Franz Schubert: Romantiker, klassischer Romantiker? Interpretationswege am Beispiel der Klaviersonate Nr 21 in B-Dur D 960

  • I. Artur Schnabel (Aufnahme 25. u. 26 Januar 1939) und Wilhelm Kempff (DGG Januar 1967)


    Für die Diskussion:


    Interpretationsvergleiche Klavier - Diskussionsforum


    Franz Schubert, Klaviersonate Nr. 21 B-dur D.960, CD (DVD)-Rezensionen und Vergleiche (2017)


    A. Einführung


    „Schuberts Klaviersonaten blieben mir in der Jugendzeit bis auf wenige Ausnahmen ein Buch mit sieben Siegeln. Ich hielt mich an die große a-moll-Sonate op. 42 (D 845) weil sie mir Beethovens Geist verwandt schien. Noch wußte ich nicht, welch herrliche Aufgabe meiner wartete, mich an der Hebung der verborgensten Schätze aus der unergründlichen Tiefsee der Musikseele Schuberts beteiligen zu dürfen.“ (...) „Daß ich damals (mit >damals< ist die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gemeint) jede Gelegenheit suchte, um mich als Begleiter seiner Lieder zu betätigen, das sehe ich heute als meine wertvollste Vorbereitung für das allmähliche Eindringen in die Schubertsche Klangwelt an, eine Klangwelt, von der der Sänger Vogel, Schuberts erster bedeutender Interpret, so schön sagte: Schubert >ahnet gar nicht, was in seinem Innern lebt! Das ist eine unerschöpfliche Flut!<“


    „Die meisten seiner Sonaten sollten nicht in das grelle Rampenlicht der Riesenkonzertsäle gezogen werden, da es sich um Bekenntnisse einer höchst verletzlichen Seele handelt, mehr noch um Monologe, oft so leise geflüstert, daß der Klang im Raum verhallt (im dreifachen Pianissimo verrät uns Schubert die tiefsten Geheimnisse). (...) Nein, dem Virtuosen bieten sich bei ihm keine lohnenden Betätigungen. (...) Wegen des vorwiegend lyrischen, epischen Charakters der Sonaten Schuberts gibt es Probleme zu lösen, die uns der männlich disponierende, in lapidarer Sprache zu uns redende Beethoven erspart. (...)

    Sein Geist ist eingemündet in die >unerschöpfliche Flut<.


    Wenn Schubert seine Zauberharfe ertönen läßt, ist uns dann nicht zumute, als schwebten wir losgelöst von aller Materie in einem Meer von Tönen? Ein Naturgeist ist Schubert gewesen, eng mit dem Atmosphärischen verschwistert. Das Eckige. Kantige war nicht seine Art. Das Fließende, unaufhörlich Quellende, von dem so viel in seinen Liedern gesungen wird, war teil seines Wesens. Darum konnte nur er, zum zweiten Orpheus geworden, Goethes >Gesang der Geister über den Wassern< vernehmen:


    Des Menschen Seele
    Gleicht dem Wasser:
    Vom Himmel kommt es,
    Zum Himmel steigt es,
    Und wieder nieder
    Zur Erde muß es,
    Ewig wechselnd.“


    Wilhelm Kempff (1970)


    Schubert gehört zu den Komponisten, die sehr einseitig rezipiert wurden. Populär war der Liedkomponist, nicht aber der Symphoniker und vor allem nicht der Schöpfer von großen Klaviersonaten. Was Wilhelm Kempff hier formuliert, ist bezeichnend: Das Maß aller Dinge in Sachen Klaviersonate war für ihn Ludwig von Beethoven. In seiner Pianistengeneration ist man offenbar noch weit davon entfernt, Schuberts Klaviersonaten als einen eigenständigen Beitrag zu dieser Gattung zur Kenntnis zu nehmen. Wie Kempff verrät konnten Schubert-Sonaten überhaupt nur deshalb vereinzelt sein Interesse wecken, insoweit er in ihnen Beethoven wiederfand. Einem großen Pianisten wie Sergei Rachmaninow waren Schuberts Sonaten nicht einmal bekannt und Virtuosen wie Vladimir Horowitz oder Artur Rubinstein nahmen die B-Dur-Sonate D 960 als einzige der Schubert-Sonaten erst sehr spät – in den 50iger (Horowitz) und 60iger (Rubinstein) Jahren – in ihr Repertoire auf. Rubinstein spielte in jungen Jahren lediglich die Wandererfantasie. Das große Verdienst, Schuberts Klaviersonaten auf dem Konzertpodium einem breiten Publikum bekannt zu machen und so aus der Vergessenheit zu holen, gebührt Artur Schnabel, der sogar die drei letzten großen Sonaten D 958, D 959 und D 960 an einem Abend aufführte. Schuberts letzte Klaviersonate D 960 ist wohl die meistgespielte aller Schubert-Sonaten, gerade auch von solchen Pianisten, die sich ansonsten weniger intensiv mit seinem Sonatenkosmos beschäftigen. Die Gründe dafür liegen ganz sicher in ihrer berührenden Schönheit, aber nicht zuletzt auch in der Liedhaftigkeit besonders dieser Sonate. Die B-Dur-Sonate entspricht damit genau dem Bild, wie man Schubert immer wahrgenommen hat: als „den“ deutschen Liedkomponisten schlechthin. Allein diese Tatsache zeigt den Zwiespalt, der in der Zuwendung zu Schuberts Klaviersonaten deutlich wird: Entweder man rezipiert Schubert als einen Beethoven-Epigonen oder sieht seinen Beitrag zur Gattung Klaviersonate gar nicht gattungsspezifisch als den Ausflug des Liedsängers in eine ihm im Grunde fremde Welt. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, mit einem Vergleich der Interpretationsansätze bei Artur Schnabel und Wilhelm Kempff zu beginnen. Denn hier handelt es sich um zwei Pianisten aus der älteren deutschen Tradition, die sich Schubert offensichtlich von Beethoven ausgehend erschlossen – Schnabel war bekanntlich der erste Pianist, der Beethovens sämtliche 32 Klaviersonaten aufnahm, eine bis heute exemplarische Einspielung. Bei Schnabel und Kempff kann man exemplarisch nachvollziehen, wie sich das Bild von Schubert als Ernst zu nehmendem Komponisten von Klaviersonaten formt – zwischen den Polen der Abhängigkeit von Beethoven und eigenständiger Romantik, wie sie sich in der Orientierung am Melodisch-Liedhaften zeigt.


    Bevor ich mich den beiden Interpretationen konkret zuwende, möchte ich aber zuvor einen – vielleicht den entscheidenden – Aspekt des Verhältnisses von Beethoven und Schubert in dieser Rezeptionsgeschichte noch etwas vertiefend betrachten. Schubert sei ihm in der Jugend ein „Buch mit sieben Siegeln“ geblieben, bekennt Wilhelm Kempff. Gleichwohl widmet er sich sehr intensiv und mit Begeisterung Schubert als Liedbegleiter. Warum eigentlich? Mehr oder weniger versteckt formuliert Kempff damit den grundlegenden Vorbehalt Schuberts Sonatenkosmos gegenüber: Diese Musik Schuberts sei zu lyrisch intim, um im großen Konzertsaal Gehör zu finden. Mit einem solchen Urteil steht Wilhelm Kempff nun nicht alleine, denn auch Vladimir Horowitz etwa empfand Schuberts Sonate B-Dur lange als „viel zu lang, zu stark nach innen gekehrt“, um sie in seine Konzertprogramme aufzunehmen. Intimität – neben den berühmt-berüchtigten „himmlischen Längen“ – ist also der entscheidende Einwand, welcher einer öffentlichen Aufführung der Klaviersonaten Schuberts überhaupt und der B-Dur-Sonate insbesondere im Wege steht. Hinter solchen Skrupeln kann man nun mit guten Gründen jene romantische Tradition vermuten, welche die Musik „verweltlichen“, aus den Privatzirkeln des bürgerlichen Haushalts und der Kirche befreien und in den Konzertsaal bringen will. Gustav Mahlers Geringschätzung von Kammermusik, die in einem aufschlussreichen Brief an eine Schülerin dokumentiert ist, resultiert daraus – nicht zuletzt deshalb transkribierte Mahler Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen für großes Orchester. Für die romantische Tradition ist vor allem die Symphonie diejenige Gattung, welche für das große öffentliche Konzert auf der Weltbühne bestimmt ist. Dies gilt aber sicherlich in zunehmendem Maße auch für die Klaviersonate, nachdem Franz Liszt den reinen Klavierabend als große Konzertveranstaltung etabliert hatte. Schubert verfehlt im Selbstverständnis dieser Tradition offenbar das, was man von der Gattung Klaviersonate erwartet: ein kontrastreiches musikalisches Drama, was den großen Konzertsaal füllen und gerade nicht „unter vier Augen“ (so Claude Debussy zu seinen betont intimen Préludes) aufgeführt werden soll. Das Kunstlied insbesondere hat immer den Zug des Privat-Intimen behalten, weswegen es auch anleuchtet, dass Schubert in diese Nische gesteckt und entsprechend auf das Lyrische eines romantischen Liedsängers festgelegt wird, was wiederum die Kehrseite hat, dass er mit Beethoven, „dem“ Komponisten für das Sonatensatzdrama im großen Konzertsaal, nicht ernsthaft konkurrieren kann. Tritt Schubert nun aus dieser Nische heraus, dann muss sich für solche in der Beethoven-Tradition aufgewachsenen Pianisten wie Schnabel und Kempff die fast schon aporetische Frage stellen, wie Schuberts Beitrag zur „dramatischen“ und „weltlichen“ Gattung der Klaviersonate zu bewerten ist: Kann Schubert gegenüber Beethoven in dieser Gattung überhaupt bestehen? Ist ein „lyrisches“, „liedhaftes“ Sonatensatzdrama nicht so etwas wie ein hölzernes Eisen? Und genau auf diese Frage finden Kempff und Schnabel, die sich letztlich von Beethoven ausgehend einen Zugang zu Schuberts Sonatenkosmos erschlossen haben, eine konträre Antwort, die deshalb für die Interpretationsgeschichte so aufschlussreich ist, weil sie eine Weggabelung und alternative Orientierung bedeutet: Schubert, der Komponist der Klaviersonate als Klassiker im Geiste Beethovens oder als Schöpfer einer neuen, klassischen Romantik.


    Dass Schnabel und Kempff Antipoden sind, zeigt sich gleich zu Beginn des Molto moderato, in der Art und Weise, wie das Liedthema vorgetragen wird. Es empfiehlt sich, die beiden Aufnahmen hier ausschnittweise hintereinander zu hören:




    Wenn man genau hinhört, entdeckt man, dass sich Schnabel penibel an die von Schubert notierten Bögen hält, also ganz im Sinne Beethovens „grammatikalisch“ denkt, einem musikalischen „Satz“ formuliert mit deutlich voneinander abgesetzten, einander ergänzenden Teilen, die sich zu einer artikulierten Phrase verbinden. Obwohl dies ein Schubertsches Liedthema ist, klingt dies so doch sehr nach „männlichem“ Beethoven, nach einer klassischen Themensetzung. Zweifellos hat Artur Schnabel einen wunderbar singenden Klavierton. Nur betrachtet er das Gesangliche als bloße Eigenschaft eines im Grunde klassisch formulierten musikalischen Themas und singt dieses entsprechend nicht romantisierend aus, will damit Schubert also gerade keine romantische Exklusivität zugestehen, die in Gegensatz zu Beethoven treten könnte. Ganz anders Wilhelm Kempff: Nicht nur wählt er ein flüssigeres Tempo. Die melodische Bewegung übergreift hier, Schuberts Spielanweisung „Ligato“ geradezu gegen die notierten Bögen und Abschnitte ausgespielt, die Phrase und ihre Einteilungen, die folglich eingeschmolzen werden in einem melodischen Kontinuum: Statt einen musikalischem Satz mit Komma und Punkt zu formen macht Kempff aus dieser Melodie eine interpunktsfreie „unerschöpfliche Flut“; das Melos verselbständigt sich damit zum melodischen Prinzip einer fließenden Tonbewegung. Kempff löst damit musikalisch einleuchtend genau das ein, was er in seiner Erläuterung über den Wesensunterschied von Beethoven und Schubert ausgeführt hat: Beethovens Ecken und Kanten werden bei Schubert vom melodischen Fluss gleichsam weggespült. Es ist offensichtlich, dass Alfred Brendel, der sich schon früh den Namen des Schubert-Interpreten schlechthin erwarb, in seiner 1972iger Aufnahme sich nicht an Schnabel, sondern an Kempff orientiert: Auch bei ihm werden im annähernd gleichem flüssigen Tempo die Abschnitte, Phrasen und syntaktischen Interpunktionen in einer melodisierenden Homogenisierung aufgelöst. Allerdings wirkt Brendel im Vergleich mit Wilhelm Kempff doch etwas glatt. Das Großartige bei Kempff erfasst man im unmittelbaren Vergleich: seine unglaubliche Feinsinnigkeit, die grammatikalische Interpunktion als subtile Andeutung und damit den Anklang an Beethovens Satztechnik noch sachte durchscheinen zu lassen, während die Syntax bei Brendel in dieser frühen Aufnahme im melodischen Strom schlicht versunken ist, weswegen die Melodik so auch etwas grau-eintönig wirkt. Über diese „hintergründige“ Klassizität bei Kempff wird noch zu sprechen sein. Doch zunächst nun zu Schnabels Interpretation:

  • B. Artur Schnabel (Aufnahme 25. u. 26. Januar 1939)



    Dass auch Artur Schnabel Sinn dafür hat, dass Schubert nicht einfach Beethoven ist, zeigt der für die B-Dur-Sonate so charakteristischen Triller, mit dem das melodische Hauptthema ausläuft: Niemand sonst wohl haucht ihn so geheimnisvoll dahin im äußersten Pianissimo. Das ist ein magischer Moment der Stille – ein solches „Versiegen“ der Musik im Lautlosen gibt es bei Schnabel immer wieder: Die klassische Themensetzung, sie nimmt sich, statt mit Entschiedenheit sich selbst zu behaupten, „romantisch“ gleichsam wieder zurück, bekommt damit ein lyrisches Element, indem sich das nach Außen Gekehrte immer wieder nach Innen kehrt. Schnabels Klassizität zeigt sich in der Betonung, einem „gestoßenen“ akzentuierten Ryhthmus in der Melodik: der motorische Bewegungsimpuls und nicht das verfließende Melos dominiert den Sinn von Bewegung. Schnabel – wohl nicht zuletzt aus aufnahmetechnischen Gründen, die Aufnahme ist von 1939 – spart die Expositionswiederholung aus. Die Durchführung beginnt kraftvoll energisch. Dieser Schubert ist nicht passiv, sondern aktiv, stürmt und drängt. So gliedert sich die Durchführung auch in zwei Teile. Schnabel baut eine Steigerung auf, wo er das Mittel der Tempobeschleunigung nutzt, um nach dem Kraftausbruch wieder in ruhigere Tempogleise zurückzukehren. Die Erinnerungsepisode im Pianissimo gelingt wunderschön. Wiederholt setzt Schnabel Fermaten ein, um die Musik zu konzentrieren, zu verdichten.


    Das Andante sostenuto ist schwer beeindruckend – zeigt exemplarisch, wie Schnabel es gelingt, Schubert in einen romantischen Klassiker zu verwandeln. Da wird nicht sentimentalisiert oder expressionistisch subjektiviert; Schnabel zeigt den „getragenen“ Ton durch die „tönend bewegte Form“, die Art und Weise der Darstellung der Bewegung. Das Tempo „schleppt“, den Sinn des „Schreitens“, der zu einem Andante im Unterschied zum Adagio gehört wie auch den „getragenen“ Charakter, beides trifft Schnabel ideal, indem das schreitende Andante die Gestalt eines schleppenden Gangs und schweren Schritts annimmt. Schwermut, sie wird also nicht empfindsam durch eine Stimmung oder irgendeine Gefühligkeit dem Hörer vermittelt, sondern purifiziert als das, was sich in der Musik als die reine Darstellungsqualität einer Tonbewegung zeigt, abstrahiert gleichsam von einer sich bekundenden Ausdrucks- und Gefühlsqualität allein in der die Bewegungsrhythmik und ihrer besonderen Gangart. Von daher bekommen auch die Fermaten Sinn, die Schnabel immer wieder einsetzt, um die sich darstellende Bewegung ausducksvoll erscheinen zu lassen, die sich im Moment der Ruhe konzentrierend verdichtet. Innerlichkeit, sie meldet sich durch die Zurücknahme ins Leise und eine „gedankenschwere“ Besinnlichkeit im Vortrag. Den Wechsel des Tons im Mittelteil arbeitet er deutlich heraus, die thematischen Kontraste der Motive im Beethovenschen Sinne betonend. Ungemein eindrucksvoll ist die Rückkehr zum Sostenuto-Teil: Ton für Ton betonend, jedem für sich Gewicht verleihend wird die Motivwiederholung zum besinnlichen Insistieren und Musik verwandelt sich in eine Denkbewegung von tiefer Nachdenklichkeit. Das ist wahrlich Tiefsinn zu nennen, mit dem Schubert hier interpretiert wird.


    Die gewisse bäuerliche Derbheit, die zu Beethoven gehört, sie ist auch im Scherzo zu spüren, das so gar keine Rokoko-Leichtigkeit hat, sondern die gewisse Unbekümmertheit und Unbehauenheit eines wilden Naturburschen zeigt. Herbe Kraft und unverbrauchte Energie sind es, die dieses Scherzo bei Schnabel prägen, der sein spielerisches Element keineswegs unterschlägt, aber eben nicht ästhetisierend und empfindsam kultivierend in den Vordergrund rückt. Die exzentrischen Bässe im Trio wirken linkisch, etwas plump derb und hinkend in der Bewegung. Die Natürlichkeit und Ausgelassenheit, die zu einem Scherzo gehört, sie versteht Schnabel hier offenbar im Geiste von Beethovens Pastorale als eine Freiheit des Auslebens von Bewegungsenergie, die von kulturellen, gesellschaftlichen Konventionen noch nicht abgeschliffen und domestiziert worden ist. Dabei bleibt festzuhalten, dass Schnabel die Struktur des Stücks geradezu glasklar klassisch verdeutlicht.


