und die Atmosphäre des Aufführungsortes war auch dieser Liederabend. Bereits die "Vier ernsten Gesänge" von Johannes Brahms gestaltete Groissböck mit beeindruckender Klangfülle. Durch die ihm in höchstem Maße zur Verfügung stehenden unterschiedlichen Farben und Differenzierungen erhielten diese Lieder und auch alle nachfolgenden Stücke den Charakter von sorgfältig modellierten Mikro-Opern. Die 12 Gesänge aus Robert Schumanns "Liederkreis" Op. 39 gestaltete der Bass inniger und variabler. Doch wieder war es unverbrauchte, jugendliche Kraft, der in allen Lagen makellos strömenden Stimme, die außerordentlich beeindruckte und die Zuhörer magnetisch in ihren Bann zwang. Bereits zur Pause gab es für einen Liederabend erstaunlich starken Beifall und Bravorufe des anspruchsvollen Bayreuther Festspielpublikums. Im zweiten Teil, mit sorgfältig ausgewählten russischen Liedern, die Tschaikowsky und Sergej Rachmaninoff gewidmet waren, gelang sogar noch eine Steigerung. Der Sänger gestaltete die russichen Melodien mit enormer Leidenschaft und emotionaler Ausdruckskraft. Er ließ seinen Prachtsbass, der in der Tiefe noch an voll tönendem Volumen zugenommen hat, mit perfektem Legato und weit ausschwingenden Belcanto-Bögen strömen. Vorbildlich auch die klare Artikulation und dadurch erreichte hohe Textverständlichkeit. Zu all diesen Tugenden kam noch das nahezu blind funktionierende Zusammenwirken mit der versierten Liedbegleiterin Alexandra Goloubitskaia. Insgesamt ein restlos begeisternder Liederabend mit Ausnahmecharakter. Bei der unerwarteten Zugabe mit Wotans Abschied kannte der Jubel kaum mehr Grenzen. Dieses Stück war mehr als ein Appetitanreger für den Wotan, den Günther Groissböck im nächsten Festspielsommer gestalten wird. Es war das Versprechen auf eine spektakuläre Gestaltung der vielschichtigen Götterfigur. Die Frage, die meine Frau und ich nach diesem Erlebnis engagiert und ausführlich diskutierten war: Deutet dieses intensiv glühende Singen mit seinem nie versiegenden Kraftstrom einen Paradigmenwechsel im Liedgesang an? Kommt nach der langen Periode, in der beim Lied auf das Wort, die Ausformung des Textes der größte Wert gelegt wurde - Protagonisten dieser Auffassung waren Elisabeth Schwarzkopf und Dietrich Fischer-Dieskau - nun wieder eine stärkere Betonung der Musik und des Gesanglichen? Der überwältigende Liederabend von Günther Groissböck könnte in diese Richtung deuten. Gerade dieser Bassist konnte 2014 mit seinem Ochs bei den Salzburger Festpielen, der außergewöhnlichen Autorität, mit dem er den Pogner in Wagners "Meistersingern" zum gleichwertigen Partner des Sachs profilierte und ganz aktuell mit einem völlig andersartigen Kezal in der "Verkauften Braut" in München, wo er laut Presse ein "Bühnenurereignis" kreierte, völlig neue unerwartete Rollencharaktere schaffen. Wird diesem Ausnahmesänger, der noch nicht im Zenit seines Könnens steht und deshalb noch weitere ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten hat, eine weiterführende Evolution auch im Liedgesang gelingen? Die Latte der Herausforderung ist gerade in dieser Königsdisziplin des Gesangs hoch gelegt. Bisher konnte der Überflieger im Bassfach noch jede Hürde problemlos schaffen. Quo vadis Liedgesang?

    Herzlichst
    Operus (Hans)

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Insgesamt ein restlos begeisternder Liederabend mit Ausnahmecharakter.

    Dann hätte Dein Beitrag ja auch in den Thread »Der besondere Liederabend« gepasst ...


    Deutet dieses intensiv glühende Singen mit seinem nie versiegenden Kraftstrom einen Paradigmenwechsel im Liedgesang an?

    Den Begriff »Paradigmenwechsel« hatte ich in meinem Beitrag Nr. 22 im »Liederabend-Thread« verwendet, wo ich mich auf den Auftritt des Baritons Florian Boesch bei den Schwetzinger Festspielen 2014 bezog, der da im Straßenanzug lässig am Flügel stand und Kunstlieder ohne Kunstgepräng sang.

    Wie ich heute weiß, hat ein Paradigmenwechsel dieser Art nicht stattgefunden, obwohl ein Hauch davon bei einer Liedmatinée mit Konstantin Krimmel vor drei Wochen wieder in diese Richtung wies.


    Einen Paradigmenwechsel durch Günther Groissböck kann ich mir nicht so recht vorstellen, denn nach einer »Winterreise« am 12. Januar des Jahres in Stuttgart, gewann ich den Eindruck, dass er das fortsetzt, was Robert Holl, René Pape, Georg Zeppenfeld - um nur einige der Tieftöner zu nennen - vor ihm getan haben, er ist ja der Jüngste in dieser Riege.


    Wo der Liedgesang hingeht? Von Seiten der Interpreten mache ich mir da überhaupt keine Sorgen, weil es weltweit eine ganz hohe Qualität gibt, wunderbare Stimmen und Liedbegleiter - Sorgen mache ich mir da weit mehr um das Publikum; für Bayreuth gilt das natürlich nicht, die Leute werden die Darbietung ohne Regie genossen haben ...

  • Wo der Liedgesang hingeht?- Sorgen mache ich mir da weit mehr um das Publikum;

    Lieber "hart",


    was genau meinst Du mit dieser Anmerkung?


    Vielen Dank....Mario Del Monaco  :hello:

    >>So it is written, and so it shall be done.<<

  • Lieber MDM,

    damit meine ich, dass man zu einem klassischen Liederabend ein klein wenig kulturelle Grundsubstanz mitbringen sollte. Nun wird ja heutzutage alles Mögliche mit dem Etikett »Kultur« beklebt, also versuche ich das etwas präziser darzustellen.


    Nach meinen Beobachtungen sind die Herren Eichendorff, Fontane, Heine, Mörike, Uhland ... in breiteren Bevölkerungsschichten weitgehend unbekannt. Deren Gedichte standen bei der vorigen Generationen noch in Lesebüchern und mussten auswendig gelernt werden, in schwierigen Fällen sogar mit Hilfe des Rohrstocks. Es liegt mir völlig fern, eine solche »Steinzeit-Pädagogik« zu bejubeln; ich schildere nur eine Situation.


    Gesangvereine lösen sich auf, da waren vor fünfzig Jahren wirklich noch breite Bevölkerungsschichten am Singen, wussten, dass »Die Loreley« ein Gedicht von Heinrich Heine ist. Besuche einmal das Sängermuseum in Feuchtwangen, dort zeigt man beeindruckende Filme, die beweisen, welche Art Kultur auf breiter Basis in der Mitte der Bevölkerung vorhanden war.


    Und heute? Und rings statt duft´ger Gärten ein ödes Heideland ...




  • Lieber "hart",


    nochmals Dank!


    Wenn ich das richtig verstanden habe, sind Liederabende enweder schlecht oder nur von älteren Herrschaften besucht oder das Publikum, welches sich dort dann schon einmal eingefunden hat, bringt nicht ausreichend "kulturelle Grundsubstanz" mit, verfügt also nicht über den hinreichenden theoretischen Background , um eine adäquate Rezeptionshaltung einnehmen zu können.


