Hugo Wolf: „Italienisches Liederbuch“


  • Die Komposition des „Italienischen Liederbuchs“ ist, anders als die Liedbände auf Mörike, Wolf und Eichendorff, nicht aus einem einzigen großen Schaffensrausch hervorgegangen, wie er für Hugo Wolf so typisch ist, - es entstand in gleichsam zwei Schüben, denen jeweils Phasen schweren seelischen und auch körperlichen Leidens vorausgingen, in denen jegliche kompositorischen Inspirationen ausblieben. Aus dem Jahr 1891 kann man solche brieflichen Äußerungen Wolfs lesen wie diese: „Ich bin eben am Ende. Möge es bald ein vollständiges sein – ich wünschte nichts sehnlicher“ (An Kauffmann, 1. Juni 1891) und „Mit dem Komponieren ist es rein aus. Ich glaube, daß ich wohl nie mehr eine Note schreiben werde (…) Ich hege auch eine gründliche Verachtung für mich“ (An Grohe, 12. Juni 1891).

    Am 24. September 1891 heißt es jedoch in einem Brief an Gustav Schur mit einem Mal: „Ich spüre verdächtige Anzeichen zum Komponieren in mir und erwarte jeden Augenblick eine Explosion“. Und tatsächlich: Am nächsten Tag entstand das erste Lied („Mir ward gesagt, du reisest in die Ferne“), und es folgten noch drei weitere nach (am zweiten Oktober „Ihr seid die Allerschönste“, am dritten „Gesegnet sei, durch den die Welt entstund“ und am vierten „Selig ihr Blinden“). Am 29. November brach dann wieder einmal ein Schaffensrausch aus, einsetzend mit dem Lied „Daß doch gemalt all deine Reize wären“. Innerhalb von fünfundzwanzig Tagen entstanden 15 Lieder. Am 23. Dezember erlosch mit dem Lied „Man sagt mir, deine Mutter woll´ es nicht“ wieder einmal schlagartig Wolfs Schaffenskraft. Mit den bereits im Herbst 1890 komponierten sieben Liedern auf Gedichte aus der Sammlung Paul Heyses lagen nun 22 Lieder vor. Eine lange Pause schloss sich an. Vier qualvolle Jahre und drei Monate vergingen, bevor Wolf seine Arbeit an seinem Italienischen Liederbuch“ fortsetzen konnte.

    Am 25. März 1896 konnte Wolf erstmals wieder ein Lied komponieren: „Ich esse nun mein Brot nicht trocken mehr“. Aber es ging nun nicht mehr in einem großen Wurf, sondern nur stockend weiter, immer wieder, mit häufigen Unterbrechungen infolge fehlender Inspiration. Bis zum 3. April entstanden acht Lieder, in der Woche darauf nur eines, danach vier Lieder in zwei Tagen. Weitere fünf Tage vergingen dann, bevor die letzten elf Lieder in elf Tagen komponiert werden konnte. Als letztes entstand „Was für ein Lied soll dir gesungen werden?“ (30. April 1896). Damit lagen alle 46 Lieder dieses „Italienischen Liederbuchs“ vor. Entsprechend ihrer Entstehung wurde dieses Werk auch in zwei Ausgaben publiziert. Die erste erschien 1892 bei Schott in Mainz und enthielt die 22 bis 1891 entstandenen Lieder, die zweite schon kurz nach der Komposition des letzten Liedes, also noch 1896, bei Heckel in Mannheim. Wolf verwendete große Sorgfalt auf die Zusammenstellung und die Reihenfolge der Lieder. Er folgte darin keineswegs der Chronologie ihrer Entstehung. So entstand zum Beispiel das Lied, das den Zyklus eröffnet („Auch kleine Dinge können uns entzücken“) als sechzehntes, und das letzte, das ihn beschließt („Ich hab´ in Penna einen Liebsten wohnen“) als zweiundvierzigstes. Man muss also davon ausgehen, dass hinter der Aufeinanderfolge der Lieder eine kompositorische Aussageabsicht steht.

    Die Texte der Lieder hat Wolf dem „Italienischen Liederbuch“ von Paul Heyse (1830-1914) entnommen, das 1860 in Berlin (Verlag von Wilhelm Hertz) erschienen war. Es handelt sich dabei um Übertragungen volkstümlicher italienischer Liebes- und Tanzgedichte, sogenannter „strambottii“, bzw. „rispetti“, wie ihre toskanische Version genannt wird. Sie tauchten erstmals im vierzehnten Jahrhundert auf, überwiegend als achtzeilige, zuweilen aber auch nur sechszeilige lyrische Gebilde, es sind aber auch solche mit zwölf bis siebzehn Versen überliefert. Heyses Übersetzungen stellen dichterisch freie Übertragungen dar, in denen er sich z.T. recht weit vom Original entfernte, - nicht nur in der zwangsläufig erforderlichen Umwandlung in die deutschsprachliche Diktion, sondern auch in der Metaphorik. Hierauf kann aber hier nicht weiter eingegangen werden.

    In der Rezeption dieser Gedichte nahm Hugo Wolf sie als deutsche Lyrik. Er sah und las sie als „Kinder des Südens, die trotz allem ihre deutsche Herkunft nicht verleugnen können.“ Und er ergänzte: „ Ja, das Herz schlägt in ihnen deutsch.“ Das hatte zur Folge, dass er es nicht nur vermied, italienisches Lokalkolorit in seine Kompositionen einfließen zu lassen, sondern aus dem vordergründig galanten Liebesgeplänkel der „rispetti“ ernste und in die seelischen Tiefen des jeweiligen lyrischen Ichs vordringende Liebeslieder machte. Er hielt die Lieder des „Italienischen Liederbuches“ für die „originellsten und künstlerisch vollendetsten“ unter all seinen Liedkompositionen, und seine Biographen stimmen ihm darin mehrheitlich zu. Joseph Marx hat diese Lieder „Duette“ genannt, und er spielte damit auf das Zwiegespräch zwischen Singstimme und Klavier an, das zwar durchaus ein charakteristisches Merkmal der Liedsprache Wolfs ist, worin er sich aber in diesen Liedern zur höchsten Stufe seiner Meisterschaft entwickelt hat.

    Auf die spezifische Eigenart der Liedsprache des „Italienischen Liederbuchs“ soll hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Anhand des einzelnen Liedes lässt sich dies viel besser, weil auf den konkreten Fall gestützt und damit vor der Gefahr allzu großer Abstraktheit geschützt, bewerkstelligen. Vorab, im Sinne eines Hinweises auf das Wesentliche, nur so viel.
    Wolfs Liedsprache begegnet dem Hörer – und natürlich auch dem, der einen Blick auf den Notentext wirft - als eine radikale Beschränkung der kompositorischen Mittel auf das Wesentliche der lyrischen Aussage. Bis auf wenige Ausnahmen wirkt der Aufwand an klangmalerischen Mitteln zur musikalischen Evokation des lyrischen Potentials der Metaphorik durchweg als auf das unbedingt Notwendige reduziert. Die lyrischen Miniaturen, um die es sich ja bei den meisten Gedichten handelt, werden zu musikalischen, in denen dem lyrischen Text in seiner jeweiligen Aussage in feiner, das kleinste Detail und die semantischen Tiefendimensionen berücksichtigender Gestaltung von melodischer Linie der Singstimme und Klaviersatz kompositorisch nachgegangen wird.
    Hugo Wolf hat einmal davon gesprochen, dass in seinem „Italienischen Liederbuch“ mehr als sonst in all seinen anderen Lieder absolute Musik enthalten sei, die ebenso gut von einem Streichquartett ausgeführt und klanglich realisiert werden könne.

    Aus liedhistorischer Perspektive ist das – aus meiner Sicht - wohl so zu verstehen:
    Das „Italienische Liederbuch“ Wolfs verkörpert, liedhistorisch betrachtet, so etwas wie die Synthese einer sich an der Autonomie der Musik ausrichtenden, sozusagen formalästhetischen Liedsprache, und einer gleichsam inhaltsästhetischen – wie sie die Neudeutsche Schule in ihren Exponenten Liszt und Wagner propagiert hat.

    Mit solch abstrakt-theoretischen Gedanken soll dieser Thread aber nicht belastet werden. Sie sollen nur auf seine Bedeutung im Rahmen der Präsentation von Wolfs Liedschaffen in diesem Forum hinweisen. Das „Italienische Liederbuch“ musste mit einer gewissen Notwendigkeit den drei anderen Liedbänden, die hier schon vorgestellt und im einzelnen besprochen wurden, hinzugefügt werden.

    Es wäre schön und überaus wünschenswert, wenn dieser Thread auf eine diesem liedhistorisch so bedeutsamen Werk angemessene Resonanz stieße. Immerhin meinte der Wolf-Biograph Ernst Decsey:
    „Die >Italienischen Lieder< sind von allen die zartseligsten. Die Musik kehrt sich nach innen, sie hat ihren Ausdruck geklärt, das Feine noch verfeinert. Wie jeder älter werdende Künstler, so hat auch Wolf Breiten immer stärker zusammengedrängt, das Kunstwerk immer stärker verdichtet. Die beiden Italienischen Bände sind seine reifste Gabe.“

  • Zu den Aufnahmen

    Folgende Aufnahmen wurden herangezogen:

    Elisabeth Schwarzkopf / D. Fischer-Dieskau / Gerald Moore. EMI 1966

    Edith Mathis / Peter Schreier / Karl Engel. Deutsche Grammophon 1977

    Christa Ludwig / D. Fischer-Dieskau / Daniel Barenboim. Deutsche Grammophon 1977

    Dawn Upshaw / Olaf Bär / Helmut Deutsch. EMI 1996

    Geraldine McGreevy / Mark Stone / Sholto Kynoch. Stone records 2011

    Christiane Oelze / Hans Peter Blochwitz / Rudolf Jansen (Siegfried Lorenz / Norman Shetler ). Brillant records 2013
    (Doppel-CD, enthält neben dem Italienischen Liederbuch noch 15 Mörike-Lieder)

    Die letzte CD diente als Haupt-Arbeitsgrundlage. Wolf hat diese Lieder für hohe Stimme komponiert, und in dieser Aufnahme wurden keine Transpositionen vorgenommen. Die anderen oben erwähnten Aufnahmen wurden von Fall zu Fall zum vergleichenden Hören herangezogen, wobei insbesondere die Aufnahme mit Elisabeth Schwarzkopf immer wieder einmal benötigt wurde, um zu klären, wie nun das Auftreten der Frau in diesem oder jenem Lied letzten Endes zu verstehen ist. Das stellte sich zuweilen doch als recht schwierig heraus.

