Der Michelangelo der Musik - Josquin Desprez

  • Josquin Desprez (* nach 1450 im Dörfchen Pres an der heutigen Grenze zwischen Frankreich und Belgien – † am 27. August 1521 in der Umgebung von Saint-Quentin) gehört zu den leuchtenden Gestalten der europäischen Musikgeschichte. Er war nicht nur ein Meister der Polyphonie, sondern ein Künstler von fast mythischem Rang – gefeiert zu Lebzeiten, bewundert über Jahrhunderte hinweg, und bis heute als Klangarchitekt der Hochrenaissance verehrt. Ob französischer oder franko-flämischer Herkunft: Josquin steht im Zentrum jener Schule, die die Vokalpolyphonie zur Vollendung führte und den musikalischen Ausdruck des 16. Jahrhunderts tiefgreifend prägte.


    Sein Werk ist Brücke und Gipfel zugleich – es knüpft an die klanglichen Horizonte eines Guillaume Du Fay (ca. 1397–1474) und Johannes Ockeghem (ca. 1410–1497) an, überschreitet sie jedoch durch eine neue, menschlichere Rhetorik der Töne. Josquins Musik spricht in kunstvoller Imitation und klar gegliederter Textvertonung, aber auch in seelischer Unmittelbarkeit: Worte und Klänge verschmelzen in seinem Œuvre zu geistig durchdrungener Klangrede, getragen von einer feinsinnigen Balance zwischen mathematischer Struktur und lyrischer Empfindung.


    Selbst als Sänger ausgebildet, schuf er ein nahezu ausschließlich vokales Werk – geistlich wie weltlich – das durch eindrucksvolle Klangarchitektur, innere Geschlossenheit und emotionale Tiefe besticht. Seine Messen, Motetten und Chansons gelten als Inbegriff der musikalischen Renaissance, durchdrungen von einem tiefen Verständnis für Text und Ton, für Theologie und Poesie.


    Trotz der fragmentarischen Quellenlage lassen sich wesentliche Etappen seines bewegten Lebens rekonstruieren – ein Lebensweg, der ihn von den frankoflämischen Kathedralen über italienische Fürstenhöfe bis in den Dienst französischer Könige führte, ehe er schließlich als hochgeschätzter Propst und Komponist in Condé-sur-l’Escaut sein Lebenswerk beschloss.


    Zwischen 1466 und 1475 fehlen direkte biografische Nachweise, doch aus einem Testament von Verwandten in Condé-sur-l’Escaut geht hervor, dass er dort Ländereien erbte – Besitz, der ihm Unabhängigkeit sicherte und an den er am Ende seines Lebens zurückkehrte. Vermutlich erhielt er seine musikalische Ausbildung in Cambrai, möglicherweise im Umfeld der Kathedrale, wo auch Guillaume Du Fay (um 1397–1474) gewirkt hatte.


    Spätestens seit 1475 – belegt im April 1477 – war Josquin als Sänger an der Hofkapelle von René von Anjou (1409–1480) in Aix-en-Provence tätig. Der kunstliebende Herzog hatte seinen Hof zu einem kulturellen Zentrum ausgebaut. Nach dessen Tod (10. Juli 1480) fielen die Herzogtümer Anjou und Bar an die französische Krone. Es ist gut möglich, dass Josquin gemeinsam mit der Kapelle in die Sainte-Chapelle Ludwigs XI. (1423–1483) in Paris übernommen wurde. Als der König im September 1481 einen Schlaganfall erlitt (September 1481), stiftete er eine tägliche Messe, die auch von Josquin mitgestaltet wurde. In dieser Zeit entstand möglicherweise die Motette "Misericordias Domini in aeternam cantabo", die in fünfzig großformatigen Pergamentrollen abgeschrieben und im Schloss Plessis-lès-Tours aufgehängt wurde – ein musikalisches Denkmal königlicher Frömmigkeit.


    Nach dem Tod Ludwigs XI. († 30. August 1483) verließ Josquin Frankreich. Um 1483 oder 1484 trat er in den Dienst Kardinal Ascanio Sforzas (1455–1505) in Mailand, eines kunstsinnigen und einflussreichen Würdenträgers. Als Ascanio 1484 nach Rom übersiedelte, folgte ihm Josquin und wurde Mitglied der päpstlichen Kapelle. Seine Anwesenheit dort ist für die Jahre 1486 bis mindestens 1495 belegt. Bereits 1489 scheint er vorübergehend an den Hof von Gian Galeazzo Sforza (1469–1494) zurückgekehrt zu sein. Es ist möglich, dass Josquin in dieser Zeit das höfische Leben und die Kunstszene Mailands miterlebte, in der auch Leonardo da Vinci (1452–1519) wirkte.


    Nach dem Ausscheiden aus der päpstlichen Kapelle hielt Josquin vermutlich Verbindung zum Hof Philipps I. des Schönen (1478–1506) von Burgund. Eine Widmung seiner Motette "Stabat mater" an diesen Fürsten lässt darauf schließen. Zwischen 1501 und 1503 war er höchstwahrscheinlich in der französischen Hofkapelle Ludwigs XII. (1462–1515) tätig.


    Im Jahr 1503 trat Josquin in den Dienst von Ercole I. d’Este (1431–1505), dem Herzog von Ferrara. Die Entscheidung für Josquin fiel nach eingehender Prüfung seiner und Heinrich Isaacs (ca. 1450–1517) Qualitäten. Ein Brief eines Höflings berichtet: "Isaac scheint mir besser geeignet zu sein, Eurem Herrn zu dienen (...) Josquin komponiert besser – aber nur, wenn er es will."


    Trotz solcher Vorbehalte entschied sich Ercole für Josquin und bewilligte ihm das hohe Gehalt von 200 Dukaten jährlich – mehr als je einem Musiker des Hofes zuvor gewährt wurde.


    Während seiner kurzen Zeit in Ferrara schuf Josquin einige seiner bedeutendsten Werke, darunter die tief empfundene Motette "Miserere mei, Deus", die auf eine Bußmeditation Girolamo Savonarolas (1452–1498) zurückgeht. Auch die Marienmotetten "Virgo salutiferi" und "O virgo prudentissima" sowie die berühmte "Missa Hercules Dux Ferrariae" dürften in dieser Phase entstanden sein. Die Messe, deren musikalisches Material aus dem Namen des Herzogs abgeleitet ist, wurde zum klingenden Zeugnis höfischer Selbstdarstellung.


    Doch schon nach weniger als einem Jahr verließ Josquin Ferrara wieder – nicht aus Unmut, sondern aus Furcht vor der Pest, die 1503 in der Stadt ausbrach. Der Hof floh, und Josquin kehrte nach über tausend Kilometern Reise an den Ort seiner Herkunft zurück. Am 3. Mai 1504 traf er in Condé-sur-l’Escaut ein, wo ihn das Kapitel der Kollegiatkirche von Notre-Dame zum Propst ernannte. Dort fand er ideale Bedingungen für ein stilles, schöpferisches Leben: Besitz, Ansehen, musikalisches Umfeld. Er blieb bis zu seinem Tod am 27. August 1521.


    In dieser letzten Lebensphase entstanden einige seiner reifsten Werke: die "Missa de Beata Virgine", die "Missa Pange lingua", Motetten wie "Inviolata", "Praeter rerum seriem", "Benedicta es" und das berühmte "Pater noster–Ave Maria". Auch seine Chansons wie "Mille regretz" oder "Plus nulz regretz" gehören in diese späte Phase, in der sich meisterliche Technik mit emotionaler Tiefe vereint.