    Die Internetseite


    https://www.saengermuseum.de/


    habe ich mir schon mal ein wenig angesehen. Leider liegt Feuchtwangen von meinem Wohnort ziemlich genau 500 km weit entfernt, sodass das mit einem Besuch meinerseits dort sicherlich heute und morgen noch nichts wird. Aber ich versuche das mal im Hinterkopf zu behalten, falls ich in meinem Leben nochmal irgendwann ins Fränkische kommen sollte.


    Der fortschreitende Verlust vieler Traditionen ist sicher beklagenswert, nicht nur im Gesang. Man denke nur beispielsweise daran, welche Handwerksberufe es noch vor gut 50 Jahren gab, die inzwischen ausgestorben sind und keiner mehr kennt.


    LG...MDM :hello:

    >>So it is written, and so it shall be done.<<

  • P.S.: Ich habe eben gerade kurz darüber sinniert, was Eichendorff & Co. davon gehalten hätte, dass man ausgerechnet ihre Gedichte nachfolgenden Schülergenerationen mit dem Rohrstock "einprügeln" musste und ob das wohl in ihrem Sinne gewesen wäre.:rolleyes::rolleyes:smilie_denk_56.gif


    LG!

    >>So it is written, and so it shall be done.<<

  • Lieber MDM,

    wenn Du nach Feuchtwangen reisen willst, dann verbinde es mit einem Besuch der Gottlob Frick Gedächtnisstätte. Liegt im Raum Pforzheim/Stuttgart. Wir könnten Deine Franken/Schwabentour auch noch mit dem Besuch eines Konzertes beim Heilbronner Sinfonie Orchester verbinden. Das Programm kann Du immer unter www. hn-sinfonie.de ansehen. Wenn Dir ein Konzert gefallen würde, wärst du mein Gast.

    Noch besser wäre es, wenn wir es mit dme Künstlertreffen Gottlob Frick Gesellschaft verbinden könnten. Allerdings sind wir an feste Termine gebunden. In diesem Jahr 12./13. Oktober und 2020 10./11. Oktober. Bei diesem Ereignis könntest Du eine ganze Reihe von Taminos antreffen. In diesem Jahr auch Hart.
    Herzlichst

    Operus (Hans)

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Lieber Operus,


    das ist sehr lieb von Dir und bin auch gerade ein wenig gerührt von Deinem netten und kollegialen Angebot.


    Meine persönlichen Lebensumstände ( eine quasi Rund-um-die-Uhr-Pflege meines Vaters mit wenigen kurzen Unterbrechungen ) erlauben mir leider bis auf weiteres keine längere Abwesenheit von meiner Familie.


    Sollten die Umstände sich künftig irgenwann einmal ändern und ich bin bereit für einen solchen Erholungsurlaub, werde ich mich freundlich an Dich wenden.


    Nochmals Dank und ein herzlicher Gruß...MDM :hello:

    >>So it is written, and so it shall be done.<<

  • Meine persönlichen Lebensumstände ( eine quasi Rund-um-die-Uhr-Pflege meines Vaters mit wenigen kurzen Unterbrechungen ) erlauben mir leider bis auf weiteres keine längere Abwesenheit von meiner Familie.

    Ein solcher idealistischer Liebesdienst. auch wenn er mit gewissen Entsagungen verbunden ist, wiegt diese bei weitem auf. Ich glaube ganz fest an das Gesetz von Ursache und Wirkung. Du wirst den verdienten Lohn bekommen und sei es durch verdiente Zufriedenheit in Deiner Lebensbilanz.

    Herzlichst

    Operus (Hans) :angel:<3:hello:

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Hallo!


    Ibn Feuchtwangen finden auch jährlich die Kreuzgangfestspiele statt, die von der Sopranistin Christiane Karg organisiert werden.


    Gruß

    WoKa

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo

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  • Wo der Liedgesang hingeht? Von Seiten der Interpreten mache ich mir da überhaupt keine Sorgen, weil es weltweit eine ganz hohe Qualität gibt, wunderbare Stimmen und Liedbegleiter - Sorgen mache ich mir da weit mehr um das Publikum; für Bayreuth gilt das natürlich nicht, die Leute werden die Darbietung ohne Regie genossen haben ...

    Auch ich bin auch kein Prophet, und weiss nicht, in welche Richtung sich der Liedgesang entwickelt. Gemessen an der Zahl der CD-Veröffentlichungen muss man sich wohl keine Sorgen machen. Es drängen immer mehr Neuerscheinungen auf den Markt. Nicht alle sind gelungen. Aber immerhin. Nie sind so viele Titel auf den Markt geworfen worden. Dieser Tage sind mindesten drei "Winterreisen" mit zeitgenössischen Sängern herausgekommen. Junge Interpreten entwickeln eine bemerkenswertes Interesse an Liedern. Sie versuchen sich auch an interessanten Projekten wie Samuel Hasselhorn (29), der die "Dichterliebe" zweifach eingespielte. Einmal in der berühmtesten Komposition durch Schumann, dann in Vertonung der Gedichte durch andere Komponisten. Benedikt Kristjánsson (32), ein Tenor aus Island, kam mit einer CD auf den Markt, in der sich klassische deutsche Lieder mit Gesängen aus seiner Heimat verbinden. Man könnte noch viele andere Beispiele nennen. Ob sich nun diese Tendenz ausschließlich mit der Wertschätzung von Liedern begründen lässt oder ob nicht auch kommerzielle Erwägungen im Spiele sind, kann ich nicht genau beurteilen. Es ist aber nun mal so, dass die Produktion von Lied-CDs vergleichsweise preiswert ist.

    Gesangvereine lösen sich auf, da waren vor fünfzig Jahren wirklich noch breite Bevölkerungsschichten am Singen, wussten, dass »Die Loreley« ein Gedicht von Heinrich Heine ist.

    Ist es nicht so, dass Menschen, junge Menschen heute andere Dinge wissen, die wir nicht wissen? Muss man unbedingt hersagen können, wer die "Loreley" gedichtet hat? Und wer sie vertont hat? Da kommt einiges zusammen neben Silcher.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • In Feuchtwangen finden auch jährlich die Kreuzgangfestspiele statt, die von der Sopranistin Christiane Karg organisiert werden.

    Also, mein lieber WoKa, das möchte ich gerne etwas präzisieren:

    Diese Kreuzgangspiele in Feuchtwangen gibt es seit 1949, Christiane Karg gibt es seit 1980 und ihr Elternhaus ist räumlich eng mit diesem romanischen Kreuzgang eines ehemaligen Benediktinerklosters verbunden. Die Kreuzgangspiele, die mitunter auch als Theaterfestspiele bezeichnet werden, hatten über die meisten Jahre mit Musik - wie sie hier besprochen wird - relativ wenig zu tun, auf dem Spielplan standen üblicherweise Schauspiel- und Musical-Klassiker.


    Christiane Karg hat dann erstmals in der Spielzeit 2014/15 diese Kreuzgangspiele mit der von ihr initiierten Konzertreihe »KunstKlang« ergänzt. Sie brachte damals übrigens ihren renommierten Kollegen Robert Holl mit. Allerdings goss es damals stundenlang in Strömen, so dass das Konzert nicht vor dem Kreuzgang stattfinden konnte, sondern in die Stadthalle Kasten verlegt werden musste.

  • Nun - Ich glaube, was die Verbreitung von Liedern angeht, da ist alles im Lot.