    Wolf macht übrigens keine Angaben darüber, ob das jeweilige Lied für Sopran oder Tenor komponiert wurde. Er geht davon aus, dass sich dies jeweils aus dem Inhalt ergibt. Das ist zumeist auch eindeutig, aber nicht immer, so dass man einige Lieder sowohl mit Frauenstimme, wie auch mit Männerstimme interpretiert vorfindet.

    Es gab immer wieder einmal Versuche, das „Italienische Liederbuch“ in einer Art Dialog-Form im Sinne eines novellistischen Konzepts aufzuführen, was natürlich zu einer Abweichung von der von Wolf vorgegebenen Reihenfolge der Lieder führt. Ich persönlich halte nicht viel davon. Es verführt die Interpreten dazu, die einzelnen Lieder zu stark auf die Charaktersierung der Frau und des Mannes abzustellen und dabei die dialogischen Effekte über Gebühr zu akzentuieren.

  • Hallo lieber Helmut Hofmann, darauf freue ich mich besonders, eildiweil ich im Grunde meines Herzens mit Hugo Wolf nicht viel anfangen kann. Die Freunde dann deshalb, es könnte ja dann Dank deiner künftigen Erläuterungen doch noch was werden mit Wolf und mir!

    Ich besitze die Aufnahme mit Seefried und FiDi, damals gekauft um der Vervollständigung meiner Seefried Diskographie, ebenso die Aufnahme mit Oelze und Blochwitz, zur Vervollständigung meiner Blochwitz Diskographie ;).

    Und dann kommt noch hinzu, du nimmst als Arbeitsgrundlage eben jene mit Oelze und Blochwitz! :jubel:

    Zitat von Helmut Hofmann

    Wolf hat diese Lieder für hohe Stimme komponiert, und in dieser Aufnahme wurden keine Transpositionen vorgenommen.

    Das z.B. wusste ich gar nicht, also nochmals lieben Dank für die Thread Eröffnung!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • … alldieweil ich im Grunde meines Herzens mit Hugo Wolf nicht viel anfangen kann.

    Die Freude dann deshalb, es könnte ja dann Dank deiner künftigen Erläuterungen doch noch was werden mit Wolf und mir!

    Damit bist Du nicht allein hier im Tamino-Forum, lieber Fiesco!

    Hugo Wolfs Liedmusik will wegen ihrer hochdifferenzierten, durch den engen lyrischen Wortbezug stark deklamatorisch geprägten Melodik nicht so leicht an ihre Hörer herangehen. Walter Wiora erklärte ihn mal zum "Vollender des Deklamationsliedes". Das ist aber so eines von diesen Pauschalurteilen, die dem Sachverhalt nicht voll gerecht werden. Denn nicht bei allen seinen Liedkompositionen - und das gilt gerade für das "Italienische Liederbuch" - ist diese für ihn in der Tat typische Wortgebundenheit der melodischen Linie in gleicher Weise stark ausgeprägt. Wolf sind in ihrer Melodik überaus eingängige Lieder gelungen.


    Ich hoffe so sehr, dass ich das aufzeigen kann, und dass es mir wenigstens ansatzweise gelingt, Wolfs Liedmusik in ihrer spezifischen Eigenart und ihrer klanglichen Schönheit so zu erschließen, dass diejenigen, die - wie Du - bislang mit ihr "nicht viel anfangen" konnten, vielleicht doch Zugang zu ihr finden.


    Es bleibt freilich eine hohe Portion Skepsis. Meine vier vorausgehenden Wolf-Threads ("Spanisches Liederbuch", die Eichendorff-, Mörike - und Goethe-Lieder) waren von der Resonanz her, auf die sie gestoßen sind, nicht gerade ein Erfolg. Deshalb habe ich mit dem Start dieses Threads lange gezögert. Die nachfolgenden Liedbetrachtungen entstanden in den Monaten April bis Juni 2015.

  • Hallo und guten Tag lieber Helmut Hofmann,

    Deine Hauptarbeitsgrundlage so eben bestellt.


    Das Booklet, enthält laut JPC sämtliche gesungenen Texte und ausführliche Anmerkungen zu den Liedern. Dann kannst es ja losgehen:)

    MfG Wilfried

  • "Dann kann es ja losgehen:)"

    Ich schließe aus Deinen munteren Worten, lieber Wilfried, dass Du dabei sein wirst.

    Und da sind´schon zwei, und das freut mich!

  • Es gab immer wieder einmal Versuche, das „Italienische Liederbuch“ in einer Art Dialog-Form im Sinne eines novellistischen Konzepts aufzuführen, was natürlich zu einer Abweichung von der von Wolf vorgegebenen Reihenfolge der Lieder führt. Ich persönlich halte nicht viel davon. Es verführt die Interpreten dazu, die einzelnen Lieder zu stark auf die Charaktersierung der Frau und des Mannes abzustellen und dabei die dialogischen Effekte über Gebühr zu akzentuieren.

    Lieber Helmut, ich glaube nicht, dass Dir mein Beitrag gefallen wird. Er soll aber zumindest Zeugnis ablegen für mein Interesse an dem Thema. Das "Italienische Liederbuch" eröffnete mir vor vielen Jahren den Zugang zu Wolf, meinen Zugang. Prägend ist dabei bis heute die Einspielung mit Schwarzkopf und Fischer-Dieskau unter Moore geblieben, die Du für Deine Betrachtungen auch heranziehst. Nun erinnere ich mich an ein Konzert vor zwei Jahren in Berlin, in dem ich das Liederbuch zuletzt live erlebt hatte - mit Diana Damrau und Jonas Kaufmann. Wer sich mit verhaltenem Interesse, gar Zweifeln auf den Weg in das Konzert gemacht hatte, sah sich auf widerlegt. Innerlich war ich auf einen Event zweiter Weltstars eingestellt und verließ der großen Saal der Berliner Philharmonie mit der Gewissheit, einen großen Abend erlebt zu haben, bei dem die Kunst triumphierte und nicht allein der Ruhm der beteiligten Protagonisten, die von Helmut Deutsch, dem nicht weniger berühmten Mann am Flügel begleitet wurden. Oft ist es umgekehrt. Beide Solisten waren perfekt studiert. Sie brachten kein Notenblatt in Reichweite, nicht einmal einen Spickzettel mit der Reihenfolge der sechsundvierzig Lieder. Mit stoischer Gelassenheit blätterte Deutsch selbst um. Wahrscheinlich hätte auch er gar keine Noten gebraucht. Diese enorme Sicherheit auf dem Podium im Umgang mit einem nur vordergründig leicht wirkenden Werk eröffnete der Interpretation große Spielräume.

    Inzwischen ist das Liederbuch, das die Künstler an mehreren Orten vorgetragen hatten, bei Erato auf CD erschienen. Dafür wurde ein Mitschnitt des Konzerts im Alfrid Krupp Saal der Philharmonie Essen gewählt. Auch für dieses Konzert war die Abfolge der Lieder umgestellt, drastisch umgestellt worden. Obwohl das Liederbuch mit fünf Jahren Unterbrechung zwischen beiden Teilen entstand, sind keine Brüche hörbar, die durch die veränderte Zusammenstellung hätten ausgeglichen werden müssen. Damrau und Kaufmann sind nicht die ersten Sänger, die die originale Reihung verlassen haben. Daran ist nach meiner Auffassung nichts auszusetzen, zumal ihr Konzept darauf abzielte, eine gewisse inhaltliche Perspektive zu eröffnen. Das Liederbuch als eine Art Singspiel. Nur das berühmte Eröffnungslied "Auch kleine Dinge können uns entzücken" und das Finale mit "Ich hab‘ in Penna einen Liebsten wohnen" blieben an ihren angestammten Plätzen. Alle anderen Nummern wurden kühn durcheinander gewürfelt. Hörer, die an eine bestimmte Ordnung gewöhnt sind, diverse Einspielungen kennen und das Werk in Gedanken mitsingen können, dürften sich gewundert haben. Im Booklet wird mit keinem Wort darauf eingegangen. Ein Singspiel also. Beide Protagonisten unterlagen im Konzert aber nicht der Versuchung, mit Gesten und Mimik mehr als nötig draufzusatteln, was auf der CD ohnehin weggefallen wäre. Die Deutung ergibt sich allein aus den Liedern, die textlich weitgehend sehr gut zu verstehen sind. Weniger ist oft mehr. Das heißt aber nicht, dass auf dem Podium herumgestanden wurde. Leidenschaft, Liebeskummer, Streit, Angst, Melancholie, Prahlerei, religiöse Inbrunst – und was noch die menschliche Seele hervorzubringen vermag – gingen durch Andeutungen oder schüchterne Annäherungen in die Darstellung ein. Diskret und oft auch mit Witz. Im Fortschreiten des Werkes - auch das offenkundig gewollt – wurden die Aktionen etwas deutlicher und stärker. Das hört man jetzt auch. Diana Damrau und Jonas Kaufmann konnten das Spiel durch Erscheinung und schauspielerisches Talent glaubhaft machen. Man schaut diesen beiden gut aussehenden Menschen einfach gern zu. Die CD nimmt diese Aussicht weg. Es wäre viel besser gewesen, einen Mitschnitt auf DVD herauszugeben zu haben. Jetzt wirkt das Dokument wie die abgetrennte Tonspur eines Films. Die ursprüngliche Einzigartigkeit des ganzen Projekts ging verloren. Das ist sehr schade. Im Booklet gibt es schöne Fotos, die das Liederbuch zeitgemäß illustrierten sollen. Sie sind aber kein Ersatz für das, was sich auf dem Podium ereignete.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • … ich glaube nicht, dass Dir mein Beitrag gefallen wird. Er soll aber zumindest Zeugnis ablegen für mein Interesse an dem Thema.