    Das Finale der B-Dur-Sonate könnte man bei Schnabel fast für Beethoven halten, so wie es durch die kontrastierend einander ergänzende Bewegungscharaktere gestaltet ist. Gleich der Beginn zeigt die klassische Abstraktion auf eine Gestaltung durch den Bewegungssinn: den Gegensatz des liegenden Tons als stehende Bewegung, der durch eine laufende abgelöst wird. Ungemein klar werden die thematischen Gegensätze herausgearbeitet, ein überragender und uns heute verblüffender musikalischer Sachverstand, der bei den führenden Musikern dieser Generation offenbar noch selbstverständlich war. Dieses Rondo-Finale hat bei Schnabel rein gar nichts von einer romantischen Verklärung des Endes, das Gezeichnetsein von Krankheit und Tod, zeigt vielmehr ein kerngesundes, stürmendes und drängendes Naturkind in einer sowohl unsentimentalen als auch von subjektivistischen Exzessen eines Ausdrucks-Expressionismus freien klassisch-dramatischen Gestaltung. Aber Schnabel verfehlt damit das Romantische keineswegs, behält vielmehr das Gespür für romantische Semantik inmitten solcher Klassizität. Zum Ende schließlich bekommt das Hauptmotiv merh und mehr eine überdrüssig-trotzige Note. Wie sich das klassisch kräftige Hauptthema des Kopfsatzes romantisch verinnerlichend ins Intime eines verlöschenden Trillers zurücknimmt, so läuft hier das nur scheinbar unbedarfte Stürmen und Drängen aus ins Lyrische von Trauer, ein leises Verzagen, was den Schlusspunkt markiert. Das nach außen gewendete Klassisch-Dramatische mit all seiner Kraft, es enthüllt sich damit zuletzt als nicht einfach naiv-ungebrochen, vielmehr meldet sich als seine Kehrseite spezifisch romantische, nach innen gewendete Schwermut und Trauer.


    Artur Schnabels Zugang zu dieser großen, letzten Schubert-Sonate bestimmt der Versuch, zu zeigen, dass Schuberts eigenständiger Beitrag zur Gattung Klaviersonate darin besteht, dass er hier gerade nicht der Liedsänger ist, sondern dem Sonatengeist Geist Beethovens verpflichtet bleibt. Dieser „letzte“ Schubert hat Saft und Kraft, liegt gerade nicht entkräftet auf dem Totenbett, wie das sentimentale Klischee glauben machen möchte, gibt sich somit auch nicht passiv einer Melodieseligkeit hin, sondern lebt sich aktiv aus mit der Energie eines jugendlich gebliebenen Stürmers und Drängers. Die typisch romantische Expressivität von Schwermut, Trauer, Verzweiflung und Verzagen, sie wird deshalb bei Schnabel auch nicht vom Lied und der Melodik her mit den „romantischen“ Mitteln empfindsamer Verklärung zum Ausdruck gebracht, sondern klassisch durch die „tönend bewegte Form“, den wechselnden Charakter der Bewegungen und Bewegungsrhythmen. Schnabel gelingt damit das Wunder, das Romantische mit den Mitteln von Beethovens Klassik hervorzubringen und so Schubert der Klassik Beethovens ebenbürtig zu zeigen: Schuberts Konzeption der romantischen Klaviersonate als die Möglichkeit von klassisch-unsentimentaler Romantik.

  • C. Wilhelm Kempff (Aufnahme DGG Januar 1967)



    Man darf mit Fug und Recht behaupten, dass der große Melodiker Wilhelm Kempff, welcher wohl wie kaum ein Anderer ein Klavierstück in reinen Gesang verwandeln konnte, wahrlich der Antipode von Artur Schnabel in Sachen Schubert-Interpretation war. Haben wir Artur Schnabel die Pioniertat zu danken, Schuberts Klaviersonaten auf dem Konzertpodium als Beethoven ebenbürtige in wirklich großartigen, beeindruckenden Interpretationen etabliert zu haben, so ist Wilhelm Kempff die Ehre zu erbieten für die ebenso große wegweisende Leistung, zu einem ganz eigenen Schubert-Interpretationsstil zu finden, Schuberts Klaviersonaten damit nicht mehr nur – wie es bei Schnabel geschieht – als romantisch modifizierte Beethoven-Klassik am Maßstab Beethoven immer noch zu messen. Schubert ist bei Kempff wirklich originärer Schubert, wird emanzipiert von Beethoven zum Beethoven-Antipoden und gerade dadurch erst richtig „schön“ und berührend. Kein Wunder deshalb, warum Kempffs „singender“ Schubert so viele Nachahmer unter den Pianisten von gestern und heute gefunden hat. Der Klaviersatz Schuberts erscheint bei Kempff vom melodischen Fluss ganz durchdrungen; die Musik, sie wird damit durch und durch Melodie, aber nicht etwa im Sinne einer eindimensionalen, monotonen Homophonie, welche sich nur an der stimmführenden Kantaline entlanghangeln und alles Andere als nebensächliche Begleitung vernachlässigen würde. Im Molto-Moderato-Kopfsatz werden bei Kempff die begleitenden Stimmen zu einem die Melodie tragenden Klangteppich, aber nicht nur das. Ernst Kurth abwandelnd könnte man Kempffs melodischen Schubert-Stil als weder einstimmig noch vielstimmig, sondern „allstimmig“ bezeichnen


    Vielleicht meinte Kempff genau dies, wenn er sagt, es gäbe bei Schubert Probleme zu lösen, die Beethoven seinen Interpreten erspart hätte. Die Monotonie und Einebnung einer wirklich expressiv sprechenden Artikulation, das Rundschleifen des Eckigen und Kantigen durch das die Kontraste mäßigende melodische Kontinuum, es bringt die Gefahr von Eintönigkeit und vor allem die der Reduktion dramatischer Kontrastierungen mit sich, die mit der Kontrastminimierung einhergeht. Dieses originäre Problem scheint Kempff intuitiv erkannt zu haben. Schaut man nämlich auf Kempffs Melodik ein wenig näher, denn findet man eine ganz andere Art von Kontrastierung: nicht sukzessiv durch die scharfe Gegenüberstellung von Motiven, Phrasen, Gedanken, dafür aber durch das in der melodischen Allstimmigkeit mögliche Hervortreten und Zurücktreten einzelner Stimmen aus dem Stimmengeflecht. Im Molto-moderato-Satz führt Kempff diese Kunst wahrlich meisterhaft vor mit einer einnehmenden Schlüssigkeit und überragenden Musikalität, dem Sinn für das immer Organisch-Richtige. Alles kommt aus dem melodischen Kontinuum heraus und fließt in dieses wieder zurück. Über Kempffs einzigartiges Vermögen, auf dem Klavier zu singen, kann man nur ins Schwärmen geraten, über seinen äußerst flexiblen, blühenden Ton, über seinen immer saftig-homogenen Klang, sein Vermögen, zu schattieren, zu changieren, die Tongebung immer wieder sachte ins Intim-Leise zurückzunehmen. Da wird das Klavier quasi zur menschlichen Stimme und damit seines schnöde-technischen Charakters eines mechanisch hämmernden Instruments vollkommen ledig. Das ist der Gipfel der Kunst des Klavierspiels, den Wilhelm Kempff hier als einer der ganz Wenigen erreicht. Die Prägung und Schulung durch die Klaviersonaten Beethoven bleibt aber spürbar gerade auch in Kempffs höchst empfindsamem Melodisieren: Weder werden die Konturen aufgelöst in sentimentalisierender Weichzeichung noch verzärtelt er Schubert zu einem Pianissimo-Flüsterer. Das kräftige Forte klingt bei Kempff zwar niemals hart und damit nach willentlich entschiedenem Beethoven, sondern immer melodisch rund und singend, aber deshalb doch mit innerer Kraft. Kempffs Schubert ist in dieser seiner letzten Sonate weder ein Stürmer und Dränger und naiver Naturbursche noch ein vom Tode gezeichneter, der sich in kraftloser Passivität von sentimentaler Melodieseligkeit zum seligen Ende hintreiben lassen würde. Das Melodische erscheint vielmehr purifiziert als eine warmherzig vorgetragene, reine Schönheit. Das „Romantische“ daran ist seine empfindsame Feinheit und Feinsinnigkeit, eine bei Kempff wirklich authentische Intimität.


    Wie man die dramatische Dynamik einer Sonatensatz-Durchführung romantisch-melodisch gestalten kann, ohne sie sentimentalisierend zu eliminieren, führt der Altmeister auf bewundernswert schlüssige Weise vor: Der Ton beginnt singend aber verdichtend insistierend, so dass sich eine erwartungsvolle Spannung aufbaut vor allem durch leise aber bestimmt insistierende Bassrepititionen. Die Durchführung setzt die dynamischen Kräfte der Musik frei, aber nicht wie bei Beethoven als schroffe Entladungen von Kraft, die mit dem Umgebenden scharf kontrastieren, vielmehr entwickeln sie sich als Intensivierungen organisch aus dem dynamischen Kontinuum heraus, dessen Wogen höher schlagen, bis die große Welle ihren Gipfel erreicht und in sich zusammenbricht. Geradezu mystisch zauberhaft, wie Kempff die Verwandlungen des Themas in zarte Erinnerung in immer wieder neuen feinen Schattierungen vorführen kann. Kempff gelingt das Wunder, diesen Schubertschen Sonatensatz von Anfang bis Ende durchzusingen – an diesem klassisch purifizierten, schönen Gesang kann man sich einfach nicht satthören. Dass die B-Dur-Sonate zu den Werken gehört, die das „Schöne“ exemplarisch verkörpern, zum Schönsten, wozu Musik überhaupt fähig ist, bei Wilhelm Kempff wird es wirklich glaubhaft.


    Ein Ereignis ist auch das Andante sostenuto – gleichwohl es bei Wilhelm Kempff so völlig anders klingt als in der ebenso großartigen Interpretation von Artur Schnabel. Kempff versteht es hier, die Bassrhythmik als Teil der Melodik wirken zu lassen und so dem Traurigen zugleich einen leicht tänzelnden, aufmunternden Ton zu geben. Wieder einmal gerät man bei dieser hohen Kunst von Kempffs Klavierspiel ins Schwärmen. Nur könnte man einwenden, dass eine solche Trauer, die ihren Lebensmut offenbar nicht verloren hat, eigentlich kein „Sostenuto“-Ton ist. Statt getragen wirkt das Thema dafür aber sehr innig und das Wunder wird dann in der Folge deutlich: Kempff „entwickelt“ die Getragenheit intensivierend aus dieser anfänglichen Innigkeit heraus, die schließlich in der Wiederholung des Anfangs mit größter Intensität zum Ausdruck kommt. Diese beabsichtigte „Dramaturgie“ verrät sich schließlich im Mittelteil des Satzes. Kempff spielt hier nicht nur legato und sonor melodisch – wie weit weg ist das von Beethoven! – , sondern verleiht diesem Abschnitt einen Sostenuto-Charakter, so dass die getragene Stimmung als eine sich entwickelnde den ganzen Satz durchzieht. Nur noch Artur Rubinstein vermag es, diesem Abschnitt – im Choralton – einen ähnlich getragenen Ton zu geben. Märchenhaft – weil so ungemein „pianistisch“ realisiert – ereignet sich dann die Steigerung dieser getragenen Wirkung mit der Rückkehr in den Anfang des schreitenden Andante-Themas, der damit zum Kulminitationspunkt des ganzen Satzes wird. Der getragene Ton wird hier eindringlich empfindsam mit dem „Durchklingen“ der melodischen Motive, die gehalten zum Tragenden des Bassrhythmus werden: Tragende, also wirklich tragungsfähige Melodik wird damit zum Inbegriff von Getragenheit. Berührender und intensiver, sinnlicher und schöner – mit einem Wort: ästhetischer – kann man ein sostenuto auf dem Klavier nicht realisieren, als dies Wilhelm Kempffs feinsinnigste Spielkultur an dieser Stelle vermag.


    Wirkt das Scherzo bei Artur Schnabel eher derb wie das Spiel eines etwas tölpelhaft polternden Naturkindes, so bekommt es bei Wilhlem Kempff eine unvergleichliche Innigkeit und Zartheit. Kempffs eher langsames Tempo taucht das Scherzo-Thema ins Pedal, nimmt es also Ligato wie das Hauptthema des Molto-moderato-Kopfsatzes. Die Musik fließt damit gelassen dahin. Doch verleiht ihr Kempff einen gewissen kecken Humor durch aufblitzende rhetorische Akzente. Auch das Trio hört sich bei Wilhelm Kempff an wie das Gegenbild zu Artur Schnabel: Wo Schnabel betont unästhetisch ist, da ist Kempff ästhetisch, behält den melodischen Fluss bei, der zur zähflüssgen Lava wird, eine Schwerblütigkeit, die wunderbar sinnlich mit der Scherzo-Leichtigkeit und -zartheit kontrastiert. Gerade im Kontrast wahrt Kempff das Kontinuitätsprinzip, der Wechsel vom Leichten (im Scherzo) zum Zähflüssigen (im Trio) entwickelt sich bruchlos-organisch aus dem melodischen Fluss heraus. Angesichts der immer wieder betörenden malerischen Schattierungskunst von Wilhelm Kempff wird der Unterschied zu einem anderen großen Melodiker unter den Schubert-Interpreten sinnenfällig: Artur Rubinstein. Rubinsteins von Chopin her kommender Sinn für Melodik wahrt die immer formklare Linie, was der Nuancierung zwangsläufig Grenzen setzt, wo Kempffs nuanciertes Schattierungsspiel eine weniger linienhafte, sondern verfließende Melodik zur Grundlage hat.


    Wie ähnlich und doch so grundverschieden zugleich eröffnen Schnabel und Kempff das Finale: Auch bei Kempff setzt den Anfang ein „stehender“ Ton aufgehaltener Bewegung, der sich dann in fortlaufenden Motivbewegungen fortsetzt. Während jedoch Schnabel klassisch abstrakt den Formkontrast Ruhe-Bewegung darstellt, erfährt dieser Bewegungssinn von Kempff eine Ästhetisierung und Romantisierung, bekommt expressive und sinnliche Qualität: Der Ernst des aufgehaltenen Beginns wendet sich bei Kempff ins Anmutig-Spielerische, eine romantische Gelassenheit des Vorwartstreibens, die mit einem klassischem, energischem Forte-Auftrumpfen kontrastiert – freilich wiederum nicht scharfkantig wie ein Beethoven, sondern gerundet in einen romantischen, nunmehr kräftig singenden Ton transformiert. Auch hier findet Kempff den originären Schubert-Stil und -Ton, welcher dem Klassisch-Haltgebendenen, der Forte-Festigkeit von Kraft und Energie, eine romantisch-melodische und damit „freundliche“, kultivierte Stimmung gibt. Nicht eigentlich der eröffnende Molto-Moderato-Satz mit seiner aus einem dynamischen Kontinuum heraus sich entwicklenden Forte-Dynamik, wohl aber dieses Finale mit seinen Rondo-Zügen einer kontrastierenden Gegenüberstellung von „Blöcken“ energischer Kraft und anmutigem Spiel zeigt sich jedoch andererseits Beethoven verwandt. So aber ergibt sich mit der Melodisierung die Gefahr einer romantisierenden Entkräftung, der sentimentalisierenden Verweichlichung solcher klassisch „harten“ Züge. Hier zeigt sich letztlich die Großartigkeit von Kempffs Stilempfinden, indem er romantische Melodisierung nicht als vollkommene Entrhetorisierung begreift, vielmehr das Klassische im Romantischen präsent hält durch das Rhetorische: Der rhetorische Akzent wird zum aufrührerischen Gestus trotziger Willensaktivität inmitten der Passivität romantisch-melodischen Fließens. So bekommt das Forte-Thema und nicht nur dieses trotz melodischer Rundung eine männlich auftrumpfende Note: Schubert zeigt sich in diesem Rondo-Reigen zwar nicht als übermütiger Stürmer und Dränger, aber auch nicht willen- und kraftlos: Der rhetorische Akzent wird immer wieder zum Zeichen des Aufbegehrens. Auch die andere Gefahr, welche die romantisierende Melodisierung birgt, die einer Ästhetisierung nämlich, in der diese wunderbare Musik als ein allzu Schönes nur noch selbstgefällig genossen wird, bannen Kempffs rhetorische Akzente: Die Melodie ist auf diese Weise nicht nur schöner Schein, sie wird vielmehr rhetorisiert zum Ausdrucksträger, indem sich ein an der Welt leidendes Subjekt meldet. Genau diese Kundgabe von Subjektivität bildet den rhetorisch verdichtenden, ausdrucksintensivierten Schluss: Indem der erste Akzent des Rondothemas seine rhetorische Pointierung erfährt, wird das Motiv zum Unbeholfenen, hilflos Fragenden, worauf die Schlussgruppe mit einem trotzigen Auftrumpfen endet, so, als wollte sie alle trübsinnigen Zweifel lärmend übertönen.


    Wilhelm Kempffs Schubert ist der eines klassischen Romantikers, wo das Klassische als Andeutung im Romantischen indirekt präsent ist, nicht zuletzt durch den maßvollen und geschmackvollen rhetorischen Akzent als Lichtblitz klassischen Formwillens in romantischer Ton-inTon-Malerei. Kempffs überragende Bedeutung ist über die so glücklich gelungene Einzelinterpretation der B-Dur-Sonate hinaus die Findung eines originären Schubert-Stils, welcher liedhafte Melodik, Kraft und klassischen Formsinn nicht als ausschließende Gegensätze erscheinen lässt, vielmehr harmonisch miteinander verbindet. Man darf wohl die These wagen, dass Wilhelm Kempffs „romantischer“ Schubert genau deshalb die späteren Pianistengenerationen nachhaltiger und auch mehr geprägt als seine Alternative – Schnabels Klassizität. Doch ist damit nur ein wesentlicher von der Tradition her bestimmter Orientierungsrahmen markiert – die faszinierend vielfältigen Interpretationswege gerade der B-Dur-Sonate erschöpfen sich damit keineswegs, ordnen sich also auch nicht vollständig in ihn ein. So setzt etwa die nachhaltig einflussreiche Interpretation Svjatoslav Richters eine weitere zentrale Orientierungsmarke. Wie verbindlich solche etablierten Schubertbilder geblieben sind, in welchen modifizierten Sichtweisen sie weiter wirken oder durch andere ersetzt werden, soll das Thema der kommenden Untersuchungen sein. :) :) :)

  • Claudio Arrau (Aufnahme Philips, Mai 1980): Das Versagen des Trostes der schönen Form




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    Franz Schubert, Klaviersonate Nr. 21 B-dur D.960, CD (DVD)-Rezensionen und Vergleiche (2017)


    Claudio Arraus Aufnahme der B-Dur-Sonate gehört nicht zu denjenigen, die unsere Erwartungshaltung nach einem romantisch schönen Schubert bereitwillig erfüllen. Schon beim ersten Hören sprang bei mir der berühmte Funke der Begeisterung nicht über. Bei aller Bewunderung für seine Seriosität und Ernsthaftigkeit und seine große Ausdrucksfähigkeit empfand ich Arrau hier wenig idiomatisch. Genau das, was man an dieser Schubert-Sonate so liebt, den betörenden „reinen“ Gesang zum Dahinschmelzen, ihn kann und will Arrau wohl auch nicht vermitteln. Doch beim Wiederhören nach langer Zeit finde ich diesen so sperrigen, unidiomatisch scheinenden Arrau-Schubert auf einmal ungemein aufrüttelnd. Gehen wir der Sache also auf den Grund.


