Das Kunstlied. Versuch, sein Wesen, seine kompositorische Gestalt und seine musikalische Aussage zu erschließen

  • Dieser Thread wird von mir nicht in Eigeninitiative, sondern auf Wunsch von Tamino-Mitgliedern gestartet, die dafür einen Bedarf sehen. Der Titel wurde mit Bedacht so gewählt. Die sprachliche Fassung, die zunächst vorgesehen war, „Das Kunstlied als musikalische Gattung. Eine Einführung“ nämlich, hätte einen falschen Akzent gesetzt und wurde deshalb verworfen.

    Damit ist schon angedeutet, was – aus meiner Sicht - nicht angebracht ist, weil es mir nicht wirklich zielführend erscheint:
    Dass dies ein Ort wird, an dem Belehrungen über das Kunstlied als musikalische Gattung und Vorlesungen über seine geschichtliche Entwicklung erfolgen.
    Jeder, der daran interessiert ist, kann sich die entsprechenden Informationen aus der einschlägigen Literatur beschaffen. Vor allem jedoch, - einmal davon abgesehen, dass ich partout nicht in diese Rolle schlüpfen möchte, und das aus mangelnder Kompetenz auch gar nicht kann:
    Das würde dem nicht gerecht, worauf der mir gegenüber geäußerte Wunsch hinausläuft.
    Unser Moderator Reinhard hat es auf sehr treffende Weise in die Worte gefasst: „Ich wäre definitiv einer der interessierten Leser. Ich tue mich mit dem Genre sehr schwer und warte schon lange auf jemanden, der mich an der Hand nimmt und ganz vorsichtig die eine oder andere Tür öffnet.“

    „Türen öffnen“, - das ist das Stichwort, dem für mich eine Art Leitfunktion für die Gestaltung dieses Threads zukommt. Wie diese im einzelnen aussehen könnte, weiß ich im Augenblick nicht. Ich denke sogar, es ist auch gut so, dass ich mich nicht in der Lage sehe und – wenn ich ehrlich sein soll – auch nicht willens bin, an dieser Stelle, in der Einleitung zu diesem Thread ein geschlossenes Konzept dafür vorzulegen. Auf diese Weise ist die gebotene Offenheit für Vorschläge aus dem Kreis der daran Interessierten hier im Forum gegeben.

    Darf ich mal kurz skizzieren, wie ich mir den Ablauf des Geschehens hier vorstelle?

    Er sollte:
    --- ganz wichtig: diskursiv erfolgen, also nicht in einem monologischen Auftritt meinerseits, sondern in Gestalt einer Diskussion über den gerade anstehenden Gegenstand; wir haben hier im Tamino-Forum schließlich die dafür erforderlichen Experten in Sachen Kunstlied;
    --- sich zwar nicht systematisch perfekt strukturiert ereignen, aber auch nicht als ungeordnetes Durcheinander, vielmehr dergestalt, dass Schritt für Schritt einzelne, das Thema betreffende Aspekte und Fragen so lange reflektiert und diskutiert werden, bis die gewünschte Klarheit gewonnen wurde;
    --- seine innere Struktur dadurch erhalten, dass der Diskurs an einzelnen, von den Teilnehmern eingebrachten Liedern und den durch sie sich stellenden Fragen und Problemen ansetzt; dabei ist besonders wichtig dass der Aspekt der gesanglichen Interpretationen einbezogen wird; schließlich ist er einer der maßgeblichen Schlüssel zum „Türen-Öffnen“.

    So! Das sind so meine Ideen. Und nun bitte ich sehr um Stellungnahmen dazu, - kritische, korrigierende, Ergänzungen beinhaltende oder einen Verriss mit sich bringende. Mir ist alles lieb und recht, denn ich bin tatsächlich absolut offen.

    Nur eine – aus persönlichen Gründen geäußerte - Bitte habe ich noch: Wir sollten uns bei all dem, was nachfolgt, so viel Zeit nehmen, dass kein Stress aufkommt. Denn ich möchte ja auch meinen „Schumann-Myrthen-Thread“ weiterführen und habe gar nicht damit gerechnet – und diesbezüglich auch keine Erfahrungen -, dass nun ein dazu parallel laufender Thread auf mich zukommt.

