Slawische, liturgische Gesänge

  • In den orthodoxen Kirchen bzw. byzantinisch-orthodoxen Kirchen haben die Gesänge in der Liturgie einen besonderen Stellenwert. Sie sind gesungene Gebete, die im Gottesdienst erklingen. Der Gebrauch von Instrumenten ist nicht gestattet. Als Begründung wird gesagt, dass Instrumente nicht beten können.


    Über die musikalischen Regeln weiss ich wenig. Vor vielen Jahren bin ich dieser Musik erstmals in dieser Aufnahme begegnet, in der Mönche des Kloster Chevetogne liturgische, slawische Gesänge mit einem besonderen Timbre vortragen. Wechselgesänge eines Vorsängers mit dem Chor sind ein Merkmal. Des weiteren sind lange Melodiebögen hervorzuheben. Die Chorsätze sind mehrstimmig. Wenn ich sie mit dem gregorianischem Gesang vergleiche, findet man in der Orthodoxie belebtere Melodielinien mit Gegenstimmen. Oft ist es ein Sprechgesang in griechischer oder Landessprache der slawischen Völker.



    Lange war nur die leere Hülle im Regal. Ich hatte die Scheibe in eine andere gesteckt und ich fand sie nicht mehr. Jahrelang war sie in der Sammlung verschollen, was mich sehr gewurmt hat. Ich wusste, dass sie irgendwo war. Aber wo? Heute ist sie wieder zum Vorschein gekommen! Meine Freude ist gross, denn diese Musik ist etwas Besonderes.


    Ich habe mir noch diese Aufnahme der Mönche des gleichen belgischen Benediktiner-Klosters besorgt mit Gesängen des Kirchenjahres.



    Ein Beispiel daraus:



    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Lieber Moderato,


    diesen Beitrag muss ich leider gründlich zerpflücken.


    Für den Anfang ganz kurz im Telegrammstil:


    Die Geschichte der Kirchenmusik der orthodoxen Kirchen ist ein so komplexer Kontinent wie die Geschichte der katholischen Kirchenmusik (der ja ihrerseits auch wieder unierte orthodoxe Kirchen anhängen).


    Orthodoxe Kirchenmusik gibt es in unterschiedlichen Sprachen. Jedoch meist nicht in gewöhnlichen Verkehrssprachen/Landessprachen. Die Sprache der Kirchenmusik der ost-slawischen Völker ist meist "kirchenslawisch" oder "altkirchenslawisch". Diese Sprache geht angeblich auf die Völkerapostel Kyrill und Method zurück und ist als Liturgiesprache, nicht als Verkehrssprache anzusehen (Ausnahmen bestätigen die Regel). Die kyrillische Schrift geht übrigens nicht auf Kyrill zurück. Sie ist jünger. Auf Kyrill geht angeblich die glagolitische Schrift zurück.


    Einheitliche musikalische Regeln gibt es bei einem so komplexen Gebiet natürlich nicht. Den gregorianischen Choral mit polyphoner orthodoxer Kirchenmusik zu vergleichen deutet darauf hin, dass Du vielleicht polyphone slawisch-orthodoxe Musik für irgendwie zeitlos hältst, was ein verständlicher Anfängerfehler aber ein großer Irrtum ist.


    So viel für den Moment, bei Gelegenheit in aller Ruhe mehr dazu.


    :hello:

    Er hat Jehova gesagt!

  • Lieber Johannes Schlüter


    Danke für deine wertvollen Ausführungen. Wie viele Leser dieses Threads habe auch ich wenig Kenntnisse über die slawische Kirchenmusik. Daher sind Beiträge von Tamino-Mitglieder, die ihr Wissen einbringen, besonders wertvoll.


    Als ich nach einem bereits bestehenden Thread zu slawischen, lithurgischen Gesängen im Taminno Forum suchte, war ich erstaunt, dass nichts Entsprechendes zu finden ist. Zur katholischen Kirchenmusik gibt es einiges.


    Wahrlich ist dieses Thema ein weites Feld, das lohnt, sich damit hörend wie lesend zu beschäftigen.