    In Ludwig Tiecks berühmtem Aufsatz „Symphonien“ findet sich das Credo romantischen Musikverständnisses formuliert: Solange Musik nur „erhöhte Deklamation und Rede“ sei, meint Tieck, ist sie nicht „unabhängig und frey“. Was sich damit vollzieht, ist die Abkehr von demjenigen Musikverständnis, das die abendländische Tradition über Jahrunderte maßgeblich prägte: musikalische Rhetorik. Rhetorisch verstanden hat der Gesang die Funktion der Sinnverdeutlichung durch Affektverstärkung. Das Singen orientiert sich damit am Sprechen, versucht dem Wort und Wortsinn mehr Gewicht und Wirkung zu verschaffen. Sprachorientierter, rhetorische Gesangsstil ahmt deshalb die Wort- und Satzzäsuren nach und vor allem die Wortakzente, die Hebungen und Senkungen der Wortsilben. Von diesem sprachgebundenden „deklamatorischen“ Stil emanzipiert sich nun die romantische Melodie. In der Romantik wandelt sich auf diese Weise – um es ein wenig manieriert auszudrücken – die deklamatorische Melodie zu einer rein musikalischen, melodische Melodie. Genau damit kommen wir zu dem, was Arraus Vortrag der B-Dur-Sonate so „sperrig“ macht für uns als Hörer, die wir gerade in dieser wunderschönen letzten Schubert-Sonate so etwas wie reine Romantik erwarten. Sehr gut nachvollziehbar wird dies, wenn man nur das melodische Hauptthema des Molto moderato-Kopfsatzes nimmt und hier Claudio Arrau mit Alfred Brendel vergleicht:




    Alfred Brendel, der nicht zu Unrecht den Ruf des führenden Schubert-Interpreten seiner Generation hatte, spielt diese Melodie mit Einfachheit und Schlichtheit: Sie wird bei ihm zu einem einheitlichen, großen Bogen. Brendel treibt dieser Schubert-Melodie das Deklamatorische gründlich aus, indem er linearisiert und homogenisiert: Es gibt keinerlei Unebenheiten, keine Zäsuren, keine aufreizenden Akzente, sondern die Melodie bewegt sich immer flüssig und bruchlos ihrem Verklingen im abschließend auflösenden Triller entgegen. So hören wir keinen komplex aufgebauten musikalischen „Satz“ wie bei Beethoven, der aus verschiedenen, einander ergänzenden Satzteilen und damit sprachanalogen Phrasen besteht, sondern Schuberts Melodie wird auf diese Weise durch und durch melodisiert eine einzige, ungeteilte Phrase. Diese bruchlose melodische Linie versucht es also gar nicht mehr, die Artikulation der gesprochenen Sprache nachzuahmen, weswegen sie auch nicht gliedernd verfährt und keine Akzente setzt und entsprechend nicht „beredt“, keine „Klangrede“ mehr sein will. Eine solche, die sprachdeutlich differenzierende Artikulation einebnende Entrhetorisierung befördert schließlich ästhetisch das, was die Romantik am Volkslied bewunderte: das Ideal eines ganz und gar Ungekünstelten, wie es das Naturschöne darstellt. All das macht Brendel mit seiner Homogenisierung des Melodischen hörbar.


    Dazu kommt aber noch ein weiteres Moment. Die romantisch emanzipierte, rein melodische Melodie zeigt sich auch satztechnisch in der vollkommenen Verselbständigung der Melodielinie, indem der musikalischer Verlauf voll und ganz von der Melodie getragen und weitergetragen wird. Schuberts Sonate prägt der lyrische, monodische Gesang. Auch dies steht in einem geistesgeschichtlichen Kontext. Die Romantik verstand Musik anders als die Geselligkeitskultur des 18. Jahrhunderts als Ausdruck des einsamen Ich, das sich solus ipse in quasi religiöser „Andacht“ in das musikalische Werk versenkt. Entsprechend ist die Gesanglichkeit in dieser letzten Klaviersonate Schuberts kein chorhaft-geselliges, sondern ein einsam-vereinzeltes Singen; der Sänger auf dem Klavier ist mit sich allein wie auch die homophone und nicht polyphone Melodik dieses Alleinsein vermittelt. Es gibt, wie Brendel diese Melodielinie auf dem Klavier aussingt, noch nicht einmal den Gegensatz von führender Melodiestimme und Begleitstimme; die Begleitung verliert jegliche Selbständigkeit, wird sozusagen vom melodischen Fluss vollständig aufgesogen. Auch dies erklärt ein Stück weit das Geheimnis, dass Schuberts Musik hier so berührend selbstverständlich klingt wie der Bach des Müllers, zwanglos nur aus sich selbst getrieben einfach nur fließt und weiterfließt, womit sie zur Apotheose eines einfachen Naturschönen wird.


    Bei Claudio Arrau sind wir nun in einer ganz anderen musikalischen Welt! Wo Brendel bruchlos ist, bricht Arrau die Melodie auf, akzentuiert statt die Akzente zu glätten und in einem melodischen Ebenmaß einzuschmelzen. Arrau deklamiert also statt romantisch zu melodisieren. Dazu kommt noch hinzu, dass bei ihm die Melodie nicht „trägt“. In seinen Meisterklassen versuchte Arrau, wie mir von einem seiner Schüler berichtet wurde, den Schülern eine allgemein verbreitete Gewohnheit abzugewöhnen: Auch ich habe im Klavierunterricht beigebracht bekommen, dass man bei Akkorden Druck in den kleinen Finger der rechten Hand legen muss, um die Melodiestimme, die ganz oben liegt, hervorzuheben und auf diese Weise herauszuheben, so dass die unteren Töne zur untergeordneten Begleitung werden. Genau das lehnte Claudio Arrau mit Leidenschaft ab. Helltönende Melodielastigkeit war für Arrau seelen- und leblos, weil die Seele und der Ausdruck für ihn in den tieferen und tiefen Tönen lag, welche die Melodiestimme oben unterfüttern und so der Musik vom Untergrund her Leben einhauchen, Saft und Kraft geben. Wenn man genau hinhört, erkennt man, dass Arrau die Akkorde einmal leicht arpeggiert und damit den Akkord nach unten gleichsam auffächert: Die im oberstimmendominierten melodischen Kontinuum eingenschmolzenen Töne treten auf diese Weise heraus. Zugleich unterbindet Arrau die Oberstimmendominanz dadurch, dass er bei den Dreiklangsakkorden der Melodiestimme die Hervorhebung der Töne immer wieder von der oberen auf die mittleren und unteren Töne verschiebt. Dadurch öffnet sich ein musikalischer Raum nach unten und es entsteht eine Kontrapunktik in der Stimmführung, welche aus der Homophonie eine Quasi-Polyphonie macht, mit der Arrau zudem die klassische Syntax einer Struktur der komplementären Ergänzung von melodischen Satzteilen unterstreichen kann. Was damit natürlich gleichsam „zerstört“ wird, ist jene Melodielastigkeit und selbstgefällige Melodieseligkeit, die gerade bei dieser letzten Schubertsonate so betören kann. Genauso wenig, wie sich Arrau bei Chopins Nocturnes nur an den Kantilenen entlang hangelt und statt dessen die „Widerhaken“ in den Unter- und Mittelstimmen hörbar werden läßt, rauht Arrau hier die Glätte des Melodisch-Schönen auf, die bei Brendel – um es metaphorisch zu sagen – fast so scheint, als sei sie die glattpolierte Oberfläche des Schönen einer Winckelmannschen Statue, und lässt so im Aufrauhend-Bewegenden das durchscheinen, was unter der glatten melodischen Oberflächenhaut liegt: die Organe und Adern, welche den Körper mit Lebenssaft durchpumpen.


    Doch noch etwas bei Arrau stört und zerstört erhaben-einfache und einfältige Liedromantik, die wir so gerne bei Schubert suchen und bei vielen Interpreten auch finden. Vergleicht man Claudio Arrau mit Artur Schnabel, dann gewahrt man das Verbindende aber auch das, was bei Arrau so ganz anders ist als Schnabels romantische Klassizität. Auch Schnabel akzentuiert und unterstreicht damit den klassischen Periodenbau, doch seine Artikulation bleibt leicht und dezent, schlicht, behält die Natürlichkeit und Ungezwungenheit des Romantisch-Naiven und ist so auch: einfach nur schön! Ganz anders Arrau, der bereits den Auftakt verscheppt und verzögert und mit einer Tempobeschleunigung in den ersten Takt startet. Dazu hebt er nahezu jeden melodischen Wendepunkt mit einem Akzent hervor. Wo Schubert nur auf der punktierten Halben in Takt 5 einen Keilakzent notiert, setzt ihn Arrau nahezu in jedem Takt, überfrachtet die Melodik damit gleichsam mit der Akzentuierung leicht-schwer. Genau damit bekommt seine Artikulation einen durchgehend deklamatorischen Charakter. Was so letztlich verloren geht, ist aber etwas Entscheidendes: romantische Gelassenheit, welche die Melodik gerade der B-Dur-Sonate zum Inbegriff eines Musikalisch-Schönen machen kann, wie es etwa so eindrucksvoll bei Wilhelm Kempff geschieht. Claudio Arrau lässt Schuberts Musik nicht ruhig gelassen sein, er wühlt sie statt dessen unruhig und beunruhigend von innen her auf. Damit nähert sich Arrau, der bezeichnend ein bedeutender Liszt-Interpret ist, Schuberts Musik von Liszt und Wagner her, indem er das selbstgenügsame Musikalisch-Schöne in eine subjektiv bewegte, musikalische Ausdrucksgebärde verwandelt.


    Was Arraus Interpretation der B-Dur-Sonate aber letztlich so besonders und einmalig macht, ist die Balance von Klassizität und einem tief schürfenden Ausdrucksbegehren, dass stets klassisch formbewusst kontrolliert bleibt und nie in expressionistische Exaltiertheit ausartet. Besonders im Kopfsatz, dem Molto moderato, gelingt Arrau diese Synthese meisterhaft, welche auch die Grundlage für seine grandiose Interpretation des Finalsatzes ist. Arrau versteht es, Schuberts Sonatensatz nicht auf eindimensionale Melodieseligkeit zu verkürzen, sondern als das Wechsel- und Gegenspiel von melodischen und amelodischen – rhythmisch-motivischen – Elementen zu zeigen. Dadurch bekommt die Musik Tiefe und Plastizität und gewinnt deutlich an Kontrastreichtum und damit Lebendigkeit. Es lohnt sich, Arraus Äußerungen über die B-Dur-Sonate, die er Joseph Horowitz gegenüber machte, in die Besprechung seiner Interpretation mit einzubeziehen. Dort äußert er sich zu der bei Interpreten mitunter heftig diskutierten Frage – man denke an den Disput von Alfred Brendel mit seinem Freund, dem kürzlich verstorbenen Paul Badura-Skoda – ob die Reprise im Molto-Moderato-Kopfsatz gespielt werden müsse oder nicht. Arraus Antwort ist eindeutig:


    „Sie muß gespielt werden. Weggelassen wird sie mit dem sattsam bekannten, lächerlichen Hinweis auf die Überlänge der Sonate. Das spricht nur gegen den Hörer, nicht gegen den Komponisten. Die Länge einer Komposition ist überhaupt kein zulässiges Kriterium Schubert braucht diesen langen, langen Atem.“


    Darauf folgt ein hoch aufschlussreicher Dialog:


    „J.H.: Wie deuten Sie den ersten Schluss der Exposition in Schuberts B-Dur-Sonate?

    C.A.: Der erste Schluß ist wie eine Frage – die Frage, ob all diese Traurigkeit und Melancholie notwendig ist.

    J.H.: Ein Ausbruchsversuch.

    C.A. Ja.

    J.H.: Und die Reprise selbst – welchen Sinn hat es, die Exposition hier noch einmal zu wiederholen?

    C.A. Es ist ein Zurückfallen in ein traurig schönes Gefühl...

    J.H: Ein verführerisches Winken des Todes wie im >Lindenbaum<.

    C.A. Ein Rufen, ein Rufen...“


    Mit dem „ersten Schluss“ ist der grollende Basstriller gemeint, welcher als Überleitung zur Expositionswiederholung fungiert, den Alfred Brendel als amelodische, unpassende Störung inmitten melodischer Homogenität empfand. Claudo Arrau gestaltet ihn kernig, nicht als romantische Verdämmerung in der Lautlosigkeit des Nichts wie Artur Schnabel, sondern als die Hartnäckigkeit eines sich immer wieder meldenden ungebrochenen Lebenswillens. Dessen Steigerung zur Geste des Aufbegehrens im Fortissimo zum Ende der Exposition wird aber nicht nur deshalb zum organischen Schlusspunkt, es ist die Inhomogenität von Arraus deklamatorischem Vortragstil, das Aufbrechen der reinen Melodik durch wechselnde Stimmengewichtungen sowie eine die Melodik exzentrisch stützende und antreibende rhythmische Bewegung, welche das Amelodische dieses Fortissimo-Einbruchs nicht zum Fremdkörper werden lässt. Wenn Arrau den Ausdruck dieser melodischen Exposition als „traurig schönes Gefühl“ bezeichnet, dann ist diese Schönheit sicher nicht eine ästhetizistische, naiv-romantische. Die fast schon laszive Verzögerung des Auftakts zu Beginn weist auf eine Störung des inneren Gleichgewichtes, ein Gequältsein, dass der schöne Schein nicht verdecken kann. Arrau spielt diesen Schubert-Satz gewiss nicht unschön – aber dieses von der deklamatorischen Ausdrucksgebärde gleichsam umklammerte Melodisch-Schöne ist nicht frei und vermag deshalb auch nicht zu berauschen, wird statt dessen zum mehr oder weniger Unscheinbaren, zu einem eher blass-traurigen Reflex.


    Artur Schnabel gegengehört im Andante sostenuto wirkt berührender und intensiver als Claudio Arrau. Das liegt bei Schnabel nicht zuletzt an den insistierenden Pausen, wodurch der Musik der Atem gleichsam immer wieder stockt. Arrau hält sich hier notentexttreu an das col pedale, wodurch das Thema melodisch runder und geschlossener wirkt. Keine Frage, dass Arrau es gelingt, das sostenuto zu realieren – und hier hat er auch einen vollen, schönen Ton. Die Melodie bekommt die Beseeltheit des Traurig-Schönen, wirkt innerlich-innig, aber eher zurückhaltend statt verzweifelt. Es ist jedoch keienswegs so, dass Arrau die „Gegenspieler“ der rechten Hand, die rhythmischen Figuren der Linken, rundschleifen würde. Höchst bemerkenswert, wie er sie flexibel gestaltet: Immer wieder wird die Achtel zum betonten Endpunkt. Steigert sich die Trauer dynamisch zur Leidenschaft, wird dieser Endpunkt zum aufreizenden Stachel, der auch nach der Beruhigung des Geschehens als ein Nachklang der Erregung wie ein leichter Hammerschlag dazwischenfährt. Zugleich bekommt die Musik damit die Abstraktheit eines Spätwerks. Das Gegeneinander von Gebundenem und Ungebundenem, von Haltgebendem und Verfließendem wird zu einem quasi abstrakten Formenspiel – der lyrische langsame Satz ich so nicht mehr nur das Zentrum für die sich auslebende Empfindsamkeit, er wird in der Verinnerlichung zugleich zum Ort der Besinnung, zur Transzendierung des Gefühls in die Ebene des rein Gedanklichen. Das ist einfach großartig!


    Hieße der Vortragende nicht Claudio Arrau, wäre man vom Scherzo enttäuscht: Weder ist das „Allegro“, noch „vivace“ noch „con delicatezza“ gespielt: Dieses so völlig ohne jede Brillanz erklingende Scherzo zeigt keine wirkliche Gelöstheit oder heitere Ausgelassenheit, wirkt statt dessen gemäßigt und gedämpft. Doch in Arraus Dramaturgie der Satzfolge macht diese „Unattraktivität“ Sinn: Die innere Angespanntheit, die Arraus Expressivo-Stil auszeichnet, sie entspannt sich hier, wird zu einer Art neutralisierenden Epoché, zur Geste der Zurückhaltung, sich der leidenschaftlichen Seelenbewegtheit einmal nicht sich aufreibend hingeben zu müssen. So präzise, so klassisch klar klingt dies fast wie ein Beethoven-Scherzo. Arrau versteht es jedoch wunderbar, den Fluss zu wahren. Das selbstverständliche Fließen, dass der „Wühler“ Arrau im Molto-moderato-Kopfsatz nicht zuließ, indem er den melodischen Fluss zu einem Wind- und Wellenspiel aufwühlte, in der Scherzo-Gelassenheit kommt es schließlich zum Vorschein. Die Sforzato-Querschläger im Trio gestaltet Arrau sehr plastisch. Aber auch hier bleibt sein Musizieren klassisch entspannt: Arraus musikalische Epoché bewegt sich im Rahmen der tönend-bewegten Form eines Musikalisch-Schönen, hält sich also damit zurück, die Motive expressionistisch in eine Ausducksgeste zu verwandeln – ein eindrucksvolles Zeugnis von Arraus musikalischer Unbestechlichkeit und Klugheit.