    Der Grund WARUM Lieder momentan "aktuell" sind mag durchaus kommerzieller Natur sein, zum einen der günstigen Produktionsbedingungen von CDs wegen zum andern auch der diversen kleineren Festivals, wo sich "jedermann" die Karten Leisten kann und wo auch unbekanntere Sönger reüssieren können.

    Kommen wir zur Frage nach dem kulturellen Hintergrund des Publikums.

    Hier bin ich der Meinung, daß die Situation heute eher besser ist als einst - wobei das Ansichtssache ist.

    Früher wurden beispielsweise Lieder aus Zaklen gelöst und effektvoll aufbereitet, oft für Männerchoer ("Am Brummen vor dem Tore")

    Fülliger Schönklang war angesagt - der Inhalt war mehr oder weniger bedeutungslos.

    Auch hier im Forum war es erst Helmut Hoffmann, der in seinen Thread den Schwerpunkt auf den vertonten Inhalt des Liedes legte - und nicht etwad auf den Klang der "schönen Stimme"


    Voer einigen Tagen kam übrigens ein Leserbrief an das Forum



    Zitat

    Nachricht: Ich bin eine Lied-begeisterte Laiin, und auch wenn die Diskussion nun schon drei Jahre zurückliegt:

    Ich möchte Herrn Helmut Hoffmann für seine hervorragende Einführung danken - weiter konnte ich seine Ausführungen bisher nur überfliegen, denn leider, leider bin ich erst heute darauf darauf gestossen - und eben HEUTE singen zwei junge Liedersänger (ersparen Sie mir bitte das "Gendern"), die ich außerordentlich schätze, im wunderbaren Ambiente von Vilabertran dieses schwierige, aber eindrucksvolle Werk. Was für eine Hilfe wären mir diese Ausführungen bei meiner Beschäftigung mit dem Werk und meinen Diskussionen mit einem der Interpreten gewesen! Ich werde aber "nacharbeiten"...


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Muss man unbedingt hersagen können, wer die "Loreley" gedichtet hat?

    Ja, sollte man zumindest hersagen können. Andernfalls wird von unserer tradierten Kultur nicht mehr viel übrigbleiben, wenn nicht einmal mehr solche Dinge abrufbar sind, dass die "Loreley" (unabhängig von der Vertonung) von Heine und der "Faust" von Goethe ist. Ich finde wirklich, man sollte nicht alle Ansprüche an die nachfolgenden Generationen aufgeben!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Helmut Hofmanns etwas selbstkritische Anmerkungen im "Myrthen"-Thread



    Persönliche Anmerkung


    Meine Liedbetrachtungen sind einfach zu lang. Früher war das nicht der Fall, aber mit der Zeit vertiefte ich mich bei meinen liedanalytischen Betrachtungen immer mehr in die Details der Faktur, was zur Folge hatte, dass sie für den „normalen“, sich liedmusikalisch nicht in besonderer Weise betätigenden, sondern einfach nur am Thread-Thema interessierten Leser viel zu umfangreich und damit tatsächlich zur Zumutung geworden sind - und eigentlich auf diese Weise auch der Sache selbst, der Heranführung an die Liedmusik, abträglich.



    bringen mich dazu, einen eigentlich schon abgelegten Text wieder hervorzukramen. Ich hatte Bedenken, dass er zu unsensibel geraten ist und Verstörungen hervorrufen könnte. Ich springe jetzt trotzdem einmal über meinen Schatten und veröffentliche ihn doch noch. Hoffentlich bereue ich es nicht.:/


    ++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++



    Nochmal zum Publikum, vor allem zum zukünftigen. Ich finde, das ist noch nicht richtig ausdiskutiert. Irgendwie haben mich die Meinungen von "hart" und "Rheingold1876" oben noch weiter beschäftigt.



    Kunstlied m engeren Sinne des 19. (?) Jh. ->Es sollte und muss eigentlich viel mehr erklärt werden, was es damit eigentlich so auf sich hat. Aufklärung, Motivation und Werbung quasi: Für wen ist das überhaupt etwas, "für welche Art Mensch", um mal ganz platt und provokant nachzufragen? Für Frohnaturen oder Trauerklöße? Auch für einfache Menschen oder mehr für das Bildungsbürgertum? Vielleicht ist es doch eher etwas für den durchgeistigten,zarten, bleichen Jüngling aus gutem Hause oder den Typ des ältlichen Professors mit krummen Rücken, weißen Haaren und säuerlich-gestrengen Blick, den er kritisch über seine Halbbrille, etwa auf die Protagonisten eines Liederabends, wirft? (Kleiner Scherz ;)) Oder noch platter: Nennt drei Gründe, die jemanden überzeugen könnten, warum das Kunstlied so bereichernd ist und warum man es unbedingt hören sollte, wenn es doch schon das eingängigere Volkslied heutzutage nicht gerade einfach hat?!


    Wenn jemand in der 30er Jahren des 20. Jahrhunderts geboren wurde und heute zur Personengruppe Ü80 zählt, dann ist für ihn selbst klar wie Kloßbrühe und ganz selbstverständlich, wieso die Befassung damit so lohnenswert ist und er oder sie diese Kunstform so außerordentlich goutiert, da muss man nix erklären: Weil er/sie in einer völlig anderen Welt, deren Umstände sich heute gar kein Mensch mehr vorstellen kann, aufgewachsen ist und diese Musik in den 40er/50er/60er Jahren möglicherweise noch etwas mehr gehört wurde als heute. Und weil er sich schon über ein halbes Menschenleben damit befasst hat.


    Für einen Menschen der Jetztzeit, der in das moderne Medien-und Digitalzeitalter hineingeboren wurdee, für den ist das deshalb noch lange nicht so völlig selbstverständlich und man kann es ihm eigentlich auch gar nicht vorwerfen. Wie erkläre ich also jemanden, der in den 1990er Jahren geboren wurde, warum in Dreiteufelsnamen und bei dem riesigen Konkurrenzmarkt an unterschiedlichster Musik inklusive der ganzen Stile und Subgenres sich ausgerechnet dem Kunstlied widmen soll? Was bezweckten die Schöpfer, warum waren Schubertiaden so angesagt?


    (Ich spinne jetzt mal eine fiktive Situation.)

    Gut, es gibt da also etwas, was sich "Kunst-Lied" nennt, hat da jemand im Aushang seiner Uni gelesen und geht einfach mal spontan zu einer entsprechenden Abendvorstellung im Kulturhaus hin, weil für Studenten der Eintritt frei ist. "Lied" kann ja nicht so schwer sein und wird schon irgendwie gefallen. Da sind dann also beispielweise zwei Herren gesetzten Alters, der eine spielt mal schnell, mal langsam Klavier und der andere steht dabenen, blickt ziemlich ernst vor sich hin und singt bzw. spricht halb dazu bestimmte Texte von einstmals bekannten oder sogar sehr berühmten Dichtern, einzelne Worte oder Halbsätze werden gelegentlich überstark betont. Die Melodie ist meist nicht besonders eingängig, der Text manchmal nur begrenzt heiter....... Soweit so gut..... und wie nun weiter, fragt man sich, was fange ich jetzt damit an....? Ratlosigkeit breitet sich aus....


    Zur Verdeutlichung: Eine Operette z.B., um mal ein anderes Klassikgenre zu nehmen, ist da, auch für Ersthörer und Jüngere, irgendwie selbsterklärender. Da bietet sich vor den Augen des Besuchers ein buntes, heiteres Spiel mit eingängigen Melodien zum Mitsummen. Macht Freude, reißt mit und man bekommt gute Laune. Die beiden älteren Herren dagegen, die sich da vorn redlich mühen, werden im Laufe des Abends immer selbstvergessener und entrücken merklich ihrem Umfeld. Was mache ich da als Zuseher/-hörer nur, wie verhalte ich mich eigentlich richtig dazu?


