Lied 9: "Daß doch gemalt all deine Reize wären“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
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Zum Eindruck einer inneren Beschwingtheit trägt auch wesentlich der Klaviersatz bei. Die Akkordfolgen, aus denen er im Diskant ausschließlich und im Bass größtenteils besteht und bei denen es sich häufig um Repetitionen handelt, sind anfänglich leicht rhythmisiert, da sich in die Achtel ein Viertel, eine Pause oder eine Dehnung in Gestalt einer Akkordbindung einschieben kann. Mit dem fünften Vers dominieren dann Akkordrepetitionen in Gestalt von Dreiergruppen.
Auch hier neigt die Singstimme dazu, fast einen ganzen Takt deklamatorisch auf einer tonalen Ebene zu bleiben. Aber hinzu kommt von vornherein ein Steigerungseffekt, da sich diese Ebenen anheben, wie man gleich in der ersten Melodiezeile vernehmen kann. Man gewinnt den Eindruck, und darauf hat Wolf dieses Lied ganz bewusst angelegt, dass sich das lyrische Ich in der Absicht, die Geliebte zu preisen immer mehr in seine phantastischen Visionen hineinsteigert.
Besondere Expressivität entfaltet die melodische Linie in diesem Zusammenhang in der dritten Melodiezeile (fünfter und sechster Vers). Sie steigt in – bei wichtigen Worten in immer wieder einmal gedehnten – Sekundschritten von einem tiefen „D“ zu einem hohen „Ges“ auf, wobei sie von stark modulierenden Akkordrepetitionen gleichsam vorangetrieben wird. Die Worte „Im ganzen Lande würd´ es ausgeschrieben“ werden dann forte auf nur einem einzigen Ton deklamiert, einem hohen „Es“. Und da auch der Klaviersatz im Diskant durchgehend aus den gleichen Akkordrepetitionen besteht, bei denen die oktavischen Achtelbewegungen im Bass eine Verminderung der Es-Dur-Harmonik bewirken, weist diese Passage des Liedes eine ausgeprägte Binnenspannung auf, die nach einer Art melodischem Ausatmen verlangt.
Das ereignet sich dann in der Melodiezeile, die auf den Worten „Christ soll ein jeder werden und dich lieben“ liegt. Diese geradezu abenteuerliche Vision des lyrischen Ichs wird von der Singstimme silbengetreu auf einer Vokallinie deklamiert, die zunächst auf der tonalen Ebene eines hohen „F“ verbleibt, sich dannn aber in zwei Sekundschritten absenkt, wobei die Harmonik von F-Dur nach Ges-Dur moduliert. Danach beschreibt sie – nach einer Achtelpause – zwei Sprungbewegungen, und das Wort „lieben“ erhält dabei mittels einer langen Dehnung einen besonderen Akzent. Seine Wirkung wird noch dadurch gesteigert, dass die Singstimme, die sich zuvor im Forte-Bereich bewegte, sich an dieser Stelle ins Piano zurücknimmt.
In reizvollem Kontrast zu dem großen Ton, den das Lied gerade angenommen hatte, stehen dann die piano vorgetragenen Schlussverse. Zweimal, durch eine Achtelpause unterbrochen, bewegt sich die Singstimme in drei Schritten in hohe Lage empor, um dann die Worte „Und würd´ ein guter Christ und liebte dich“ auf einer zunächst auf einem hohen „D verharrenden, dann aber sich langsam zum Grundton absenkenden melodischen Linie zu deklamieren.
Von diesem Schluss geht eine große klangliche Wärme aus, - nicht nur, weil das Wort „liebte“ eine lange Dehnung auf der Terz trägt, sondern auch, weil sich hier eine gleichsam volkliedhafte Modulation über die Dominante zur Tonika ereignet.