    Die Gestalt Josquins bleibt uns nur in Umrissen überliefert – doch in seinen Werken offenbart sich ein Geist von universaler Kraft. Theoretiker wie Heinrich Glarean (1488–1563) und Gioseffo Zarlino (ca. 1517–1590) feierten ihn als Inbegriff musikalischer Kunst, und im 20. Jahrhundert führten Forscher wie Albert Smijers (1872–1949), Helmuth Osthoff (1883–1949) und Edward Lowinsky (1911–1991) seine Musik erneut ins Zentrum musikwissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Die internationale Josquin-Konferenz von 1971 und die weltweiten Gedenkfeiern zum 500. Todestag im Jahr 2021 unterstrichen: Josquin Desprez bleibt ein Fixstern der Musikgeschichte – dessen Strahlen bis heute reichen.

  • Zu wenig über Josquin Desprez. Ich wusste nicht, was der Komponist mit Gutenberg, Kolumbus, Luther, Kopernikus, Reformation und (Wiedeer)Entdeckung Amerikas zu tun hat...

  • Ich wusste nicht, was der Komponist mit Gutenberg, Kolumbus, Luther, Kopernikus, Reformation und (Wiedeer)Entdeckung Amerikas zu tun hat...

    Persönlich hat er sicher nichts mit den genannten Personen zu tun. Aber Desprez lebte genau wie diese in der Zeit des Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit. Entdeckungen und Erfindungen in dieser Zeit prägten auch den Komponisten, der erst durch Ottaviano Petruccis Erfindung des Notendrucks durch bewegliche Metalltypen zum berühmtesten und verbreitetsten Komponisten seiner Zeit werden konnte.

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Auf den Posten # 13 und 20 sehen wir das CD-Cover von Josquin Desprez mit dem Titel „Motets et Chansons“. Die CD ist nicht mehr erhältlich und auch bei JPC nicht zu finden. Auf dem japanischen YouTube-Kanal habe ich die Einspielung entdeckt – allerdings mit einem Schönheitsfehler: Es fehlt Track Nr. 7, „El grillo“. Trotzdem versuche ich, diese schöne und originelle CD zu beschreiben.


    Teil 1.


    Komplette Version der gleichen CD auf einem anderen YouTube-Kanal:



    Die CD „Motets et Chansons“ von Josquin Desprez, interpretiert vom Hilliard Ensemble unter der Leitung von Paul Hillier, gilt als eine herausragende Aufnahme der Renaissance-Vokalmusik. Ursprünglich 1987 bei EMI veröffentlicht, umfasst sie sowohl geistliche Motetten als auch weltliche Chansons und bietet einen umfassenden Einblick in Desprez' vielfältiges Schaffen.


    Kritiken und Rezensionen:


    Die Aufnahme wird für ihre klare Artikulation, präzise Intonation und das ausgewogene Zusammenspiel der Stimmen gelobt. Das Hilliard Ensemble bringt die polyphone Struktur von Desprez' Kompositionen eindrucksvoll zur Geltung.


    Die CD bietet eine ausgewogene Mischung aus bekannten und weniger bekannten Werken, darunter das berühmte „Ave Maria, gratia plena“ und die humorvolle Chanson „El grillo“. Diese Vielfalt ermöglicht es dem Hörer, die Bandbreite von Desprez' musikalischem Ausdruck zu erleben.


    Trotz des Alters der Aufnahme ist die Klangqualität hervorragend. Die Transparenz und Detailtreue der Aufnahme tragen dazu bei, die Komplexität der Musik klar hörbar zu machen.


    Track 1: "Ave Maria, gratia plena ... virgo serena"



    „Ave Maria ... virgo serena“ ist eine vierstimmige Motette, wahrscheinlich in den 1470er- Jahren entstanden. Sie gilt als ein Paradebeispiel für Josquins Meisterschaft in der Vokalpolyphonie.


    Die Struktur des Werks folgt dem Text in Abschnitten – jeder Teil ist einem Titel Mariens oder einem Aspekt ihres Lebens gewidmet. Die Musik reflektiert den Text durch sorgfältig gestaltete Imitationen, Homophonie, motivische Entwicklung und eine klare Textverständlichkeit.


    Das Werk beginnt mit einem feierlichen Kanon („Ave Maria, gratia plena“), in dem jede Stimme nacheinander das Thema aufgreift – ein kunstvolles Abbild marianischer Erhabenheit. Im weiteren Verlauf werden die Abschnitte freier und expressiver, was der Frömmigkeit und Emotionalität des Textes entspricht.


    Die Motette beginnt mit einer kunstvoll gestalteten Durchimitation, in der jede Stimme nacheinander das Thema aufgreift. Dieses Verfahren verleiht dem Eingang eine feierliche Würde und lässt den marianischen Charakter des Textes auf eindrucksvolle Weise hörbar werden.


    Im weiteren Verlauf setzt Josquin gezielt Kontraste zwischen imitierenden und homophonen Abschnitten ein, wodurch er dem Text eine lebendige und zugleich meditative Tiefe verleiht. Die Musik bleibt dabei stets klanglich ausgewogen, nie überladen, sondern transparent und dem Wortlaut verpflichtet. Besonders eindrucksvoll ist der Moment, in dem die Bitte „O Mater Dei, memento mei“ in langsamer Homophonie erklingt – eine Passage von stiller Innigkeit und kontemplativer Kraft, die zu den bewegendsten Augenblicken der Renaissance-Vokalmusik zählt.


    Das Hilliard Ensemble interpretiert dieses Werk mit großer Klarheit, schlanker Stimmführung und makelloser Intonation. Unter der Leitung von Paul Hillier wird jede Stimme fein abgestimmt und die polyphone Struktur mit höchster Präzision zum Klingen gebracht. Die Textverständlichkeit bleibt stets gewahrt, was besonders bei einem Werk wie diesem von zentraler Bedeutung ist, da Text und Musik bei Josquin untrennbar miteinander verwoben sind.


    Der lateinische Text des Stücks lautet:


    "Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum,

    benedicta tu in mulieribus,

    et benedictus fructus ventris tui, Jesus.

    O Maria, virgo serena,

    virgo gloriosa, virgo coelestia,

    mater Dei, ora pro nobis tuum Filium,

    dele nostra peccamina,

    et da nobis gloriam sempiternam.

    O Mater Dei, memento mei. Amen."


    Ins Deutsche übersetzt:


    "Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade,

    der Herr ist mit dir,

    du bist gebenedeit unter den Frauen,

    und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.

    O jungfräuliche Maria,

    Ruhmwürdige, Erhabene,

    immer heilige Mutter Gottes,

    bitte für uns deinen geliebten Sohn,

    unsere Sünden zu tilgen

    und uns der himmlischen Glorie teilhaftig zu machen.

    O Mutter Gottes, gedenke meiner. Amen."


    Track 2: "Absalon, fili mi" (attrib.)



    Das zweite Stück auf der CD „Motets et Chansons“ trägt den Titel „Absalon, fili mi“, ein Werk von großer emotionaler Dichte, das lange Zeit Josquin Desprez zugeschrieben wurde, dessen Autorschaft heute jedoch umstritten ist. Einige Musikwissenschaftler vermuten, dass die Motette aus dem Umkreis Josquins stammt, etwa von Pierre de La Rue (um 1460 - 1518) oder einem anderen franko-flämischen Komponisten der Generation um 1500. Die Zuschreibung an Josquin basiert vor allem auf der überlieferten Qualität und dem Ausdrucksgehalt, doch stilistische Analysen sprechen für eine andere Hand.