    Solange solche Dinge nicht grundsätzlich geklärt sind, wird ein solcher, von mir beschriebener Zeitgenosse ( mit akzeptablem IQ und charakterlich durchaus gutwillig) immer etwas ratlos davor stehen bleiben. Auch Helmut Hofmanns hier im Kunstliedforum vorgestellten ausführlichen und detailverliebten, sprachlich und inhaltlich grandiosen und ganz allgemein verdienstvolle Besprechungen wird er möglicherweise etwas erstaunt zur Kenntnis nehmen und sich fragen, warum ein Achtzeiler von 43 Worten (H. Heine/C. Schumann"Sie liebten sich beide"->>) , der für den Laien auf dem ersten Blick und Anhören "ganz nett," aber auch nicht überkomplex daherkommt und nach anderthalb Minuten zu Ende gesungen ist, einer Erklärung von über 1600 Worten bedarf? Ist gute Musik nicht selbsterklärend und erreicht die Herzen der Hörer nicht auch ohne ausführliche Erklärungen? Ähnliches Beispiel: „Lieder aus dem Schenkenbuch im Westöstlichen Divan I“, op.25, Nr.5 , 23 Wörter, 40 Sekunden Dauer,von DiFiDi vorgetragen, für Normalhörer unspektakulär bis leicht (Pardon!) langweilig oder dröge anzuhören, Besprechung +1500 Wörter. Und wer soll darauf als Hobbyhörer überhaupt adäquat antworten können, da gibt es im gesamten deutschsprachigen Raum von 100 Mio Einwohnern, etwas pessimistisch geschätzt, vielleicht ein paar wenige Handvoll ehemaliger Professoren oder Studienräte, die dazu intellektuell einigermaßen in der Lage sind.( Berufsmusiker oder Musikwissenschaftler meine ich jetzt ausdrücklich nicht, sondern fortgeschrittene Amateure, die sich in ihrer Freizeit damit befassen.).


    Ich habe mal das oben von "Rheingold1876" angesprochene Loreleylied verglichen, erst die Clara- Schumann-Version von Helmut Deutsch/Diana Damrau, (3x) anschließend Heinrich Schlusnus mit der bekannten Silcher-Version, die jeder mitsingen kann. Ich kann mir nicht helfen, Kunstlied hin oder her- die zweite, volksliedhafte Variante gefällt mir wesentlich besser und hat mich auch mehr berührt, die o.g. Schumann-Variante des Liedes wirkt auf mich gehetzt und im wahrsten Sinne des Wortes irgendwie "künst"-lich vorgetragen, "schön" im gewöhnlichem Sinne ist das nicht wirklich. Vielleicht habe ich auch den ganzen Sinn des "Produkts" Kunstlied nie richtig begriffen.


    Also, meiner Meinung nach KÖNNTE etwas mehr Aufklärung und Motivation notwendig sein, was es damit auf sich hat, wenn man jemanden für diese- möglicherweise leicht eigenwillige- Gattung begeistern will. Dann kommen vielleicht auch irgendwann mehr Reaktionen und Diskusssionen im entsprechenden TAMINO-Unterforum zustande. Die Idee zu dem "Einführungsthreads" fand ich übrigens deshalb neulich sehr gut. Gerade auch für "gestandene" Klassikliebhaber, die sich mit dieser speziellen Sparte aber noch nie groß befasst haben.


    +++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++


    Ich bitte alle "Fans" des Kunstliedes nochmals ausdrücklich, das Geschriebene nicht persönlich zu nehmen. Tut es notfalls als grandiose Unkenntnis oder Banausentum ab, ich nehme alles auf meine Kappe. Meinungen interessieren mich brennend.


    Beste Grüße...MDM :hello:

    >>So it is written, and so it shall be done.<<

  • Ich bitte alle "Fans" des Kunstliedes nochmals ausdrücklich, das Geschriebene nicht persönlich zu nehmen. Tut es notfalls mit grandioser Unkenntnis oder Banausentum ab, ich nehme alles auf meine Kappe. Meinungen interessieren mich brennend.

    Oh! Ich nehme es sehr persönlich.

    Und ich danke Dir sehr, lieber MDM, für das, was Du da als Deinerseits ganz persönliche Fragen zum Thema "Kunstlied" auf eindrückliche Weise hier vorbringst.

    Denn es sind Fragen, mit denen ich mich selbst schon seit langer Zeit, und das immer mehr, bei meiner Betätigung hier im Tamino-Forum herumplage.


    Wie berechtigt sie sind, belegt sich durch ein einfaches aber vielsagendes Faktum:

    Auf die von Dir erwähnten und von mir aufgebrachten "1600 Worte" in der Besprechung des Liedes "Sie liebten sich beide" gab´s gerade mal 20 "Zugriffe" hier im Forum. Wobei, das habe ich von Alfred Schmidt gelernt, das ja nicht heißt, dass das wirkliche Leser waren. Gilt sinngemäß auch für die "1500 Worte" der Besprechung des Liedes "Aus dem Schenkenbuch im Westöstlichen Divan I“, op.25, Nr.5 " und die - sicher noch mehr Worte beinhaltende - der Vertonung von Heines "Lorelei" durch Clara Schumann.


    Hier stellt sich in eminenter Weise die Sinnfrage, - das Kunstlied in seiner Aktualität als Gattung ganz allgemein betreffend, insbesondere aber die Art und Weise, wie es durch meine Art der "Behandlung" hier im Tamino-Forum in eine ihm, was seine Förderung des öffentlichen Interesses an ihm anbelangt, offensichtlich wenig bekömmliche Lage gebracht wurde.


    Sehr würde ich mir wünschen - und das auch aus großem Eigeninteresse - dass Deine Worte "Meinungen interessieren mich brennend" hier Gehör finden.

    Ich meinerseits werde mich nun erst einmal zurückziehen.

  • Also, hier muss ich aber nochmals energisch widersprechen!


    Gerade Dein Detailreichtum, lieber Helmut, ist das, was mich eben an Deinen Besprechungen begeistert. Natürlich ist in einer schnellebigen, oberflächlichen Zeit auch immer mehr das verkürzte, verknappte und sprachlich seichte Zeugnis gefragt; leicht verdauliche Häppchen, einfach gehaltene Einleitungen, simplifizierte Vergröberungen, die nur ja niemanden überfordern sollen -- aber das gibt es doch eh schon massenweise! daher bin ich umso froher, dass dies bei Deinen Beiträgen eben nicht der Fall ist!


    Es gibt soviele Liedbesprechungen im Internet, die eben nur in wenigen dürren Sätzen Banales schreiben; und Einführungen für den Anfänger finden sich auch mehr als genug!


    Aber gerade jemanden zu haben, der auch in die Tiefenschichten der Interpretation eindringen kann, und dann auch noch großzügigerweise sein profundes Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung stellt und teilt -- das ist schon klasse, und ein echtes Alleinstellungsmerkmal Deiner Texte! Das meine ich ganz im Ernst, Du könntest Dein Wissen auch in Buchform (oder auf einer bezahlpflichtigen Online-Plattform) verkaufen.


    Lass Dich daher nicht beirren, lieber Helmut! Zumal man bei langen Texten immer das, was einem zu weitschweifig erscheint, überspringen kann; wenn ich aber einen kurzen, knappen Text habe, ist der umgekehrte Weg nicht möglich! Wenn ich dann Ausführlicheres wissen möchte, habe ich keine Möglichkeit dazu.