    Ob mir der Inhalt eines Beitrages "gefällt" oder nicht, das ist völlig unerheblich. Wichtig ist, dass es ihn gibt. Und wenn er, wie das bei Deinem der Fall ist, lieber Rheingold, substanziell Relevantes im Hinblick auf den Gegenstand des Threads aufweist, dann bin ich dankbar dafür. Auch insbesondere für Dein damit bekundetes Interesse an dem Thema.


    Meine Bedenken hinsichtlich eines dialogisch angelegten Vortrags dieser Lieder kennst Du. Sie sind zwar eine durchaus persönliche Angelegenheit, stützen sich aber auf zwei sachliche Aspekte. Der erste ist:

    Die Lieder sind nicht in dieser Reihenfolge entstanden. Wolf hat sie bei der Publikation in diese gebracht, wollte also, dass sie so vorgetragen und gehört werden, weil sie - und das kann man vernehmen und erkennen - in diesem Kontext einen inneren Bezug aufeinander aufweisen und sich darin die musikalische Aussage des ganzen Zyklus konstituiert. Für mich - und das ist nun wirklich eine individuell-persönliche, freilich heutzutage antiquierte Ansicht und Haltung - ist der Wille des Komponisten, wie er dem Notentext zu entnehmen ist, Maßstab und Richtlinie für die Interpretation.


    Der zweite Aspekt steht in Zusammenhang damit und erscheint mir besonders gewichtig:

    Durch diese Art des Vortrags kommt in die einzelnen Lieder eine expressiv-dialogische, ja sogar theatralische Komponente, die sie als solche nicht aufweisen. Wolf hat diesen Zyklus nicht als Singspiel komponiert, und die Lieder selbst sind, auch wenn sie vom Text her im sprachlichen Gestus der Anrede gehalten sind, in ihrer Musik wesenhaft monologische Bekundung individueller Ansichten, Haltungen und Emotionen.

    Was ich meine, möchte ich mit diesem Beispiel ersichtlich und hörbar werden lassen:



    Das ist - ich bitte um Nachsicht für dieses schroffe, aber ganz persönliche Urteil - für mich nur schwer erträgliche, weil viel zu extrovertierte und den Geist des Liedes verfehlende Theatralik.

    Aber interessieren würde mich natürlich sehr, wie andere darüber denken.


    Hier zum Vergleich eine gesangliche Interpretation, die ich für höchst gelungen halte:


  • Hallo und guten,

    Rheingold1876, Deinem Beitrag die volle Zustimmung. Hier haben drei erstklassige Künstler dir einen schönen Abend geschenkt.

    Ich habe live erst zwei Liederabende gesehen, aber dein beschriebener Abend hätte mich sicher begeistert.

    Deine Antwort ergänzt durch die zwei Videoclip, lieber Helmut Hofmann, erklären mir sehr deutlich die Unterschiede.

    Wieder viel gelernt und vertieft. Danke euch Beiden.

    MfG Wilfried

  • Zur weiteren Verfahrensweise in diesem Thread:


    Ich verstehe mal den vorangehenden Beitrag von Wilfried, für den ich mich bedanke, als eine Art Abschluss der den Thread einleitenden und den Aspekt „gesangliche Interpretation“ einbeziehenden Feststellungen, Anmerkungen und Einlassungen und möchte mich nun seinem eigentlichen Gegenstand zuwenden: Der in analytischem Ansatz erfolgenden Betrachtung der Musik der einzelnen Lieder.


    Der Fehler, den ich früher gemacht habe, nämlich rigide auf diesem Ansatz zu bestehen und mich mit Händen und Füßen gegen ein Sich-Einlassen auf die gesangliche Interpretation und deren Aufnahmen davon zu wehren, wird mir aber nicht noch einmal unterlaufen. Schließlich habe ich in den vielen Jahren meiner Zugehörigkeit zum Tamino-Forum die Erfahrung gemacht, dass dies der Aspekt ist, der – aus verständlichen Gründen - auf das größte, vielleicht gar alleinige Interesse im Kunstliedforum stößt.


    Jeder Liedbetrachtung soll ein Link zu einer von jenen Aufnahmen beigegeben werden, die bei YouTube zur Verfügung stehen. In der Regel werde ich diese zwar nicht kommentieren, aber wenn einer von den an diesem Thread interessierten Taminos das tut und eine nach seiner Meinung gelungenere Aufnahme zur Diskussion stellt, werde ich mich mit Freude darauf einlassen.


    Die jeweils vorangehende Liedbetrachtung verstehe ich dabei als Grundlage und Lieferanten für die dabei relevanten Aspekte. Denn nach meiner Auffassung ist eine fundierte, also auf sachliche Gründe sich stützen könnende und damit die Subjektivität auf das unvermeidliche Mindestmaß reduzierende Beurteilung einer gesanglichen Interpretation nur möglich, wenn man sich zuvor – oder in Zusammenhang damit – auf eine Betrachtung der Liedmusik eingelassen hat.

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  • Lied 1: „Auch kleine Dinge können uns entzücken“

    Auch kleine Dinge können uns entzücken,
    Auch kleine Dinge können teuer sein.
    Bedenkt, wie gern wir uns mit Perlen schmücken;
    Sie werden schwer bezahlt und sind nur klein.
    Bedenkt, wie klein ist die Olivenfrucht,
    Und wird um ihre Güte doch gesucht.
    Denkt an die Rose nur, wie klein sie ist,
    Und duftet doch so lieblich, wie Ihr wißt.

    Dieses Lied entstand als sechzehntes der ganzen Gruppe. Aber Wolf hat es mit gutem Grund an den Anfang gestellt. Der erste Vers des lyrischen Textes wirkt wie ein Motto, - nicht nur für das, was musikalisch aus ihm geworden ist, sondern sogar für das ganze Werk. Es besteht durchgängig aus lyrisch-musikalischen Miniaturen, in denen sich Wolf wie in keinem anderen seiner Liedbände als genialer Meister der kleinen Form zeigt, als ein Liedkomponist, der es versteht, melodische Linie und Klaviersatz auf die für das Erfassen der lyrischen Aussage und ihre Interpretation wesentlichen Strukturen zu reduzieren und sie in eine Wechselbeziehung treten zu lassen, bei der jedem von beiden, bei allem dialogischen Sich-Einlassen auf den anderen, die Eigenständigkeit bleibt, die für die musikalische Gesamtaussage konstitutiv ist.

    All dieses kann man bei diesem Lied in gleichsam exemplarischer und überaus beeindruckender Weise erfahren und erleben. Es weist eine dreistimmige Struktur auf. Melodische Linie der Singstimme, Klavierdiskant und Klavierbass entfalten sich in klanglich eigenständiger Weise und treten dabei in einen zarten und feingesponnenen Dialog. Die melodische Linie der Singstimme wird kantabel-gebunden geführt. Die Melodiezeilen, die jeweils einen Vers beinhalten, sind zwar durch Achtelpausen voneinander abgehoben, diese bewirken jedoch keinen Bruch in der Vokallinie, sondern bringen eine Anmutung von Nachdenklichkeit in die Melodik.


  • Anmerkungen zur Faktur der Komposition und zu ihrer liedmusikalischen Aussage

    Diese Nachdenklichkeit geht auch von der Struktur der Melodiezeilen aus. Sie weisen nämlich – mit Ausnahme von zwei Fällen – alle eine leicht fallende Tendenz auf. Obwohl es sich dabei häufig um große und kleine Sekunden handelt und dadurch ein Anflug von Chroma in die Melodik kommt, empfindet man diese nicht als Ausdruck von Schmerzlichkeit oder Klage, sondern vernimmt darin Besinnlichkeit und Nachdenklichkeit. Vor allem aber ist es der zarte Ton, mit dem die melodische Linie zu beeindrucken vermag.

    Auch im Klavierbass begegnet man dieser fallenden Tendenz, und zwar in Gestalt von zumeist nur Einzelnoten. Ohnehin ist bemerkenswert, dass der Klaviersatz bis auf einen einzigen Takt – Ausnahme: Vor- und Nachspiel – nur zweistimmig angelegt ist. Der Diskant besteht durchgehend aus der Abfolge einer Figur aus vier Sechzehnteln, bei denen eines über ein größeres Intervall nach oben oder unten ausgreift. Schon im Vorspiel erklingt sie, das Nachspiel klingt mit ihr aus, und dazwischen umspielt sie die Singstimme und folgt ihr dabei in ihren Bewegungen. Das wirkt klanglich wie ein zarter Schleier, der sich um die melodische Linie legt, ohne sie wirklich zu berühren.

    Im Vor- und im Nachspiel besteht die Sechzehntel-Figur noch aus dem Auf und Ab über das Intervall einer Quarte. Indem sie sich langsam und dabei über verminderte E-, D- und A-Harmonik modulierend absenkt, am Ende aber dann in eine aufsteigende Sechzehntel-Kette mündet, macht sie das Vorspiel zu einer gleichsam programmatischen Einführung in das Wesen dieses Liedes. Denn auch die melodische Linie der Singstimme findet nach all den mehr oder weniger stark ausgeprägten chromatischen Abwärtsbewegungen ihrer einzelnen Zeilen am Ende, bei den Worten „wir Ihr wißt“, zu einem in E- und D-Dur harmonisierten Aufstieg.

    A-Dur ist zwar als Grundtonart vorgegeben, aber der klangliche Reiz des Liedes gründet ganz wesentlich darin, dass die Harmonisierung der melodischen Linie permanente Modulationen durchläuft, wobei auch das Tongeschlecht einbezogen ist. Bei den ersten vier Versen pendelt die Harmonik zwar zwischen A-, D- und H-Dur hin und her, aber am Ende der ersten und der dritten Melodiezeile (bei „entzücken“ und „schmücken“) klingt ein cis-Moll auf, das, eben weil es mit dem Sekundfall der melodischen Linie korrespondiert, diesen an sich positiven Worten den für das ganze Lied so typischen Hauch von nach innen gerichteter Nachdenklichkeit verleiht.