    Zum Schlusssatz der c-Moll-Sonate D 958 bemerkt Claudio Arrau im Gespräch mit Joseph Horowitz, dass er sie früher „fast anmutig-elegant“ gespielt habe. Nun aber empfinde er, „daß der ganze Satz tief tragisch ist, sehr nahe dem Gedanken an den Tod. Schubert hatte die Gewißheit, daß er sterben würde, als er die Sonate komponierte – wenn er wirklich Syphilis hatte.“ Auf die Frage, ob er auch bei der B-Dur-Sonate zu „neuen Erkenntnissen gekommen“ sei, antwortet Arrau:


    „Die Bedeutung des letzten Satzes, die ja so problematisch ist, wurde mir ganz klar. Ich weiß nicht, ob das auf der Platte richtig herauskommen wird, aber was ich jetzt am deutlichsten empfinde, ist die Ambivalenz des Themas. Erst kommt, erstaunlicherweise, G, sforzato, wie ein Trompetenstoß. Dann vier Takte in c-Moll, von wachsender Angst erfüllt. Und dann unvermittelt dieses Gefühl der Resignation und die Rückkehr zu B-Dur – die Todesnähe, als sei alles sinnlos geworden. Und das wiederholt sich immer wieder und wieder. Die Modulationen erzeugen unerhörte Spannung innerhalb dieses einen Themas. Ich habe bis jetzt noch niemanden die Sonate in diesem Sinne spielen hören, aber ich bin zutiefst überzeugt.“


    Arraus Selbsteinschätzung kann man glaube ich nur zustimmen! Es gibt kaum eine andere Interpretation, welche dieses Allegro-Finale so illusionslos und jede Art von ästhetischem Schein verflüchtigend vorträgt. Jegliche Erinnerung an ein lösend-erlösendes Kehraus-Rondo hat Arraus expressiver Vortragsstil hier vertrieben. Da gibt es keine Spielfreude, die den musikalischen Gang vorantreibt, nur ein fast schon widerwilliges Getriebenwerden – ein „klassischer“ Kehraus, der zur Pflichtübung geworden das Drama nicht mehr ins Heitere wendend verklärend aufhebt, sondern zum dramatischen Zentrum des Satzes wird. Die Musik wird – angesichts des Persönlichsten, des nahen Todes – zur exklusiven Selbsterfahrung, zur Apotheose des Subjektiven im Ausdruck von absoluter Vergeblichkeit, des sinnleer Überdrüssigen. Bezeichnend, dass der Vortrag des musikalischen Geschehens hier seine objektivierende Distanz verliert, Arrau mit Temposchwankungen arbeitet, fiebrigen Beschleunigungen und Verlangsamungen, wodurch sich die objektive Zeit in pulsierend atmendes subjektives Zeitempfinden verwandelt: Konstante musikalische Zeit, sie wird damit psychologisiert, verwandelt in das unstete Maß von Erlebnis-Zeit. Dazu passt Arraus trockener Ton: Schuberts melodischer Fluss ist wie ein fast ausgetrocknetes Wadi, zur bloßen Erinnerungsspur geworden von dem, was einmal war und nicht mehr ist: ein vertrocknender, im toten Sand versiegender melodischer Fluss. Die Musik hat sich damit vom Zwang verabschiedet, die Lösung eines Dramas und seines Lebensrätsels zu geben, verschreibt sich nicht etwa dem tröstenden Versuch der finalen Sinngebung eines Sinnlosen, sondern endet – angesichts des absoluten Endes, das der Tod verkörpert – mit den von Arrau ungemein plastisch und eindringlich herausphrasierten, resignierenden Seufzer-Motiven – im Letzten einer Aporie. Die klassisch-romantische Form mit ihrer Sinngebung, das Dramatische mit dem Harmonie und Ausgewogenheit stiftenden Formschönen auszugleichen und auszusöhnen, sie ist in dieser letzten Schubert-Sonate zwar auskomponiert, hat jedoch ihre Bedeutung für die Erlebnis-Realität verloren. Beklemmender als in Arraus Deutung der B-Dur-Sonate kann man dieses Auseinanderklaffen von Form und Empfindung kaum vernehmen. Oder, um es im Anschluss an Jean-François Lyotard zu formulieren: Das, was uns Claudio Arrau so eindrucksvoll und einleuchtend in dieser letzten Schubert-Sonate vorführt, ist die von der Erfahrung des Todes gezeichnete End-Gültigkeit eines Versagens, das Versagen nämlich des Trostes der schönen Form. :) :) :)

  • Expositionswiederholung – ja oder nein? Der Disput zwischen Alfred Brendel und Paul Badura-Skoda


    Zur Diskussion bitte hierhin gehen:


    Franz Schubert, Klaviersonate Nr. 21 B-dur D.960, CD (DVD)-Rezensionen und Vergleiche (2017)


    Darf oder soll man sogar die Expositionswiederholung im eröffnenden Molto-Moderato-Satz auslassen? Alfred Brendel behauptet und rechtfertigt deren Verzichtbarkeit nicht nur allgemein, sondern auch speziell werkbezogen in Bezug auf die B-Dur-Sonate damit, dass der in der Überleitung zur Exposition von Schubert im Fortissimo notierte Basstriller ein Fremdkörper sei, der die ästhetische Ausgeglichenheit und Einheit der Stimmung in diesem Satz störe und zerstöre:

    „Dem Spieler der zu Hause die Exposition einer Schubert-Sonate zehnmal wiederholt, sei seine Freude herzlich gegönnt. Im Konzertsaal wird er gut daran tun, die Konzentration des Publikums (und seine eigenen Kräfte) nicht zu überfordern. Wiederholungszeichen sind nicht immer Befehle: Daß sie unweigerlich von Erwägungen der Proportion bestimmt seien, ist ein moderner Köhlerglaube. Auch dort, wo der Komponist einige Takte der Rückleitung, die zum Beginn des Satzes führen, eigens komponiert hat, ist damit ein Wiederholungszwang nicht gegeben. In Schuberts B-Dur-Sonte, die so oft als Beispiel herangezogen wird, verzichte ich auf diese Überleitung mit besonderem Vergnügen: So ohne jede logische und atmosphärische Beziehung steht dieser zuckende Ausbruch da, als hätte er sich aus einem fremden Stück in die großartige Harmonie dieses Satzes verirrt.“


    Brendel unterscheidet zwischen einer psychologischen und einer „konstitutiven“ Bedeutung von Expositionswiederholungen und verweist darauf, dass Komponisten wie Dvořák oder Brahms die Expositionswiederholung vorrangig als psychologisches Hilfsmittel und gerade nicht als konstitutiv und unverzichtbar für den „Aufbau“ eines Sonatensatzes betrachtet hätten, weswegen auch keine Notwendigkeit für den Interpreten bestehe, sie auszuführen:


    „Zur Frage der Wiederholungen bei Schubert sei aus einem Aufsatz von Antonín Dvořák zitiert, der nicht nur zum Herzlichsten und Klügsten gehört, was bis heute über Schubert gesagt wurde, sondern auch in manchen kritischen Einsichten seiner Zeit vorauseilt. (...) Im Hinblick auf Schuberts Symphonien sagt Dvořák, Schubert wisse eigentlich nicht, wann er aufhören solle; >dennnoch sind sie keineswegs zu lang, wenn man die Wiederholungen wegläßt, das sich jetzt allgemein eingebürgert hat und mit dem ich völlig einverstanden bin.< Dvořák liebte Schubert und kannte die Klassiker. Sorg- und Ahnungslosigkeit in formalen Dingen wird man ihm ebensowenig vorwerfen dürfen wie Brahms, von dem Edwin Fischer folgendes mitgeteilt hat: >Wie Komponisten über die Wiederholungen selbst manchmal denken, erhellt aus einer Bemerkung von Johannes Brahms gegenüber einem jungen Musiker, der sich wunderte, daß bei einer von Brahms dirigierten Aufführung die Exposition des ersten Satzes der zweiten Symphonie nicht wiederholt wurde. >Früher<, antwortete Brahms, > als das Stück den Hörern neu war, war die Wiederholung notwendig; heute ist das Werk so bekannt, daß ich ohne Repitition weitergehen kann.<<“


    Und weiter:


    „Ich will gewiß weder Schubert >verbessern< noch für das Weglassen sämtlicher Wiederholungen plädieren. (...) Wiederholungszeichen sind, das kann man heute nicht energisch genug betonen, durchaus nicht immer Befehle. Statt sie automatisch auszuführen, als wäre der zu wiederholende Teil vom Komponisten ausgeschrieben, sollte man sich zunächst eine Reihe von Fragen vorlegen: (...) [Brendel listet hier die wichtigen Punkte auf, H.K.]


    Unter den Wiederholungen Beethovens sind nur wenige, die nicht sofort einleuchten. Bei Schubert muß ich, im Dilemma zwischen formalen und psychologischen Überlegungen, den psychologischen oft den Vorrang geben. (...)


    Mit Vorliebe entzündet sich der Unmut strenger Experten an den großen Sonaten A-Dur und B-Dur. Wehe dem Pianisten, der sich und seinem Publikum die Wiederholung dieser Exposition erspart! Hat Schubert hier nicht eigens vor dem Beginn der Durchführung einige Überleitungstakte komponiert, die an den Anfang des Satzes zurückführen? Man dürfe, so heißt eines der Argumente, doch nicht einfach Originalmusik von Schubert weglassen; dies sei gleichbedeutend mit Strichen, die man dann nach Beleiben auch anderswo anbringen könnte.


    Man gestatte mir, anderer Meinung zu sein. Beide Expositionen enden in einer Weise, die ein einfaches Zurückkehren zum Anfang nicht erlaubt. Nur deshalb hat Schubert, der in manchen Äußerlichkeiten der Form und der Notation viel konventioneller war als Beethoven, einige Rückleitungstakte hingeschrieben. Beethoven wäre in einem solchen Fall gewiß ohne Wiederholung in die Durchführung gegangen, wie er dies zum Beispiel in der >Appassionata< auch getan hat: (...)“


    Das ästhetische Argument, dass der Überleitungstriller ein störendes Einsprengsel bleibt, bezieht Brendel nicht nur auf die einheitliche Grundstimmung des Satzes, sondern er bleibe auch von der thematischen Logik der Satzstruktur her unbegründet:


    „(...) Eine irrationale Explosion wie jene im Andantino der A-Dur-Sonate hat in der trostlosen Melancholie des Satzbeginns, aber auch in den chromatischen Partien des vorangegangenen Satzes ihren Nährboden. Worin aber läge die Berechtigung der Überleitungstakte der B-Dur-Sonate? Wo kündigen sie sich an? Dürfen sie als Fremdkörper den großartigen Zusammenhang des ersten Satzes stören?


    Mit dem motivischen Material des Satzes hat der neue, synkopisch zuckende Rhythmus nichts gemein; ebensowenig weist er aber, sei es musikalisch oder psychologisch, auf die folgenden Sätze hin. Dem Ausbruch dramatischer Erregung, der uns in der Durchführung überwältigt, nimmt er seine Einzigkeit. Die herbste Enttäuschung bedeutet jedoch das Auftreten des Trillers im fortissimo; Schubert stellt hier ein Ereignis, das sonst stets in geheimnisvolle Entrückung gerückt bleibt, lärmend in den Vordergrund. Übrigens zeigt Schuberts Entwurf, in dem die Exposition ungleich kürzer ausgefallen war, auch hier noch die Vorschrift pp.


    Brendel deutet die B-Dur-Sonate darüber hinaus aus dem Kontext der letzten drei Sonaten, sieht von daher D 960 als eine Art harmonisierenden Gegenentwurf zu den dramatischen Sonaten D 958 und D 959. So erscheint ihm der Fortissimo-Triller als ein Reflex der Destruktivität und dramatischen Unausgeglichenheit von D 959, der letztlich nicht zur spezifischen Ausgeglichenheit und ästhetischen Homogenität von D 960 passe.


    „Unter Schuberts letzten Sonaten hatte jene in B-Dur in unserem Jahrhundert den leichtesten Stand. Man darf sie die schönste und bewegendste nennen, die resignierteste und ausgeglichenste. Sie am ehesten entspricht der Vorstellung eines sanft-melancholischen Schubert.


    Die ersten beiden Sätze nehmen Abschied. (...)


    Alles in der B-Dur-Sonate scheint psychologisch kontrolliert; (...) Einzig jene Überleitung im ersten Satz, die ich schon beklagt habe, durchbricht als Fundstück einer früheren Konzeptphase die neu gewonnene psychologische Fassung – ein Übergriff aus den fieberhaften Regionen der beiden anderen Sonaten. Sie erscheint mir hier so fehl am Platze wie die Wiederholung der Exposition, zu der diese Takte auffordern.“

    „Schuberts letzte Sonaten gehören zusammen. (...) Einer These von Verstörung und destruktiver Energie (c-moll) folgt die Antithese leuchtender, ins Positive gewendeter Aktivität (A-Dur), um in eine Synthese resignierter Gefaßtheit (B-Dur) zu münden.“


    Paul Badura-Skoda gibt seinem Freund Alfred Brendel zwar in seiner Analyse Recht, dass es sich bei dem Fortissimo-Triller um einen Fremdkörper handele, bewertet diese Tatsache aber zu Brendel konträr, was die Frage des Sinns der Expositionswiederholung angeht. Gerade dieser Durchbruchscharakter gebe der Expositionswiederholung ihre psychologische Motivation des „erlösenden Aufwachen(s) nach einem Albtraum“:


    „Ich selbst bin anderer Meinung: In diesen unheimlichen 9 Takten der Rückleitung (ab T. 117) sehe ich einen Geniezug, gerade deshalb, weil sie „aus dem Rahmen“ fallen wie der plötzliche Einbruch in eine andere Welt, der die vorherrschende Heiterkeit der Exposition brüsk unterbricht. Nur dieses einzige Mal, einen Takt vor der Wiederholung, erscheint das entfernte leise „Donnergrollen“ vom 8. Takt ganz nahe am Fortissimo. Dadurch gewinnt der Wiedereintritt des Hauptthemas eine andere Bedeutung als am Beginn, er vermittelt weniger das Bild einer sanften Abendstimmung als erlösendes Aufwachen nach einem Albtraum. Strukturell scheinen diese 9 Takte tatsächlich überflüssig zu sein. Man könnte vom harmonischen Gesichtspunkt aus auch ohne diese Überleitung direkt mit dem Anfangsthema einsetzen. Doch dann würde diese Wiederholung der Exposition psychologisch unmotiviert, gleichsam „angeklebt“ wirken.“


    Im Prinzip stimmt Badura Skoda Brendel aber zu, dass die Expositionswiederholung keine Notwendigkeit, weil nur psychologisch, bedingt durch die seltene Aufführungsmöglichkeit zu ihrer Entstehungszeit, motiviert sei. Er sieht zwar anders als Brendel die Expositionswiederholung mit dem sperrigen Triller nicht als eine ästhetische „Sünde“ Schuberts an, hält sie aber wie dieser für verzichtbar und nicht notwendig gefordert. Um das zu unterstreichen, lässt er sie bei seiner Aufnahme der B-Dur-Sonate auf drei verschiedenen Flügeln (Pinguin 2011 und 2012) bei der Aufnahme auf dem Bösendorfer-Flügel aus.


    „Obwohl ich diese themenfremde Rückleitung für „richtig“ halte, stellt für mich als Interpret die danach einsetzende Wiederholung des Anfangsteils ein anderes Problem dar. In der Zeit Schuberts war die öffentliche Aufführung einer Sonate oder einer Symphonie ein für den Hörer einmaliges Ereignis. In dieser Situation war man als Zuhörer dankbar, möglichst viele Teile wiederholt zu hören, um sich mit dem vorher unbekannten Werke vertraut zu machen. Heute hingegen ist die Hörsituation eine völlig andere. Durch den Konzertbetrieb und durch die Möglichkeit der mechanischen Wiedergabe können wir ein Werk nach Belieben ungezählte Male wiederhören. (...)


    Aus dieser Erkenntnis heraus und der praktischen Erfahrung meiner langjährigen Konzerttätigkeit bin ich zu der Auffassung zurückgekehrt, die in meiner Jugendzeit vorherrschte: Die Wiederholung ist kein Zwang, sondern es ist dem freien Ermessen des Aufführenden überlassen, ob er einen Teil zweimal spielen will oder nicht. Um aber auch dem Zuhörer diese Wahl zu ermöglichen, habe ich mich entschlossen, bei dieser Sonate auch eine Version ohne Wiederholung zu präsentieren


    Edwin Fischer zitierte seinen Schülern den Ausspruch seines Lehrers: „Wenn Sie durch den ersten Teil ohne Katastrophe durchgekommen sind, dann danken Sie Gott und spielen Sie weiter!““


    [Der Lehrer von Edwin Fischer war der Liszt-Schüler Martin Krause, der auch Claudio Arraus Lehrer war. (H.K.)]


    Quellen:


    Alfred Brendel: Über Musik, Piper 2007.

    Paul-Badura Skoda: Soll man wiederholen oder nicht?, CD-Klappentext Pinguin 2012.

  • „Unschwärmerische Gefasstheit“: Alfred Brendel (Aufnahmen Philips 1972 und Hannover (Großer Sendesaal des Landesfunkhauses Saarbrücken) 14. Dez. 2008)


    Zur Diskussion:


    Franz Schubert, Klaviersonate Nr. 21 B-dur D.960, CD (DVD)-Rezensionen und Vergleiche (2017)





    „Unter Schuberts letzten Sonaten hatte jene in B-Dur in unserem Jahrhundert den leichtesten Stand. Man darf sie die schönste und bewegendste nennen, die resignierteste und ausgeglichenste. Sie am ehesten entspricht der Vorstellung eines sanft-melancholischen Schubert.“


    Wollte man Alfred Brendels Interpretationen von Schuberts letzter Klaviersonate B-Dur mit einigen wenigen (Schlag-)Worten beschreiben, so hießen diese: moderat, egalisierend und melodisch-integrierend. Wenn ich nun gleichsam mit der Tür ins Haus fallen und meinen Gesamteindruck – meine Ausführungen vorwegnehmend – zuvor zusammenfassen darf, dann muss ich zugeben, dass mich bei aller Bewunderung für Brendels höchst kultiviertem Klavierspiel, für seine Fähigkeit, in die geistige Welt Schuberts einzudringen, seine mir zur Verfügung stehenden beiden Aufnahmen der B-Dur-Sonate letztlich nicht wirklich überzeugen: Mir ist dieser Brendel-Schubert einfach zu glatt – und ich empfinde ihn zudem auch nicht immer schlüssig, sondern wie im Andante sostenuto merkwürdig unausgewogen.