    Und auch, dass Du selbst über ein kurzes Lied viel zu sagen hast, ist keine Schwäche Deiner Besprechungen, sondern zeigt eben nur die Vielfalt, Komplexität und den Reichtum auch eines kurzen Kunstwerkes auf! Es gibt immerhin Aphorismen, Gedichte, kürzeste Texte, über die ganze Bibliotheken verfasst worden sind, und das völlig zurecht. Also das ist für mich kein Kriterium, um Deine Beiträge zu kürzen.


    Daher scheint mir Deine Einteilung, die Du vornehmen möchtest, ein ganz guter Kompromiss: Die kurze Einleitung für den eiligen Leser, die tiefere Analyse dann für den, der mit mehr Muße in komplexere Zusammenhänge einsteigen möchte. Und diesen "zweiten Teil", der eben ganz speziell und hochoriginell unter die Lupe nimmt, was in keinem wikipedia-Kurzabriss steht, gerade das ist mir das Liebste und Unverzichtbarste an Deinen Beiträgen!


    Deswegen, lieber Helmut, von mir gibt es ein kräftiges "weiter so", verbunden mit einem großen Dank für all Deine Mühe, Deine Arbeit, Dein Herzblut!


    liebe Grüße

  • Lieber Helmut Hofmann,


    damit wir uns nicht falsch verstehen: ich lese jeden Deiner Beiträge, vor allem auch im Kunstliedforum, immer sehr gerne. Schon allein deshalb, weil ich gelungene Formulierungen liebe und meinen eigenen Wortschatz gern noch immer weiter bereichere. Einen kleinen, treuen Leserkreis hast Du ja sowieso, wie ja auch schon Leserbriefe bewiesen haben.


    Ich habe jetzt in den letzten 2 Stunden mal ein bisschen im Internet gelesen und dabei die Leseprobe zu einem Fachbuch zum Thema "Kunstlied" gefunden.


    https://ebooks-fachzeitungen-d…extract/3515114076_lp.pdf


    Kostet 68 Euro und ist hier zu finden:




    Die Einleitung ist interessant und bestätigt, dass einige meiner Vermutungen auch von Profis geteilt werden:

    So völlig allein scheine ich mit meinen Einschätzungen nicht zu sein.


    Lieber Helmut Hofmann,


    wenn Du Dir also wünscht , dass eine Kunstgattung, der Du Dein halbes Leben ver-und deren Werke, die Du hier im Forum vielfach beschrieben hast, über-und weiterlebt, braucht es mehr grundsätzlicher Aufklärung. So meine unbedeutende Meinung. Haben es Franz Schubert und Robert Franz, Wilhelm Müller und Heinrich Heine , Dietrich Fischer-Dieskau und Elisabeth Schwarzkopf, Gerald Moore und Alfred Brendel nicht verdient, dass man sich ihrer auch künftig noch recht lange erinnert? Manche Dinge bedürfen dazu jedoch zweifellos mehr der Erläuterung und der "Werbung" als andere, soll "das Feuer weitergetragen" werden. ( Um nochmal ein in den letzten Tagen hier des öfteren verwendetes Zitat zu strapazieren.) Daher will ich Dich ermutigen, Dein ursprüngliches Vorhaben einer grundsätzlichen einführenden Erklärung zum Lied irgendwann mal wieder aufzunehmen, vielleicht im neuen Jahr, wenn Du magst. Du wirst dankbare Leser und Lerner, vielleicht auch Frager, finden. Wenn auch nicht in Zahl, wie vielleicht wünschenswert wäre. Eine kleine treue mitlesende"Fangemeinde" hast Du ja sowieso schon sehr lange, auch wenn sie selten auf Deine Besprechungen in Form von Diskussionsbeiträgen reagiert. Und stelle die bereits fertiggestellten Beiträge bitte unbedingt ein. Vielen Dank!


    Beste Grüße...MDM :hello:

    >>So it is written, and so it shall be done.<<

  • Hallo und guten Abend,

    Ich fand deinen Beitrag erfrischend. Vieles davon sehe oder sah ich auch so.

    Am Anfang die Lieder gehört, gefallen hat mir erst einmal das Übersichtliche, nur eine Stimme und ein Mann am Klavier. Als ich auch mehr Interesse an Text und Interpretation der Lieder fand, suchte ich im Forum. Gelesen, gelesen...da war ich schnell überfordert. Neuer Ansatz probiert, eins bis zwei aktive Autoren im Forum ausgesucht und deren Meinung vertraut. So wurde mir langsam aber sicher das Thema vertrauter. Das "wissen wollen" was hat es nun mit den Liedern auf sich, kommt jetzt so langsam. Gleichzeitig, so stelle ich fest, wird meine Interesse an Grundsatzthemen der Musik grösser. Das umfangreiche Werk, des von mir sehr geschätzten Mitglied Helmut Hofmann zu lesen, um mein Wissen zu vertiefen macht mir jeder Tag mehr Spass.

    MfG Wilfried

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  • Gerade Dein Detailreichtum, lieber Helmut, ist das, was mich eben an Deinen Besprechungen begeistert. Natürlich ist in einer schnellebigen, oberflächlichen Zeit auch immer mehr das verkürzte, verknappte und sprachlich seichte Zeugnis gefragt; leicht verdauliche Häppchen, einfach gehaltene Einleitungen, simplifizierte Vergröberungen, die nur ja niemanden überfordern sollen -- aber das gibt es doch eh schon massenweise! daher bin ich umso froher, dass dies bei Deinen Beiträgen eben nicht der Fall ist!

    Dem, lieber Don, ist auch meinerseits zuzustimmen. Nur, ich kann unserem Freund Helmut nicht immer folgen, weil dazu meine Notenkenntnisse nicht ausreichen. Seine tiefgehenden Analysen setzen diese Bildung zwingend voraus. Und Helmut weiß das auch. Ich beneide jene, die sich diese Fähigkeit erworben haben. Für mich kommt diese Einsicht zu spät. Ich höre seit frühester Jugend Lieder. Mein Interesse ging zunächst vornehmlich von den Texten aus. Ich wollte für mich herausfinden, ob und wie Musik das vertiefen oder verdeutlichen kann, was in Worten geschrieben steht. Also hielt ich mich an Sänger, die mir dabei halfen. Namen will ich jetzt nicht nennen, denn sie sind schon alle tot. Und ich lege keinen Wert darauf, als jemand zu gelten, der immer nur in der Vergangenheit herumwühlt. :( Dem ist nicht so. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass der Zugang in die Kunst des Liedes und ihrer Interpreten in der Vergangenheit zu suchen ist. Hören, hören und immer wieder hören! Vergleichen! Der Frage nachgehen, warum jener oder jene einen mehr erreichen als andere. Das dauert seine Zeit. Lieder nimmt man mal nicht so schnell mit. Viel Hugo Wolf! Bevor ich kluge Texte über Liedgesang gelesen habe, hatte ich einen ziemlich großen Bestand in mich aufgesogen. Ich glaube an die Verschiedenheit der Annäherung an Lieder. Meine ist nur eine von vielen. Es wäre schön, von anderen Erfahrungen zu lesen. :)

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Liebe Freunde des Liedgesangs,


    es wurde früher schon öfters darüber diskutiert, wie sinnvoll es ist, wenn Frauen sich an Liederzyklen heranwagen, die ursprünglich für Männer komponiert wurden. Insbesondere war es Schuberts Winterreise, die hierfür reichlich Diskussionsstoff bietet.