    Es grüsst dich herzlich


    moderato

    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Reinhard

    Hat den Titel des Themas von „Slawische, lithurgische Gesänge“ zu „Slawische, liturgische Gesänge“ geändert.
  • Wenige werden Kenntnisse zum Thema des slawischen, liturgischen Gesanges besitzen. Deshalb zitiere ich aus dem Booklettext der von mir in Beitrag 1 gezeigten Aufnahme "Russische Klostervesper" *, den Johann v. Gardner (1898-1984) verfasst hat. Er war ein in Russland geborener slawischer Musikwissenschaftler


    "Eine richtige Auffassung von dem Kirchengesang der Ostkirche, besonders der russischen Kirche, ist nur dann möglich, wenn die Gesänge in der zu ihnen gehörenden liturgischen Umrahmung vernommen werden. Deshalb zeigt die vorliegende Aufnahme die Vesper nicht nur von der musikalischen, sondern auch von der liturgischen Seite, und zwar in der Form, wie sie in einem russischen Kloster zelebriert wird.

    Der Klostergesang stellt im System der liturgischen Musik der russisch-orthodoxen Kirche einen besonderen Typus dar und unterscheidet sich in vielen Zügen von dem Kathedralen - und Pfarrkichgesang. Die wichtigsten Merkmale sind:

    1. das Singen nach dem Kanonarchen. Der Kanonarch ist ein Lektor oder Sänger, der die Texte der Proprien Satz Um Satz den Sängern recto toto souffliert; bei der letzten Textphrase macht er eine kurze Kadenz, die den Sängern zeigt, dass sie hier die musikalische Schlussphrase anwenden müssen.

    2. auswendiges Singen nach traditionellen Mustermelodien der acht Kirchentöne; komponierte Gesänge werden nur ausnahmsweise verwendet;

    3. verschiedene Arten der Psalmmelodie, ausgeführt von einem Lektor, zuweilen unter Mitwirkung der Kantorei.

    Die Melodien der acht Kirchentöne gehören auf dieser Schallplatte zu der sogenannten "Kiewer Gesangspart"; in dieser melodischen und harmonischen Form stammen sie aus dem 17. Jahrhundert. Zugrunde liegt die Zeilenperiorität der musikalischen Phrasen (z. B.: A-B-C, A-B-C, ... - finalis), die Melodie wird von der ersten oder zweiten Stimme gesungen und in Terzparallelen begleitet, die 3. und 4. Stimme ergänzen die Akkorde. Das vorherrschende Rezitativ erlaubt die sofortig Anwendung der melodischen Muster auf eine beliebige Silbenzahl des vom Kanonarchen verkündeten Textes; dieses ermöglicht den Sängern, ohne Buch, lediglichen nach dem Kanonischen sozusagen aus dem Stegreif beliebige Texte zu singen.

    Die Vesper hat im Zyklus der Tagesoffizien der orthodoxen Kirche eine sehr wichtige Stellung: sie beginnt den liturgischen Tag. Besonders feierlich wird die Vesper am Vorabend der Sonn- und Feiertage ausgeführt. In den zahlreichen Proprien (das sind Stichiry - gedichtete Strophen - und Hymnen, die an gewissen Stellen zwischen den Psalmenversen eingeschaltet werden) werden die kommentierten Ereignisse und Heiligen des Tages besungen.

    Die vorliegende Aufnahme enthält die Vesper zum Sonntag des 4. Kirchentones, wenn er auf den 4. Dezember trifft - den Tag der heiligen Barbara unddes heiligen Johannes von Damaskus."


    * (Anmerkung moderato: Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1988 und erschien bei Koch-Records.)

    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Der Gemeindegesang unterscheidet sich vom Gesang, der in den Klöstern erklingt. Der in meinem Beitrag 4 erwähnte Musikwissenschaftler Johann von Gardner lebte nach 1917 vier Jahre im Karpatenvorland und war besonders erstaunt über das religiöse Wissen der einfachen Bauern, das sie allein durch das Singen in der Kirche erlangt hatten. Er beschrieb den Gesang, den er in den Kirchen der Karpatenregionen hörte, so:


    "In den Karpaten, in allen Dörfern sowohl unter den Uniaten als auch unter den Orthodoxen wurde immer nur Gemeindegesang während des gesamten Gottesdienstes ausgeübt. Zahlreiche Gesänge ... waren allen bekannt, sogar den Kindern im schulpflichtigen Alter. Der Liedführer - der erfahrenste Sänger aus der Gemeinde - stand am Kliros und sang den Gesang. Sobald die Gläubigen den Anfang hörten, schlossen sie sich dem Gesang an und die ganze Kirche sang; sie sangen alle Stichiry, alle Troparien, alle Irmosen - mit einem Wort, jeder sang richtig. "

    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Peter Tschaikowsky (1840-1893) war tief gläubig und im orthodoxen Glauben verwurzelt. Er komponierte ein Werk, das den liturgischen Gesang der Ostkirche revolutionieren sollte. Der Text folgt dem englischen Wikipedia-Text. (Anmerkung Übersetzung moderato)


    "Die Liturgie des heiligen Johannes Chrysostomus ( russisch : Литургия святого Иоанна Златоуста , Liturgiya svyatogo Ioanna Zlatousta ) Op. 41


    Er (Tschaikowsky) komponierte sie 1878. Es besteht aus Texten, die der Liturgie des heiligen Johannes Chrysostomus entnommen sind, dem berühmtesten eucharistischen Gottesdienst der Ostorthodoxen Kirche. Tschaikowskys Vertonung bildet den ersten einheitlichen Musikzyklus der Liturgie.