    Mit dem fünften Vers („Bedenkt, wie klein ist die Olivenfrucht“) wirkt die Innigkeit der Melodik noch gesteigert. Die Vokallinie bewegt sich auf mittlerer tonaler Ebene ruhig auf du ab, und das Wort „klein“ erhält durch eine Dehnung einen besonderen Akzent. Auch hier endet die kleine Melodiezeile, die in A-Dur einsetzt, am Ende in Moll (d-Moll). Die letzten Verse bringen eine Steigerung der Expressivität mit sich, die sich freilich im Pianissimo ereignet und deshalb umso eindringlicher wirkt. Beim sechsten und siebten Vers werden die ersten Worte wieder, wie so oft in diesem Lied, auf nur einer tonalen Ebene deklamiert. Diese wird allerdings um eine Terz angehoben, was einen Steigerungseffekt im Ausdruck mit sich bringt. Der melodische Bogen, der dann auf den Worten „und duftet doch so lieblich“ liegt und „etwas breiter“ und „sehr zart“ vorgetragen werden soll, wirkt wie ein retardierendes Moment in der Bewegung der melodischen Linie, die danach, bei den Worten „wie Ihr wißt“, in eine in Sekundschritten sich vollziehende Aufwärtsbewegung übergeht, die aus einer leichten Dehnung auf dem Wort „wie“ heraus erfolgt.

    Diese letzten drei Schritte der melodischen Linie sind in bemerkenswerter Weise hervorgehoben. Sie werden im Zweivierteltakt (statt ansonsten vier Vierteln) deklamiert, das Klavier beschränkt sich auf die Artikulation von nur zwei Sechzehntel-Sekundsprüngen im Diskant und eines zweistimmigen Akkords im Bass, und das „A“, auf dem die Aufstiegsbewegung in nur zwei Sekundschritten endet, erfährt in der Harmonisierung eine Rückung von E- nach D-Dur. Das ist ein Zur-Ruhe-Kommen der melodischen Linie, das in eine harmonische Offenheit mündet, die erst im Nachspiel über fünf Modulationen mit einem A-Dur-Akkord abgeschlossen wird.

    Man empfindet das so, als würde das lyrische Ich all die Nachdenklichkeit an den weitergeben, den es mit diesen letzten drei Worten direkt angesprochen hat.

  • Lied 2: „Mir ward gesagt, du reisest in die Ferne“


    Mir ward gesagt, du reisest in die Ferne.

    Ach, wohin gehst du, mein geliebtes Leben?

    Den Tag, an dem du scheidest, wüßt´ ich gerne;

    Mit Tränen will ich das Geleit dir geben.

    Mit Tränen will ich deinen Weg befeuchten;

    Gedenk´ an mich, und Hoffnung wird mir leuchten!

    Mit Tränen bin ich bei dir allerwärts –

    Gedenk´ an mich, vergiß es nicht, mein Herz!


    „Langsam und sehr innig“ soll dieses Lied vorgetragen werden. Ein Viervierteltakt liegt ihm zugrunde. Und als Grundtonart ist e-Moll vorgegeben. Der Klageruf „Ach“ wird schon am Anfang des zweiten Verses erhoben, und das Wort „Tränen“ steht im Zentrum dessen, was das lyrische Ich dem Geliebten hier mitzuteilen hat. Wolfs Komposition reflektiert den aus dem Wissen um die Trennung vom geliebten Menschen kommenden Seelenschmerz auf eine überaus eindringliche, ja anrührende Weise. Dies deshalb, weil das Lied ganz aus einer melodischen Linie lebt, die dazu neigt, in silbengetreuer Deklamation lange auf einer tonalen Ebene zu verharren, wodurch der schmerzliche Klageton, der ihr innewohnt, eine hohe Intensität gewinnt. Und diese erfährt noch eine Steigerung dadurch, dass die tonale Ebene von Takt zu Takt angehoben wird.


  • Anmerkungen zur Faktur der Komposition und zu ihrer liedmusikalischen Aussage

    Gleich bei den ersten beiden Versen kann man dies hörend erfahren und erleben. Nach einem kurzen Vorspiel, das nur aus drei Achtel-Terzen besteht, deklamiert die Singstimme die Worte „Mir war gesagt, du reisest“ bis auf die letzte Silbe auf nur einem Ton (einem „H“), danach steigt sie bei „in die Ferne“ um eine Sekunde zu einem „C“ auf und verharrt dort ebenfalls. Beim zweiten Vers setzt sich diese Art der Deklamation auf einem „D“ und danach einem „E“ fort. Es ereignen sich also insgesamt vier Anhebungen der tonalen Ebene um jeweils eine Sekunde, was die Klage, die hier erhoben wird, überaus eindringlich werden lässt.

    Hierzu liefert auch der Klaviersatz einen wichtigen Beitrag. Repetierende Achtel-Akkorde erweitern sich von Zwei- zu Dreistimmigkeit und sinken dabei leicht nach unten ab, wobei sich eine Modulation von e-Moll über C-Dur und danach über E- nach Fis-Dur ereignet. Der Klavierbass steigt langsam zweimal in Sekundschritten von einem „A“ in mittlerer Lage zu einem tiefen „G“, bzw. „A“ ab.

    In allen Versen, mit Ausnahme des letzten, begegnet man dieser auf nur einer tonalen Ebene insistierend deklamierenden Deklamation. Dort, wo das lyrische Ich seinen seelischen Regungen in der Melodik besonderen Nachdruck verleihen möchte, ereignen sich Dehnungen und ausdrucksstarke Fallbewegungen. So werden die Worte „reisest“ und „Ferne“ mit einer melodischen Dehnung hervorgehoben, ebenso „geliebtes Leben“ mit einem gedehnten Sekundfall. Einen starken Akzent erhalten die Worte „du scheidest“ durch einen verminderten Septsturz der melodischen Linie, und auch die Worte „das Geleit dir geben“ werden mit einer Kombination aus Sext-, Sekund- und Terzfall in markanter Weise akzentuiert. Die Harmonik, die sich davor noch im Moll-Bereich bewegte, geht mit dem letzten melodischen Schritt zu Cis-Dur über.

    Das Tongeschlecht Moll dominiert zwar in diesem Lied, - dem Klageton der melodischen Linie entsprechend. Immer wieder aber einmal geht ihre Harmonisierung in den Dur-Bereich über. Und interessant ist, wo dies geschieht. Es ist immer dann der Fall, wenn das lyrische Ich seine tiefe Liebe und Zuneigung zum Ausdruck bringen will. Bei den Worten „Mit Tränen will ich deinen Weg befeuchten“ ereignet sich eine Modulation von fis-Moll nach Fis-Dur und bei „Mit Tränen bin ich bei dir allerwärts“ eine von e-Moll nach E-Dur. Im ersten Fall beschreibt die melodische Linie dabei einen Sekundanstieg, im zweiten einen ausdrucksstarken kleinen Septfall.

    Der wunderbar innige Ton, der die melodische Linie in diesem Lied von Anfang an prägt und auszeichnet, wird am Ende durch den einer zärtlichen Bitte bereichert, der überaus anrührend wirkt. Die melodische Linie senkt sich dabei in vier Doppelschritten von einem hohen „E“ zu einem tiefen „Fis“ ab. Sie wirken leicht zögerlich, weil sie aus einer Kombination von Achtel- und Viertelnoten bestehen. Die Harmonisierung moduliert dabei von G- nach D-Dur. Aber bei dem Wort „vergiß“ wird das Stocken der melodischen Linie ein wenig stärker, weil dem Doppelschritt eine Achtelpause vorangeht. Auch vor der pianissimo artikulierten Akkordfolge steht an dieser Stelle eine Pause, und die Harmonik weicht einen Augenblick lang in ein vermindertes „D“ aus.
    Die Bitte, „vergiß es nicht“ gewinnt auf diese Weise eine besonders starke, weil von leichter Schmerzlichkeit angehauchte Innigkeit.

  • Lied 3: „Ihr seid die Allerschönste“

    Ihr seid die Allerschönste weit und breit,
    Viel schöner als im Mai der Blumenflor.
    Orvieto´s Dom steigt so voll Herrlichkeit,
    Viterbo´s größter Brunnen nicht empor.
    So hoher Reiz und Zauber ist dein eigen,
    Der Dom von Siena muß sich vor dir neigen.
    Ach, du bist so an Reiz und Anmut reich,
    Der Dom von Siena selbst ist dir nicht gleich.

    Das Lied steht in As-Dur als Grundtonart, weist einen Viervierteltakt auf und soll „Innig und leidenschaftlich“ vorgetragen werden. Sein Inhalt ist Lobpreis der Geliebten. Der hohe Ton, in dem dies geschieht, schlägt sich in der Liedmusik nieder: In einer melodischen Linie, die in zumeist silbengetreuer Deklamation große tonale Räume durchmisst, - in Gestalt von Sprung- und Fallbewegungen; und darin begleitet von einem Klaviersatz, der von vollgriffigen Akkorden geprägt ist. Die aus dem Bass aufsteigenden triolischen Sechzehntel führen dabei aber ein durchaus eigenständiges Leben, indem sie in ihrer Bewegung eine melodische Linie bilden, die sich parallel zu der der Singstimme entfaltet.

    Das alles zusammen ergibt einen musikalischen Grundton, in dem sich Innigkeit des Liebesgeständnisses und bedeutsamer Ernst des Lobpreises auf überaus reizvolle und anrührende Weise verbinden. Auch wenn das lyrische Ich in seinem Entzücken über die Geliebte zu großen bildhaften Vergleichen greift – den Domen von Orvieto und Siena, dem größten Brunnen Viterbos -, wirkt dies in keiner Weise weit hergeholt oder gar übertrieben. Die Innigkeit der Melodik fängt diese großen Bilder ein und integriert sie voll und ganz in die Gesamtaussage.