  • Hallo und guten Tag lieber Helmut,

    Freue mich darauf.


    Wäre das eine Überlegung wert,

    gleich noch einen zweiten Paralellthead aufzumachen für:

    Diskussionen von Teilabschnitten,

    der Konsens wird dann in den Hauptthead übernommen, Umgekehrt könnten auch Diskussionen, die sich in Tiefe und Breite festgefahren haben, zeitweise mal ausgelagern werden,

    Oder, konkrete offene Frage an dich oder Andere, die zwar zum Thema gehören, aber gerade jetzt nicht bearbeitet werden,

    eigentlich Alles was das Thema willkürlich zerschlagen würden.

    MfG Wilfried

  • Lieber Helmut Hofmann,


    danke zunächst dafür, dass Du Dich dafür entschieden hast, diesen Thread zu eröffnen! Die geplante Vorgehensweise finde ich logisch.


    Jeder, der daran interessiert ist, kann sich die entsprechenden Informationen aus der einschlägigen Literatur beschaffen

    Ja richtig, Fachliteratur kann sich jeder ohne Ende besorgen und auch im Internet findet man sicher eine ganze Menge Informationen.


    Trotzdem wirst Du sehen, dass diese Sache hier keineswegs "doppelt oder umonst" ist. Dafür ist das Kunstlied nach meinem Eindruck schon eine ziemlich spezielle Gattung.Dass wahrscheinlich Fragen aufkommen, die Dir ein Fachbuch nicht so ohne Weiteres beantwortet. Oder nur in akademischen Termina, die nicht einsteigertauglich sind. (Einem Buch kann man auch keine Fragen stellen.;))


    - Bitte habe ich noch: Wir sollten uns bei all dem, was nachfolgt, so viel Zeit nehmen, dass kein Stress aufkommt. D


    Das haben wir Dir ja alle im Quao Vadis -Thread schon sehr gern bestätigt. Lass`Dir bitte soviel Zeit, wie Du brauchst. Auch längere Pausen sind kein Problem. Sicher wird niemand hier drängeln.;)


    gleich noch einen zweiten Paralellthead aufzumachen für:

    Diskussionen von Teilabschnitten,

    der Konsens wird dann in den Hauptthead übernommen, Umgekehrt könnten auch Diskussionen, die sich in Tiefe und Breite festgefahren haben, zeitweise mal ausgelagern werden,Oder, konkrete offene Frage an dich oder Andere, die zwar zum Thema gehören, aber gerade jetzt nicht bearbeitet werden,

    eigentlich Alles was das Thema willkürlich zerschlagen würden.

    Ich würde diese Idee unterstützen.Ansonsten KÖNNTE es passieren, dass es hier zu wild ducheinandergeht. Reinhard oder ein anderer Moderator kann zwar immer reparieren und verschieben, aber ein Fragethread bzw. einer für Nebenbemerkungen bietet sich vielleicht an.


    Leider habe ich momentan zu Hause eine Havarie, wie ich schon im Thread zu den Korrekturen der Operninhalte anmerkte. Daher kann ich erst später mit einsteigen,


    Freundliche Grüße...MDM :hello:

    >>So it is written, and so it shall be done.<<

  • gleich noch einen zweiten Paralellthead aufzumachen für:

    Diskussionen von Teilabschnitten,

    der Konsens wird dann in den Hauptthead übernommen, Umgekehrt könnten auch Diskussionen, die sich in Tiefe und Breite festgefahren haben, zeitweise mal ausgelagern werden,

    Oder, konkrete offene Frage an dich oder Andere, die zwar zum Thema gehören, aber gerade jetzt nicht bearbeitet werden,

    eigentlich Alles was das Thema willkürlich zerschlagen würden.

    Klingt zwar verlockend, funktioniert aber technisch nicht (oder holprig). Klar kann man Beiträge zwischen Threads verschieben, aber sie ordnen sich immer chronologisch ein und dies ist nicht zu verhindern, es ist also unsere Disziplin gefragt. Wir denken aber gemeinsam drüber nach.