    Die Sopranistin Eilika Wünsch, die ich auch persönlich kenne, hat dieses Thema vor kurzem wieder in einem Liederabend aufleben lassen. Hierfür stehen ihr außer dem Klavier noch Geige und Kontrabass als Begleiter zur Verfügung.

    Ich stelle euch das erste Lied "Gute Nacht" vor und bitte um eure Einschätzung hierzu.


    Freundliche Grüße Siegfried

  • Also, lieber Siegfried, wenn Du schon so lieb drum bittest ...


    Grundsätzlich bin ICH der Meinung, dass man diese Wanderung durch die winterliche Landschaft einem Mann überlassen sollte, der auf seiner Reise vom Klavier begleitet wird, aber natürlich kann man da auch ganz anderer Meinung sein. Diese andere Meinung hatte ja auch der kürzlich verstorbene Hans Zender, der mit Sicherheit etwas mehr von Musik verstand, als unsereiner.

    Mit der Akustik der eingestellten Aufnahme steht es ja nicht zum Besten, und es ist nachvollziehbar, dass hier kein exklusives Team von Tontechnikern zur Verfügung stand. Vor Eilika Wünsch und ihrer Darbietung habe ich allen Respekt, der grundsätzlich immer vorhanden ist, wenn sich jemand da oben hinstellt und singt. Und es scheint eine gut geführte Stimme zu sein, aber sie ist mir zu hoch - eine rein persönliche Wertung.

    Natürlich ist es verständlich, dass auch eine Frau Zugang zu dieser Musik haben möchte; schon Elena Gerhardt hatte diesen, und sang Schuberts Zyklus wunderbar und eindrucksvoll, allerdings mit Mezzo-Sopran, wie später Brigitte Fassbaender auch.

    Wäre ich um Beratung gebeten worden, dann hätte ich Frau Wünsch eher zu Händels »Lascia Chio pianga« geraten ...

  • Hallo und guten Tag lieber Siegfried,

    Hat zunächst sehr ungewohnt und fremdartig geklungen. Gut, mein Gehirn hat ja noch nichts Vergleichbares in seinem Speicher. Bein zweiten Durchgang klang es ab dem Einsatz der Violine schon vertrauter.

    Ich höre es die nächsten 4 Tage täglich einmal an und melde mich nochmal. Vielleicht habe dann ein Meinung.

    MfG Wilfried

  • Mein lieber MDM,

    da lässt Du aber eine Menge Klischees aufmarschieren ...

    Vielleicht ist es doch eher etwas für den durchgeistigten, zarten, bleichen Jüngling aus gutem Hause oder den Typ des ältlichen Professors mit krummen Rücken, weißen Haaren und säuerlich-gestrengen Blick, den er kritisch über seine Halbbrille, etwa auf die Protagonisten eines Liederabends, wirft? (Kleiner Scherz ;) )

    Wenn ich mich recht erinnere, dann hat Rheingold das einmal gut erklärt, dass man eben in der Regel ein gewisses Alter braucht, um Gedichte schön zu finden, die eben die Basis für ein Kunstlied sind, deshalb kann das Durchschnittsalter beim Publikum eines Liederabends nicht um die dreißig herum liegen.

    Für einen Menschen der Jetztzeit, der in das moderne Medien-und Digitalzeitalter hineingeboren wurde, für den ist das deshalb noch lange nicht so völlig selbstverständlich und man kann es ihm eigentlich auch gar nicht vorwerfen. Wie erkläre ich also jemanden, der in den 1990er Jahren geboren wurde, warum in Dreiteufelsnamen und bei dem riesigen Konkurrenzmarkt an unterschiedlichster Musik inklusive der ganzen Stile und Subgenres sich ausgerechnet dem Kunstlied widmen soll?

    Also vorwerfen sollte man den in den 1990er Jahren Geboren nicht, dass sie dem Liederabend fernbleiben; besser wäre es, sie davon zu überzeugen, dass für sie die Gefahr besteht, Schönes zu versäumen. Mein pädagogischer Ansatz wäre - so vermute ich einmal - ein ganz anderer, als der den Helmut Hofmann wählen würde. Das kommt daher, dass ich mich in jungen Jahren dem Lied auf ganz andere Weise genähert habe. Die Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Stimme hatten mich fasziniert. Ich glaube schon, dass man auch heute noch junge Leute zum Staunen bringen kann, wenn man ihnen zeigt und erklärt, wie das ist, wenn jemand ohne Mikrofon singt.


    Eine andere Möglichkeit hatte ich erst dieser Tage mal wieder erlebt, wo sich zwei Solisten, die im Ensemble eines Opernhauses singen, im Werkstatt-Gebäude des Hauses in einem Liederabend dem Publikum vorstellten - sie hatten ihr Publikum, und das Publikum hatte sie; ohne Maske, Schminke, Lichteffekte und sonstiges Beiwerk. Einer tiefschürfenden Liedanalyse bedarf es dazu nicht, um Begeisterung aufkommen zu lassen, und ohne eine gewisse innere Freude an der Sache läuft eben nichts.

    So wie Helmuts Beiträge immer länger werden, besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass der Liedhörer immer mehr in die Materie eindringen möchte, sich dafür interessiert, wer dieser Schumann war, aus welcher Schaffensperiode das Gehörte stammt und so weiter ...

  • Lieber hart,


    ich freue mich über Deine Antwort!


    Mein lieber MDM,

    da lässt Du aber eine Menge Klischees aufmarschieren ...

    Der Satz war ja nicht ganz ernst gemeint. Die Bemerkung "Kleiner Scherz" plus Zwinkersmiley sollte dies verdeutlichen. Ich weiß wirklich nicht, wie das durchschnittliche Publikum eines Liederabends aussieht. Bei uns hier auf dem Dorfe im Grenzgebiet Altmark-Börde gibt es so etwas nicht. Youtube-Clips zeigen die Künstler, aber kaum mal Zuschauer. Sind das alles meist ehemalige Deutsch- oder Musiklehrer um die 70? Gibt es dort auch junge Leute, sind das dann überweigend Musikstudenten? Sind das immer die gleichen Menschen, die da hingehen, quasi eine gechlossenene Szene ? Verhalten die sich alle betont ernst? Oder ist da vom VW-Arbeiter bis zum Konzernboss alles vertreten? Ich weiß, die Frage klingt blöd, aber ich kann mir da so recht keine Vorstellung machen. Bei einem Andre Rieu-Konzert feiert vom Kleinkind bis zum Greis jeder begeistert mit, das ist allgemein bekannt

    Im Fernsehen habe ich vermutlich auch noch nie eine Übertragung eines Liederabends gesehen. Eine Ausnahme:

    1992 wurde das Kunstlied auf einem Schlage in ganz Deutschland bekannt, viele hatten von der bloßen Existenz nie zuvor etwas gehört. Auch ich nicht, Volkslied ja, aber Kunstlied? Die ARD strahlte damals die Vorstellung zweier Komiker aus, die vor einem nicht eingeweihten Publikum einen Liederabend parodierten( das war diese "Hurz"-Geschichte) . Anschließend wurde sogar ernsthaft mit den Zuschauern diskutiert. Das ganze Land amüsierte sich damals darüber. Es wäre aber auch eigentlich die Chance und Anlass gewesen, in der Öffentlichkeit und in den Schulen mal zu erklären, WAS da eigentlich genau parodiert wurde (avantgardistisches Kunstlied) und was es damit eigentlich so auf sich hat.