    Das Liedthema klingt bei Brendel wie eine Kopie von Wilhem Kempff – aber schließlich doch nur fast. Da wird nicht phrasiert, deklamiert und rhetorisiert, sondern melodisierend homogenisiert. Auch wenn ich mich dafür entschuldigen muss, so kann ich leider nicht umhin zu gestehen: Schuberts so traurig-schönen Melodie mangelt es, so wie sie Brendel vorträgt, an Aura. Sie bleibt fast ein bisschen unspezifisch: irgendwie „grau“. Und die Brendel-CD wieder aus der Player-Schublade genommen und Wilhelm Kempff eingelegt erschließt sich mir dann auch warum: Kempff macht es vor, wie man die Phrasen zu einer geschlossenen melodischen Linie zusammenfließen lässt, nur geht dies einher mit einer gewissen Nonchalance, einer leisen Beschwingtheit, wo Brendel einfach nur gediegen melodisiert. In Brendels „unschwärmerischer Seriosität“, die er in Schuberts Melodiethema ausgedrückt sieht und dieses auch genau so ohne jede Schwärmerei einfach nur seriös nachsingt, geht letztlich dieser kleine Kick an Freizügigkeit verloren, Kempffs Freigeisterei, seine Fähigkeit, auch im scheinbar Seriösen mit der Illusion von souveräner Leichtfertigkeit zu agieren, der leise Anflug von Schwärmerei und Schwelgerei im Schön-Melodischen, durch welchen Kempff dieser Schubert-Melodie eine verführerische Note zu geben und uns hinzureißen vermag. Brendel muss man allerdings zugute halten, dass sein Vortrag des Kopfsatzes trotzdem nicht langweilig zu werden droht. Sein dynamisches Interpretationskonzept steigert sich immer wieder aus der „unschwärmerischen Gefasstheit der Eingangsmelodie“, so wie er sie (Klappentext zur CD The Farewell Concerts, 2008) nennt, heraus, entwickelt sich also zu einer schwärmerischen Erregung. Auch wenn ich dies zugestehe, so kann ich doch nicht anders, als Brendels integrales Melodisieren insgesamt als allzu monoton zu empfinden. Es rächt sich hier eben, dass ich Wilhelm Kempff im Ohr behalte. Dass gewollt unrhetorisches, egalisierendes Melodisieren bei Kempff nicht grau wird, dafür sorgt bei ihm, dass er wunderbar die Lagenwechsel der Stimmen hörbar macht und damit immer wieder wechselnde Lichter setzend ästhetisch Abwechslung schafft in der Gleichförmigkeit des Melodisierens. Genau das fehlt bei Brendel.


    Was Brendel allerdings überzeugend gelingt, ist für sein Plädoyer zu werben, die Expositionswiederholung mit dem polternden Fortissimo-Triller auszulassen. So geheimnisvoll, so novellistisch aufregend wirkt die harmonische Rückung zu Beginn der Durchführung nur ohne Expositionswiederholung! Für dieses wunderbare Erlebnis kann man Alfred Brendel wirklich danken! Wenn ich nun aber gleich wieder herumkriteln darf, ist für mich die Durchführung wiederum etwas zu akademisch geraten. Besonders in seiner Rundfunkaufnahme von 2008, die als „Farewell“-Konzertreihe vermarktet wurde, ein Abschiedsgeschenk des Meisters, das zur Stimmung des „Abschieds“ passt, die Brendel in den ersten beiden Sätzen heraushört (wie er ausdrücklich betont im Sinne von Beethovens „Les Adieu“-Sonate und nicht einer irgendwie romantisch-verklärenden Todessehnsucht!), erscheint mir die dynamische Steigerung etwas statisch. Da gibt es in dem großen dynamischen Steigerungsaufbau Takt 150 ff. diese insistierende Repitition des Des im Bass. Brendel haucht diese kaum noch hörbar im ppp dahin, so dass die Steigerung allein von der Melodik getragen und auch so wahrgenommen wird, also ihre pulsierende Erregungsquelle im Bass verliert. Hier wird exemplarisch – was sich auch im Andante sostenuto zeigen wird – das Grundproblem eines solchen Interpetationsansatzes der egalisierenden Melodisierung deutlich: Der Melodie fehlt das Amelodische, das Rhythmische, als Gegenspieler, an dem sie sich reibt und von dem sie sich abstößt. Genau dieses Absolutismus der Herrschaft des Melodischen wegen droht Schuberts Melodisieren bei Brendel fade und grau zu werden. Ganz anders Wilhelm Kempff! Bei ihm „pocht“ und „klopft“ der Bass leise, so dass die Steigerung als eine dynamische Verdichtung erlebt wird. Und noch etwas kommt hinzu: Bei Kempff zeigt der dynamische Höhepunkt der Durchführung Subjektivität in der Ausdrucksgeste eines Naturburschen, der frech aufbegehrend dazwischenfährt und damit Schuberts Melodik vor der bloßen Schöntönerei und dem Wienerisch-Geschmäcklerischen bewahrt, wovon man Brendel finde ich nicht ganz freisprechen kann. Bei Brendel ist diese Durchführungssteigerung dagegen ganz aus der Stimmung „unschwärmerischer Seriosität“ heraus gestaltet – wie es auch zum Weglassen des aufrührischen Fortissimo-Trillers passt: Brendel betont die ästhetische Einheit der Stimmung, statt sie durch einen Charakterwechsel des Melodisch-Schönen zur leicht aufrührerischen Ausdrucksgeste hin zu „stören“. Das Weglassen des zur Expositionswiederholung gehörenden knalligen Basstrillers bei Brendel – es hat also Auswirkungen auf die Gestaltung des ganzen Sonatensatzes!


    Eine Enttäuschung ist für mich das Andante sostenuto! Brendel ertränkt die Melodiestimme wie auch die rhythmische Bassfigur im Pedal. So wirkt diese geradezu willenlos, wie ich es eigentlich bei keiner anderen Aufnahme erlebt habe. Gerade hier, wo es nötig ist, raubt Brendel dem Tonsatz die Kontrapunktik – die melodischen Motive haben in den rhythmischen Bässen keinen Gegenspieler; diese amelodischen Bassmotive werden vielmehr zum Harmlos-Unscheinbaren einer – man muss es fast sagen – belanglosen Begleitung, lassen sich sozusagen passiv von der Melodie führen und mitziehen. In der 1972iger Aufnahme kommt dann als wenig schlüssige Merkwürdigkeit hinzu, dass Brendel den Mittelteil dramatisierend aufbauscht, so dass der Satz nicht nur das sostenuto, die getragene Stimmung, zu verlieren droht. Geradezu bombastisch tönend wird dieser zum emotionalen Zentrum des Satzes und nimmt so dem eigentlich empfindsamen Beginn und seiner Reprise das Gewicht. Alfred Brendel selbst scheint diese Schwäche eines emotionalen Ungleichgewichts dann doch erkannt zu haben. In der Rundfunkaufnahme von 2008 wird entsprechend die Dramatisierung des Mittelteils auf den ganzen Satz, also auch den melodisch-empfindsamen Rahmen, ausgedehnt und damit das Ganze homogenisiert. Die grundsätzlichen Einwände jedoch bleiben: Auch 2008 gibt es keine wirkliche Kontrapunktik von Melodiestimme und Begleitung und zudem wirkt das gegenüber 1972 verlangsamte Tempo des nach wie vor fehlenden Bass-Kontrapunktes wegen eher träge und schleppend.


    Auch das Scherzo überzeugt mich bei Brendel nicht! Ebensowenig wie Claudio Arrau bemüht sich Alfred Brendel, das „con delicatezza“ zu realisieren, konzentriert sich vielmehr ganz auf das „Allegro vivace“, gibt diesem Scherzo entsprechend einen sonatenallegroartigen Vorwärtsdrang. Mir erschließt sich hier einfach nicht, inwiefern man das als Ausdeutung des Scherzo-Sinnes verstehen darf. Nichts von Scherzo-Leichtigkeit, einem Heiter-Spielerischen, Intermezzoartigen ist hier zu verspüren. Zudem wirkt Brendels Flüssigkeit auch in diesem Satz etwas zu glattpoliert, fast wagt man zu sagen: indifferent. Wie er – besonders in der 1972iger Studioaufnahme – allerdings die Akzente weich abfedert, ist eine anschlagstechnische Delikatesse der Extraklasse! Im Trio hat Brendel – wie leider zu erwarten – einmal mehr die Kontrapunktik der homogenisierenden Melodisierung zum Opfer dargebracht. Den Sforzato-Einschlägen fehlt jeglicher Stachel, das wirkt – man muss es leider sagen – belanglos. Im Farewell-Konzert 2008 bleibt Brendel diesem Ansatz treu – nur gerät sein Vortrag noch uncharmanter als 1972 mit einem schwerfälligen Expressivo. Das ist einfach viel zu pastos!


    Zum Finale bemerkt Alfred Brendel:


    „Das Finale der B-Dur-Sonate zeugt von einer Fröhlichkeit, die nicht mehr unschuldig ist wie jene des Forellenquintetts und nicht zähneknirschend wie der Ausklang des Streichquintetts. Ihr Bereich liegt irgendwo ziwschen Jean Paulschem Humor und dem Wiener Diktum, die Lage sei hoffnungslos, aber nicht ernst. Daß Schubert auch noch in seiner letzten Lebenszeit manchmal imstande war, die Dinge leichtzunehmen, sollte uns freuen. Nichts vermag uns allerdings mit dem Zynismus eines Schicksals zu versöhnen, das Schubert im Alter von 31 Jahren sterben ließ.“


    Hier im Finale, dessen gebrochene Heiterkeit die eines Tänzers ist, der eigentlich todtraurig auf die Zähne beißt, einem wienerisch interpretierten Jean Paulschen Humor, wo alles „gleich viel und nichts“ gilt, auch der Schrecken des Todes, der zur heiteren Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst wird, die von leiser Selbstverachtung durchzogen ist, gelingt Brendel finde ich die überzeugendste Interpretation von allen Sätzen. Zwar wird in der 1972iger Aufnahme das Seufzer-Motiv nicht wirklich ausgespielt, doch mit dem Bremsen und Beschleunigen, das Insistieren auf den Reptitionen führt Brendel eine Charakter- und Ausdrucksvielfalt vor, die sich von deutlich hörbarer Verbitterung speist. Brendels rhetorischer Spätstil in der Rundfunkaufnahme aus Hannover von 2008 gestaltet dies noch einmal intensiver: Das Seufzermotiv wird nun kontrastierend abgesetzt, die Motive in ihre Motivteile analytisch zerlegt: Jetzt arbeitet Brendel die Gegensätze kontrastreicher, die Charaktere noch deutlicher heraus – mit einem Wort: die Gestaltung geschieht mit einer „sprechenden“ Artikulation.


    Kommen wir zum Schluss und Schlussresumé zum Anfangszitat zurück:


    „Unter Schuberts letzten Sonaten hatte jene in B-Dur in unserem Jahrhundert den leichtesten Stand. Man darf sie die schönste und bewegendste nennen, die resignierteste und ausgeglichenste. Sie am ehesten entspricht der Vorstellung eines sanft-melancholischen Schubert.“


    Schuberts Resignation in seiner letzten Klaviersonate bedeutet für Alfred Brendel ästhetische Ausgeglichenheit – entsprechend homogenisiert seine Melodisierung, egalisiert das Unausgeglichende, Aufreizende, nivelliert das dramatische Gegenspiel von Rhythmik und Melodik. Der Fortissimo hereinplatzende Basstriller als das sinnenfällige Beispiel für ein der Resignation zuwider laufendes Aufbegehren, das statt auszugleichen emotional aufwiegelt, er wird von Brendel dem Ideal ästhetischer Homogenität geopfert im romantischen Geist, wonach ein Musikstück in seiner Tiefe eine einheitliche Grundstimmung aufweist, wie es in Friedrich Schlegels Gedicht „Die Gebüsche“ zum Ausdruck kommt, das Schubert auch vertonte: Durch alle Töne tönet/ Im bunten Erdentraume/ Ein leiser Ton gezogen,/Für den, der heimlich lauschet. Das ist einerseits konsequent und durchdacht – wie man es von Alfred Brendels überlegenem Intellekt schließlich erwarten kann. Joseph Horowitz, der Gesprächspartner Claudio Arraus, spricht davon, dass es Schubert in diesen späten, letzten Sonaten darum gehe, „volksnahe Schlichtheit“ mit der „dramatischen Kraft“ seines Idols Ludwig van Beethoven zu einer Synthese zu bringen. Ich frage mich: Ob Alfred Brendel diese Synthese im Falle der B-Dur-Sonate wirklich gelungen ist oder nicht vielmehr melodisch-resignierte Ausgeglichenheit zu Lasten dramatischer Gegensätzlichkeit geht?

  • Hammerklavier oder moderner Konzertflügel? Paul Badura-Skoda auf drei Instrumenten (Aufnahmen Genuin Wien 2011, 2012)


    Link zur Diskussion:


    Franz Schubert, Klaviersonate Nr. 21 B-dur D.960, CD (DVD)-Rezensionen und Vergleiche (2017)




    Paul Badura-Skoda:

    Warum gleich drei Versionen der letzten Schubertsonate?

    CD-Klappentext (Genuin Select, Genuin Classics Leipzig 2012), September 2012

    „Mit dieser Sonate hat es für mich eine besondere Bewandtnis. Sie ist in ihrer Jenseitigkeit mit keinem anderen Musikwerk vergleichbar, nicht einmal mit den letzten Beethovensonaten. Zwar kannte ich sie schon seit meiner Kindheit als ein schönes, ja ergreifendes Musikstück, aber die blitzartige Erkenntnis ihrer Tiefe, dieser Coup de foudre, ging mir erst auf, als ich sie als 25-jähriger in einem Konzert des bedeutenden holländischen Pianisten George van Renesse (1909-1994) hörte. Da spürte ich plötzlich die unergründliche Tiefe hinter den Noten, das Jenseitige, Numinose. Natürlich machte ich mich sofort an das Studium der Sonate. (...)


    Im August 1954 war ich soweit, dass ich sie Edwin Fischer in seinem Luzerner Meisterkurs vorzuspielen wagte. Der Meister war sichtlich beeindruckt und gab mir Ratschläge, die für mich bis heute richtungweisend geblieben sind. Doch auch lange nachher fühlte ich mich diesem Werk noch nicht gewachsen. Im vergangenen Jahrhundert habe ich diese Sonate nicht weniger als siebenmal aufgenommen, darunter in zwei Versionen 1967 für RCA. Doch immer blieb ein Erdenrest zurück. Sogar meine Aufnahme auf einem zeitgenössischen Hammerflügel für Arcana, 1992, halte ich für weniger gut gelungen als die übrigen dieser Serie (Mein Conrad graf Flügel war zu dieser Zeit nicht im besten Zustand und bedurfte einer Restaurierung.) Die einzige meiner älteren Aufnahmen, die ich noch heute anerkenne, ist jene von 1984 auf dem legendären Bösendorfer Imperial Nr. 23.274 (1923), für Harmonia Records. Sie erhielt übrigens einen Schallplattenpreis. Doch trotz dieser schönen Aufnahme glaube ich, in den vergangenen 28 Jahren Schubert noch etwas näher gekommen zu sein, vielleicht weil „das andere Ufer“ nur nähergerückt ist.


    Doch warum gleich drei neue Versionen? Weil dieses Werk so unauslotbar ist, dass auch das vollkommenste Klavier ihm nicht gerecht wird. In jeder der drei neuen Aufnahmen kommen verschiedene Facetten zum Ausdruck, die dem jeweiligen Instrument entlockt werden konnten, wie etwa der farbenreiche klang des Hammerflügels, der edle klang des Steinways, der samtene Ton des Bösendorfers. Wenn ich mir den Vergleich erlauben darf: unter den großen Dirigenten war Furtwängler der größte Schubertinterpret. Wir sind dankbar, dass es von seinen Aufnahmen der Schubert-Symphonien mehrere verschiedene Versionen gibt, mit verschiedenen Orchestern wie etwa den Berliner und den Wiener Philharmonikern.“


    Zu Beginn lasse ich den kürzlich im Alter von 92 Jahren verstorbenen wahrlich ehrwürdigen Paul Badura-Skoda zu Wort kommen, muss allerdings sagen, dass ich zwischen dem, was der Meister durchaus von sich selbst überzeugt an Bekenntnissen und Erläuterungen präsentiert, und den Eindrücken, die ich von seinen Aufnahmen gewonnen habe, nicht so leicht eine Beziehung herstellen kann. Badura-Skodas poetisierende, romantisierende Beschreibung passt einfach kaum zur musikalisch-klangästhetischen Prosa, die sich für mich tatsächlich hörend nachvollziehen lässt, wenn er auf dem Klavier „zur Tat“ schreitet. Wo verbergen sich die „unergründlichen Tiefen“ und wo ist „das Jenseitige, Numinose“ bei Badura-Skodas doch sehr vordergründig-diesseitig wirkender Schubert-Klanglandschaft? Die drei Aufnahmen auf verschiedenen Flügeln in identischen Interpretationsansätzen, die uns Badura-Skoda darbietet, sie klingen so gar nicht romantisch-verklärend nach einer Beschwörung des Hintergründig-Geheimnisvollen romantischer Metaphysik der Musik. Ich frage mich: Hat diese Diskrepanz zwischen Badura-Skodas romantisierender Deutung und der Ernüchterung, die sein eher unromantisch-positivistischer Klavierklang bietet, vielleicht etwas mit dem Hammerklavier zu tun? Nicht nur ist der Vergleich der drei so unterschiedlich klingenden Instrumente reizvoll, er wirft die für HIP-Enthusiasten sicher ketzerische, ins Grundsätzliche gehende Frage auf: Passt die Klangästhetik dieser vielleicht „romantischsten“ aller Schubert-Klaviersonaten mit dem Hammerklavier-Klang wirklich zusammen? Fragen der Klangästhetik werden deshalb in meiner Besprechung der Konzeption und dem Interpretationsansatz dieser Aufnahmen Badura-Skodas eine zentrale Rolle spielen.


    Das Projekt, Schuberts letzte Sonate sowohl auf einem historischen, als auch zwei modernen Instrumenten zu spielen, hat klangästhetisch betrachtet zwei Alternativen, die sich letztlich daraus ergeben, wie man den „historischen“ Hammerflügel-Klang bewertet: als vornehmlich historisch oder als Maßstab von Authentizität. Entsprechend kann der Interpret die Klangästhetik seiner Interpretation entweder dem jeweiligen Instrument anpassen, was bedeutet, die Möglichkeiten des modernen Konzertflügels gegen die begrenzten des Hammerklaviers auszuspielen und umgekehrt. Oder aber er versucht eine klangästhetische Authentizität, die er im Umgang mit dem historischen Instrument meint gewonnen zu haben, auf die modernen Instrumente zu übertragen. Obwohl in Paul Badura-Skodas Erläuterungen nicht erkennbar ist, dass er den Hammerklavier-Klang als den „originalen“, ursprünglichen und authentischen ansieht, welcher der Intention des Komponisten entsprechen soll, so ist doch nachvollziehbar, dass er den Weg der Übertragung der Klangästhetik des Hammerflügels auf die modernen Instrumente, einen Steinway und einen Bösendorfer, wählt.