    Ich freue mich sehr auf das Kommende. Ich melde mich zum eigentlichen Thema morgen, habe eine zweistündige Zahnbehandlung hinter mir und muß erst mal wieder zu mir kommen...

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Hallo!


    Eine Frage, die mich hin und wieder beschäftigt, die ich allerdings für mich noch nicht abschließend klären konnte:


    Welche Bedeutung haben Volkslied bzw. Volkserzählungen (bzw. Märchen) direkt oder indirekt für das Kunstlied und die Ballade.


    So liegen Gedichten, die vertont wurden, häufig Geschichten zu Grunde, die über Jahrhunderte weitergegeben wurden und / oder die Gegenstand eines Volksmärchens sind. Beispielsweise die nordischen Elfenerzählungen, denen "Der Erlkönig", "Herr Olof" u.a. entsprungen sind.


    Gruß WoKa

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo

  • Wenn ihr´s nicht fühlt, ihr werdet´s nicht erjagen,

    Wenn es nicht aus der Seele dringt

    Und mit urkräftigem Behagen

    Die Herzen aller Hörer zwingt.

  • Welche Bedeutung haben Volkslied bzw. Volkserzählungen (bzw. Märchen) direkt oder indirekt für das Kunstlied und die Ballade.

    Lieber WoKa,

    dazu möchte ich mal zwei berühmte Beispiele nennen: Beethoven und Brahms.


    Helmut Hofmann hatte schon darauf hingewiesen, dass Beethoven ein eifriger Volkslied-Sammler und Volkslied-Veredler war. Er tat das zwar nicht aus eigenem Antrieb, es war eine Auftragsarbeit eines schottischen Musikverlegers, englische, irische, schottische und walisische Volkslieder in die klassische Tonsprache zu übertragen; da kamen etwa 180 Bearbeitungen zustande, einige davon sind ganz wunderbar.


    Etwas später kam dann Johannes Brahms, der sich aus eigenem Antrieb ganz intensiv mit dem Volkslied befasste; da war im Laufe der Zeit bei Brahms eine echte Sammelleidenschaft entstanden. Als bestes Beispiel - für Dich als Schwabe - nenne ich »Da unten im Tale läuft´s Wasser so trüb«, gerade mit diesem Stück hat Brahms sehr intensiv um verschiedene Fassungen gerungen.

  • Wenn ihr´s nicht fühlt, ihr werdet´s nicht erjagen ...

    Wie recht er hat, der Alte in Weimar, lieber hart. Ich kann mir nicht (mehr) vorstellen, dass die Annäherung an das Kunstlied vom Wissen um sein Wesen ausgehen kann, weil es bei mir umgekehrt verlaufen ist. Deshalb sei es gestattet, dass ich einen unbeachteten Eintrag aus einem anderen Thread hier ausschnittweise wiederhole:


    Ich höre seit frühester Jugend Lieder. Mein Interesse ging zunächst vornehmlich von den Texten aus. Ich wollte für mich herausfinden, ob und wie Musik das vertiefen oder verdeutlichen kann, was in Worten geschrieben steht. Also hielt ich mich an Sänger, die mir dabei halfen. Namen will ich jetzt nicht nennen, denn sie sind schon alle tot. Und ich lege keinen Wert darauf, als jemand zu gelten, der immer nur in der Vergangenheit herumwühlt. Dem ist nicht so. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass der Zugang in die Kunst des Liedes und ihrer Interpreten in der Vergangenheit zu suchen ist. Hören, hören und immer wieder hören! Vergleichen! Der Frage nachgehen, warum jener oder jene einen mehr erreichen als andere. Das dauert seine Zeit. Lieder nimmt man mal nicht so schnell mit. Viel Hugo Wolf! Bevor ich kluge Texte über Liedgesang gelesen habe, hatte ich einen ziemlich großen Bestand in mich aufgesogen. Ich glaube an die Verschiedenheit der Annäherung an Lieder. Meine ist nur eine von vielen.