    Kunstlied ist also sozusagen vertonte Lyrik. Man könnte das Gedicht einfach so aufsagen. Aber um ein Maximum an dessen herauszuholen, was der Dichter da aufgeschrieben hat, das letzte Quentchen Bedeutung herauszuarbeiten, kann man es singend, gelegentlich auch halb sprechend ,mit Klavierbegleitung vortragen. Der Sänger identifiziert sich voll mit dem Text und bedient sich dazu aller ihm zur Verfügung stehenden sängerischen, manchmal auch theatralischen Ausdrucksmöglichkeiten. Der Pianist versucht ihn dabei dabei zu unterstützen. um mal ganz langsam und leise und bei sich zuspitzender Dramatik auch mal polternd, laut und stürmisch in die Tasten zu hauen. Das Ergebnis kann für Fachleute überwältigend sein, auf Uneingeweihte könnte das leicht verstörend bis erheiternd wirken. Es geht im Gegensatz zum Volkslied also nicht vorrangig um den schönen Klang, sondern die musikalische Untermalung dient dazu, die Bedeutung des Gedichttextes zu optmieren. Wenn die Fischer- Chöre das Loreleylied in volksliedhafter Weise mit der Silcher-Melodie vortragen, dann haben die Zuhörer das romantische Bild von der Jungfrau auf dem Felsen , die die Rheinschiffer mit ihrem Gesang ins Verderben lockt, vor Augen. Jemand, der das Ganze als Kunstlied vorträgt, arbeitet dabei lieber den von Heine unterschwellig mitgegebenen falschen Pathos, die Verbindung von Eitelkeit, Verführbarkeit und Vergänglichkeit (Zitat Wikipedia) heraus. Die Melodie ist weniger eingängig, der an wohlklingende Melodik gewohnte Durchschnittshörer empfindet das eher als gewöhnungsbedürftig. Was Helmut Hofmann nun in seinen Analysen versucht ( heißt es eigentlich +1600 Worte oder Wörter?;) ) , ist ,die Struktur der Lieder dieser speziellen Kunstform Note für Note unter die Lupe zu nehmen und zu erklären, warum was an welcher Stelle wie interpretorisch dargestellt wird.



    Ist das richtig so, was ich da eben geschrieben habe oder bin ich immer noch auf dem Holzweg?


    Dann bitte sofort einschreiten! Wenn es richtig ist, muss man das den Leuten aber auch mal erklären. Das steht nämlich so grundsätzlich nirgendwo beschrieben, worum es da eigentlich geht. Wenn man will, das die Tradition weitergetragen wird, dann muss man dies tun, von sich aus kommt da wohl kaum einer. Man muss auf die Leute zugehen, erklären und werben, dann verirrt sich hier vielleicht auch mal einer in dieses Unterforum.

    Ich glaube schon, dass man auch heute noch junge Leute zum Staunen bringen kann, wenn man ihnen zeigt und erklärt, wie das ist, wenn jemand ohne Mikrofon singt.

    Das ist der richtige Weg bzw. könnte es sein. Oder die Szene ist eben mit sich zufrieden, bleibt unter sich und stirbt irgendwann aus.


    Ich freue mich wie immer auf energischen Widerspruch und Richtigstellungen!



    Beste Grüße ....MDM :hello:

    >>So it is written, and so it shall be done.<<

  • Wenn ich mich recht erinnere, dann hat Rheingold das einmal gut erklärt, dass man eben in der Regel ein gewisses Alter braucht, um Gedichte schön zu finden, die eben die Basis für ein Kunstlied sind, deshalb kann das Durchschnittsalter beim Publikum eines Liederabends nicht um die dreißig herum liegen.

    Das kann ich zumindest aus meiner eigenen Erfahrung heraus nicht bestätigen. Ganz im Gegenteil, ich habe schon als Teenager angefangen, Lyrik zu lesen, und am intensivsten habe ich mich wohl in meinen Zwanzigern damit beschäftigt. Und ich kenne auch heute Menschen dieses Alters, die Gedichte lesen. Ob das dann immer diejenigen Gedichte sind, die von Schubert, Schumann oder Wolf vertont wurden, ist eine andere Frage.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Ist das richtig so, was ich da eben geschrieben habe oder bin ich immer noch auf dem Holzweg?


    Lieber MDM,

    ich will mal versuchen etwas Licht in das Dunkel Deiner Vorstellungen zum Liederabend und seinen Besuchern zu bringen.

    Zunächst stelle ich einige Fotos ein, welche einen Blick aufs Publikum vermitteln, also Leute zeigen, die eine Lied-Matinee oder einen Liederabend besuchen.

    Das erste Bild entstand im Rahmen einer Lied-Matinee, die am 6. Oktober dieses Jahres im Opernhaus Stuttgart stattfand, also ein relativ aktuelles Dokument.


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    Foto vom Innenraum der Stuttgarter Staatsoper: Reiner Pfisterer


    Auf den beiden folgenden Fotos ist Liederabend-Publikum im sommerlichen Bregenzerwald zu sehen. In dem kleinen Ort Schwarzenberg (ca.1800 Einwohner) werden in den Sommermonaten viele, viele Kunstlieder von ersten Vertretern des Faches dargeboten und locken auch internationales Publikum an.

    Der wunderschöne, moderne und ganz aus Holz gefertigte Konzertsaal bietet sechshundert Zuhörern Platz.


    schwarzenb66kdp.jpg


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    Der Konzertsaal in Schwarzenberg fügt sich wunderbar in die Landschaft ein


    Sozialstudien habe ch hier noch keine gemacht, aber die meisten sind wohl des Lesens kundig, sonst würden sie ja keine Programmhefte mit den Liedtexten kaufen »kleiner Scherz«.

    Aber im Ernst - ich habe einfach den Eindruck, dass sich hier überwiegend Leute versammeln, die an einer bestimmten Qualität von Musik interessiert sind.

    Die von Dir angesprochene »HUUURZ-Geschichte ist ja ganz köstlich gemacht, da ist Hape Kerkeling auf Augenhöhe mit den ganz großen Interpreten ... eine tolle Karikatur! Eine wunderbare Sache, als er der Dame nahe bringt, dass sie nicht in der Lage ist ihm intellektuell zu folgen.

    Aber auch hier habe ich im Konzertsaal schon Dinge erlebt - natürlich nicht in dieser auf die Spitze getriebenen Art - die in diese Richtung des Vortrags gingen ... im Feuilleton kann man dann lesen, dass es ein anspruchsvolles Programm war ...

    Kunstlied ist also sozusagen vertonte Lyrik. Man könnte das Gedicht einfach so aufsagen. Aber um ein Maximum an dessen herauszuholen, was der Dichter da aufgeschrieben hat, das letzte Quentchen Bedeutung herauszuarbeiten, kann man es singend, gelegentlich auch halb sprechend ,mit Klavierbegleitung vortragen.

    Hierzu ist zu bemerken, dass so manches Gedicht längst im Orkus der Geschichte verschwunden wäre, wenn es geniale Komponisten nicht durch ihre Musik veredelt hätten.


    Es geht im Gegensatz zum Volkslied also nicht vorrangig um den schönen Klang, sondern die musikalische Untermalung dient dazu, die Bedeutung des Gedichttextes zu optmieren.