    Die Motette ist vierstimmig gesetzt und von düsterem, fast klagendem Charakter. Sie vertont den berühmten Ausruf aus dem Alten Testament, mit dem König David den Tod seines aufständischen Sohnes Absalom betrauert. Der biblische Text wird hier erweitert und poetisch ausformuliert, wodurch ein geistliches Klagelied von großer Tiefe und Würde entsteht. Die Musik steht ganz im Dienst dieses Ausdrucks: in einer dunklen Tonlage gehalten, mit tief liegenden Stimmen und einem getragenen Tempo, das den Schmerz und die Verzweiflung des Vaters musikalisch eindringlich verkörpert.


    Im musikalischen Aufbau zeigt sich eine enge Verknüpfung von Text und musikalischer Geste. Die Linien entfalten sich langsam, fast zögerlich, und werden immer wieder von Pausen durchzogen, die wie Seufzer wirken. Die Harmonien sind von einer gravitätischen Dichte, die sich dennoch nie ins Undurchsichtige verliert. Besonders hervorzuheben ist die Art, wie die tiefen Stimmen ein Fundament der Trauer legen, über dem die Oberstimmen wie wehklagende Rufe schweben. Die polyphone Arbeit ist kunstvoll, doch nie vordergründig; sie dient ganz dem Ausdruck einer rituellen, fast liturgischen Trauer.


    Das Hilliard Ensemble trifft den Ton dieser Motette mit großer Sorgfalt. Die dunkle Klangfarbe der Männerstimmen verleiht der Musik eine eindringliche Tiefe. Paul Hillier lässt dem Werk viel Raum zur Entfaltung, wodurch jeder Akkord, jede Wendung und jede Generalpause ihre volle Wirkung entfalten kann. Die Interpretation vermeidet jede Theatralik und setzt stattdessen auf eine stille, würdevolle Darstellung, die dem spirituellen Gehalt des Stücks gerecht wird.


    Der lateinische Text lautet:


    "Absalon, fili mi, quis det ut moriar pro te?

    O fili mi Absalon!


    Heu, me, fili mi Absalon!

    Si in foveam descendam,

    fili mi Absalon!

    Parce mihi, Domine,

    nihil enim sunt dies mei."


    Ins Deutsche übersetzt:


    "Absalom, mein Sohn, wer gibt, dass ich für dich sterbe?

    O mein Sohn Absalom!


    Weh mir, mein Sohn Absalom!

    Wenn ich hinabsteige ins Grab,

    mein Sohn Absalom!

    Erbarme dich meiner, Herr,

    denn nichts sind meine Tage."


    Track 3: Motette "Veni Sancte Spiritus"



    Die Motette, das dem Pfingstfest gewidmet ist und auf der berühmten Sequenz "Veni Sancte Spiritus" basiert, ist dem Heiligen Geist als göttlicher Lebensspender gewidmet. In der Tradition der liturgischen Musik nimmt diese Pfingstsequenz eine herausragende Stellung ein, und Josquin Desprez – dem das Werk zumeist zugeschrieben wird – greift den Text in einer vertonten Form auf, die sowohl von kontemplativer Andacht als auch von kompositorischer Raffinesse geprägt ist.


    Die Motette entfaltet sich in ruhigem, meditativen Tempo. Von Anfang an entsteht eine feierliche Atmosphäre, die durch die gleichmäßige Bewegung der Stimmen und die weiten Intervalle eine gewisse Transzendenz vermittelt. Der Anfang ist von einem zurückhaltenden, fast schwebenden Klangcharakter geprägt, der ganz im Zeichen der Anrufung des Heiligen Geistes steht. Josquin – oder der anonyme Komponist dieser Motette – gestaltet die Musik als feierliches Gebet, das in seiner klaren polyphonen Struktur die Worte des liturgischen Textes ausdeutet.


    Musikalisch lebt das Stück von der engen Imitation der Stimmen, die jedoch nie in formale Starrheit verfällt, sondern stets flexibel auf den Text reagiert. Zwischen den imitierenden Passagen treten immer wieder homophone Momente auf, in denen alle Stimmen gemeinsam die Anrufung verstärken. Dabei bewahrt die Musik stets eine gewisse Innigkeit. Die Klangbalance ist sorgfältig austariert: keine Stimme dominiert, vielmehr ergibt sich ein gleichmäßiges, ruhiges Klanggewebe. Die Musik scheint weniger auf dramatische Höhepunkte hinzuzielen als vielmehr auf eine durchgehende Atmosphäre der Sammlung und des inneren Gebets.


    Der lateinische Text der Sequenz lautet in der Motettenfassung:


    "Veni, Sancte Spiritus,

    et emitte caelitus

    lucis tuae radium.

    Veni pater pauperum,

    veni dator munerum,

    veni lumen cordium."


    Ins Deutsche übersetzt:


    "Komm, Heiliger Geist,

    und sende vom Himmel her

    den Strahl deines Lichtes.

    Komm, Vater der Armen,

    komm, Spender der Gaben,

    komm, Licht der Herzen."


    Track 4: Motette "De profundis clamavi"



    Die Motette „De profundis clamavi“ ist eine Vertonung des Psalmverses: "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir..."

    Dieser Text aus Psalm 130 gehört zu den sogenannten „Bußpsalmen“ und ist in der christlichen Tradition tief verwurzelt, insbesondere im liturgischen Kontext der Totenmesse oder der Fastenzeit. Die Vertonung, die Josquin Desprez zugeschrieben wird, spiegelt die existenzielle Dringlichkeit dieses Psalmwortes auf eindringliche Weise wider.


    Von der ersten Note an herrscht eine klangliche Tiefe, die durch die tiefe Lage der Stimmen – insbesondere der Bassstimmen – eine besondere Schwere verleiht. Die Musik entfaltet sich langsam und feierlich, fast tastend, als käme der Ruf tatsächlich „aus der Tiefe“. Die Stimmen setzen nacheinander ein, meist in freier Imitation, wodurch ein dichter, aber klar strukturierter polyphoner Klang entsteht. Der Ausdruck ist zurückhaltend, nie aufgesetzt, sondern getragen von innerer Ernsthaftigkeit.


    Im Verlauf der Motette verleiht Josquin – oder ein anonymer Komponist aus seinem Umfeld – dem Text durch kontrastierende musikalische Mittel Gestalt. Einzelne Worte wie „clamavi“ oder „exaudi“ werden hervorgehoben, ohne dass sie überbetont würden. Besonders wirkungsvoll ist die Passage „Fiant aures tuae intendentes“, in der die Musik sich fast flehend nach oben öffnet, als wolle sie sich aus der Tiefe emporheben – ein Moment intensiver musikalischer Gebetssprache.


    Das Hilliard Ensemble gestaltet diese Motette mit großer Innerlichkeit. Die Stimmen bleiben stets transparent, die Phrasierung ist subtil und sehr bewusst auf den Ausdruck des Textes abgestimmt. Paul Hillier achtet auf eine gleichmäßige Dynamik, sodass das Stück seine fast kontemplative Ruhe bewahrt. Dabei entsteht eine Atmosphäre schlichter Größe, die nicht von äußeren Effekten lebt, sondern von der Wirkung des schlichten, ernsten Klangs.


    Der lateinische Text lautet:


    "De profundis clamavi ad te, Domine.

    Domine, exaudi vocem meam.

    Fiant aures tuae intendentes

    in vocem deprecationis meae."


    Ins Deutsche übersetzt:


    "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.

    Herr, höre meine Stimme.

    Lass deine Ohren merken

    auf die Stimme meines Flehens."


    Track 5: "Scaramella va alla guerra and Scaramella fa la galla"



    Der fünfte Track der CD vereint zwei kurze und heitere Chansons, die unter dem Namen „Scaramella va alla guerra“ und „Scaramella fa la galla“ bekannt sind. Diese Stücke stehen in deutlichem Kontrast zu den vorhergehenden ernsten Motetten und zeigen eine andere, spielerische Seite des Repertoires – eine Musik, die sich an der Grenze zwischen Volkslied und Kunstlied bewegt. Die Zuschreibung an Josquin Desprez ist in beiden Fällen nicht unumstritten, wird aber vielfach für wahrscheinlich gehalten.