    Damit will ich aber nicht behauptet haben, dass auch für mich andere Zugänge zum Lieder-Kosmos denkbar sind, nämlich die rein intellektuellen. Soll heißen: Erst das Wesen erkunden und dann dieses erworbene Wissen mit dem Gegenstand selbst vergleichen und in Beziehung setzen. Deshalb wäre ich auch an den Erfahrungen anderer sehr interessiert.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Nach Sichtung der auf die in der Threaderöffnung geäußerte Bitte hin eingegangenen Beiträge ist festzustellen:
    Ein sonderliches, breiter gestreutes Interesse an der Sache gibt es nicht. Sie wird in ihrer Sinnhaftigkeit indirekt – durch das Auffahren eines Goethe-Zitats – sogar partiell in Frage gestellt, und das ausgerechnet von einem Mitglied, das über besondere Sachkenntnisse verfügt und auf dessen Mitarbeit insgeheim gehofft wurde.
    Da ich mich aber an meine Zusage gebunden fühle, mache ich wenigstens mal - heute noch - einen Versuch.

  • Vergleich „Volkslied“ – „Kunstlied“

    Erst einmal eine unvermeidliche, weil grundlegende Vorbemerkung.

    „Kunstlied“. Dieser – musikwissenschaftliche – Terminus will sich mit seinem ersten Wortteil absetzen von dem allgemein gebräuchlichen Begriff „Volkslied“. Eine wichtige – wenn nicht die maßgebliche – Aufgabe dieses Threads wird sein, das zu konkretisieren, was der den Terminus formal prägende Wortteil „Kunst-“ beinhaltet. Man kann zunächst einmal, an seinem semantischen Gehalt ansetzend, feststellen:
    Im Unterschied zum „Volkslied“ liegt der Musik des „Kunstliedes“ eine bewusst gestaltete und von einem personal auszumachenden Komponisten ins Werk gesetzte künstlerische, in der Faktur sich niederschlagende und damit sich nicht nur dem rezeptiven Gehör, sondern auch dem analytischen Blick in die Noten darbietende Aussage-Absicht zugrunde.

    Nun weiß man allerdings längst, dass der – von völkischem Denken geleitete – Glaube, das „Volkslied“ sei auf sozusagen urwüchsige Weise aus dem Singen eines „Volkes“ erwachsen, ein Irrglaube ist. Man kennt von vielen „Volkliedern“ inzwischen die Komponisten und geht davon aus, dass in allen anderen Fällen solche am Werk waren. Aber – und das ist von großer Bedeutung – eine individuelle, personal ausgerichtete und die Liedmusik prägende Aussage weisen diese Volkslieder nicht auf. Sie bringen allesamt, und das in einfacher Liedsprache, allgemein gültige Lebenserfahrungen zum Ausdruck.

    Ich möchte nun, um zum Sinn und Zweck dieses Threads zu kommen, in einem ersten Schritt und ansatzweise das aufzuzeigen, was eine Komposition zum Kunstlied macht. Dazu nehme ich eine vergleichende Betrachtung eines Volkslieds und eines Kunstlieds vor, denen der gleiche lyrische Text zugrundeliegt. Bei diesem handelt es sich um einen, der 1808 erstmals im dritten Band der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ publiziert wurde. Er trägt dort den Titel „Rheinischer Bundesring“.

    Bald gras´ ich am Neckar, bald gras ich am Rhein,
    Bald hab´ ich ein Schätzel, bald bin ich allein!
    Was hilft mir das Grasen, wenn d 'Sichel nicht schneid't,
    Was hilft mir ein Schätzel, wenn´s bei mir nicht bleibt!

    So soll ich denn grasen am Neckar, am Rhein,
    So werf´ ich mein goldenes Ringlein hinein!
    Es fließet im Neckar und fließet im Rhein,
    Soll schwimmen hinunter ins Meer tief hinein!

    Und schwimmt es, das Ringlein, so frißt es ein Fisch!
    Das Fischlein soll kommen auf´s Königs sein Tisch!
    Der König tät fragen, wem´s Ringlein sollt sein?
    Da tät mein Schatz sagen: „Das Ringlein g'hört mein.“

    Mein Schätzlein tät springen bergauf und bergein,
    Tät mir wied´rum bringen das Goldringlein fein!
    Kannst grasen am Neckar, kannst grasen am Rhein!
    Wirf du mir nur immer dein Ringlein hinein!