  • Anmerkungen zur Faktur der Komposition und zu ihrer liedmusikalischen Aussage

    Obwohl die Akkorde im Diskant sich zusammen mit denen im Bass immer wieder bis zur Siebenstimmigkeit auswachsen, wirkt der Klaviersatz nicht gewichtig und mächtig. Das liegt einerseits daran, dass er in arpeggienhafter Weise durch die zierlichen aufsteigenden Sechzehntel-Figuren klanglich aufgelockert wird. Aber auch die Harmonik liefert dazu einen wichtigen Beitrag. Sie pendelt zwischen der Grundtonart As-Dur, Des, As und Ces hin und her, ohne in As-Dur einen wirklichen Ruhepunkt zu haben. Schon das Vorspiel, das mit Des-Dur einsetzt, lässt dies vernehmen.

    Der Klaviersatz bleibt in der beschriebenen Grundstruktur das ganze Lied über im wesentlichen erhalten, - bis auf den letzten Vers: „Der Dom von Siena selbst ist dir nicht gleich.“ Hier fehlen die triolisch ansteigenden Sechzehntel im Bass. Stattdessen erklingen dort zwei Achtel-Akkorde nach einem dreistimmig lang gehaltenen, und im Diskant steigen Oktaven auf. Die Harmonik moduliert von D-Dur über Des-, Es- nach As-Dur beim letzten Wort. Ohnehin ist diese Zeile auch von ihrer Melodik her gleichsam als Quintessenz aller Aussagen hervorgehoben. Hier soll „etwas breit“ deklamiert werden, und die melodische Linie steigt über eine Kombination aus Terz- und Quintsprung zu einem hohen, lang gehaltenen „Des“ bei dem Wort „selbst“ an, um sich dann in ähnlichen Schritten langsam zum Grundton abzusenken.

    Von ihrer Struktur her neigt die melodische Linie der Singstimme dazu, aus der Deklamation auf einer tonalen Ebene in der zweiten Zeilenhälfte in eine Aufwärts- oder Fallbewegung über größere Intervalle überzugehen. Das empfindet man als eine Akzentuierung der jeweiligen Aussage des lyrischen Ichs. So setzt das Lied ja auch ein. Bei den Worten „Ihr seid die Allerschönste weit und breit“ werden die ersten drei Worte auf einem hohen „Es“ deklamiert, danach sinkt die melodische Linie zu einem „As“ ab und beschreibt am Ende einen Sprung über eine Quinte und eine Terz zu einem hohen „Ges“ bei dem Wort „und“, von dem aus sie über eine kleine Septe zu einem „As“ abfällt. Der Beteuerung des lyrischen Ichs, dass die Geliebte nicht nur eine Schönheit, sondern die schönste Frau „weit und breit“ sei, wird auf diese Weise besonderer melodische Nachdruck verliehen. Wenn der Vergleich mit der Herrlichkeit des Doms von Orvieto angestellt wird, gehen die Sprungbewegungen über eine Sexte und eine kleine Quart bis hoch zu einem „Ges“ bei der ersten Silbe des Wortes „Herrlichkeit“, und danach senkt sich die Vokallinie in zwei Terzen zu einem „C“ ab.

    „Ein wenig zurückgehalten“ soll die melodische Linie bei den Worten „Der Dom von Siena muß sich vor dir neigen“ vorgetragen werden. Hier wird wieder zunächst silbengetreu auf einem tiefen „Es“ deklamiert, danach steigt die melodische Linie über einen Sextsprung in hohe Lage auf und beschreibt danach bei dem Wort „neigen“ – seinem semantischen Gehalt entsprechend – eine Fallbewegung über eine kleine Sekunde und eine Quinte zu einem tiefen „Es“. Das Wort „Anmut“ am Ende des zweiten Verses erhält ebenfalls einen besonderen Akzent durch eine „poco rit“ weit nach oben ausgreifende Bogenbewegung, bei der die Harmonik von As- nach Ges-Dur moduliert.

    All diese Ausbrüche der Melodik in höhere Grade der Expressivität bleiben freilich verhalten und stören nicht den innigen Grundton des Liedes, den man als so anheimelnd empfindet.

  • Zu: "Ihr seid die Allerschönste".

    Zwar weist die Melodik dieses Liedes Ausbrüche in die Emphase auf, die Dietrich Fischer-Dieskau dazu bewogen, von "tenoralem Glanz" zu sprechen und hinsichtlich der Interpretation zu fordern, dass die Diskanttöne über den Akkorden sich hervorheben müssen. Gleichwohl meinte ich in diesem Lied einen innigen Grundton zu vernehmen, und tatsächlich ereignet sich in der melodischen Linie auf den Worten "So hoher Reiz und Zauber ist dein eigen, / Der Dom von Siena muß sich vor dir neigen" eine Einkehr in die Innerlichkeit, von Wolf ausdrücklich mit der Anweisung "ein wenig zurückgehalten" gefordert. Und bei der Bogenbewegung auf "Anmut" legt er noch ein "poco ritardando" in sie. Diese Einkehr in die Innerlichkeit ereignet sich dann noch einmal in der Melodik auf den Worten "Der Dom von Siena selbst ist dir nicht gleich."

    Das alles ist in der oben verlinkten Aufnahme mit Fischer-Dieskau als Interpreten sehr wohl zu vernehmen, bis hin zu der Anmutung von anmutiger Lieblichkeit, die er der melodischen Linie beim letzten Vers verleiht.

    Nun bewog mich das Stichwort "tenoraler Glanz" dazu, mir einmal die Aufnahme mit dem Tenor Jonas Kaufmann anzuhören:



    Und da höre ich nun all das nicht. Kaufmann ergeht sich in ariosem Vortragsgestus, was zur Folge hat, dass der gesanglichen Gestaltung der melodischen Linie die hier erforderliche Binnendifferenzierung abgeht. Wohl wissend, dass bei Urteilen über gesangliche Interpretation viel Subjektivität im Spiel ist, möchte ich gleichwohl die These wagen, dass diese der spezifischen Melodik dieses Liedes nicht gerecht wird.

  • Lied 4: „Gesegnet sei, durch den die Welt entstund“

    Gesegnet sei, durch den die Welt entstund;
    Wie trefflich schuf er sie nach allen Seiten!
    Er schuf das Meer mit endlos tiefem Grund,
    Er schuf die Schiffe, die hinübergleiten,
    Er schuf das Paradies mit ew´gem Licht,
    Er schuf die Schönheit und dein Angesicht.

    „Breit und majestätisch“ soll dieses Lied vorgetragen werden. Es ist, wie die meisten Lieder dieses Zyklus, ein in seinem Umfang kleines, das gerade mal zwei Notenseiten in Anspruch nimmt, - die überdies nur spärlich bedruckt wirken. Herausgekommen ist bei diesem reduktionistischen Einsatz des kompositorischen Materials ein wahrlich großes Lied. „Majestätisch“ ist sein Grundton, weil der Lobpreis sich an den Schöpfer der Welt richtet. Und der große Zauber, der klanglich von ihm ausgeht, gründet in der Art und Weise, wie sich die kosmisch weite Perspektive Schritt für Schritt langsam verengt und der anfänglich große Ton sich in einen kleinen wandelt, weil mit den letzten Worten des lyrischen Textes die Schönheit der Geliebten ins Blickfeld des Lobpreisenden Rückt. Beeindruckend dabei ist, mit welcher Behutsamkeit Wolf diesen Wandel der lyrischen Perspektive kompositorisch gestaltet hat.


  • Anmerkungen zur Faktur der Komposition und zu ihrer liedmusikalischen Aussage

    Mit in harmonische Verminderung fallenden Oktaven setzt das Lied im kurzen Vorspiel forte ein. Das bleibt auch noch die Begleitung der Singstimme bei der Deklamation des Wortes „gesegnet“, und es ist musikalischer Ausdruck des lyrisch hohen Tones, der am Anfang angeschlagen wird. Bei den beiden ersten Versen besteht der Klaviersatz ausschließlich aus zum Teil länger gehaltenen bis zu sechsstimmigen Akkorden, die von der Grundtonart As-Dur über B-, D- und A-Dur nach D-Dur am Ende modulieren. Mit dem dritten Vers geht die Begleitung im Diskant in zunächst zweistimmige repetierende Achtelakkorde über, die dann zu dreistimmigen und im Nachspiel sogar zu vierstimmigen werden. Die Tonart hebt sich dabei von Vers zu Vers in Halbtonschritten an, und zwar von Es-Dur über E-, F-, G-Dur bis zur Grundtonart As-Dur, was eine deutliche Steigerung der Expressivität mit sich bringt.

    Bei den beiden ersten Versen, in denen der Lobpreis die ganze Welt umfasst, steigt die melodische Linie in ruhigen Schritten und silbengetreuer Deklamation aus mittlerer in hohe tonale Lage auf und beschreibt am Ende eine Fallbewegung, die bei „entstund“ eine Septe umfasst, bei „Seiten“ hingegen nur eine Sekunde. Eingeleitet wird das mit einer über einen Sekundanstieg gedehnten Deklamation des Wortes „gesegnet“ in hoher Lage. Hier ist „forte“ vorgeschrieben. Dann aber geht die Dynamik ins Piano über, so dass sich bei den ersten beiden Versen der Eindruck eines von großem Pathos getragenen Lobpreises des Weltenschöpfers einstellt, der sich gleichwohl, weil Ehrfurcht dabei mitschwingt, zurückzunehmen weiß.

    Dieses Sich-Zurücknehmen des lyrischen Ichs vernimmt man auf eindringliche Weise im zweite Teil des Liedes, denn dieses weist am Ende des zweiten Verses mit einer Achtelpause in der Melodik und den auftrumpfend fortissimo angeschlagenen Akkorden eine kleine Zäsur auf. Danach ereignet sich pianissimo(!) die schon erwähnte Steigerung in der musikalischen Expression durch langsames, in Sekunden erfolgendes Anheben der Tonart, wobei die Singstimme nun ebenfalls auf einer langsam ansteigenden tonalen Ebene deklamiert und dann Zeile für Zeile zu Sprungbewegungen über kleinere Intervalle übergeht. Beim zweitletzten Vers kommt ein Crescendo in sie, und nach einem Quintsprung bei der letzten Silbe des Wortes „Paradies“ steigt sie in hohe Lage auf und gipfelt dort in ausdrucksstarker Weise mit einem Sekundfall auf dem Wort „Licht“ auf.