    Dass wir hier gleich drei für das vergleichende Hören ausdrücklich bestimmte Aufnahmen zur Verfügung haben, ist insofern ein Glücksfall, als uns dies in die Lage versetzt, die These von HIP-Enthusiasten zu überprüfen, wonach ein „Original“-Klang von Schubert angeblich nur auf einem Hammerflügel seiner Zeit realisierbar ist. Demnach wäre es also von den aufgenommenen Flügeln im Vergleich gehört der Graf-Hammerflügel, von dem zu erwarten wäre, dass er das eigentlich authentische Schubert-Klangbild belegt – aber nicht nur das: Es müsste ebenso für den Steinway und Bösendorfer gelten, dass diese modernen Instrumente um so authentischer Schuberts Klangvorstellungen wiedergeben, je „altmodischer“ der Interpret sich gibt, indem er versucht, die originären Möglichkeiten des modernen Konzertflügels so weit wie möglich zu verleugnen und ihren Klang dem des historischen Hammerflügels anzupassen.

    Die Verfechter von HIP pflegen zu argumentieren, dass der Komponist sein Stück für ein bestimmtes Instrument geschrieben habe und zwar in doppelter Hinsicht: Nicht nur sei ein Klavierstück ausschließlich für das Instrument Klavier geschrieben, ein Stück für Violine für die Violine, ein Orgelstück für die Orgel, ein Orchesterstück für ein Orchester etc., sondern der Komponist habe sich darüber hinaus immer auch an den konkreten Instrumenten orientiert, das er zu seiner Zeit zur Verfügung gehabt hätte. Damit wird unterstellt, dass die Klangästhetik der Komposition selbst mit der des Instruments vollkommen identisch ist. Demnach also ist die Ästhetik einer Beethoven- oder Schubertsonate schlicht und einfach eine Hammerklavier-Ästhetik. Jeder Versuch, ein solches Stück auf einem modernen Instrument zu spielen, wird deshalb als eine Verfälschung und „Verunstaltung“ des Originals gewertet, die den Intentionen des Komponisten nicht oder nur noch wenig gerecht werden könne. Etwas gnädiger gestimmt lassen überzeugte HIP-Verfechter Beethoven oder Schubert auf dem modernen Konzertflügel gespielt als eine „Transkription“ großzügig gelten, die freilich mit dem historischen Original wenig zu tun habe. Doch ist diese Auffassung wirklich zwingend?


    Greifen wir das Stichwort „Transkription“ auf: Ferruccio Busoni, dessen Transkriptionen von Kompositionen Johann Sebastian Bachs für das Klavier berühmt sind, war jedenfalls ganz anderer Ansicht. Er wählte, von der Kompositionspraxis des Transkribierens her inspiriert, einen instruktiven Vergleich: Schon wenn der Komponist den „Gedanken“, also die „Idee“ seiner Komposition, in einen Notentext und eine Instrumentierung konkret umsetzt, stellt dies so etwas wie eine Transkription dar, welche diese Idee niemals adäquat wiedergibt, sondern notwendig verändert und auf irgendeine Art verzerrt und verfälscht. Nimmt man Busoni Ernst, dann ist die Suche von HIP-Enthusiasten nach dem „Originalklang“ auf einem bestimmten historischen Instrument von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil Transkriptionen eines musikalischen Gedankens grundsätzlich nicht „original“ sein können. Die Wiedergabe einer Klavierkomposition auf egal welchem historischen oder modernen Flügel stellt dem zufolge immer nur eine mehr oder weniger gute oder schlechte, verfälschende Kopie des eigentlichen Originals dar, was als ein Reales, also das auf einem Instrument tatsächlich klanglich Realisierbare, gar nicht fassbar ist, vielmehr das Ideale einer realiter unfassbaren ästhetische Idee verkörpert.


    Busonis Überlegungen aufgreifend lässt sich nun fragen: Wie entsteht denn konkret die Klangvorstellung, von der sich ein Komponist wie Schubert leiten lässt, wenn er eine Klaviersonate schreibt? HIP-Anhänger haben die Antwort immer schon gegeben, indem sie unterstellen, der Komponist eines Klavierstücks könne nichts anderes als nur den Klavierklang und zwar genauer denjenigen solcher Instrumente, das er zu seiner Zeit tatsächlich habe spielen können, in seiner imaginären Vorstellung gehabt haben. Es ist zwar einerseits zweifellos richtig, dass kein Mensch ein Musikstück für die Orgel, das Klavier oder die Violine schreiben kann, wenn er nicht zuvor eine Vorstellung davon, was den Klang eines solchen Instruments ausmacht, aus der Erfahrung des Spielens dieser Instrumente gewinnen konnte. Nur stellt es aber andererseits eine Verengung des Blicks dar, wenn man wie HIP-Enthusiasten es tun alle anderen Inspirationsquellen für die Entwicklung der leitenden Klangvorstellung einer Komposition, also auch die, welche gar nicht von dem jeweiligen Instrument herkommen, außer Acht lässt. Es ist eben gerade nicht so, dass eine Klavierkomposition eine Klangvorstellung enthält, die ausschließlich vom Klavierklang geprägt ist, vielmehr gehen hier von vornherein klangliche Vorstellungen in die Komposition ein, die von dem betreffenden Instrument gar nicht stammen, indem sie auf dieses von außen übertragen werden.


    Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie kompliziert und umwegig die Gewinnung einer musikalischen Klangvorstellung als ästhetische Idee ist, ist es ratsam, einen kurzen Blick auf die europäische Musiktradition zu werfen, die maßgeblich vom Einfluss der Rhetorik geprägt ist. Musikalische Rhetorik beruht bezeichnend auf einem Analogiedenken, gerade was die Instrumentalmusik angeht. Wenn Johann Mattheson die Musik als „Klangrede und Tonsprache“ definiert, dann bedeutet dies, dass man sich im Verstehen von Musik erst einmal gar nicht an der Musik orientiert, sondern etwas „Außermusikalisches“ zum Maßstab nimmt, die Wortsprache, ihre Grammatik und Rhetorik nämlich, um so etwas wie musikalischen Sinn hervorzubringen. Es ist offensichtlich, dass sich die musikalische Rhetorik an der Vokalmusik orientiert, weil diese mit dem Wort als sprachlichem Bedeutungsträger verbunden dem musikalischen Klang Sinn und Bedeutung zu geben vermag. Von daher wird die Vokalmusik zum Leitfaden auch des Verständnisses und der praktischen Ausübung von Instrumentalmusik: Instrumentalmusik muss der Vokalmusik möglichst ähnlich sein, damit sie wirklich Musik sein kann. Genau so argumentierte Jean-Jacques Rousseau, der nicht nur Philosoph, sondern zu seiner Zeit auch ein erfolgreicher Opernkomponist war, dass die Melodie, der Gesang also, das ausmacht, was die Musik zur Musik macht und vom bloßen Geräusch unterscheidet.


    Vergegenwärtigt man sich diesen Hintergrund, dann lässt sich erst wirklich ermessen, was das romantische Ideal, auf einem mechanischen Instrument wie dem Klavier zu „singen“, im Grunde für ein Paradox bedeutet. Es gibt Instrumente, die der menschlichen Stimme viel näher kommen als das Hammerklavier, vor allem Blasinstrumente wie eine Flöte, Oboe oder Klarinette etwa. Auf einem atmenden Blasinstrument die atmende menschliche Stimme nachzuahmen fällt sicher leichter als dies mit Klavierhämmern zu versuchen. Einen singenden Klavierton und eine singende Klavierstimme zu erzeugen, verlangt eigentlich das im Grunde Unmögliche: eine Selbstverleugnung des mechanischen Instruments Klavier. Die Vorstellung von klavieristischem Gesang ist also nicht einfach vom Klavier und seinen originären Klang- und Ausdrucksmöglichkeiten her gewonnen, sondern inspiriert von einem ganz anderen Instrument, der menschlichen Stimme nämlich, und wird von daher auf das Klavier übertragen. Mit Busoni gedacht ist der singende Klavierklang also kein originärer oder gar authentischer auf einem historischen Instrument realisierbarer Klavierklang, sondern bedeutet einen „Gedanken“, eine Idee, die tatsächlich auf dem Instrument realisiert nur eine „Transkription“ darstellt, d.h. die nur sehr unvollkommene Realisierung einer idealen Klangvorstellung, die ihre Quelle ganz woanders hat und sich weit über das erhebt, was das mechanische Hammerklavier an begrenzten Möglichkeiten der Klangerzeugung bietet.


    Es ist Schuberts Spielanweisung Ligato, welche auf eine solche „Transkription“ einer faktisch unrealisierbaren, idealen Klangvorstellung hindeutet: Vom ersten Ton an wird der Interpret dazu aufgefordert, das Hammerklavier vergessen zu machen und sein Instrument so zu behandeln, als sei es eine menschliche Stimme. Genau das aber ist eine Utopie, welche das Hammerklavier überfordert und überfordern muss. In Badura-Skodas Aufnahme auf dem historischen Graf-Flügel wird das Scheitern des Instruments an der romantischen Utopie des Klaviergesangs sinnenfällig vorgeführt. Der nicht mehr rhetorisch-deklamatorische, romantische Liedgesang zerteilt die musikalische Phrase nicht mehr, sein Ideal ist das gebundene Legato, wo der eine in den anderen Ton bruchlos hinübergleitet – das, was Richard Wagner die „unendliche Melodie“ genannt hat. Dem steht aber schlicht die Mechanik des historischen Hammerflügels im Wege. Mit dem Sustain-Effekt bezeichnet man in der Akustik die Fähigkeit eines Instruments, den erzeugten Ton möglichst lang ausklingen zu lassen. Bei einem Hammerklavier ist dieser Sustain aber einfach sehr kurz – und eben viel zu kurz, um im Sinne Schuberts eine wirklich singende, gebundene Melodielinie zu realisieren. Im eher gemächlichen Molto-Moderato-Tempo hat Schubert zudem für die melodietragenden Töne nicht schnelle Achtel, sondern langsame Viertel notiert. Hört man genau hin, dann bemerkt man, dass auf Badura-Skodas Graf-Flügel der Ton schon verklungen ist, bevor der nächste beginnt. Ein wirkliches Legato, in dem die Töne ineinandergleiten, wird also schon im Ansatz der Tonerzeugung auf dem historischen Instrument verhindert. Deswegen wirkt der Vortrag von Schuberts so betörend gesanglicher Melodie auf dem Hammerflügel vorgetragen auch so wenig flüssig, trocken und hölzern.


    Welche Klangvorstellung den Komponisten – hier Schubert – beim Kompositionsprozess geleitet hat, ist nun nicht einfach nur eine Frage der Spekulation, sie beantwortet sich nicht zuletzt durch die Satztechnik, wie sie sich im Notentext manifestiert. Hier zeigt sich, dass die Hammerklavier-Ästhetik alles andere als authentisch die Ordnung eines von der Melodie getragenen homophonen Tonsatzes wiedergibt, als sie den Interpreten dazu zwingt, aus der Not des mechanisch Unrealisierbaren eine Tugend zu machen, indem er die satztechnische Ordnung der Dinge mangels einer wirklich tragfähigen Melodiestimme umkehrt: Das eigentlich Untergeordnete wird zum Dominierenden und tragenden Grund, während sich die dominierende Melodiestimme in sezierender Analyse in ihre Einzelteile auflöst. Wo es Wilhelm Kempff oder Alfred Brendel auf dem modernen Steinway-Flügel mühelos gelingt, eine gebundene melodische Linie zu erzeugen, klopfen und pochen bei Badura-Skoda die Achtel der linken Hand und geben den Vierteln der rechten Hand nicht nur den Puls vor, sondern zerlegen das geschlossen-einheitliche Melodie-Ganze in die Summe seiner Teile. Dazu betont Badura-Skoda die Bassstimme, so dass nicht nur ein Fundament in der Tiefe, sondern auch ein musikalischer Raum zwischen der hohen und tiefen Stimmlage entsteht. Selbst wenn man Badura-Skoda zugesteht, dass er mit diesem quasi analytischen Ansatz ganz bewusst einen interpretatorischen Gegenentwurf zu seinem Freund Alfred Brendel vorführen möchte, so kann dies über die Schwäche des Instruments, gerade was die Realisierung von Schuberts Intentionen angeht, nicht hinwegtäuschen: Das ligato, das Schubert schon gleich über dem Auftakt notiert, es wird bei Badura-Skoda irgendwie unverbindlich, verliert seine bindende Kraft. Eine sich durch alles hindurchziehende Melodielinie kommt in ihrer analytischen Zerlegung nicht zustande, weil die dazugehörige Synthese fehlt, die Schließung zu einem großen, überspannenden Bogen verhindert wird. Badura-Skoda stückelt das Melodiethema zusammen aus einzelnen Segmenten, die sich miteinander verketten zu einer Art melodischem Gliederwurm: das Ganze konstituiert nicht als kohärente Gestaltqualität, sondern nur als Und-Komplex. Es mag sein, dass Badura-Skoda damit den Schein des Einfachen und somit naive Volkslied-Romantik zerstören wollte, doch leidet darunter letztlich das Entscheidende: der klavieristische Gesang. Wollte man diese Melodie, so wie sie Badura-Skoda spielt, singen, dann entspräche dies einem Sänger, dem vor Aufregung die Herztöne so laut bis zum Hals pochen, dass seine aufgeregt vibrierenden Stimmbänder das Stimmlegato sozusagen zerflattern. Bei Badura-Skoda binden die Viertel der Melodiestimme die Achtel-Bewegungen der Begleitstimme nicht, so dass sie auch kein Kontinuum schaffen, wodurch der Eindruck entsteht, dass die Achtel die Viertel sozusagen durchhämmern.


    „Durchhämmern“ ist hier leider das richtige Wort – die „Hammer“-Klaviermechanik ironisch wörtlich genommen. Originalklang-Verfechter sind felsenfest davon überzeugt, dass nur das historische Instrument „authentisch“ klingen könne, weil der Komponist ja schließlich für dieses und nur für dieses geschrieben habe. Gegen dieses Vorurteil von HIP-Enthusiasten spricht im konkreten Fall von Schuberts B-Dur-Sonate aber – das zeigen Badura-Skodas Aufnahmen auf dem Graf-Hammerflügel, auf einem Steinway und einem Bösendorfer im Vergleich gehört eigentlich evident – dass der Hammerflügel, indem er die satztechnische Ordnung der Dinge umkehrend die Nebensache zur Hauptsache macht, gerade nicht das ideale Instrument ist, um einen romantisch-homophonen Klaviersatz wiederzugeben mit einer dominierenden, tragenden Melodiestimme: Badura-Skodas Graf-Hammerflügel klingt wahrlich nicht farblos, aber dennoch trocken, hölzern, so ganz und gar nicht melodieselig. Die typische Basslastigkeit dieser historischen Instrumente konzentriert das Hören auf das Beiwerk, alle die Nebensächlichkeiten des musikalischen Untergrundes, wie wenn man bei einer Buschrose nur das Rankengeflecht des Gestrüpps zu sehen bekäme und kaum noch die schönen Blüten. Die figurativen Elemente, die nur ein Akzidens der melodischen Substanz darstellen, sie werden „substanzialisiert“, obwohl sie keine wirkliche musikalische Substanz haben.


    Die Frage ist so erlaubt: Wird nicht Schuberts romantische Sonate auf dem Hammerflügel vorgetragen zum nicht unerheblichen Teil mechanisiert und entromantisiert? Stimmbänder hämmern nicht – der Stimmgesang, dessen Ideal Schubert hier doch offensichtlich auf dem Klavier nacheiferte, ist nun einmal der Inbegriff des Nicht-Mechanischen. Das gilt im übrigen auch für den einzelnen Ton. Ein Sänger ist „indisponiert“, wenn er keinen „reinen“ Ton mehr hervorbringen kann, weil er etwa heiser ist. Dann kann er mit seiner Stimme nicht mehr frei singen, d.h. das, was im Idealfall unhörbar bleibt, die Mechanik der Tonerzeugung durch die Stimmbänder, wird hörbar und die Mühe und Not spürbar, die er hat, einen Ton überhaupt hervorzubringen. Beim spröden Hammerflügel-Klavierklang dominiert der mechanische Klopfanteil den Tonanteil. Als Hörer muss man sich sich deshalb ständig dazu zwingen, über diese unschöne Holzhammer-Klopferei angestrengt hinwegzuhören um sich mit seiner Fantasie zu suggerieren, was einfach nicht da ist: ein schöner, reiner Klavierton, wie ihn der moderne Konzertflügel bietet. An dieser Stelle erlaube ich mir die humorige Bemerkung eines bekennenden Klangästheten in Sachen Klavier: Den Hammerklavierklang zu „genießen“ hat etwas von Masochismus. Man stelle sich einen Opernliebhaber vor, der nur in Aufführungen mit indisponierten Sängern geht und diese „genießt“, etwa eine heiser krächzende Königin der Nacht, die ihre Spitzentöne hervorpresst, die er dann enthusiastisch bejubelt. Den wegen solcher Indisponiertheit verschnupften Nachbarn klärt er auf, dass zu Mozarts Zeiten solche Arien immer mit heiserer Stimme gesungen worden wären und Sänger-Indisponiertheit deswegen „historisch“ und „authentisch“ sei. Nur sie entspräche der Intention des Komponisten. Spaß beiseite: Alfred Brendel meinte – wiederum anders als sein Freund Badura-Skoda – für ihn sei und bleibe der Hammerflügel „uninteressant“. Ich muss zugeben, dass ich hier eher auf der Seite von Brendel stehe und das auch wohl so bleiben wird. Ich würde es nur anders formulieren: Ich finde solche Aufnahmen mit dem Hammerklavier durchaus „interessant“, allerdings im Sinne des Sternekochs, der ein Gericht immer dann als „interessant“ bewertet, wenn es ihm in seiner ungewöhnlichen Komposition nicht stimmig erscheint und eigentlich auch nicht wirklich geschmeckt hat.