    Daraus hat Auguste Pattberg (1769 – 1850) 1830 unter Verwendung volkstümlicher Vorlagen ein Volkslied komponiert, das in zahlreiche Gebrauchsliederbücher aufgenommen wurde bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts populär blieb.
    So klingt es:



    Das ist in seiner musikalischen Anlage ein geradezu klassisches Volkslied. Auf allen Strophen liegt die gleiche Liedmusik, es liegt also formal ein Strophenlied vor, und diese ist höchst einfach aufgebaut und weist alle typischen Merkmale auf. Eine Melodik, die sich in strikter Silbengebundenheit einfaltet, in syllabisch exakter Deklamation also. Sie bewegt sich dabei in einfachen und in deklamatorisch-strukturell immer gleichen Schritten, wobei nach einem Sprung oder einem Fall jedes Mal eine Tonrepetition erfolgt. Das Prinzip der Wiederholung geht dabei so weit, dass auf jedem Vers die gleiche Melodik liegt, mit dem Unterschied, dass sie beim jeweils zweiten eine Kadenz-Bewegung beschreibt, so dass sich eine Strophe bildet. Um das bei den ersten beiden Versen aufzuzeigen: Auf den Worten „am Rhein“ beschreibt die melodische Linie einen in eine leichte Dehnung mündenden Sprung über das Intervall einer Quarte, bei dem Wort „allein“ aber einen Sechzehntel-Sekundsprung, der über eine Terz zum Grundton „G“ abfällt.

    Die Harmonik ist denkbar einfach angelegt, nämlich nach dem „G-Dur-Dur-Prinzip“, also dem permanenten Wechsel zwischen Tonika und Dominante. Und das Klavier begleitet im ersten Vers im schlichten Walzertakt: Achtel im Bass, zwei Achtelakkorde im Diskant. Beim zweiten Vers sind die Achtelakkorde durch ein schlichtes Auf und Ab von Sechzehnteln aufgelöst.

    Und das nun für die nachfolgenden Betrachtungen Wesentliche ist:
    Melodik und Klaviersatz fungieren ausschließlich als Träger des lyrischen Wortes, und sie erschöpfen sich darin, die Worte singbar werden zu lassen. Der einzige darüber hinaus gehende Beitrag, den die Melodik erbringt, besteht darin, dass sie bestimmte Worte durch eine Sprung- oder Fallbewegung mit einem Akzent versieht. Eine aus der spezifischen Rezeption des lyrischen Textes hervorgehende kompositorische Aussage-Absicht ist nicht zu erkennen.

    Gustav Mahler: „Rheinlegendchen“

    Der Komponist Gustav Mahler stieß auf diesen Text im Rahmen seiner liedkompositorischen Auseinandersetzung mit den Volksliedern aus „Des Knaben Wunderhorn“ und fühlte sich von ihm unmittelbar angesprochen. Dieses in der Rezeption von lyrischem, in diesem Fall volksliedhaftem Text sich ereignende personale Angesprochen-Sein schlug sich dann in einer – eben deshalb – kunstliedhaften Komposition nieder.

    Mahler tut dabei etwas, was ein Volksliedkomponist eben gerade nicht tut:
    Im Akt der Rezeption interpretiert er den lyrischen Text und sucht dann nach den kompositorischen Mitteln, um das, was er aus ihm herausgelesen hat, auf möglichst adäquate Weise musikalisch zum Ausdruck zu bringen. Und dahinter steht das Wissen darum, dass er das mit diesen Mitteln auf viel umfassendere und tiefer gehende Weise zum Ausdruck zu bringen vermag, als dies mit Worten möglich wäre, - eben weil es musikalische sind, die ein viel größeres evokatives Potential aufweisen, weil sie auf sinnliche Weise die emotionale Dimension einzubeziehen vermögen.

    So viel zu der Frage, warum es überhaupt zur Kunstlied-Komposition kommt. Hier wird kein lyrischer Text einfach mit einer ihn einkleidenden und deklamatorisch tragenden Musik versehen, hier wird er als Grundlage dafür benutzt, eine wesenhaft personale, weil aus dessen Rezeption hervorgehende musikalische Aussage zu tätigen. Die Musik ist also der dominante und letztendlich relevante Gegenstand, um den es, im Unterschied zum Volkslied, beim Kunstlied geht.