    Im letzten Vers begegnet man einem „unerhörten Ereignis“, das sich dem analytischen Blick als Ausdruck hoher Liedkompositionskunst offenbart. Die Worte „er schuf die“ werden wieder auf nur einer tonalen Ebene (einem hohen „Es“) deklamiert. Bei den nachfolgenden Worten „Schönheit und dein“ verbleibt sie in silbengetreuer Deklamation zwar auf dieser tonalen Ebene, es tritt jedoch unvermittelt ein Pianissimo in sie, und die Harmonik rückt nach Des-Dur.

    Was ist hier geschehen? Wenn man im Ohr hat, in welcher Haltung dieses lyrische Ich seinen Lobpreis zum Ausdruck bringt, dabei nämlich in der Lage ist, sich in Ehrfurcht und Bewunderung ins Piano zurückzunehmen, dann empfindet man dieses melodisch-musikalische Ereignis bei der Deklamation des Wortes „Schönheit“ als höchsten Ausdruck der Ehrfurcht des lyrischen Ichs vor der – göttlichen – Schönheit des Angesichts der Geliebten.

  • Lied 5: „Selig ihr Blinden“

    Selig ihr Blinden,
    Die ihr nicht zu schauen vermögt
    Die Reize, die uns Glut entfachen,
    Selig ihr Tauben,
    Die ihr ohne Grauen
    Die Klagen der Verliebten könnt verlachen;
    Selig ihr Stummen,
    Die ihr nicht den Frauen
    Könnt eure Herzensnot verständlich machen;
    Selig ihr Toten,
    Die man hat begraben!
    Ihr sollt vor Liebesqualen Ruhe haben.

    En Zweivierteltakt liegt diesem Lied zugrunde, das „Ziemlich getragen, jedoch nicht schleppend“ vorgetragen werden soll. Die Grundtonart ist As-Dur, und die wird auch im wesentlichen ohne weit ausgreifende Modulationen als solche gewahrt. Allerdings bleibt die Harmonisierung der melodischen Linie auf eigenartige Weise klanglich unbestimmt, was mit der Tatsache zusammenhängt, dass der Klaviersatz über weite Passagen aus dem Auf und Ab von Oktaven besteht, die aus Einzeltönen in Bass und Diskant gebildet werden. Der klangliche Eindruck, der dabei entsteht, ist der eines ausgeprägten Kontrasts zwischen melodischer Linie der Singstimme und Klaviersatz. Diese entfaltet sich in gebunden-kantablem Fluss, jener aber in der absolut gleichförmigen Abfolge von Viertelnoten in oktavischer Gestalt, die in keiner Weise durch Punktierung rhythmisiert sind, so dass sich der Eindruck mechanischer Bewegung einstellt.


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  • Anmerkungen zur Faktur der Komposition und zu ihrer liedmusikalischen Aussage

    Was nun den besonderen Charakter dieses Liedes ausmacht, das ist die Art und Weise, wie sich das Verhältnis von Vokallinie und Klaviersatz in den anderthalb Minuten, die es im Vortrag in Anspruch nimmt, entwickelt. Artikuliert sich das Klavier im gleichförmigen Auf und Ab von Oktaven zunächst völlig autonom, so, als habe es mit der Singstimme nichts zu tun, so stellt sich bei den drei letzten Versen („Selig ihr Toten…“) mehr und mehr Einklang her. Nun schlägt das Klavier mit einem Mal Akkorde an, die über den Takt gehalten werden. Ja noch mehr: Die oktavischen Bewegungen folgen nun teilweise denen der Singstimme, und bei den beiden letzten Worten („Ruhe haben“) stimmen sie sogar überein.

    Wie soll man diese strukturelle Eigenart und das Klangbild, das aus ihr hervorgeht, aufnehmen, deuten und verstehen? Der dem Lied zugrunde liegende lyrische Text stellt in seinem Aussagekern eine Klage über die Qualen der Liebe dar, die sich als Lobpreis derjenigen artikuliert, die davon verschont werden, - gipfelnd im Preis der Toten. Die melodische Linie der Singstimme ist in ihrer Struktur ganz auf diesen Klageton hin angelegt. Sie setzt regelmäßig mit einer Sprungbewegung über ein großes Intervall (von der Quinte bis zur Sexte) bei dem Wort „selig“ ein, verharrt dann in insistierender Deklamation auf der hohen tonalen Ebene, die damit erreicht wurde, und senkt sich danach langsam ab, um am Ende eine Fallbewegung zu beschreiben.

    Eine Ausnahme bilden die drei Schlussverse, deren Gegenstand der Tod, bzw. die „Toten“ sind. Bemerkenswert ist, dass die melodische Linie davor, bei dem Wort „machen“, ausnahmsweise keinen Fall beschreibt, sondern einen Quintsprung, als wolle sie zu diesem Schluss des Liedes hinführen, der sich ja auch im Zusammenspiel von Klaviersatz und Melodik vom Vorangehenden ab- und hervorhebt.

    Man liegt wohl nicht falsch, wenn man den gleichsam mechanischen Gestus, in dem sich das Klavier bis hin zu den letzten drei Versen artikuliert, als Ausdruck der Sinnlosigkeit der Klagen versteht, die das lyrische Ich melodisch vorbringt. Denn auch der Blinde, der Taube und der Stumme können ja Liebe empfinden und deren Qualen erleiden. Erst der Tod bringt wirkliche Erlösung davon, und darin ist sich nun am Ende das Klavier mit der Singstimme einig. Die melodische Linie verharrt auch hier zweimal auf einer tonalen Ebene und senkt sich dann langsam ab. Das Wort „Ruhe“ wird dabei mit einer Dehnung in Gestalt eines kleinen Sekundfalls besonders hervorgehoben. Schon zuvor haben die Oktaven des Klaviers ebenfalls nur kleine Sekundschritte in hoher Lage vollzogen und damit Einvernehmen mit der melodischen Linie zum Ausdruck gebracht.
    Am Ende wird dann dieses Einvernehmen vollkommen, und beide finden sich gemeinsam in der Tonika ein.

  • Lied 6: „Wer rief dich denn“

    Wer rief dich denn? wer hat dich herbestellt??
    Wer hieß dich kommen, wenn es dir zur Last?
    Geh zu dem Liebchen, das dir mehr gefällt,
    Geh dahin, wo du die Gedanken hast.
    Geh nur, wohin dein Sinnen steht und Denken!
    Daß du zu mir kommst, will ich gern dir schenken.
    Geh zu dem Liebchen, das dir mehr gefällt!
    Wer rief dich denn? wer hat dich herbestellt?


    Dieses Lied, das in einem Viervierteltakt steht und „gemessen“ vorgetragen werden soll, begegnet dem Hörer als musikalisch höchst kunstvoll gestaltete, subtile Studie weiblicher Eifersucht. Das lyrische Ich steht dem Du abweisend gegenüber, ja „höhnisch“ (Anweisung), fordert es sogar auf, zur Anderen zu gehen, wohin „sein Sinn und Denken steht“, und doch meint man aus der Musik herauszuhören, dass diese abweisende Haltung nicht absolut, nicht endgültig ist, vielmehr dahinter die Hoffnung auf ein Weiterleben der Liebesbeziehung steht.
    Es ist vor allem die innere Unausgeglichenheit des Liedes, die eine solche Interpretation nahelegt: Die Struktur der melodischen Linie, ihre starken Schwankungen in Dynamik und Tempo und die damit einhergehenden Modulationen in ihrer Harmonisierung.


  • Anmerkungen zur Faktur der Komposition und zu ihrer liedmusikalischen Aussage

    Auch der Klaviersatz trägt das Seine dazu bei. Die Fragen und Aufforderungen des lyrischen Ichs werden zumeist vom Klavier mit bis zu sechsstimmigen, energisch angeschlagenen und z.T. dissonanten Akkorden akzentuiert. Die nach oben stürmenden triolischen Zweiunddreißigstel-Oktaven des Vorspiels wirken wie ein ouvertürenhafter Hinweis auf das, was Singstimme und Klavier im folgenden zu sagen haben. Aber da sind noch jene Passagen im Klaviersatz, in denen dieses sich weniger energisch artikuliert, einen eher versöhnlichen Ton anschlägt. Klanglich sind sie von triolischen Sechzehntel-Figuren geprägt, und sie finden sich dort, wo das lyrische Ich den Ton der Anklage und des Vorwurfs ein wenig zurücknimmt.

    Bei den Worten „wenn es dir zur Last“ wandelt sich der Takt zu zwei Halben, die Anweisung für die Singstimme lautet „zurückhaltend“, und die melodische Linie, die sie deklamiert, besteht in einer Aufstiegsbewegung in Terzen und Sekunden, die am Ende in eine in cis-Moll harmonisierte Dehnung mündet. In der Pause danach artikuliert das Klavier piano ein z.T. triolisch geprägtes Auf und Ab von Sechzehnteln und Achteln, und man empfindet diese Passage des Liedes so, als ob das lyrische Ich gerne eine Antwort auf seine Fragen gehört hätte, - ob es dem Du wirklich eine Last ist, mit ihm zusammen zu sein.

    Bei den Worten „will ich gern dir schenken“ begegnet man einem solchen Sich-Öffnen dem Du gegenüber noch einmal. Sie werden „ein wenig zögernd“ auf einer melodischen Linie deklamiert, die im Auf und Ab, das sie nimmt, und in der leichten Dehnung, in die die Aufstiegsbewegung am Ende verfällt, weniger energisch und entschieden wirkt, als dies bei den schroffen Fragen und Aufforderungen der Fall ist. Auch hier erklingen bei dem Wort „schenken“ triolische Figuren im Klavierdiskant, und die Harmonik moduliert von „Ges“ nach „F“. Man meint zu vernehmen, dass das lyrische Ich ganz gerne einen Widerspruch zu der Bereitschaft des „Schenken-Wollens“ vernehmen würde.