    In einem Brief von 1877 an seine Freundin und Mäzenin Nadeschda von Meck schrieb er:


    Für mich hat die Kirche noch viel poetischen Charme. Ich besuche sehr oft die Gottesdienste. Ich betrachte die Liturgie des heiligen Johannes Chrysostomus als eine der grössten Werke der Kunst. Wenn wir dem Gottesdienst sehr genau folgen und auf die Bedeutung jeder Zeremonie eingehen, ist es unmöglich, sich von der Liturgie unserer orthodoxen Kirche nicht zutiefst erfassen zu lassen, von der Poesie dieser Musik mitgerissen zu werden; begeistert zu sein, wenn ... die Worte erschallen: "Lobe den Namen des Herrn!" - das alles ist mir unendlich kostbar! Eine meiner tiefsten Freuden!


    Ein weiterer Brief an von Meck vom April 1878 zeigte sein Interesse an einer liturgischen Komposition.


    "Ein weites und unerschlossenes Betätigungsfeld steht Komponisten hier offen. Ich schätze die Verdienste von Bortniansky, Berezovsky und anderen; aber wie wenig entspricht ihre Musik ... dem ganzen Geist der orthodoxen Liturgie! ... Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ich beschliesse, die gesamte Liturgie des heiligen Johannes Chrysostomus zu komponieren. Ich werde das alles bis Juli arrangieren."


    Das Manuskript wurde im Juli an seinen Verleger Pjotr Jürgenson geschickt. Dies wird durch einen Brief an von Meck im selben Monat bestätigt, in dem Tschaikowsky schrieb, er sei "glücklich darüber, eine Arbeit beendet zu haben ... Jetzt kann ich meine geheime Freude, nichts zu tun, in vollen Zügen geniessen". Es erschien im Frühjahr 1879 in gedruckter Form."


    Damit handelte sich Tschaikowsky den Zorn der Kirchenoberen ein.


    "Kirchenmusik zu komponieren, war zu dieser Zeit in Russland mit Problemen behaftet. Die Hof Kapelle des Zaren hatte das Monopol für die Komposition und Aufführung geistlicher Musik; Laut eines Erlasses von Alexander I. aus dem Jahr 1816 musste der Direktor der Kapelle alle Genehmigungen erteilen. Tschaikowsky schrieb, "sie hüten dieses Monopol sehr eifersüchtig und werden unter keinen Umständen neue Fassungen der Liturgie zulassen".


    Jürgensons Veröffentlichung von Tschaikowskys Vertonung wurde vom Direktor der Kapelle, Nikolai Bakhmetiev, unverzüglich mit der Begründung verboten, dass sie ohne seine Zustimmung veröffentlicht worden sei. Tschaikowsky hatte seine Komposition nur dem Moskauer Büro für kirchliche Zensur vorgelegt. Gegen den Verleger Jürgenson wurde ein Gerichtsverfahren eingeleitet und 143 seiner Drucktafeln beschlagnahmt. Die Hauptverwaltung für Drucksachen genehmigte die Veröffentlichung, aber Bakhmetiev setzte seine Kampagne gegen Jürgenson fort, der Bakhmetiev wiederum verklagte. Jürgenson gewann seinen Fall im Juni 1879, und der Innenminister erliess im Dezember 1879 einen Erlass zugunsten Jürgensons. Die beschlagnahmten Tafeln wurden im November und Dezember 1880 von der Synode freigegeben, die entschied, dass die kirchliche Zensur die Veröffentlichung von geistlicher Musik ohne den Beitrag der Kapelle genehmigen könne. Diese Entscheidung hatte bahnbrechende Auswirkungen - zum ersten Mal seit vielen Jahren war es russischen Komponisten möglich, geistliche Musik zu schaffen, ohne sich einer bürokratischen Prüfung zu unterziehen.


    Die Uraufführung fand im Juni 1879 in der Kiewer Universitätskirche statt. Die Moskauer Musikgesellschaft gab im November 1880 ein Privatkonzert am Moskauer Konservatorium; In einem Brief an Nadeschda von Meck schrieb Tschaikowsky, es sei "einer der glücklichsten Momente meiner musikalischen Karriere".