    „Scaramella va alla guerra“ („Scaramella zieht in den Krieg“) ist eine lebendige, fast tänzerische Komposition, die ein burleskes Bild eines Soldaten zeichnet, der sich zum Krieg rüstet – nicht ohne Ironie. Der Name „Scaramella“ deutet auf eine komische Figur hin, möglicherweise eine frühe literarische oder volkstümliche Gestalt, die sich durch Prahlerei, Tollpatschigkeit oder Übermut auszeichnet. Die Musik spiegelt diesen Charakter wider: Der Rhythmus ist markant, fast marschartig, mit pulsierenden Wiederholungen und einer eingängigen Melodik, die an die Tradition des italienischen frottole-Stils erinnert. Die Struktur ist einfach und strophisch, mit klarer Gliederung und häufigem Einsatz syllabischer Textvertonung, was zur Verständlichkeit des Textes beiträgt.


    Das zweite Stück, „Scaramella fa la galla“ („Scaramella gibt an“ oder auch „tut vornehm“), setzt die burleske Erzählung fort. Hier steht der komische Aspekt noch deutlicher im Vordergrund: Scaramella scheint sich nach seinen Kriegserfahrungen aufzuspielen oder in lächerlicher Weise zur Schau zu stellen. Auch musikalisch ist diese Chanson tänzerisch angelegt, mit betonten Rhythmen, lebendiger Dynamik und einem fast improvisatorischen Charakter. Die Stimmen imitieren sich nur gelegentlich; im Vordergrund steht vielmehr der rhythmisch gefasste Textfluss, der mit Witz und Energie vorgetragen wird.


    Das Hilliard Ensemble bringt beide Stücke mit viel Leichtigkeit und Charme zur Geltung. Die Sänger bewahren eine gewisse stilistische Strenge, lassen aber gleichzeitig Raum für eine ironische Note in der Interpretation. Paul Hillier gelingt es, diesen leichten, volkstümlichen Ton genau zu treffen, ohne ins Parodistische zu verfallen. Die Artikulation ist präzise, die rhythmische Gestaltung lebendig, und die Freude an der Musik spürbar – ein Moment des musikalischen Schmunzelns mitten in einem ansonsten eher kontemplativen Repertoire.


    Die Originaltexte dieser beiden Chansons sind größtenteils volkstümlich und in einfachem, norditalienischem Idiom gehalten. Hier eine sinngemäße Annäherung an den Inhalt von „Scaramella va alla guerra“:


    "Scaramella zieht in den Krieg,

    mit Schild und Lanze, wohl bewaffnet.

    Er marschiert mit stolzem Schritt,

    und niemand ist so tapfer wie er."


    Und zu „Scaramella fa la galla“:


    "Scaramella gibt an,

    tut, als wär er ein großer Herr.

    Doch wer genau hinsieht,

    merkt: er ist nur ein Aufschneider."


    Beide Stücke sind kleine Kabinettstücke humorvoller Vokalpolyphonie – kurze, eingängige Werke, die das Repertoire der Renaissance mit einer fröhlichen Note bereichern.


    Track 6: "In te Domine speravi, per trovar pietà"



    Der sechste Track der CD vereint auf eindrucksvolle Weise geistliche und weltliche Sphären: „In te Domine speravi, per trovar pietà“ ist ein kunstvoller Doppeltextsatz, in dem zwei verschiedene Texte – einer auf Latein, einer auf norditalienisch – gleichzeitig vertont werden. Diese Kompositionstechnik war im 15. Jahrhundert ein beliebtes Mittel, um vielschichtige Aussagen musikalisch zu gestalten. Die Zuschreibung an Josquin Desprez ist nicht ganz gesichert, doch viele stilistische Merkmale sprechen für seine Urheberschaft oder zumindest für seine Schule.


    Der lateinische Text „In te Domine speravi“ stammt aus Psalm 30 und ist ein klassisches Gebet um göttlichen Beistand: „Auf dich, o Herr, habe ich gehofft“. Der italienische Text „Per trovar pietà“ – was sinngemäß „um Erbarmen zu finden“ bedeutet – ist hingegen eine klagende, weltliche Bitte um Liebe oder Gnade, wie sie aus der höfischen Liebeslyrik bekannt ist. Durch die Kombination beider Texte entsteht eine vieldeutige Botschaft: Das Vertrauen auf göttlichen Beistand und die Sehnsucht nach menschlicher Zuwendung stehen hier kunstvoll nebeneinander – vielleicht sogar als Ausdruck spiritueller wie emotionaler Bedürftigkeit.


    Musikalisch ist das Stück äußerst raffiniert. Die Stimmen, die den lateinischen Text singen, bewegen sich eher ruhig und getragen; sie entfalten die Bitte um göttliche Hilfe mit großer Ernsthaftigkeit und kontemplativer Tiefe. Die italienischen Textzeilen hingegen sind lebendiger, manchmal fast dringlich – als drängten sie sich gegen das statuarische Gebet des lateinischen Teils. Josquin (oder ein Komponist seines Umfelds) gelingt es, beide Ebenen kunstvoll miteinander zu verweben, ohne dass die Verständlichkeit oder Klarheit verloren geht. Dabei entsteht ein polyphones Gewebe von großer Dichte und Ausdruckskraft.


    Das Hilliard Ensemble meistert diese anspruchsvolle Text- und Stimmverflechtung mit bewundernswerter Transparenz. Die Stimmen bleiben jederzeit differenziert hörbar, selbst dort, wo die rhythmische Bewegung dichter wird. Paul Hillier achtet darauf, dass der geistliche Ton des lateinischen Textes erhalten bleibt, während die italienische Linie mit leichter expressiver Färbung versehen wird. Die Wirkung ist von großer innerer Spannung – zwischen Bitte und Verzweiflung, zwischen himmlischer Hoffnung und irdischer Sehnsucht.


    Hier ein Auszug aus dem lateinischen Text:


    "In te, Domine, speravi, non confundar in aeternum:

    in justitia tua libera me."

    (Auf dich, o Herr, habe ich gehofft, ich werde in Ewigkeit nicht zuschanden werden; in deiner Gerechtigkeit befreie mich.)


    Und aus dem italienischen Text (sinngemäß):

    "Per trovar pietà, chiamo e sospiro:

    la mia speranza è morta".

    (Um Erbarmen zu finden, rufe ich und seufze; meine Hoffnung ist gestorben.)


    Dieses Stück gehört zu den feinsten Beispielen doppelbödiger Renaissancemusik – ein Werk, das gleichermaßen meditative Tiefe wie subtile Emotion transportiert.


    Track 7: „El grillo“ („Die Grille“) - nicht vorhanden auf den japanischen YouTube-Kanal; dafüt poste ich die gleiche Version des Liedes, aus anderen CD, auch von Hilliard Ensemble.



    Dieses Stück zählt zu den bekanntesten weltlichen Werken Josquin Desprez’ und ist ein Paradebeispiel für die italienische Frottola – eine populäre Liedform des frühen 16. Jahrhunderts.


    „El grillo“ ist ein vierstimmiges, syllabisch vertontes Lied, das durch seine rhythmische Lebendigkeit und lautmalerische Gestaltung besticht. Josquin imitiert darin das Zirpen einer Grille, indem er kurze, wiederholte Notenfolgen verwendet, die das charakteristische Geräusch des Insekts nachahmen. Die Stimmen bewegen sich in enger Homophonie, was dem Stück eine tänzerische Leichtigkeit verleiht.