    Diese lyrische Figur wird in Wolfs Musik, insbesondere in er Art, wie sie sich melodisch artikuliert, zu einem Menschen, der ein schwankendes Bild bietet. – zwischen der Verstoßung des Geliebten und der Neigung, ihn zurückzugewinnen hin und her pendelnd. Immer dann, wenn sie Entschiedenheit zum Ausdruck bringen möchte, beschreibt die melodische Linie regelrecht schroff wirkende Sprungbewegungen, und dies forte oder gar mit einem Sforzato versehen. So bei dem ersten „wer hat dich herbestellt“ (ein Sforzato-Sextsprung) oder bei der Aufforderung „geh dahin“ (ein Sforzato-Quintsprung). Bei den Worten „geh zu dem Liebchen“ deklamiert die Singstimme in repetierender Weise auf nur zwei tonalen Ebenen, die durch eine Quarte voneinander abgehoben sind. Bei „Geh nur, wohin dein Sinnen steht und Denken“ erhält das letzte Wort einen starken melodischen Akzent durch einen rhythmisierten Quintsprung, und regelrechten Hohn meint man in dem ebenfalls rhythmisierten Quintfall bei dem anfänglichen „Wer rief dich denn?“ zu vernehmen.

    Aber es gibt eben, wie bereits aufgezeigt, auch die andere Seite. Auffällig ist, dass die Wiederholung der Anfangsworte auf einer weniger schroff oder gar höhnisch wirkenden melodischen Linie deklamiert wird. Zwar liegt auf dem zweiten „Wer rief dich denn?“ wieder eine Fallbewegung, aber sie geht aus einem vorangehenden Terzanstieg hervor, und das zweite „Wer hat dich herbestellt?“ wird nun „zurückhaltend“ auf einer melodischen Linie deklamiert, die nicht schroff nach oben steigt, sondern aus einer Kombination von vermindertem Quintsprung, Sekund- und Sextfall besteht.

    Dass dieses weibliche lyrische Ich, so wie Wolf es gesehen hat, in seiner Grundhaltung innerlich gespalten ist, lässt auch noch einmal das Nachspiel vernehmen. Im zweitletzten Takt schlägt das Klavier unerwartet einen lang gehaltenen, schroff dissonanten Akkord aus den Tönen „Fes-C-D-E-Des“ an.

  • Bei den Links zu gesanglichen Interpretationen, die ich den Liedbesprechungen beigebe, wähle ich unter den Aufnahmen, die mir in Youtube angeboten werden, immer die aus, die – nach meiner Auffassung – der Liedmusik am meisten gerecht wird und in der das am ehesten zu hören ist, was ich beschrieben und reflektiert habe. In der Regel habe ich dabei keine großen Probleme, weil die Sachlage zumeist recht eindeutig und klar ist.
    So kam etwa beim vorangehenden Lied („Selig ihr Blinden“) die Interpretation von Jonas Kaufmann in der Erato-Aufnahme mit Diana Damrau und Helmut Deutsch für mich nicht in Frage (er mag vieles hervorragend können, Hugo Wolf-Liedmusik interpretieren kann er nicht), und ich griff ohne zu zögern zu Dietrich Fischer-Dieskau.

    Bei diesem Lied „Wer rief dich denn“ war´s aber anders: Ich zögerte lange ob, ich zu Elisabeth Schwarzkopf oder zu dieser Aufnahme mit Diana Damrau greifen sollte.



    Nach langem Hören hin und her entschied ich mich dann doch für die oben verlinkte Aufnahme mit Elisabeth Schwarzkopf, die für mich seit eh und je die größte Wolf-Interpretin ist. Sie trifft die spezifische Eigenart der Melodik in ihrem Neben- und Ineinander von deklamatorischen und melodischen Elementen, in dem sich diese faszinierende musikalische Skizze einer Frauenpsyche ereignet, noch besser, als dies bei Diana Damrau der Fall ist.
    Ich gebe aber gerne zu, dass der Unterschied minimal ist und bin mir auch nicht so ganz sicher, ob das Zerbrechen-Lassen der Stimme, das sich die Schwarzkopf am Ende bei dem Wort „herbestellt“ leistet, der Sache angemessen ist.

  • Lied 7: „Der Mond hat eine schwere Klag´ erhoben“

    Der Mond hat eine schwere Klag´ erhoben
    Und vor dem Herrn die Sache kund gemacht.
    Er wolle nicht mehr stehn am Himmel droben,
    Du habest ihn um seinen Glanz gebracht.
    Als er zuletzt das Sternenheer gezählt,
    Da hab´ es an der vollen Zahl gefehlt;
    Zwei von den schönsten habest du entwendet:
    Die beiden Augen dort, die mich verblendet.

    Im lyrischen Text treibt das lyrische Ich – hier der Mann – ein kokettes Spiel mit weit hergeholten kosmischen Bildern von Mond und Sternen, um die einmalige Schönheit der Geliebten hervorzuheben und zu preisen. Bei Wolf wird aus dieser komplimentierenden Koketterie ein Lied von tiefem Ernst. Die geliebte Frau wird als ein Wesen erfahren, das durch seine unermessliche Schönheit in unerreichbarer Ferne weilt, dem sich das lyrische Ich aber gleichwohl in tiefer und unlösbarer Weise in Liebe verbunden fühlt. Die Art, wie es sich melodisch artikuliert, wirkt, als liege auf ihm eine große Last, ein Schicksal, an dem es schwer trägt, in das er sich aber am Ende einfindet.


  • Anmerkungen zur Faktur der Komposition und zu ihrer liedmusikalischen Aussage

    Zustande kommt dieser Eindruck durch die ganz eigene Struktur der melodischen Linie, ihre Harmonisierung und das Zusammenspiel mit dem Klavier. Eine Figur kehrt dabei immer wieder. Die Singstimme verharrt – in Moll harmonisiert – in silbengetreuer Deklamation lange auf nur einer tonalen Ebene, derweilen sich im Klavierdiskant langsam – das Lied soll „sehr langsam vorgetragen werden – Moll-Terzen absenken. Sie muten klanglich an wie eine Last, die auf die melodische Linie drückt und sie nötigt, auf der Ebene zu verharren, auf der sie sich gerade bewegt. Erst am Ende der jeweiligen Melodiezeile kommt es zu einer Art leichtem Sich-Aufbäumen der melodischen Linie, - in Gestalt einer Sekunde nur oder einer Terz. Und dann folgt der Sturz über ein große Intervall, der freilich mit einer Rückung in den Dur-Bereich verbunden ist.

    Gleich bei der ersten Melodiezeile, die den ersten Vers umfasst, kann man dies auf beeindruckende Weise erleben. Sie Singstimme deklamiert bis zu dem Wort „Klag“ hin ausschließlich auf einem „Ges“ in mittlerer Lage, wobei das Wort „Mond“ eine Dehnung in Gestalt eines punktierten Viertels trägt. Erst bei dem Wort „erhoben“ steigt sie in zwei Sekundschritten für einen Augenblick kurz an, um aber unmittelbar darauf einen veritablen Oktavfall zu beschreiben. In der Harmonisierung ereignet sich hier eine Rückung von dem anfänglichen es-Moll nach B-Dur.

    Bei der folgenden Melodiezeile (zweiter Vers) ereignet sich melodisch und harmonisch Ähnliches. Hier deklamiert die Singstimme auf einem „B“, bevor sie am Ende, dieses Mal etwas früher, in eine Fallbewegung übergeht. Und wieder lasten die herabsteigenden Moll-Terzen auf ihr, wobei die Harmonik am Ende nach B-Dur rückt. Erst gegen Ende des ersten Liedteils (Vers 1-4) ereignet sich eine Variation dieser Grundstruktur in Gestalt einer Bewegung der melodischen Linie im Rahmen eines etwas größeren Intervalls in mittlerer Lage. Aber bei den Worten „du habest“ und „Glanz gebracht“ folgen dann doch wieder die bekannten melodischen Brüche mittels eines Sept- und eines Quintfalls. Dieses Mal in Verbindung mit einer Rückung nach Des-Dur.

    Wenn man sich fragt, wie dieses Klangbild aufzufassen und zu verstehen ist, das sich aus dem Zusammenspiel von Singstimme und Klavier ergibt, so hilft vielleicht der Blick auf den Schluss weiter. Auch bei der fünften und der sechsten Melodiezeile („Als er zuletzt…“) begegnet man in Melodik und Klaviersatz ja wieder dem, was man vom Liedanfang her kennt, nur dass die Harmonisierung der melodischen Linie dieses Mal in cis-Moll einsetzt und nach Cis-Dur moduliert. Bei den beiden letzten Versen kommt dann wieder etwas mehr Bewegung in die Vokallinie, freilich bleibt sie auch hier ihrer Neigung treu, zunächst einmal auf der eingenommenen tonalen Ebene zu verharren. Das Wort „habest“ wird mit einer Dehnung auf einem hohen „Des“ besonders hervorgehoben, danach deklamiert die Singstimme die Worte „du entwendet“ auf einem hohen „C“, das am Ende in ein „Ces“ abfällt.

    Das klanglich am stärksten Faszinierende ereignet sich bei den letzten Worten: „die mich verblendet“. Sie werden pianissimo auf einem Terzsprung deklamiert, der bei der letzten Silbe des Wortes „verblendet“ in einen Septsprung übergeht. Das musikalisch Entscheidende leistet dabei aber die Harmonik. Schon die Worte „die beiden Augen dort“ sind in Dur harmonisiert („Ges“ und „Ces“), wobei das Wort „Augen“ durch einen Septfall einen ausdrucksstarken Akzent erhält. Dann erfolgt – überraschend – in dem nachfolgenden Es-Dur- Akkord eine klangliche Eintrübung durch eine gebundene Rückung in verminderte Harmonik („Fes-Asas-Es“). Auch der Septfall auf dem Wort „verblendet“ mündet in verminderte Harmonik. Danach ereignet sich im dreifachen Piano des Nachspiels eine Modulation eines dissonanten Akkordes über ein des-Moll hin zu dem Ces-Dur Akkord, der den Schluss des Liedes bildet.