    Eine öffentliche Aufführung der Russischen Musikgesellschaft fand im Dezember 1880 in Moskau statt. Die Kontroverse um das Werk führte zu einem "ungewöhnlich überfüllten" Saal. Das Publikum nahm das Werk positiv auf.

    Die Meinungen der Kritik war geteilt. In seiner Rezension des Werkes würdigte César Cui die Bedeutung des Werkes und seine "fast politische Bedeutung", äußerte sich jedoch weniger begeistert zum Werk selbst:


    Ambrosius, der Patriarch von Moskau, war besonders gegen das Werk; er veröffentlichte einen Brief, in dem er behauptete, die öffentliche Aufführung der Liturgie sei eine Entweihung. "Wir können nicht sagen, wie die Kombination der Wörter 'Liturgie' und 'Tschaikowsky' das Ohr des orthodoxen Christen verletzt", schrieb er und fragte, was passieren würde, wenn ein jüdischer Komponist einen Rahmen für die Liturgie schaffen sollte: "Unsere heiligsten Worte werden verspottet". Ambrosius lehnte auch die Aufführung von Tschaikowskys Liturgie bei der Beerdigung seines Freundes Nikolai Rubinstein ab. Tschaikowskys Bruder Modest schrieb, dass sein Bruder von der Meinung des Patriarchen über das Werk "zutiefst verletzt" wurde.


    Tschaikowskys Vertonung der Liturgie ... waren für das spätere Interesse an orthodoxer Musik von entscheidender Bedeutung. Andere Komponisten folgten bald Tschaikowskys Beispiel, ermutigt durch die Freiheit, die durch die neuen Regeln für die geistliche Musik geschaffen wurden. Die Struktur, die Tschaikowsky benutzte, sowie seine Verwendung von freien Formen für die Bestandteile der Liturgie, wurden von einer ganzen Generation russischer Komponisten in ihren eigenen Einstellungen der Liturgie nachgebildet, darunter Archangelski , Tschesnokow , Gretschaninow , Ippolitow, Iwanow und Rachmaninow.


    Während die meisten Werke traditioneller slawischer Gesänge einfache homophonen Vertonungen verwenden, komponierte Tschaikowsky für sechs Sätze neue Musik und freie Vertonungen. Dazu gehören die Sätze 6, 8, 10, 11, 13 und 14. Die Sätze 10 und 11 sind mehrstimmig und bilden einen Kontrast zur Block-Akkord-Anordnung des grössten Teils des Werks."


    In dieser Fassung ertönen nur die komponierten Teile Tschaikowskys.




    In dieser Fassung ist die Musik Tschaikowskys in die Liturgie eingebunden:



    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ein weiteres Werk Peter Tschaikowskys verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung. Es ist die Nachtwache op. 52. Sie enthält 15 a capella-Gesänge.


    "Im Mai 1881 bat er (Tschaikowsky) seinen Verleger und Freund Pjotr Jürgenson um den Text der Nachtwache und der russischen Kirchenlieder von Dmitri Rasumowski. Im selben Jahr gab Jürgenson ihm den Auftrag, die gesamten liturgischen Werke von Dmitry Bortniansky zu bearbeiten.


    Die Bearbeitung von Bortnianskys umfangreichem Werk war eine gewaltige Aufgabe, die Tschaikowsky von Juni bis Oktober 1881 beschäftigte. Er scheint den Auftrag bedauert zu haben. "Oh, dieser Bortniansky! Warum hat er so viel geschrieben?" ist eine überlieferte Äusserung Tschaikowskys. Trotzdem bewahrte er seinen Respekt vor dem Komponisten und der geistlichen Musik und sagte Jurgenson im Juni 1881, dass er eigene Kirchenmusik schrieb, "um den (wenn auch sehr bescheidenen) Stil von Bortniansky und tutti quanti in den Griff zu bekommen". In einem Brief an Eduard Nápravník ... erklärte Tschaikowsky seinen Wunsch, die "unbegabte und banale" Kirchenmusik aus der Kaiserkapelle zu verbessern.


    Obwohl der Rohentwurf bis Mitte Ende Juli fertiggestellt war, verzögerte sich die Fertigstellung des Werkes durch seine Arbeit an Bortnianskys Kompositionen und seinen eigenen Kompositionen wie Mazeppa und dem Klaviertrio. Er beendete es im März 1882 in Neapel und die erste Aufführung fand im Juni 1882 in Moskau statt."