    Ungemein lehrreich an Badura-Skodas Konzept, die Sonate gleich auf drei verschiedenen Instrumenten aufzunehmen, ist zudem die Erfahrung, dass die Klangästhetik letztlich der Pianist macht und nicht nur das verwendete Instrument. Man meint fast, Badura-Skoda habe seine Klangvorstellungen, die er auf seinem Graf-Hammerflügel gewonnen hat, auf die modernen Instrumente übertragen. Hört man den Molto-moderato-Satz mit dem Steinway, dann hebt er sich unter Badura-Skodas Händen klanglich so gar nicht ab vom historischen Instrument: Kaum zu glauben, wie spröde und hölzern auch dieser Steinway klingt, fast so, als sei er ein nur klein wenig homogener intonierter Graf-Flügel. Und nicht nur das: Der moderne Konzertflügel klingt sogar unvorteilhafter, als der Interpret dessen Stärken nicht ausspielt: die Überlegenheit in der Fähigkeit, einen Ton abzustufen, mit jeder Nuance eine andere Farbe und einen anderen Ausdruck zu geben. Badura-Skoda behält die grobe Abstufung des Graf-Flügels auch auf dem Steinway und Bösendorfer bei, wodurch fehlende Feinsinnigkeit dann zur privatio wird: Wenn man ihn nicht grobschlächtig nennen möchte, so kommt einem Badura-Skodas Pianistik in ihrer Detailarbeit doch eher undifferenziert vor, im Vergleich etwa mit Claudio Arrau allzu pauschal um nicht zu sagen: lieblos. Wenn Arrau Schuberts Liedromantik mit seinem Expressivo aufwühlend gegen den Strich bürstet, so muss man ihm doch zugute halten, dass die Melodie anders als in Badura-Skodas Hammerklavier-Ästhetik nie ihre romantische Gesanglichkeit verliert. Vor allem aber ist Arrau deutlich differenzierter, ausgefeilter, sorgfältiger – bis zur Akribie – im Detail. Dagegen wirkt Badura-Skoda Zeichung der musikalischen Figuren eher wie eine grobe Skizze oder anders gesagt: holzschnittartig. Der historische Hammerflügel ist letztlich auch nicht das richtige Instrument, um sich in pianistischem Detailfanatismus zu üben. Was ein solches Instrument ohne Zweifel wirkungsvoll und zumeist auch effektvoller als ein moderner Konzertflügel präsentieren kann, sind Tonmalereien und schauerromantische Effekte. Wo aber gerade nicht das direkt Anspringende und Aufregende der Erregung grober Affekte zählen, sondern die indirekte Rede romantisch geheimnisvollen Andeutens gefragt ist, also jenes Numinose ins Spiel kommt, von dem Paul Badura-Skoda selbst spricht, vergröbert der vordergründige Klangpositivismus des Hammerflügels eher die Ausdrucksmöglichkeiten, wo eigentlich eine Verfeinerung der musikalischen Sinne wünschenswert wäre.


    Die fehlende Feinheit in der Tonabstufung weist einmal mehr auf das grundsätzliche Problem der Interpretation klassisch-romantischer Klaviermusik auf dem Hammerklavier hin, das in einer letztlich unaufhebbaren Diskrepanz besteht: der Inkongruenz der Klangästhetik des Hammerflügels und derjenigen klangsästhetischen Idee, welche der Komposition immanent ist. Im Falle des Molto-moderato-Kopfsatzes von Schuberts B-Dur-Sonate wird diese Diskrepanz geradezu überdeutlich in der Reduktion der symphonisch angelegten, formdynamischen Prozesse des Klaviersatzes, die ihre Ursache hat in den begrenzten mechanischen Möglichkeiten des historischen Instruments. Die Romantik erhob die Symphonie zum Ideal der Musik und im Zuge der Konzeption dieser Leitidee erhält auch der Tonsatz auf einem Soloinstrument wie dem Klavier symphonische Züge. Schon für Beethovens Klaviersonaten ist rezeptionsgeschichtlich nachweisbar, dass es konzertante und symphonische Züge im Klaviersatz gibt, der Klavierklang also so etwas wie eine Transkription der dynamischen Klangfülle eines Orchesters für das Klavier darstellt. Symphonische Satztechnik in Schuberts B-Dur-Sonate ist das Bass-Ostinato (Des) im Durchführungsteil Takt 155 ff. Hier kann man sich ein leises Pochen von Paukenschlägen vorstellen, welches die Spannung hintergründig verdichtend über eine lange Zeitdistanz aufbaut, ein auf dem modernen Flügel hörbarer Effekt, der auf dem Graf-Hammerflügel aber einfach nicht zustande kommt. Quasi orchestral einen Spannungsverlauf auf dem Klavier zu realisieren, ein leises, kaum merkliches Knistern einer Spannung, die sich mehr und mehr erhöht und schließlich die Erwartung weckt, dass sich die aufgebaute Spannung auf einen dynamischen Höhepunkt angelangt schließlich entlädt, verhindern die mechanischen Grenzen des historischen Instruments: Die „trommelnden“ Tonrepetition geraten auf dem basslastigen Hammerflügel viel zu vordergründig, weil der Spieler ein wirklich klingendes und tragendes Pianissimo weder im Diskant noch im Bassbereich realisieren kann. Und dynamische Höhepunkte als Zielpunkte einer dynamischen Entwicklung lassen sich auf dem Hammerklavier mit seiner sehr beschränkten Dynamikspanne und der fehlenden Möglichkeit einer wirklich kontinuierlichen Tonabstufung schlicht nicht setzen. Badura-Skodas Graf-Flügel kappt merklich die dynamischen Spitzen und engt die dynamische Spanne von ganz leise und ganz laut auf ein moderates Mittelmaß ein. Es ist von daher sicherlich kein Zufall, dass Badura-Skoda eher Beethoven-nah die kontrastierende Syntax auf engem Raum betont als dass er in diesem Molto-moderato-Satz weitlaufende kontinuierliche Steigerungen dramatisch aufbaut. Besonders in der Durchführung macht sich dies bemerkbar, die bei Badura-Skoda wie eine zusammengestückelte Geschichte wirkt ohne eine kontinuitätsstiftende dynamische Dramaturgie im musikalischen Fluss, dessen Wellenbewegungen sich aufschaukeln zu einem großen Wellenberg als Höhepunkt hin. Man vermisst hier dann doch ein interpretatorisches Konzept wie bei Alfred Brendel, der Sinn für Schuberts – auf Bruckner vorausweisende – Dynamik hat, indem sich bei ihm aus der anfänglichen „unenthusiastischen Gefasstheit“ des Liedthemas heraus eine Dynamik rauschhafter Begeisterung entfaltet. Die Realisierung klangästhetischer Möglichkeiten dient also nicht nur der Hervorbringung von „Schönklang“, sie hat merkliche Auswirkung auch auf die Interpretation.


    Die Hammerklavier-Ästhetik fördert keine dynamischen Klangvorstellungen, sie ist geradezu antidynamisch. Das zeigt die Verwendung von Klangregistern auf dem von Badura-Skoda gespielten Graf-Hammerflügel, dem man damit seine Verwandtschaft mit dem Cembalo noch deutlich anmerkt, einem Instrument, dass die Saiten anreißt statt sie anzuschlagen und entsprechend wechselnde Farbigkeit ähnlich der Orgel durch verschiedene Klangregister und nicht dynamische Anschlagsdifferenzierung erzeugt. Badura-Skoda setzt so auch die Register des Graf-Flügels durchaus gefällig ein, womit aber einmal mehr aus der Not des Spielers eines solchen Instruments eine Tugend wird. Die klangästhetische Idee, welche Schuberts wohl „romantischster“ Klaviersonate zugrunde liegt, trennen von solchem Registerklang letztlich unendliche Weiten. Schuberts Liedhaftigkeit orientiert sich am reinen Stimmgesang, der auf einer Schattierungs- und nicht Registrierungskunst beruht, die darin besteht, ein quasi unendliches Spektrum von Tonfarben durch feine und feinste dynamische Abtönungen zu gewinnen. Solche Abtönungen sind – das dynamische Kontinuum voraussetzend – nicht gestuft wie beim Register, sondern stufenlos. Der Stimmgesang kennt kein Schubladensystem von hölzernen Klangregistern, das irgendwie mechanisch zu bedienen wäre, er verfügt über die Stimmbänder als ein organisches und nicht mechanisches Instrument, was wie das Leben ein Kontinuum ist, das Saft und Kraft hat. Erst der moderne Konzertflügel schafft die Voraussetzung für die „Transkription“ einer solchen vom Stimmgesang her gebildeten klangästhetischen Idee mit der Möglichkeit, ein solches quasi organisches dynamisches Tonkontinuum stufenloser klangfarblicher Abschattungen durch feine und feinste dynamische Anschlagsnuancen mechanisch zu gewinnen.


    Aber damit nicht genug. Nicht zuletzt lässt sich auf dem Hammerklavier das nicht realisieren, was Ernst Kurth als die „Allstimmigkeit“ eines symphonisch-dynamischen Tonsatzes bezeichnete. Das wahrnehmbare Verhältnis der Einzelstimmen ist hier nicht nur funktional durch die satztechnische Ordnung begründet als eine Unterordnung von Haupt- und Nebenstimme wie beim homophonen Satz oder eine Gleichberechtigung der Stimmen wie bei der Stimmenpolyphonie. Das Hervortreten der Stimmen entsteht in der symphonischen Allstimmigkeit nicht primär durch die Ordnungsverhältnisse, vielmehr durch ihre dynamische Intensität, wodurch eine bewegliche Vordergrund-Hintergrund-Perspektive erzeugt wird, die es erlaubt, dass die einzelnen Stimmen mehr oder weniger aus dem orchestralen Ganzen heraustreten, indem sie im Verhältnis zueinander hervortreten oder zurücktreten. Was dem historischen Hammerflügel der fehlenden Möglichkeit der quasi unendlichen, kontinuierlichen Tonabstufung im ganz Leisen und ganz Lauten wegen abgeht, erlaubt schließlich der moderne Konzertflügel: das formdynamische Spiel eines klangperspektivischen Hervortretens und Zurücktretens einzelner Stimmen, wie es etwa Wilhelm Kempff auf dem Steinway mit größter Kunstfertigkeit vorführt.

  • Fassen wir zusammen: Die Verfechter von HIP pflegen meist zu argumentieren, dass die klavierbautechnische Entwicklung vom Hammerklavier hin zum modernen Konzertflügel rein aufführungspraktische Gründe habe. Sie sei nahezu ausschließlich dem geschuldet, dass immer größere Konzertsäle immer durchsetzungsfähigere – sprich immer größere und lautere – Instrumente erforderlich gemacht hätten. Klangästhetisch dagegen wird diese Entwicklung rein privativ gesehen – sie führe zum Verlust von Authentizität, indem eine Sonate von Beethoven und Schubert so nicht mehr historisch „richtig“ klingend wiedergegeben werden könne. Paul Badura-Skodas Aufnahmen zeigen, dass eine solche Behauptung unhaltbar ist. Die bautechnischen Entwicklungen hin zum modernen Konzertflügel sind vor allem auch ästhetisch begründet. Das Klangideal einer romantischen Klaviersonate wie Schuberts B-Dur-Sonate mit seiner am Liedgesang orientierten Gesanglichkeit und seiner orchestralen Dynamik sprengen die begrenzten Möglichkeiten, welche ein Hammerflügel zu Beethovens oder Schuberts Zeiten bieten kann. Der moderne Konzertflügel ermöglicht hier die wesentlich adäquatere „Transkription“ einer solchen idealen Klangvorstellung.


    Das historische Interesse, Musik auf einem zeitgenössischen Instrument aufzuführen, ist nur dann von mehr als nur historischer Bedeutung, wenn damit auch ästhetisch ein Erkenntnisgewinn zu verzeichnen ist. Im Falle des Orchesters führte HIP zur Wiederentdeckung der Rhetorik, zeigte, dass der romantische, integrale Orchesterklang tendenziell dazu führt, dass speziell Barockmusik ihre Durchsichtigkeit, ihre Affektivität und die sprechende Individualität der Einzelinstrumente zu verlieren droht. Ein Violoncello oder eine Oboe sind allerdings im Unterschied zum Klavier ausgereifte Instrumente. Zu behaupten, ein Hammerflügel von 1820 sei ein ebenso bautechnisch wie ästhetisch „fertiges“ Instrument wie eine Violine aus dieser Zeit, ist dagegen abwegig und Ausdruck eines dogmatischen Historismus. Ein dürftiger Sustain-Effekt, fehlende Tonreinheit und Tonfülle, ein sehr eingeschränktes dynamisches Differenzierungsvermögen und fehlendes Klangvolumen sind einfach essentielle Mängel solcher Instrumente, über welche die klavierbautechnische Entwicklung hinweggegangen ist. Daniel Barenboims Maene-Flügel


    Das Hammerklavier als moderner Konzertflügel. Daniel Barenboims Maene-Flügel


    zeigt allerdings, dass es wiederum einseitig wäre, die Entwicklungen des Klavierbaus hin zum modernen Konzertflügel und insbesondere die Vorherrschaft des Steinway nur als eine Fortschrittgeschichte zu sehen. Es ist vor allem die parallele und nicht überkreuzende Besaitung des Hammerflügels, die eine andere Klangästhetik mit sich bringt und deutlich macht, dass die klavierbautechnische Entwicklung vom 18. Jhd. bis heute sowohl einen Gewinn und als auch einen Verlust bedeutet. Hier wäre es wünschenswert, die Erfahrung mit dem Spiel alter Instrumente in den Klavierbau einfließen zu lassen – gegen die Monotonie des allherrschenden Steinway-Klangs wieder für mehr klangliche Vielfalt zu sorgen. Ärgerlich ist es jedoch, wenn die Frage des verwendeten Instruments zur exklusiven Betrachtung wird, so dass die eigentlichen Interpretationsfragen völlig in den Hintergrund treten. Wenn für HIP-Fanatiker ein Svjatoslav Richter so gut wie nicht mehr existent ist, nur weil er auf dem „falschen“ Flügel spielt, dann muss man dem dagegen halten, dass nicht der verwendete Flügel, sondern die Interpretation es ist, welche letztlich darüber entscheidet, was musik- und interpretationsgeschichtlich bedeutend ist und was nicht.


    Dass Paul Badura-Skodas Aufnahmen von der Interpretation her dann doch nicht so Recht überzeugen, liegt wohl nicht zuletzt daran, dass der Interpret gerade nicht Ferruccio Busoni folgend den Klavierklang als eine „Transkription“ betrachtet, d.h. die begrenzten Möglichkeiten des Hammerklavier-Klangs durch Imagination zu erweitern sucht, sondern statt dessen in seinen eng gesetzten Grenzen sich häuslich einrichtet. Darunter leidet im Kopfsatz die Gesanglichkeit und die formdynamische Anlage, im Scherzo geht in holzschnittartiger Grobheit und Schwerfälligkeit das von Schubert gewünschte con delicatezza völlig unter. Dazu kommt ein im Ausdruck eher blasser langsamer Satz. Vor allem aber entgeht Badura-Skoda wie seinem Freund Alfred Brendel das für die Interpretation dieser letzten Schubert-Sonate für mein Dafürhalten mit Entscheidende: das spielerische Kontrapunktieren von melodischen und amelodisch-rhythmischen Elementen. Die exzentrischen Bassschläge im Trio des Scherzo-Satzes „bremsen“ nicht, sie werden nicht zu Widerhaken, weil Badura-Skoda die Bässe nicht als Kontrapunkte, sondern ledglich als Stütze der Melodiestimme aufgefasst. Keiner der drei Flügel kann sich letztlich als primus inter pares absetzen: Im Molto-Moderato-Satz bevorzuge ich den Bösendorfer, weil er durch seine Tonfülle den hölzernen Hammerklavier-Klang mildert und dem ausgedörrten melodischen Tonsatz zumindest einen Anflug von Lebensfülle verleiht. Dem Andante sostenuto vermag der Graf-Flügel vorteilhaft Farbigkeit zu verleihen, wodurch die fehlende Differenzierung und Ausdrucksarmut tonmalerisch überdeckt wird. Das bei Badura-Skoda so schwerfällig-unelegante Scherzo lässt auf dem Steinway mit seinen bekannten Vorzügen im Diskant wenigstens ein wenig Scherzo-Leichtigkeit von Ferne erahnen. Das Fazit: Badura-Skodas wie nicht anders zu erwarten sehr sachverständige Interpretation der B-Dur-Sonate geht mir über das Gediegene nicht so weit hinaus, dass ich sie unter die wirklich maßstabsetzenden Aufnahmen einordnen würde.