    Man empfindet diese letzten Takte des Liedes, bei denen die Musik langsam in dissonanten Modulationen im äußersten Piano versinkt, um dann doch noch einen Dur-Akkord im Bereich der Subdominante hervorzubringen, wie den Ausdruck eines endgültigen Sich-Einfindens des lyrischen Ichs in seine existenzielle Situation des vollkommenen Aufgehens in der Liebe zu einer in ihrer überirdischen Schönheit fernen Frau.
    Alles, was sich musikalisch davor ereignet hat, ist wie der Weg hierhin.

  • Lied 8: „Nun laß uns Frieden schließen“

    Nun laß uns Frieden schließen, liebstes Leben,
    Zu lang ist´ schon, daß wir in Fehde liegen.
    Wenn du nicht willst, will ich mich dir ergeben;
    Wie könnten wir uns auf den Tod bekriegen?
    Es schließen Frieden Könige und Fürsten,
    Und sollten Liebende nicht darnach dürsten?
    Es schließen Frieden Fürsten und Soldaten,
    Und sollt es zwei Verliebten wohl mißraten?
    Meinst du, das, was so großen Herrn gelingt,
    Ein Paar zufried´ner Herzen nicht vollbringt?

    Der Wille, Frieden zu schließen mit der Geliebten, Angebot und flehentliche Bitte zugleich, prägt den Grundton dieses Liedes. Liebevolle Zärtlichkeit schwingt darin mit, denn dieses (männliche) lyrische Ich ist bereit, sich ohne Bedingungen der Frau zu „ergeben“. Wolf hat es in erster Linie der melodischen Linie der Singstimme anvertraut, dieses zum Ausdruck zu bringen. Dem Klavier kommt in diesem Lied vorwiegend begleitende Funktion zu. Entsprechend einfach ist der Klaviersatz in seiner Struktur angelegt. Er besteht durchgehend aus der Aufeinanderfolge von zwei Achtelfiguren im Diskant und zwei- bis dreistimmigen punktierten Akkorden im Bass. Der wiegend rhythmisierte Barkarolen-Rhythmus (Sechsachteltakt) kommt dabei dadurch zustande, dass die Achtelfiguren in der Mittel gebunden sind. Auch der Harmonik des Liedes geht jegliche Komplexität ab. Im Grunde bewegt sie sich – mit nur wenigen modulatorischen Ausnahmen – im Raum von Tonika (Es-Dur), Dominante und Subdominante.


  • Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Der entscheidende Beitrag des Klaviers zu dem, was die melodische Linie der Singstimme zu sagen hat, liegt in eben diesem wiegenden Sechsachtel-Rhythmus, der zusammen mit dem Potential von Terzen, Quinten und Sexten ein klangliches Bett schafft, in dem die melodische Linie sich entfalten kann, so dass die Zärtlichkeit ihres Gestus keine Störung erfährt, - vielmehr sogar noch eine Steigerung. Ohnehin stehen sich Melodik und Klaviersatz sehr nahe. Auch diese ist in ihrer Struktur auf Einfachheit angelegt. Die meisten Melodiezeilen ähneln einander in ihrer Anfangsschritten: Es wird in leichter Rhythmisierung auf nur einer tonalen Ebene deklamiert. Zwischen den ersten beiden Melodiezeilen (Verse 1 und 2) und jenen, die auf den Versen 5 und 6 liegen, geht die Übereinstimmung sogar noch weiter. Die melodischen Schritte sind nahezu identisch, und in der Harmonisierung ereignet sich am Ende jeweils eine Rückung erst in die Subdominante und dann in die Dominante.

    Im Grunde empfindet man – und das ist das Erstaunliche an diesem Lied! – die strukturelle Einfachheit als die eigentliche Quelle seiner klanglichen Faszination, - eine Erfahrung, die an bei vielen Liedern dieses Zyklus machen kann. Andererseits ist das nun auch so erstaunlich wieder nicht, denn die strukturelle Einfachheit gründet ja in der Haltung des lyrischen Ichs, in diesem bemerkenswert klaren „Wenn du nicht willst, will ich mich dir ergeben“. Den immer wieder gleichen Melodiezeilen-Anfang empfindet man als vollkommen zu diesem lyrischen Ich passend. Die Eindringlichkeit, die von der Deklamation auf nur einer tonalen Ebene ausgeht, leitet sich von der inneren Klarheit und Entschiedenheit ab, die dieser Mensch der geliebten Frau gegenüber einnimmt.

    Alle Akzente, die die melodische Linie setzt, gehen in diese Richtung, sind Ausdruck der Nachdrücklichkeit des Friedensangebots und der dahinterstehenden Hingabe an die geliebte Frau. Bei den Worten „liebstes Leben“ beschreibt die Vokallinie eine nach unten gerichtete Bogenbewegung, bei dem Vers „Zu lang ist´ schon, daß wir in Fehde liegen“ trägt das Wort „lang“ eine Dehnung, und innerhalb des Wortes „liegen“ ereignet sich ein mit einer Rückung zur Dominante verbundener Quartfall.

    Sehr stark greift die aus der Struktur der melodischen Linie hervorgehende Akzentuierung in die Deklamation des lyrischen Textes bei dem Vers „Wie könnten wir uns auf den Tod bekriegen?“ ein. Auf dem Wort „könnten“ liegt ein aus einer Dehnung hervorgehender Terzsprung, die nachfolgenden Worte werden auf nur einem Ton (einem „Ges“) deklamiert, wobei das Wort „uns“ mittels einer Dehnung einen Akzent erhält. Und zu dem Wort „Tod“ hin ereignet sich ein ausdrucksstarker, weil mit einer Rückung nach es-Moll verbundener Sextsprung, dem ein Septfall innerhalb des Wortes „bekriegen“ nachfolgt.
    Das lyrische Ich will damit die Undenkbarkeit eines solchen Zerwürfnisses zum Ausdruck bringen. Bemerkenswert ist dabei, dass dies „etwas zurückhaltend“ (so die Vortragsanweisung) geschehen soll.

    Weil die melodische Linie dazu neigt, auf einer tonalen Ebene zu verharren, entfalten die wenigen Fallbewegungen, die sie beschreibt, umso größere Ausdruckskraft. So jeweils am Ende des Verses bei den Worten „Fürsten und Soldaten“ und „wohl missraten“, wobei sich hier noch en Terzsprung anschließt, der der Frage Nachdruck verleihen soll. Dem dienen auch die Fallbewegungen in den beiden letzten Versen, - bei „meinst du“ und bei den Worten „zufried´ner Herzen“. Dieses lyrische Ich ist zutiefst davon überzeugt, dass „ein Paar zufriedener Herzen“ noch viel leichter zu vollbringen vermag, was „großen Herrn“ gelingt. Und das vermag es auf höchst beeindruckende melodisch zu artikulieren.

  • Biographische Notiz


    Dieses mit seiner synkopierten melodischen Linie über wiegendem Sechsachteltakt klanglich so bezaubernde Lied "Nun laß uns Frieden schließen", bei dem es, wie Eric Werba berichtet, bei der Aufführung des „Italienischen Liederbuchs“ jedesmal einen Streit gegeben habe, ob nun der Mann oder die Frau es vortragen solle, entstand am 14. November 1890 in Döbling, wohin Wolf sich, nachdem er nach seiner Rückkehr aus Deutschland zehn Tage lang in der Stadtwohnung bei den Köcherts wohnte, wieder zurückgezogen hatte.

    Danach verfiel er in eine tiefe Schaffenskrise. Die rauschhaft- kompositorische Inspiration, auf die er so sehr angewiesen war, hatte ausgesetzt. Erst ein Jahr später, am 29. November 1891 entstand das nächste Liederbuch-Lied mit dem Titel „Daß doch gemalt all deine Reize wären.“

    Wie tief die Krise war, zeigt diese damals getätigte Äußerung:
    „Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, was eine Harmonie, was Melodie ist und ich beginne bereits zu zweifeln, ob die Kompositionen unter meinem Namen auch wirklich von mir sind.
    Du lieber Himmel, wozu der Lärm, wenn zum Schluss nur ein Pudel dahinter steckt? Wozu alle die herrlichen Aussichten, wenn ich jetzt elend im Dreck versinken soll?“
    Und dann zitierte er Kleist mit den Worten:
    „Der Himmel gibt einem ein ganzes oder gar kein Talent; die Hölle hat mir meine halben gegeben.“

  • Lied 9: „Daß doch gemalt all deine Reize wären“


    Daß doch gemalt all deine Reize wären,
    Und dann der Heidenfürst das Bildnis fände.
    Er würde dir ein groß Geschenk verehren,
    Und legte seine Kron´ in deine Hände.
    Zum rechten Glauben müßte sich bekehren
    Sein ganzes Reich, bis an sein fernstes Ende.
    Im ganzen Lande würd´ es ausgeschrieben,
    Christ soll ein jeder werden und dich lieben.
    Ein jeder Heide flugs bekehrte sich
    Und würd´ ein guter Christ und liebte dich.

    Dieses Lied wirkt von seinem melodischen Gestus her lebhafter und expressiver als das vorangehende. Es weist sogar einen in den Forte-Bereich vorstoßenden emphatischen Höhepunkt auf, - in der Melodiezeile, die aus dem fünften und sechsten Vers gebildet ist.
    Es ist wohl die im Zentrum des lyrischen Textes stehende phantastische Vision vom „Heidenfürst“, den die Begegnung mit dem Bild der Geliebten dazu bringt, die Krone in ihre Hand zu legen und sein ganzes Reich zum Christentum zu bekehren, die Wolf dazu beflügelt hat, eine solche Emphase in das Lied zu legen und jeweils zwei Verse in einer Melodiezeile zusammenzufassen, was der Melodik – auf der Grundlage eines Neunachteltaktes – von vornherein einen gewissen Schwung verleiht. Gleichwohl soll es „mässig“ vorgetragen werden. Die Grundtonart ist zwar F-Dur, aber die Harmonik moduliert relativ stark und greift dabei im Quintenzirkel weit aus.


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