    Aus den Erläuterungen der beim Verlag Carus erschienenen Ausgabe der geistlichen Werke Peter Tschaikowskys in vier Heften stammt dieser Text.


    "Im Jahr 1882 erklangen bei der ersten Aufführung während der Industrieausstellung in Moskau erstmals Sätze des op. 52. Tschaikowsky hatte sich der großen Aufgabe unterzogen, die Vertonung der „Ganznächtlichen Vigil“ des russisch-orthodoxen Stundengebetes zu vertonen. Er bewerkstelligte dies anhand der Grundlage des Obichod notnago penija, der Ausgabe des einstimmigen, in rhythmisch differenzierter Quadratnotation auf Fünfliniensystem gedruckten liturgischen Gesanges der russisch-orthodoxen Kirche. ...

    Tschaikowsky nähert sich unterschiedlich stilistisch der Vorlage, sieht aber in der angemessenen Harmonisierung der liturgischen Melodien seine Hauptaufgabe, wobei er von strenger Harmonik ausgeht, Chromatik, Quartsext- und Septakkorde vermeidet, Nebendreiklänge als gleichberechtigte Partner der Hauptdreiklänge einbezieht. Sie prägen weitgehend den „modalen“ diatonischen Grundcharakter. Er hat sicher durch dieses Verfahren nicht den ursprünglichen Charakter und die ursprüngliche Form der russischen Kirchenmusik herstellen können, wie er es noch zu Beginn seiner Arbeit anspruchsvoll intendiert hatte. Dennoch ist seine „eklektische Arbeit“, wie er später seine ,Nachtwache' nannte, ein wichtiges Reformwerk für die kurze russische Epoche der mehrstimmigen russischen Kirchenmusik."


    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Im letzten Beitrag hatte ich erwähnt, dass 1882 Tschaikowski eine Gesamtausgabe der geistlichen Werke Dmitri Bortnjanskis (1751-1825) herausgab. Sie umfasst 10 Bände.


    Von ihm stammt diese Hymne der Cherubim Nr. 7. aus der Liturgie des Heiligen Johannes Chrysosthomos



    Sein Tebe poem singen wir im Chor.



    In der Beschäftigung mit Bortnjanski habe ich erfahren, der er sich grosser Beliebtheit im Deutschland des 19. Jahrhunderts erfreute.

    Der preussischen König Friedrich Wilhelm III. schätzte die Kirchenmusik des Russen sehr. Er sorgte dafür, dass liturgische Stücke der preussischen Agende, das heisst die Abfolge der Handlungen im evangelischen Gottesdienst, nach seinen Vorstellungen erfolgte. 1829 wurden die Lieder nach Modellen Bortnjanskis vertont. Aus dem Choralbuch von Gossner/Tscherlitzky 1825 ist dieses bekannte deutsche Kirchenlied, dasauf einer Melodie Bortnjanskis beruht:


    Ich_bete_an_die_Macht_der_Liebe_bsb10525144_00070.jpg




    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Sergei Rachmaninoff (1873-1943) hat ein Werk geschrieben, das unter unterschiedlichen Titeln erwähnt wird: Sein Opus 37 wird als Nachtwache, Das grosse Abend- und Morgenlob, das Ganznächtliche Vigil oder schlicht als Vesper bezeichnet.


    Es wurde während des 1. Weltkrieges 1915 in Moskau aufgeführt.


    Drei Arten von Gesängen der russischen Liturgie hatte Rachmaninoff verwendet: Znamenny, einen rezitativeren "griechischen" Stil und "Kiewer" Gesang - ein Stil, der in Kiew im 16. und 17. Jahrhundert entwickelt wurde. Die Texte stehen in Kirchenslawisch und slnd dem ganzen Tagesablauf der Liturgie entnommen. Somit ist die Bezeichnung falsch. Der Komponist nimmt Bezug auf die Tradition. Ohne Peter Tschaikowskys Kampf und Vorarbeit 1878/79 wäre es nicht möglich gewesen, dass Rachmaninoff sein Werk veröffentlichen und aufführen konnte. Seine Vertonung ist jedoch viel komplexer, sei es in der Verwendung der Harmonien, Textvielfalt und Polyphonie.


    Opus 37 war Rachmaninoffs Lieblingswerk. Für seine Beerdigung wünscht er sich daraus den Satz Nunc dimittis.


    Das Werk bildet einen Schlusspunkt der Ära der mehrstimmigen russischen Kirchenmusik, denn nach der russischen Revolution 1917 wurden keine religiösen Werke mehr aufgeführt. Schallplattenaufnahmen waren nur für den Export bestimmt.


    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928