    Ein markantes Merkmal ist die Verwendung von Repetitionen und Onomatopoesie, durch die die Musik den Text humorvoll unterstreicht. Die Struktur des Liedes folgt einem einfachen Refrain-Strophen-Muster, das typisch für die Frottola ist.


    Der Text übersetzt ins Deutsche:


    El grillo – Die Grille


    "Die Grille ist ein guter Sänger,

    sie hält ihre Töne lang.

    Gib ihr zu trinken – sie singt weiter.

    Doch sie macht’s nicht wie andre Vögel,

    die, kaum haben sie ein wenig gesungen,

    sich schon an einen anderen Ort verdrücken.

    Die Grille bleibt standhaft und treu,

    und wenn die Hitze am größten ist,

    dann singt sie – einzig aus Liebe."


    Track 8: Chanson "Mille regretz" a 4



    Der schlichte, eindringliche Text und die reduzierte, aber tief ausdrucksvolle musikalische Gestaltung haben dieses Stück zu einem der meistrezipierten Lieder der Renaissance gemacht. Obwohl die Autorschaft nicht mit letzter Sicherheit bestätigt ist, galt „Mille regretz“ bereits im 16. Jahrhundert weithin als Josquins Werk – unter anderem durch den Verweis von Kaiser Karl V. (150 - 1558, Kaiser von 1529), der das Stück als sein Lieblingslied bezeichnete.


    Der frühfranzösische Text ist knapp und konzentriert, aber von großer emotionaler Dichte. Er lautet:


    Frühfranzösisch:


    "Mille regretz de vous abandonner

    et d'eslonger vostre fache amoureuse.

    Jay si grand dueil et paine douloureuse,

    qu'on me verra brief mes jours definer."


    Deutsch (sinngemäß):


    "Tausendfacher Schmerz, Euch zu verlassen

    und fern zu sein von Eurem lieblichen Angesicht.

    Ich empfinde so großen Kummer und schmerzhafte Pein,

    dass man mich bald sterben sehen wird."


    Die Musik steht ganz im Dienst dieser schlichten, aber herzzerreißenden Botschaft. Das Chanson beginnt mit einer zarten, fast resignativen Melodie, die in allen Stimmen in enger Imitation erscheint. Die musikalische Textur ist durchsichtig, fast fragil. Der klagende Ton wird nicht durch expressive Ausbrüche, sondern durch die Zurückhaltung und die sparsame Verwendung musikalischer Mittel erzeugt. Die Harmonien bewegen sich langsam und mit großer Vorsicht, fast als müsste jede Wendung abgewogen werden. Diese musikalische Sparsamkeit macht das Stück besonders eindrucksvoll: Es wirkt wie ein leiser, verhaltener Abschied.


    Besonders berührend ist die Vertonung des Ausdrucks „dueil et paine douloureuse“ – der Schmerz ist hier nicht laut oder theatralisch, sondern von einer fast sprachlosen Tiefe. Die Stimmen sinken ab, die Bewegung wird langsamer, die Harmonien dunkler. Der letzte Vers deutet die eigene Sterblichkeit an – und auch hier folgt die Musik dieser Idee, indem sie sich nach und nach in die Tiefe zurückzieht.


    Das Hilliard Ensemble gestaltet dieses zarte Meisterwerk mit größter Zurückhaltung und einer beinahe kammermusikalischen Intimität. Die Stimmen sind perfekt aufeinander abgestimmt, der Ausdruck nie übertrieben, sondern ganz auf innere Anteilnahme konzentriert. Paul Hillier vermeidet jede Überinterpretation und lässt die Wirkung der Musik aus sich selbst heraus entstehen. Das Ergebnis ist eine Interpretation von großer Würde und stiller Kraft – ein idealer Ausdruck des melancholischen Geistes dieses Chansons.


    „Mille regretz“ ist ein musikalisches Kleinod, das trotz seines schlichten Umfangs eine ganze Welt von Trauer, Sehnsucht und Abschied in sich trägt – ein leiser, aber eindringlicher Höhepunkt der gesamten CD.


    Track 9: Chanson „Petite camusette“



    „Petite camusette“, ein kurzes, leichtes und äußerst charmantes Lied, das wahrscheinlich Josquin Desprez zuzuschreiben ist, auch wenn die Quellenlage – wie bei vielen weltlichen Werken jener Zeit – nicht eindeutig ist. Das Stück steht ganz in der Tradition der spätmittelalterlichen französischen Liebesdichtung, ist dabei aber von einer entwaffnenden Schlichtheit und Melodiosität geprägt, die es zu einem wahren Kleinod der Renaissance-Kunstliedtradition machen.


    Der Text richtet sich an ein junges Mädchen – die „kleine Camusette“, ein Kosename, der sich vermutlich vom mittelfranzösischen camus ableitet, was so viel bedeutet wie „mit Stupsnase“ oder allgemein „lieblich, zierlich“. Gemeint ist also eine zarte, möglicherweise etwas scheue junge Frau, der der Sprecher in liebevoller, beinahe kindlicher Sprache seine Zuneigung erklärt.


    Musikalisch ist „Petite camusette“ ein typisches dreistimmiges Chanson, das sich durch rhythmische Lebendigkeit und eingängige Melodieführung auszeichnet. Die Stimmen bewegen sich in enger Verzahnung, imitieren sich jedoch nicht streng polyphon, sondern wechseln zwischen kurzen imitatorischen Phrasen und homophonen, fast liedhaften Abschnitten. Die Musik ist eher syllabisch und leichtfüßig, was der scherzhaften, zärtlichen Grundhaltung des Textes sehr entgegenkommt. Die Melodie bleibt im Ohr – sie ist tänzerisch und gleichzeitig zärtlich zurückhaltend. Anders als viele ernste Chansons der Zeit steht hier das Vergnügen an der melodischen Linie und der kleinen Form im Vordergrund.


    Das Hilliard Ensemble bringt diese verspielte Leichtigkeit mit feinem Gespür für Balance und Klangfarbe zur Geltung. Die Sänger lassen ihre Stimmen sanft miteinander verschmelzen, wobei jeder Ton artikuliert und dennoch natürlich wirkt. Paul Hillier wahrt dabei einen Ton, der nie ins Übertrieben-Komische kippt, sondern dem Stück eine feine Eleganz verleiht – als handele es sich um eine musikalische Miniatur, die mit einem Lächeln vorgetragen wird.


    Der Text des Stücks lautet im Original:


    Mittelfranzösisch:


    "Petite camusette

    Ma mignonne brunette

    Je vous doy bien aimer.

    Car sans point de faintise

    Votre gente franchise

    Me fait reconforter."


    Deutsche Übersetzung:


    "Kleine Stupsnase,

    meine hübsche Dunkelhaarige,

    ich muss Euch wirklich lieben.

    Denn ohne jede Falschheit

    bringt eure anmutige Offenheit

    mir Trost und Freude."


    „Petite camusette“ ist ein lyrischer Moment voller Anmut – zart, verspielt, innig und mit einem leichten Augenzwinkern versehen. Innerhalb des Programms der CD bietet dieses Stück einen liebenswerten Kontrast zu den ernsten Motetten und beweist, wie souverän sich Josquin auch im kleineren, intimen Format des Chansons ausdrücken konnte.

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    Track 10: Chanson "Je me complains"



    „Je me complains“, ein Werk voller Melancholie und innerer Zerrissenheit, das exemplarisch für die emotional tiefgründige Seite der französischen Liedkunst des späten 15. Jahrhunderts steht. Die Komposition wird häufig Josquin Desprez zugeschrieben, obgleich – wie bei vielen seiner Chansons – die Autorschaft nicht vollkommen gesichert ist. Stilistisch jedoch spricht vieles für seine Hand: die feine melodische Linienführung, die dichte, aber klare Polyphonie und die tief empfundene Textausdeutung.