    Also nehmen wir mal ein ganz bekanntes Gedicht, »Der Erlkönig«, sowohl von Franz Schubert als auch Carl Loewe kongenial vertont, aber keineswegs musikalisch untermalt; Goethe war die Untermalung seines Textes natürlich lieber, er sah es nicht gerne, wenn sich die Musik so in den Vordergrund drängt. Man darf vermuten, dass die »Erlkönig«-Vertonung durch Schubert ganz wesentlich zur Verbreitung von Goethes Text beigetragen hat.


    Oder die Szene ist eben mit sich zufrieden, bleibt unter sich und stirbt irgendwann aus.

    Der Liedpianist Burkhard Kehring sagt: »Wer zu einem Liederabend geht, hat genug von der Oberflächlichkeit«.

  • Lieber hart,


    ganz herzlichen Dank für die Mühe, die Du Dir gemacht hast, vor allem auch für die aussagekräftigen Fotos. :thumbup:


    Ich sehe jetzt schon wesentlich klarer. Na, dort sind ja durchaus auch vereinzelt jüngere "Semester" auszumachen.


    Damit wird ja eigentlich Deine frühere Aussage


    Sorgen mache ich mir da weit mehr um das Publikum

    wohl doch ein wenig relativiert.


    Der Liedpianist Burkhard Kehring sagt: »Wer zu einem Liederabend geht, hat genug von der Oberflächlichkeit«.

    Das ist wohl wahr. Das Letzte, was ich Helmut Hofmann oder Dir vorwerfen würde, wäre Oberflächlichkeit. Eure Beiträge und präzisen Analysen hier im Klassikforum ließen eine solche Vermutung nie aufkommen, eher ein kleines bisschen vom Gegenteil.;);) Aber das soll niemanden abschrecken, sich intensiv in die Materie Kunstlied einzuarbeiten, Neu-TAMINO Wilfried :hello: beispielsweise ist ja schon voll dabei. Ich bin mir sicher, die Früchte dieser Arbeit werden wundervoll schmecken.:thumbup:


    Gut, mal sehen, ob es noch andere Meinungen oder Ergänzungen gibt. Ansonsten nochmals Dank, einen schönen Abend und man liest sich!



    LG....MDM :hello:

    >>So it is written, and so it shall be done.<<

  • Ergänzend zu dem vorangehenden Beitrag von hart:

    Der Sänger und Liedinterpret Thomas Quasthoff auf die Frage "Wie würden Sie die Zukunftsaussichten für den Liederabend einschätzen: Gibt es genügend Sängernachwuchs, ist noch ein interessiertes Publikum vorhanden, und welche Rolle spielen die Veranstalter?"


    "Ich glaube, dass wir in Deutschland wieder Sänger haben, die nicht als großer Opernstar Liederabende geben, weil das irgendwie >dazugehört<, sondern denen es wirklich um das Lied geht. Ich denke etwa an Boje Skovhus, Thomas Hampson, Andreas Schmidt, OLaf Bär, Matthias Görne und, ohne arrogant zu sein, an mich. Natürlich gibt ea nicht nur in unserem Stimmfach entsprechenden Nachwuchs - stellvertretend für alle anderen nenne ich nun einmal Christoph Prégardien, Juliane Banse und Ingeborg Danz. Junge Sängerinnen und Sänger, die sich intensiv dem Lied widmen, sind also vorhanden! Ich glaube, diese neue Generation hat auch verstanden, dass der Liedgesang Medizin für die Stimme sein kann (…). Und ich denke, dass es wieder genügend intelligente Sänger gibt, die sich darauf einlassen wollen und können, ihrem Publikum eine Geschichte zu erzählen. Sänger, die dieses pure Erlebnis - nur Klavier und Gesang - reizt.


    Ein Publikum, das dafür Interesse hat, ist meiner Erfahrung nach auch wieder vorhanden. Ich habe in den letzten Jahren keinen einzigen schlecht besuchten Liederabend erlebt, und das in verschiedenen Ländern von England bis Spanien, wo es das typische Liederabend-Publikum eigentlich gar nicht gibt. Es hat wohl vor allem mit der Art der Präsentation zu tun: Ein Sänger, der mehr will, als >schön< zu singen, der kann sein Publikum auch erreichen! Innerer Tiefe, etwas Lebenserfahrung und einer persönlichen Ausstrahlung bedarf es schon für den Liedgesang. Der Ausdruck ist meiner Ansicht nach so wichtig, dass man um seinetwillen auch den Mut haben muss, vom <schönen< Singen Abstand zu nehmen. Man muss weg von dieser CD-Mentalität: alles möglichst glatt, perfekt und ohne Ecken und Kanten! Ich glaube, dass das Publikum es gerade schätzt, wenn man sich auf diese Ecken und Kanten einlässt.


    Die Musik von Schubert, Schumann, Brahms wird sicher nie sterben: Sie ist einfach zu gut! Und derzeit haben wir genügend Sänger, die dieser Qualität auch gerecht werden können. Die älteren Vertreter der Presse wie des Publikums müssen eben akzeptieren, dass eine neue Sängergeneration da ist, die die Interpretation auf ihre Weise angeht! (…) Ich denke, wir alle gehen mit der notwendigen Ernsthaftigkeit an die Sache heran. Und ich kann nur an das Publikum appellieren, in diese Konzerte zu kommen: es lohnt sich - denn die Musik ist ungeheuer reich! Sie beschenkt uns alle: Die Interpreten wie die Zuhörenden. Für zwei Stunden kann man hier seine alltägliche Welt mit allem Frust, Ärger und Stress einmal hinter sich lassen und in eine andere Welt eintauchen … Wo sonst kann man diese Ruhepole noch finden?

    Die Kunstgattung Lied trifft - wenn der Interpret gut ist - das Publikum besonders tief, eben weil der Sänger die Zuhörer so unmittelbar anspricht. Und die menschliche Stimme ist uns allen näher als jedes Instrument. (…)" (16.1.1996, Hannover)


    Diese Äußerungen Thomas Quasthoffs sind zwar inzwischen über zwanzig Jahre alt, sie sind aber auch heute noch zutreffend, denn es ist inzwischen eine wiederum neue Generation von fähigen Liedinterpreten herangewachsen. Neben vielen Liederabenden wird das Kunstlied in Deutschland auch an einzelnen Orten in besonderer Weise gepflegt. Außer dem von hart schon erwähnten Schwarzenberg möchte ich noch auf Heidelberg verweisen und ferner vor allem auf den Kissinger Sommer und die Konzertreihe für das Kunstlied-Forum Gütersloh.

    Im übrigen ist diese Pflege auch hier bei uns im Tamino-Forum gut dokumentiert: In dem von Liedfreund hart eingerichteten Thread Der besondere Liederabend. , den ich unserem Tamino-Freund MDM - anders als das, was ich hier zum Kunstlied zu sagen habe - besonders ans Herz legen möchte.


    Den von Thomas Quasthoff angesprochenen Aspekt des unmittelbaren Angesprochen-Werdens durch die gesangliche Interpretation halte ich für besonders bedeutsam. Das romantische Klavierlied ist eben nicht - wie ich das hier in diesem Thread ziemlich verdutzt, ja mit Betroffenheit lesen musste - ein schlichtes in Musik-Einkleiden von lyrischem Text. Es stellt eine musikalische Interpretation von Lyrik dar und ist also, wie diese, die unmittelbarste, weil genuin als Ich-Aussage erfolgende und auf diese Weise existenziell relevante Aussage, die Kunst zu machen vermag. Nicht ohne Grund ist das Kunstlied, wie Alfred Einstein einmal treffend bemerkt hat, "diejenige Kunstgattung", "in der die Romantik sich am reinsten und am freiesten äußert".

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