    Was aber hat Mahler aus diesem „Wunderhorn“-Text herausgelesen und für so bedeutsam gefunden, dass er Liedmusik daraus gemacht hat?
    Ihm ist, so vernimmt man das aus ihr, darin eine – allzeit existenziell relevante – kleine Lebensgeschichte begegnet. Da macht ein Mensch die für das Sein in dieser Welt über alle historische Zeit hinweg sich immer wieder ereignende Erfahrung der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, - insbesondere im Fall der Suche nach Zweisamkeit in der Liebe zum Anderen. Das drückt sich hier in der Metapher vom „Grasen“ und der nicht schneiden wollenden „Sichel“ aus. Nun aber macht dieser Mensch etwas, was allemal eine Hilfe verspricht: Er flüchtet sich in die märchenhafte, weil den Zauber in Anspruch nehmende Imagination einer gelingenden Liebe. Eine kleine Geschichte ereignet sich darin, die vom in den Rhein geworfenen „Ringlein“. Und sie mündet in den Rat an alle, die in der gleichen Situation sind: Mach das auch so; Träumen und auf einen Zauber hoffen hilft.

    Genau das vernimmt und erlebt man in Mahlers zauberhaft schöner, weil erzählender und darin vielgestaltiger, alle Dimensionen des Träumens und Hoffens auslotender Liedmusik.
    Hier ist sie zu hören:



    Hier nun nur so viel Kommentar, wie erforderlich ist, um aufzuzeigen, worin sich der Kunstliedcharakter der Komposition konstituiert.
    Aus diesem Wunderhorn-Gedicht ein einfaches Strophenlied zu machen, so wie Auguste Pattberg, kam für Mahler nicht infrage, wollte er doch – und das ist das zentrale Anliegen des Kunstlied-Komponisten - die unterschiedlichen lyrischen Aussagen der Strophen mit einer sie in ihrem Gehalt und der darin sich manifestierenden Haltung des lyrischen Ichs, so wie sie ihm in der Rezeption des Gedichts begegnet ist, mittels einer adäquaten Liedmusik erfassen. Die ersten beiden Strophen bestehen ja in ihrem Gehalt aus situationsbezogenen, in sprachlich konstatierendem Gestus erfolgenden Aussagen, während sich in den beiden nachfolgenden die imaginierte, in Gestalt von narrativem Präsens ausgedrückte zauberhafte Geschichte ereignet.

    Also machte er aus diesem Gedicht ein von ihm mit dem Titel „Rheinlegendchen“ versehenes durchkomponiertes Lied, das zwar eine durch eine je eigene Liedmusik und Klavierzwischenspiele gebildete Gliederung in Strophen aufweist, ohne dass diese jedoch mit der des lyrischen Textes identisch ist. Der Kunstliedkomponist fühlt sich also nicht in gleichsam sklavischer Weise an die prosodischen Gegebenheiten des lyrischen Textes gebunden. Er muss zwar nicht, kann sich aber, weil es ja um die Gestaltung einer zwar textgebundenen, gleichwohl aber autonomen Liedmusik geht, durchaus mehr oder weniger stark lösen, ja sogar auf vielerlei Weise, zumeist durch Wiederholungen, aber im Extremfall sogar durch eigene Zusätze in ihn eingreifen. Mahler tut das hier nicht, weil er sich dem Volksliedgeist verpflichtet fühlt und diesen sogar durch die spezifische Anlage der Liedmusik, insbesondere im Bereich der Melodik, aber auch noch andere kompositorische Mittel, sogar wiederbeleben will.