    „Je me complains“ bedeutet wörtlich: „Ich beklage mich“, oder freier übersetzt: „Ich klage mein Leid.“ Der Sprecher richtet seine Worte an eine geliebte Person, der er sich anvertraut – in einer Sprache, die zart, zurückhaltend, beinahe schüchtern wirkt. Die Klage ist nicht laut, nicht verzweifelt, sondern von einem leisen, anhaltenden Schmerz durchzogen. Das Thema des unerwiderten oder missverstandenen Liebens war in der höfischen Dichtung jener Zeit allgegenwärtig – hier aber wird es mit besonderer Innigkeit behandelt.


    Musikalisch bewegt sich das Stück in einem mittleren Tempo, mit fließender rhythmischer Bewegung. Die Stimmen imitieren sich nicht streng, sondern greifen melodische Motive locker auf und geben sie weiter. Immer wieder finden sich kurze homophone Passagen, die wie kleine Seufzer wirken – fast als würde sich der Sprecher in seiner Klage kurz sammeln, bevor er erneut seine Gedanken in Bewegung bringt. Die Harmonik ist schlicht, aber wirkungsvoll; sie unterstreicht die Stimmung der resignierten Trauer, ohne in Schwermut zu versinken.


    Das Hilliard Ensemble bringt diesen Charakter mit besonderer Sensibilität zur Geltung. Der Gesang bleibt transparent und fein phrasiert, die Linien sind weich miteinander verbunden. Paul Hillier führt die Stimmen mit ruhiger Hand durch die empfindsame Polyphonie, wobei stets das Gefühl im Vordergrund steht – nicht das kunstvolle Gefüge, sondern der innere Ausdruck. So entsteht eine Interpretation, die tief anrührt, ohne jemals sentimental zu werden.


    Der Text des Chansons lautet:


    Mittelfranzösisch:


    "Je me complains piteusement

    D'une tres belle amoureuse,

    Qui me fait vivre heureusement

    Et mourir de mort douloureuse."


    Deutsche Übersetzung:


    "Ich klage mich in tiefem Schmerz

    über eine wunderschöne Liebende,

    die mich glücklich leben lässt

    und doch an einem schmerzlichen Tod sterben macht."


    „Je me complains“ ist ein Lied von stiller Tragik – von der Schönheit der Liebe und dem Leiden, das sie mit sich bringt. Josquin (oder der anonyme Meister) hat diesen Gefühlszustand in Musik verwandelt, die auch heute noch unmittelbar berührt – gerade weil sie auf große Gesten verzichtet und in der Zurückhaltung ihre ganze Kraft entfaltet.


    Track 11: Chansons "En I'ombre d'ung buissonet"



    „En l’ombre d’ung buissonet“ übersetzt bedeutet: „Im Schatten eines kleinen Gebüschs“. Dieses französische Chanson ist ein typisches Beispiel für die höfische Natur- und Liebesdichtung des späten Mittelalters und der frühen Renaissance – ein lyrisches Kleinbild voller Andeutungen, Sehnsüchte und leiser Melancholie. Die Urheberschaft ist nicht eindeutig belegt, doch wurde das Stück seit dem 16. Jahrhundert verschiedentlich Josquin Desprez zugeschrieben, möglicherweise aufgrund seiner fein gearbeiteten musikalischen Struktur.


    Der Text ist ein klassisches Pastorale-Motiv: Ein Sprecher zieht sich in die Natur zurück – unter einen kleinen Strauch –, um nachzudenken, zu trauern oder über sein Liebesleid zu klagen. Der Rückzug in die Einsamkeit der Natur ist dabei nicht nur Ausdruck von Resignation, sondern auch ein Ort der inneren Sammlung und Selbstbetrachtung. Dieser Topos war in der spätmittelalterlichen Lyrik besonders beliebt, etwa bei Charles d’Orléans oder Alain Chartier, und wurde in der Musik vielfach aufgegriffen.


    Musikalisch zeichnet sich „En l’ombre d’ung buissonet“ durch eine zarte, liedhafte Struktur aus. Die Komposition ist dreistimmig und bewegt sich in einem fließenden, fast sprechenden Duktus. Es gibt keine aufwendige Imitation oder kontrapunktische Komplexität – vielmehr steht die Klarheit des Textes im Vordergrund. Die Melodie ist schlicht, aber einprägsam, und ruht harmonisch in sich. Sie spiegelt die Stimmung des Textes auf behutsame Weise wider: Es ist keine dramatische Klage, sondern eine stille Reflexion, getragen von stiller Melancholie und der Suche nach innerem Trost.


    Das Hilliard Ensemble begegnet diesem Stück mit feinem Gespür für Klangbalance und Phrasierung. Die Stimmen sind leicht, fast schwebend geführt, ohne jede Überzeichnung. Paul Hillier lässt die Musik ganz natürlich fließen, wodurch eine Atmosphäre entsteht, die zwischen Traurigkeit und stiller Schönheit oszilliert. Besonders eindrucksvoll ist, wie das Ensemble die Schlichtheit des Liedes als Stärke ausspielt – nichts wird forciert, und gerade dadurch entsteht ein Gefühl großer Innerlichkeit.


    Der Text lautet im Original (Mittelfranzösisch):


    "En l’ombre d’ung buissonet

    A l’entrée d’une journée,

    Me suis pourpensé eté,

    Ma dolente fortune

    Et mon cueur plein de regret."


    Deutsche Übersetzung (sinngemäß):


    "Im Schatten eines kleinen Gebüschs,

    in der Frühe eines Tages,

    habe ich nachgedacht

    über mein trauriges Schicksal

    und mein Herz voll Reue."


    „En l’ombre d’ung buissonet“ ist ein leises Lied, das von innerer Bewegung erzählt – von Rückzug, Einsamkeit und der leisen, nach innen gewandten Trauer über unerfüllte Liebe. In seiner Einfachheit liegt eine stille, zeitlose Schönheit, die vom Hilliard Ensemble eindrucksvoll zum Klingen gebracht wird.


    Track 12: „Je ne me puis tenir d’aimer“



    Chanson „Je ne me puis tenir d’aimer“, lässt sich etwa mit „Ich kann mich nicht vom Lieben abhalten“ übersetzen. Dieses kurze, aber ausdrucksstarke Lied ist ein typisches Beispiel für die französische Liebeslyrik am Übergang vom Mittelalter zur Renaissance. Die Urheberschaft ist nicht zweifelsfrei gesichert, wird aber häufig mit Josquin Desprez in Verbindung gebracht – nicht zuletzt wegen der klanglichen Eleganz und der klar strukturierten Stimmführung.


    Der Text bringt in knapper Form eine innere Zerrissenheit zum Ausdruck: Der Sprecher ist von der Liebe geradezu überwältigt, kann sich ihr nicht entziehen – auch wenn sie offenbar Leid oder Schwierigkeiten mit sich bringt. Es geht um die Macht der Leidenschaft, die sich dem Willen entzieht. Dieses Thema ist typisch für die fin’amor-Tradition, wird hier jedoch nicht mit höfischem Idealismus, sondern mit fast schlichter Direktheit vorgetragen.


    Musikalisch ist das Stück dreistimmig angelegt und bewegt sich im Spannungsfeld zwischen polyphoner Imitation und syllabischer Klarheit. Die Stimmen greifen Motive auf, reichen sie weiter, verweilen aber nicht lange bei kunstvollen Entwicklungen. Vielmehr entsteht ein durchsichtiger, fließender Klang, der sich ganz dem emotionalen Gehalt des Textes unterordnet. Die Musik bleibt schlank und folgt einer regelmäßigen Phrasierung, wobei sich die Zeilen in ihrer melodischen Anlage deutlich voneinander abheben. Dadurch bleibt der Text gut verständlich, was die unmittelbare Wirkung des Liedes unterstützt.