  • Vladimir Horowitz: Vergebliche Annäherung (Aufnahmen 25. Febr. 1953 (Carnegie Hall) und Febr.-März 1986 DGG (Studio))




    Die Geschichte der Horowitz-Aufnahmen erzählt sich einigermaßen seltsam. Horowitz hielt – wie sein Biograph Glenn Plaskin berichtet – Schuberts große B-Dur-Sonate eigentlich für nicht aufführbar. Das Werk – so Horowitz – sei „viel zu lang, zu stark nach innen gekehrt“ für einen öffentlichen Vortrag. Später gab er zu, das Werk nur deshalb aufs Programm gesetzt zu haben, um seinen Ruf als Nur-Virtuose und Tastenakrobat loszuwerden. Mit Schubert wollte sich Horowitz also als seriöser Interpret etablieren – womit er zum Vorbild für seinen späteren Bewunderer Arcadi Volodos wurde, der inzwischen in den USA nicht mehr auftritt, weil er Virtuosenprogramme strikt ablehnt, und Horowitz mit einer reinen Schubert-Platte nacheiferte. Und ob nicht zuletzt auch Katia Buniatishvili dasselbe wollte ausgerechnet mit der B-Dur-Sonate, der Welt zu zeigen: Ich bin nicht nur ein mit Virtuosität begabtes ungezähmtes Naturkind? Horowitz spielte die B-Dur-Sonate im Winter 1953 in Boston, San Francisco und Los Angeles und experimentierte dabei, auf die Reaktion des Publikums achtend, mit verschiedenen Tempi. Wandas Kritik brachte die Entscheidung: „Du hast zu langsam gespielt. Ich dachte, das Stück würde nie zu Ende sein.“ Horowitz nahm daraufhin eine leichte Kürzung im Finalsatz vor und wählte ein flüssigeres Tempo, so dass er für die gesamte Sonate insgesamt 5 Minuten weniger brauchte (zudem lässt er in diesem aufgezeichneten Mitschnitt aus der Carnegie Hall die Expositionswiederholung weg). Die Kritiker spaltete Horowitz´ Schubertsonaten-Abenteuer. In Kalifornien lobte man seinen „perfekten Schubert-Stil“, der „keine Anzeichen von jener russischen Gefühligkeit“ hätte, „die man sonst aus seinem Klavierspiel heraushörte“. Auch wurde Horowitz´ Bemühen, sich als seriöser Interpret zu präsentieren, durchaus wahrgenommen. So war im New Yorker Times Sunday zu lesen, Horowitz habe sich von einem „feuerschluckenden Virtuosen in einen selbstkritischen, stets suchenden Künstler“ verwandelt. Doch im Großen und Ganzen gab es in der New Yorker Presse scharfe Ablehnung. Man hielt Horowitz´ als Interpreten der B-Dur-Sonate für eine „eklatante Fehlbesetzung“; er habe Schuberts Intentionen „verfälscht oder zumindest überdeckt“. H.B. Haggin hatte noch drei Jahrzehnte später für Horowitz´ B-Dur-Sonate, die er damals hörte, nur ein Wort übrig: „Scheußlich!“


    Und dieses Wort „scheußlich“ – muss ich von heute aus sagen – hat für die 1953iger Aufnahme durchaus seine Berechtigung. In der Zeit Anfang der 50iger setzte sich Horowitz ohne Rücksicht über alle Bedenken hinweg, was das Bemühen angeht, den „Stil“ einer Musik zu beachten. So wird Chopins Trauermarschsonate 1950 radikal und geradezu rücksichtslos subjektiviert – wovon er sich dann in seiner späteren CBS-Studioaufnahme ebenso radikal distanziert, so dass man glauben kann, es spiele dort ein anderer Pianist. Doch während Horowitz´ subjektivistischer Exzess bei Chopin das Wunder vollbringt, die Musik in das eigene Erleben und damit in ein Seelendrama zu verwandeln, wirken genau diese Exzentrizitäten in der Schubert-Sonate aufgesetzt. Das Finale mit seinem Fortissimo-Bombast, wo er in die Tasten donnert, als habe er Schubert mit dem lärmenden Schluss des großen Tors von Kiew aus den Bildern einer Ausstellung verwechselt, ist wirklich „scheußlich“ stillos, nämlich völlig geschmacklos. Man hat das Gefühl, dass Horowitz seinem ursprünglichen Einwand, Schuberts Musik sei für eine öffentliche Aufführung zu sehr nach innen gekehrt, durch einen Vortragsstil entkräften wollte, der genau deshalb auf äußerliche Effekte setzt wie Theaterdonner und effekthascherische Bassoktavierungen. Horowitz vermittelt in der 1953iger Aufnahme eigentlich nie – vielleicht mit Ausnahme des Andante sostenuto – das Gefühl, dass er zu Schuberts letzter Sonate eine wirkliche Affinität entwickelt. Die unglaubliche Flexibilität seines Anschlags, das einzigartige Vermögen, die seelische Komplexität der Musik hervorzubringen, sie hilft ihm hier nicht. Zwar ist das gesangliche Thema des Molto moderato antithetisch gestaltet mit biegsamer Wandlung des Tons, aber insgesamt in der Tongebung zu männlich, zu wenig empfindsam. Horowitz spielt Schubert so, als sei er ein verrückter kreislerianischer Schumann, exaltiert, undiszipliniert, ständig Einfälle produzierend und verblüffende Spontanentdeckungen vorführend, die aber alle letztlich keine Konsequenzen haben, wie es sich für ein Sonatensatzdrama, das nun mal eine „Entwicklungsform“ ist, gehört. Der grundlegende Fehlgriff in Sachen Schubert ist dabei die mangelnde Einheitlichkeit eines Stils, die völlige Missachtung des Gebots ästhetischer Homogenität. Gerade damit beweist sich Horowitz wieder einmal als der Antipode von Artur Rubinstein. Durch alle Töne tönet/ Im bunten Erdentraume/ Ein leiser Ton gezogen/ Für den, der heimlich lauschet – dieses Motto von Robert Schumanns Fantasie op. 17, die Horowitz so kongenial zu interpretieren verstand, hätte er gerade bei diesem Schubert beherzigen sollen.


    Einzig das Andante sostenuto zeigt zu Beginn die Stärke von Horowitz, einen Ton von Trauer aufregend expressiv in schillernden Farben vorzuführen. Das Scherzo wiederum mit seinen willkürlich gestoßenen Akzenten, seiner vordergründigen Vitalität, hat eine Verrücktheit und einen kapriziösen Manierismus, der einfach zu Schubert nicht passt. Bezeichnend sind die Betonungen im Trio so exzentrisch, dass die nun wirklich exzentrischen Bass-Querschläger gar nicht mehr exzentrisch wirken. Horowitz´ bis zum Grotesken gehende Übertreibungsmanie – „im Konzert musst du immer ein bisschen übertreiben“, meinte er (darauf wäre hier zu antworten: ein bisschen ja, aber eben nicht zu viel!) – bringt an dieser Stelle das Entscheidende, den Durchbruch des melodisch Allzu-Schönen durch ein Unmelodisch-Hässliches, einfach egalisierend zum Verschwinden.


    Kurz vor seiner denkwürdigen Russland-Tournee 1986 nahm sich der altersreife Horowitz die B-Dur-Sonate nochmals vor. Wie nicht anders zu erwarten hat er nun die eklatanten „Scheußlichkeiten“ aus dem Schlusssatz eliminiert, aber die grundlegenden Einwände bleiben. Horowitz findet einfach nicht in diese Schubert-Innenwelt hinein: Es bleibt bei einem nun freilich faszinierend fehlschlagenden äußeren Annäherungsversuch. Die 1986iger Aufnahme mildert die Übertreibungen – das Hauptthema wirkt jetzt deutlich homogener, singender und feiner. Aber diese Altersmilde bleibt auch irgendwie unverbindlich. Es fehlt die Tiefe, die Trauer, was letztlich einen grundlegenden Mangel verrät: Was Horowitz vermissen lässt, ist die Fähigkeit zu wirklicher Identifikation mit der Musik, welche allein sie wirklich von innen heraus erschließen würde. Horowitz kompensiert statt dessen fehlende Authentizität mit gestalterischer Akribie, bemüht sich unendlich, Schubert nicht glatt, sondern extraordinär als ein fascinosum zu präsentieren, als eine unerschöpfliche Quelle von Sensationen. Fast möchte man an den Besucher eines Museums mit exotischen Exponaten denken, der mit offenem Mund vor der Glasvitrine staunt: „Ist das aber merkwürdig und interessant!“ Horowitz´ Interpretation ist so auch nicht natürlich, sondern betont manieristisch. Wie in der 1953iger Aufnahme „übertreibt“ sein Vortrag, jetzt nur nicht polternd in den groben Kontrasten – mit einer wahrlich „scheußlichen“ Ausnahme: Weil er 1986 auch die Expositionswiederholung spielt, krachen die Basstriller der Überleitung laut lärmend hinein. Hat Alfred Brendel nicht doch Recht, diese Überleitung als stilistischen Fehlgriff zu betrachten? – denkt man sich da unvermeidlich. Ansonsten zeigt sich der Horowitz-Manierismus nun subtil in den feinen Strukturen, Rhythmen und Akzenten, die alle ein wenig überbelichtet, forciert und „attraktiver“ geschminkt werden, als sie sind. In seiner späten Aufnahme findet Horowitz also einen „Stil“: den der Verfeinerung und Überfeinerung. Mit einem Wort: Das ist Schubert „dekadent“. Dekadenz als Stil bedeutet: Betonung des Unnatürlich-Künstlichen, Unerhörten, Erlesenen. Die Spielkultur von Horowitz, sie ist wahrlich erlesen, mit schier unglaublichen Wandlungen des Tons, einem atemberaubenden Pianissimo wie bei der wehmütigen Erinnerung in der Durchführung des Molto moderato. Darin ist Horowitz zweifellos einmalig und unvergleichlich. Bei keiner anderen Interpretation wird Schubert zu einem solchen Ereignis, einem Fest von unendlich feinen Nuancen, betörenden, immer wieder überraschenden malerischen Schattierungen und Umschattierungen.


    Zu einem schlüssigen Interpretationskonzept findet Horowitz in der 1986iger Aufnahme jedoch ebenso wenig wie 1953 in der Carnegie Hall. Da bekommt der Beginn der Durchführung im Kopfsatz einen klagenden Ton, doch er setzt sich einfach nicht zu einer dramatischen Verdichtung fort. Vielmehr bricht dieser glückliche Anfang ab – es folgt eine andere Sensation. Dem kompletten Satz, ihm fehlt ein dramatisch einheitlicher Strang, an dem permanent gezogen würde. Das Andante sostenuto fällt sogar – nun moderat altersmilde vorgetragen – hinter die Ausdrucksintensität von 1953 zurück. Das wirkt indifferent und ausdruckslos und Horowitz hier sogar ein wenig fahrig. Es gibt Manierismen und Exzentrizitäten ohne Ende – pochende Bässe als Momentaufnahmen, wo man denkt: Oh, was hat er dort zutage gefördert! Doch es entwickelt sich einfach nichts daraus. Die Wiederholung des Andante-Themas wirkt sogar unpersönlich, so, als wolle Horowitz hier etwas vermeiden. Doch diese Selbstbescheidung bleibt leider eine reine privatio und enthüllt keinen neuen Sinn. Das Scherzo erscheint nun klassisch gemäßigt, weitaus delikater als in der alten Aufnahme. Doch auch hier stören wieder die manierierten Akzentuierungen. Der Höhepunkt des Horowitz-Manierismus ist das Trio: Es wird zu einem Experiment, einer Rhythmus-Staccato-Studie. Das ist zweifellos betörend, aber wirklich Sinn macht es nicht. Im Finale dosiert Horowitz nun zum Glück seine pianistischen Möglichkeiten und vermeidet ohrenbetäubenden Theaterdonner. Der entscheidende Einwand bleibt aber auch hier der fehlender ästhetischer Homogenität. Horowitz findet einfach keinen einheitlichen Schubert-Ton, statt Integration gibt es vielmehr Dissoziation: Die Bässe verbinden sich nicht mit der Melodielinie.


    Was bleibt? Dieses Horowitz-Schubert-Abenteuer hat zweifellos seine faszinierenden Züge und bezeugt seine unvergleichliche Musikalität und Pianistik. Gleichwohl ist hier Horowitz´ wiederholt vergebliche Annäherung an diese letzte Schubert-Sonate zu konstatieren. Hätte er doch wenigstens im Falle der B-Dur-Sonate die Weisheit von Arturo Benedetti Michelangeli befolgt: Musik, mit der ich mich nicht vollständig identifizieren kann, übernehme ich auch nicht in mein Repertoire!


    Interpretationsvergleiche Klavier - Diskussionsforum

  • Alfred_Schmidt

    Hat den Titel des Themas von „Franz Schubert: Romantiker, klassischer Romantiker? Interpretationswege am Beispiel der Klaviersonate B-Dur D 960“ zu „Franz Schubert: Romantiker, klassischer Romantiker? Interpretationswege am Beispiel der Klaviersonate Nr 21 in B-Dur D 960“ geändert.


  • Artur Rubinstein: Romantische Klassizität (Aufnahme RCA Rom 22. April 1965)


    Artur Rubinstein nahm Schuberts B-Dur-Sonate erst in den 60iger Jahren in sein Repertoire auf. Die besprochene Aufnahme wurde zu seinem 100. Geburtstag mit Einverständnis seiner Frau erstmals veröffentlicht. Rubinstein bestand darauf, die Sonate 1969 noch ein zweites Mal aufzunehmen. Doch hier kann man die Meinung der Kritiker teilen: Am Aufnahmetag hatte Rubinstein ein belastendes Telefongespräch mit seinem älteren Sohn, so dass er wohl nicht zu der Konzentration wie üblich im Studio fähig war. Die 1965iger Aufnahme (ich besitze beide) ist die eindeutig bessere!


    Ich kenne keine andere Aufnahme (mit Ausnahme vielleicht derer von Horowitz und S. Richter), wo ein Interpret Schuberts Musik so seinen persönlichen Stempel aufprägt wie Rubinstein in dieser wirklich bewundernswerten Aufnahme: Das ist nicht einfach Schubert, sondern Rubinstein-Schubert. Was absolut nicht bedeutet, dass sich Rubinstein hier vordrängen würde mit einem betont individuell-manieriertem Vortrag. Ganz im Gegenteil: Er lässt die Musik so selbstverständlich und natürlich nur als sie selber sich aussprechen, dass man den Eindruck hat: Das ist eigentlich Schuberts B-Dur-Sonate „an sich“, ohne den Willen zur Interpretation gespielt. Doch genau da kommt Rubinsteins große Persönlichkeit zum Vorschein – er selbst verwandelt sich in die Musik mit seiner ganzen Persönlichkeit und diese wiederum in ihn. Rubinstein verabscheute jede Art von Manierismus und affektierter Sentimentalität. Sein Freund Daniel Barenboim sprach einmal davon, dass bei ihm alles durch einen „Natürlichkeitsfilter“ gehe. Das melodische Thema klingt so auch wie typischer Rubinstein: Männlich herb mit vollem Ton, „gesund“ und nicht angekränkelt, aber trotzdem niemals deutsch-derb sondern mit feiner slavischer Empfindsamkeit gespielt. Wie ein Maler die Feinheit zeigt mit einem kleinen, scheinbar unauffälligen Pinselstrich, den er hier und da anbringt, wird in Rubinsteins Herbheit immer wieder feinsinnige Sensibilität hörbar. Das Atemberaubende bei Rubinstein ist sein Klavierklang – wobei „Klang“ den Sinn für die Satztechnik der Musik einschließt. Niemand spielt diese Schubert-Sonate so wie „aus einem Guss“ wie Rubinstein, mit einer solchen absoluten Homogenität. Das hat etwas von den Qualitäten der Bildhauerei: Bei einer antiken Statue ist jedes Glied des Körpers nur als Glied der Gesamtgestalt überhaupt wahrnehmbar und nicht ist das Ganze irgendwie zerlegbar in seine Teile: Das Einzelne, es kommt stets aus dem Ganzen heraus. Rubinsteins Tugenden, die er bei Schubert einsetzt, kommen von Chopin und Brahms her: Da ist diese unglaubliche Sicherheit für die Linienführung einer Melodie, die Kunst, immer die ideale Linie zu treffen. Dazu kommt sein Sinn für Klassizität, mit der er Romantik völlig unsentimental präsentiert ohne jegliches Angekränkeltsein. Schubert wird bei Rubinstein zum Bruder von Brahms: absolut klassisch klar, herb, kraftvoll und mit einem „Gefühl“ gespielt, das den Gefühlston als absolute Musik präsentiert. Wenn der Ton traurig oder getragen ist, dann ist es eben nur der musikalische Ton, der weder besonders traurig wirken will noch irgendein aufgesetztes Betroffenheitspathos des Interpreten vermittelt. Auch Rubinstein kann – hier Horowitz vergleichbar – den Wechsel des Tons in wehmütige Erinnerung magisch vermitteln. Das Unglaubliche ist, dass Rubinsteins Interpretation des Molto moderato (er spart die Expositionswiederholung aus) so selbstverständlich wirkt, fast schon zu einfach, um wahr zu sein. Wenn man nicht wissen würde, was man alles in diesem Satz so fürchterlich verkehrt machen kann, dann könnte man fast sagen: Das ist doch alles so einfach! Genau diesen Eindruck der zwingenden Einfachheit zu vermitteln ist aber die große – und unerreichbare – Kunst von Artur Rubinstein. Schubert wird mit dieser einmaligen Interpretation zum romantischen Klassiker geadelt, steht auf einer Stufe mit Beethoven und Brahms.


    Ein Wunder ist allein schon der aufblühende, tragende Ton im Andante sostenuto. Was für ein Klang! Der Ausdruck ist der – mit Schopenhauer gesprochen – einer substantivierten traurigen Empfindung, von Trauer als Idee von Trauer, von „Traurigkeit“, eine klassische Idealisierung von Empfindsamkeit. Den getragenen Ton, das „sostenuto“, trifft Rubinstein gerade deshalb so glaubhaft, weil er sich nicht anstrengt, besonders getragen wirken zu wollen. Und Rubinsteins Gespür für das Wesentliche kann man auch hier nur bewundern, wie der rhythmische Bass zur Komplementarität wird, das Heterogene sich so ergänzt, als sei es einfach zwingend. Rubinstein will und braucht Schuberts Musik nicht zu subjektivieren, sie zerrissen oder verzweifelt zu zeigen. Das klassische Kunstwerk bannt all das in eine Form und Gestalt, was im Leben formlos auseinanderdriftet: Kunst als Form der Sammlung und Selbstüberwindung des individuellen Gebrechens. Komplexität wird so nicht reduziert, sondern erfährt eine Reinigung („Katharsis“) durch die klassische Formgebung, wird zum integralen Bestandteil des Kunstwerks als Organismus. Rubinstein ist stets unscheinbar fein und persönlich, man merkt dies oft erst beim zweiten Hinhören. Eindrucksvoll ist der Mittelteil des Andante sostenuto, der bei ihm einen choralhaft-feierlichen Ton bekommt, den man so bei keinem anderen Interpreten hört.


    Wozu Rubinsteins große Kunst fähig ist, zeigt er im Scherzo: Da meldet sich wieder unverwechselbar Rubinstein, jugendlich-burschikos, aber zugleich höchst empfindsam. Wie er den Anflug von Derbheit sogleich in Mozartsche Zartheit zurücknehmen kann, zeugt von wirklicher Empfindsamkeit. Was einen bannend festhält an Rubinsteins Vortrag besonders hier im Scherzo ist seine Abstraktheit. Bei Niemandem sonst hört man so die Strukturen wie bei einem abstrakten Gemälde als Abenteuer der Formgebung präsentiert: Da transzendiert sich Empfindsamkeit in absolute Musik. Das Trio verschlägt einem den Atem: Hier versenkt sich Rubinstein liebevoll ins Detail, zeichnet ungemein zart und fein die auslaufenden melodischen Linien nach. Das verblüffende Resultat ist, dass die Bässe nun plötzlich keine fremdartigen, exzentrischen Querschläger mehr sind, sondern sich integrieren. Rubinstein nivelliert die Asymmetrie und Heterogenität dabei keineswegs, vielmehr zeigt er, dass diese Widerborstigkeit völlig organisch ist und zur musikalischen Phrase gehört. Was bei anderen Interpreten keinen musikalisch-grammatikalischen Sinn zu machen scheint, bei Rubinstein erhält es Sinn. Man denkt sich: So und nicht anders ist es eigentlich von Schubert gemeint! Das Finale spielt Rubinstein dann auch klassisch-kraftvoll, energisch, ungemein klar und schlüssig mit der Wucht eines Johannes Brahms. Die Rhythmik, sie wird bei ihm als Formträger so organisch-natürlich vorgetragen, dass man nur sagen kann: Das ist Schubert – nicht der sentimentale Liedsänger freilich, zu den ihn die Wirkungsgeschichte gerne stilisierte, sondern der ernsthafte klassische Romantiker an der Seite von Schumann und Brahms.


    Rubinsteins 1965iger Aufnahme der B-Dur-Sonate, sie ist zusammengefasst gesprochen wahrlich großes Klavierspiel, zeitlos gültig und absolut unverzichtbar.


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