    Weil die innere Haltung des lyrischen Ichs - so wie sie Mahler in diesem Wunderhorn-Gedicht begegnet ist und wie er sich darin angesprochen fühlt - durchweg die eines von seiner „Ringlein“-Imagination beseligten, weil durch sie der realen Lebenswirklichkeit enthobenen Menschen ist, legt er seiner Komposition eine Liedmusik zugrunde, die sich in einer vom Dreiachteltakt getragenen und beförderten selig-beschwingten Melodik ergeht, die so sehr alles durchdringt, dass sogar der Klaviersatz von ihr erfasst wird und sich seinerseits in melodischen Figuren entfaltet, die man gar nicht mehr los wird, wenn man sie einmal vernommen hat, - so eingängig sind sie. Schon das sechzehntaktige Vorspiel, in das sich am Ende die Singstimme auftaktig eingliedert, ist in seinem klanglichen Wesen eminent melodiös. Wobei überaus reizvoll ist, dass sich die melodische Linie darin zögerlich entfaltet

    Die so überaus große Eingängigkeit der Musik dieses Liedes gründet auch darin, dass sie zwar motivisch vielfältig ist, in ihrer musikalischen Substanz aber sehr einheitlich und geschlossen wirkt, insofern melodische Motive sich nach dem Prinzip des variierten Strophenliedes wiederholen, die melodische Linie auf fließendes Sich-Entfalten angelegt ist und, eben weil es um die Generierung von Volksmusik-Geist geht, ihre Harmonisierung weit ausgreifende und schroffe Modulationen meidet.

    Ein diese Komposition in ihrem liedmusikalischen Wesen stark prägender Faktor sind im Bereich der Melodik die vielen Korrespondenzen in den Figuren, die sich aus der Bewegung der melodischen Linie ergeben. Dabei geht es nicht um strukturelle Identität, sondern eher um so etwas wie Anklänge. Und darin zeigt sich die hohe Kunstfertigkeit der Komposition, die – und das ist in diesem Fall die grundlegende Intention des Kunstlied-Komponisten Mahler - auf diesem Weg Volksliedhaftigkeit zu generieren vermag.

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  • Sie wird in ihrer Sinnhaftigkeit indirekt – durch das Auffahren eines Goethe-Zitats – sogar partiell in Frage gestellt

    Was in keiner Weise meine Absicht war, aber wenn man sich nichts mehr zu schreiben traut, dann dient das nicht der Lebendigkeit eines Threads.


    Was Du da an den Anfang gestellt hast, finde ich nämlich ganz hervorragend gemacht; es erfordert ja einiges an Grübelei ... wie fange ich so etwas denn an. Hätte ich es machen müssen, wäre ich vermutlich auf »Der Lindenbaum«, also Silcher / Schubert oder »Die Loreley«, Silcher / Liszt, gekommen.


    Also sei bitte nicht böse, wegen dieser vier Faust-Zeilen, wie Du ja weißt, hatte der Geheimrat auch seine Schwierigkeiten mit Newton ... aber das ist eine andere Geschichte...

  • Was in keiner Weise meine Absicht war, aber wenn man sich nichts mehr zu schreiben traut, dann dient das nicht der Lebendigkeit eines Threads.

    Verzeih, lieber hart, aber ich habe es so aufgefasst.

    Das ist halt das Problem mit den Zitaten: Man muss sie deuten, und das ereignet sich häufig auf unterschiedliche Art und Weise.

    Aber nein! "Böse" bin ich absolut nicht. Warum denn auch?


    Ohnehin ist das alles kein Problem hier mehr. Denn der Start eines "Parellelthreads" zu diesem hat mich derart verstört, dass ich auf der Stelle diesen hier aufgegeben habe.

    Ich verstehe einfach nicht, warum man einen neuen Thread zum gleichen Thema startet, noch bevor überhaupt der erste Ansatz zu einer Diskussion über das stattgefunden hat, was einleitend hier ausgeführt wurde. Mit einer reflexiven und diskursiven Auseinandersetzung mit der Frage, was das Wesen eines Kunstliedes ausmacht, hat solcher Aktionismus nichts zu tun.


    Worum es hier im Kern geht, lässt dieser inzwischen im Thread

    Fragen und Anmerkungen zum Thema: Das Kunstlied. Versuch, sein Wesen, seine kompositorische Gestalt und seine musikalische Aussage zu erschließen

    getätigte Beitrag von Rheingold 1876 erkennen:


    "Diesen von Dir, lieber MDN, gestarteten ergänzende Thread empfand ich als sehr sinnvoll. Er hätte dem Thema auch eine stärkere Präsenz im Forum geben können und vielleicht auch mehr Mitglieder ermutig, sich zu Wort zu melden, die das in Helmuts Themen, die in Teilen sehr theoretisch angelegt sind und auf einer genauen Notenkenntnis beruhen, scheuen. Es hat wohl nicht sollen sein."