    Das Hilliard Ensemble gestaltet „Je ne me puis tenir d’aimer“ mit feinem Gespür für diese Balance aus schlichter Form und innerer Spannung. Die Stimmen sind zurückhaltend geführt, die Interpretation wirkt ruhig und konzentriert. Paul Hillier lässt dem Lied den Raum, den es braucht, um seine zarte Melancholie entfalten zu können, ohne es zu überdehnen oder zu dramatisieren. Es entsteht eine Atmosphäre der stillen Hingabe – als würde der Sänger den Zwiespalt zwischen Vernunft und Gefühl mit leiser Stimme gestehen.


    Hier der Text im Original:


    Mittelfranzösisch:


    "Je ne me puis tenir d’aimer,

    Si m’est grief quant faut deporter.

    Mon cueur ne se puet refrener,

    Ne son penser reconforter."


    Deutsche Übersetzung:


    "Ich kann mich nicht vom Lieben abhalten,

    so schwer ist es, auf Trost zu verzichten.

    Mein Herz vermag sich nicht zu zügeln

    noch seinen Gedanken Trost zu spenden."


    „Je ne me puis tenir d’aimer“ ist ein intimes, fast zerbrechliches Stück über das Ausgeliefertsein an die Liebe – eine musikalische Miniatur von stiller Intensität. Das Hilliard Ensemble trifft genau diesen Ton: zurückgenommen, klar, voller innerer Bewegung. Ein leiser, aber bewegender Moment innerhalb des Programms.


    Track 13: "La déploration de Jehan Ockeghem"



    „La déploration de Jehan Ockeghem“, auch bekannt unter dem Anfangsvers „Nymphes des bois“, ist Josquin Desprez’ ergreifende Totenklage auf den Tod seines verehrten Lehrers und Vorgängers Johannes Ockeghem (* nach 1420, † 6. Februar 1497).


    Das Werk zählt zu den bedeutendsten musikalischen Trauerstücken der Renaissance und ist ein Schlüsselwerk für das Verständnis von Josquins persönlichem Stil und seinem Selbstverständnis als Teil einer musikalischen Tradition.


    Der Text stammt vom Dichter Jean Molinet (1435 - 1507) und ist eine Elegie in französischer Sprache, die in der Form eines poetischen Klagelieds verfasst ist. Josquin vertont diesen Text in einer kunstvollen fünfstimmigen Motette, wobei er in der unteren Stimme das „Requiem aeternam dona eis, Domine“ als liturgisches Cantus-firmus-Zitat einfügt. Diese gleichzeitige Verwendung von französischem Trauergedicht und lateinischer Totenmesse ist ein eindrucksvolles Symbol: Die weltliche Trauer wird mit dem kirchlichen Gebet für die Verstorbenen verbunden – eine Verbindung von Kultur und Liturgie, von Gefühl und Glaube.


    Der Text beschwört die Trauer der Musen und Nymphen, die aus den Wäldern herbeieilen, um gemeinsam mit den berühmten Komponisten jener Zeit – namentlich Agricola, Compère, Brumel und Josquin selbst – den Tod Ockeghems zu betrauern. Die Verse sind reich an poetischen Bildern und zugleich sehr konkret im historischen Bezug. Die Musik trägt diesen Charakter auf subtile Weise: Der Beginn ist ruhig, fast stockend – als müsse sich die Trauer erst artikulieren. Die Stimmen setzen nacheinander ein und verschmelzen allmählich zu einem dichten, klagenden Klangbild. Dabei wird der Cantus firmus des Requiem-Gebets langsam und würdevoll durch den Bass geführt – ein musikalisches Fundament der Trauer, auf dem sich die klagenden Stimmen aufbauen.


    Josquin gelingt in diesem Werk eine tiefe musikalische Empfindung, ohne dass er zu Pathos oder Überladenheit greift. Die Kunst der Polyphonie wird hier ganz in den Dienst des Ausdrucks gestellt. Besonders eindrucksvoll ist, wie jede Strophe des französischen Gedichts eine neue klangliche Farbe annimmt – mal eindringlich flehend, mal resignativ, mal fast liturgisch entrückt.


    Das Hilliard Ensemble interpretiert diese „Déploration“ mit großer Würde und Ernsthaftigkeit. Die Stimmen sind sorgfältig ausbalanciert, jede Stimme fügt sich in das große Ganze ein. Paul Hillier lässt die Musik ruhig atmen, wahrt den zeremoniellen Charakter und bringt zugleich die zarte Emotionalität des Werkes zum Leuchten. Der Requiem-Cantus firmus wird dabei mit besonderer Zurückhaltung hervorgehoben – ein leises, stetiges Gebet unter dem Klang der trauernden Stimmen.


    Hier ein Ausschnitt aus dem Text von Jean Molinet in Originalsprache und Übersetzung:


    Mittelfranzösisch:


    "Nymphes des bois, déesses des fontaines,

    Chantres experts de toutes nations,

    Changez vos voix claires et hautaines

    En cris tranchants et lamentations.

    Car Atropos, très terrible satrape,

    A Ockeghem attrappé en sa trappe…"


    Deutsch (sinngemäß):


    Nymphen der Wälder, Göttinnen der Quellen,

    Sänger aus allen Ländern,

    wandelt eure hellen und stolzen Stimmen

    in scharfe Schreie und Klagelieder.

    Denn Atropos, die grausame, unerbittliche,

    hat Ockeghem in ihre Falle gelockt,

    den treuen Diener, der stets bereit war,

    vor allen anderen seinem Herrn zu dienen.

    Er ist tot, er ruht in kühler Erde –

    der wahre Bass, das Fundament der Musik,

    der Meister, ohnegleichen in seiner Kunst.


    Lasst nun Brumel, Compère und Josquin

    in schwarzem Kleid und mit Trauerflor

    die Totenmesse singen, die er selbst verfasste.

    Sie sollen ihre Stimmen senken und in Tränen

    den großen Ockeghem beweinen.

    Er ist dahin – unser Licht, unser Stern.

    Musik, du wirst ihn nie ersetzen.

    Möge Gott seine Seele in Frieden ruhen lassen. Amen.


    „La déploration de Jehan Ockeghem“ ist ein musikalisches Denkmal – nicht nur ein persönlicher Abschied Josquins von seinem Lehrer, sondern ein Ausdruck von Kontinuität, von musikalischer Brüderlichkeit und spirituellem Respekt. Es ist das feierliche Finale dieser CD – und zugleich ein stilles Gebet für die Toten.

  • "Missa Sine Nomine"

    The Tallis Scholars unter der Leitung von Peter Phillips (* 1953)

    Aufnahme: 2007



    Die "Missa Sine nomine" von Josquin Desprez gehört zu jenen Werken, die sich der Kategorisierung entziehen. Der Titel „ohne Namen“ verrät bereits, dass es sich um eine Messe handelt, die keinem bekannten Cantus firmus oder keiner konkreten Vorlage folgt. Josquin komponiert hier völlig frei, was in einer Zeit, in der Messzyklen in der Regel auf bekannten Chansons, Motetten oder liturgischen Gesängen basierten, bemerkenswert ist. Diese Entscheidung kann als bewusstes künstlerisches Statement verstanden werden – ein Ausdruck schöpferischer Autonomie.


    Gleichzeitig steht die Wahl des Titels „Sine nomine“ möglicherweise für eine verdeckte Widmung: Vielleicht war die Messe einer bestimmten Person zugeeignet, deren Name aus politischen, religiösen oder persönlichen Gründen nicht genannt werden durfte. In diesem Sinne könnte die Anonymität des Titels selbst eine Aussage sein.


    Entstanden ist die Messe zwischen 1492 und 1493, in Josquins mittlerer Schaffensphase.


    Diese Zeit war geprägt von einer stärkeren Durchdringung musikalischer Form und Textinhalt, von einer zunehmenden Verfeinerung der Imitationstechnik und von einer Abkehr von bloß demonstrativer Kontrapunktkunst hin zu einer Musik des Ausdrucks und der Klarheit.


    Josquin hatte zu dieser Zeit bereits für die Sforza in Mailand gearbeitet. Seine Messe scheint also in einem Umfeld entstanden zu sein, das durch humanistische Bildung, intellektuelle Durchdringung der Liturgie und die Nähe zur Macht geprägt war. Die Entstehung in einem höfisch-klerikalen Umfeld mit anspruchsvollem Publikum ist durchaus wahrscheinlich.


    Musikalisch betrachtet ist die Messe von großem innerem Zusammenhalt geprägt. Auch ohne eine erkennbare Vorlage sind die einzelnen Sätze eng miteinander verwoben – durch motivische Verwandtschaft, durch ähnliche Melodiegestalten und durch eine konsequente Imitationstechnik. Josquin arbeitet oft mit zwei- oder dreistimmigen Imitationen, bevor er den vollen vierstimmigen Satz entfaltet. Besonders im „Kyrie“ zeigt sich diese kontrapunktische Disziplin, während das „Gloria“ durch eine stärkere Textgliederung und wechselnde Stimmgruppen lebendiger wirkt. Im „Credo“ gelingt es ihm, selbst umfangreiche Textmengen klar und differenziert zu gestalten. Die entscheidenden theologischen Wendepunkte – etwa „Et incarnatus est“ oder „Et resurrexit“ – werden musikalisch hervorgehoben, oft durch reduzierte Besetzung oder durch ein Innehalten im Tempo.


    Der Eindruck, den die Messe insgesamt hinterlässt, ist der von Konzentration, Dichte und einer fast privaten Spiritualität. Sie wendet sich nicht an eine große liturgische Bühne, sondern scheint eher für eine ausgesuchte Zuhörerschaft bestimmt gewesen zu sein. Das passt zur Idee einer „geheimen“ Widmung – vielleicht an einen einflussreichen, aber diskret zu ehrenden Mäzen. Es bleibt Spekulation, doch genau darin liegt der Reiz dieser Messe: Sie gibt sich nicht preis, sondern bleibt in ihrer Anonymität ein Rätsel, das musikalisch von außerordentlicher Klarheit und Schönheit durchdrungen ist.


    Die Interpretation durch die Tallis Scholars unter Peter Phillips (* 1953) bringt diese Qualitäten mit größter Klarheit zum Vorschein. Der schlanke, transparente Klang des Ensembles legt die motivischen Verbindungen offen und lässt die Textvertonung in all ihrer Differenziertheit wirken. Besonders beeindruckend ist die Balance zwischen kontrapunktischer Strenge und klanglicher Durchsichtigkeit – eine Balance, die Josquins Musik so einzigartig macht.


    So weit der Blick der Musikwissenschaft auf dieses Werk.


    Ein Historiker erkennt in der namenslosen Überlieferung der Messe eine bemerkenswerte historische und politische Konstellation.


    Lodovico Sforza – Der große Plan eines Usurpators


    In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts war die Familie Sforza eine der mächtigsten Dynastien Norditaliens. Sie regierte das Herzogtum Mailand, das als reichstes und strategisch bedeutendstes Territorium in der Poebene galt.


    Nach der Ermordung Galeazzo Maria Sforzas (1444–1476, Herzog von 1466 bis 1476) ging die Regierung nominell auf dessen erst siebenjährigen Sohn Gian Galeazzo Sforza (1469–1494, Herzog von 1476 bis 1494) über. Die tatsächliche Macht jedoch lag schon bald in den Händen seines Onkels Lodovico Sforza, genannt „il Moro“ (um 1452–1508, Regent ab 1479, Herzog von 1494 bis 1499), einer der schillerndsten, aber auch skrupellosesten Gestalten der italienischen Renaissancepolitik.


    Lodovico, ein Mann mit tiefem Interesse für Kunst, Wissenschaft und Musik, regierte zunächst als Vormund, doch mit der Zeit drängte er seinen Neffen systematisch an den Rand der Macht.


    Gian Galeazzo wurde in das abgelegene Castello von Pavia verbannt, während Lodovico in Mailand herrschte, als wäre er längst Herzog. Um 1490 war Lodovicos Stellung zwar de facto unangefochten, doch fehlte ihm die legale Legitimation. Gerade in dieser Phase verfolgte er offenbar ein großes Ziel: die formelle Anerkennung als rechtmäßiger Herzog von Mailand – ein Vorhaben, das nicht nur politisches Kalkül, sondern auch diplomatische und symbolische Absicherung erforderte. In einem Zeitalter, in dem Macht mit göttlicher Ordnung gerechtfertigt werden musste, war der Rückgriff auf sakrale Repräsentation ein wirksames Mittel.


    Vor diesem Hintergrund könnte Josquins "Missa Sine nomine" entstanden sein. Der Komponist war in dieser Zeit mit Sicherheit im Dienst der Sforza – entweder am Mailänder Hof oder in dessen unmittelbarem Umfeld. Die Entscheidung, eine Messe „ohne Namen“ zu komponieren, mag bewusst gewählt worden sein, um einen Auftraggeber von großer, aber prekärer Machtstellung indirekt zu ehren.


    Lodovico, der noch kein Herzog war, könnte sich eine geistliche Komposition gewünscht haben, die seine Position festigte – jedoch ohne seinen Namen preiszugeben. Die Messe wäre somit ein symbolisches Machtinstrument im Gewand der Andacht: hochkulturell, intellektuell verschlüsselt und politisch risikolos. Sie könnte als musikalische Votivgabe verstanden werden – dargebracht im Vertrauen auf göttlichen Beistand für ein politisches Vorhaben, das noch im Verborgenen lag. Die Anonymität des Titels würde dann nicht auf die Abwesenheit eines Themas hinweisen, sondern auf die bewusste Verschleierung einer Widmung.


    Im Oktober 1494 starb Gian Galeazzo Sforza unter rätselhaften Umständen. Die offizielle Erklärung lautete auf eine Krankheit, doch die Witwe des Verstorbenen, Isabella von Aragón (1470–1524), war überzeugt, ihr Mann sei von Lodovico vergiftet worden. Diese Vermutung wurde von vielen Zeitgenossen geteilt. Nur wenige Tage nach Gian Galeazzos Tod ließ sich Lodovico schließlich formell zum Herzog von Mailand proklamieren, womit sein langer Weg zur Macht vollendet war. Die Umstände des Todes blieben ungeklärt – doch aus heutiger Sicht ist klar, dass der Übergang von der Regentschaft zur offenen Herrschaft nicht ohne Hinterlist, Druck und möglicherweise Gewalt erfolgte.


    Wenn die "Missa Sine nomine" tatsächlich nach 1490 entstanden ist, so wäre sie ein musikalisches Dokument aus genau jener Übergangsphase, in der Lodovico noch nicht offen regieren konnte, aber bereits auf die vollständige Macht hinarbeitete. Sie stünde dann am Schnittpunkt von Politik, Frömmigkeit und Kunst – als stille Fürbitte oder verschlüsseltes Signal eines Mannes, der seine Pläne im Innersten als gottgewollt empfand. Ein Werk der Diskretion – aber keineswegs ohne Absicht.


    "Missa Sine Nomine"