    Ich muss mir wohl ernsthaft Gedanken darüber machen, welche Konsequenzen ich daraus zu ziehen habe.

    Zunächst einmal ist meine Betätigung in diesem Thread beendet, und das ist definitiv mein letzter Beitrag zu ihm.

    Wie es weitergehen soll für mich hier im Tamino-Forum, - ich weiß es nicht.

  • Hallo und guten Tag mein lieber Helmut,

    Das nachfolgende auf deine Eröffnung hin geschrieben.

    Mir scheint, ich bin dadurch zum Ausĺöser einer "Irrtumskette geworden.

    Meine Frage an dich, wurde von andere Mitgliedern aufgegriffen und quasi umgesetzt.

    MfG Wilfried

  • So wie es aussieht, werde ich mir also selber helfen müssen...


    Wenn ich dies lese:

    Wenn ihr´s nicht fühlt, ihr werdet´s nicht erjagen,

    frage ich mich allerdings, ob ich nicht von vornherein auf verlorenem Posten stehe...


    Es gibt so ein paar Fragen, die mich bewegen...

    Warum kann ich mich unendlich an Liedern mit orchestraler Begleitung erfreuen, z.B. Strauss (Vier letzte Lieder) oder aber ganz besonders Dvorak (Biblische Lieder)?

    Warum finde ich zu den so kennengelernten Liedern auch problemlos Zugang, wenn sie nur mit Klavierbegleitung dargeboten werden?


    Wieso empfinde ich Lieder oft als "gekünstelt", "gefühlsmäßig aufgesetzt und übertrieben" (sorry, bessere Begriffe fielen mir nicht ein im Moment... Beispiele müßten natürlich noch folgen)?


    Zweifellos spielt die Sprache, die Sprachmelodie eine entscheidende Rolle. Wie könnte es sonst sein, daß ich Dvoraks Biblische Lieder von Peter Schreier auf deutsch gesungen kaum anhören kann, obwohl ich Schreier durchaus verehre. Ist das normal, oder bin ich nur überempfindlich?


    Wenn ich es "schlicht" und gefühlsmäßig eher undramatisch liebe, bin ich dann beim Kunstlied falsch? Oder welche Lieder welches Komponisten sollte ich mir anhören?


    Ich bitte um Entschuldigung wenn das jetzt so massiv und naiv hier rüberkommt. Aber ich hatte gehofft, dies Fragen so nach und nach im Verlauf des Threads loszuwerden...

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Hallo Reinhard


    Nun bin ich leider nicht der Spezialist, der Deine Fragen beantworten kann. Vielleicht komme ich allerdings im Dialog mit Dir dahinter, weshalb ich selbst Kunstlieder so gerne und intensiv höre. Die Liebe zum Kunstlied hat sich im Laufe meiner Tamino-Mitgliedschaft entwickelt und sich ständig erweitert. Während ich zu Beginn zunächst eingängigere - vielleicht "gefälligere" - Lieder hörte, scheue ich mittlerweile auch vor Berg, Webern und Eisler nicht mehr zurück. Allerdings kann ich nicht schlüssig erkennen, worin der Treiber für mich besteht.


    Zwei Fragen habe ich an Dich:


    Wie stehst Du zur Poesie? Welchen Zugang hast Du zu Gedichten? Denn soviel kann ich schon sagen, dass diese Affinität bei mir vorhanden war (wenn ich sie auch nicht sonderlich ausgelebt habe), bevor die Liebe zum Lied entstand.


    Welche Rolle spielen bei Orchesterliedern (oder der Klavierfassung von solchen) die poetischen Grundlagen? Sind die Hesse-Gedichte der ersten drei der Vier letzten Lieder Teil Deines Zugangs zu den Stücken? Oder fungiert die menschliche Stimme nur als weiteres Instrument? Frei vom Inhalt?


    Gruß WoKa

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo