Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Betr.: Lied 21: „Man sagt mir, deine Mutter wollt´ es nicht“, Text Ende vorangehender Seite)
Dieser Steigerungseffekt ist zwar im lyrischen Text angelegt, denn aus dem „besuch mich doch“ wird erst ein „komm öfter als bisher“ und dann das „komm alle Tage“. Aber wie in all diesen Liedern des Zyklus lotet Wolf mit seiner Musik die seelische Dimension des jeweils lyrisch sich Artikulierenden aus, und das geschieht hier vor allem über die Struktur der melodischen Linie und insbesondre über die Variation derselben bei der Wiederkehr der appellativen sprachlichen Wendungen „“tu´s“ und „komm“. Aber auch die sprachlichen Elemente des Bittens erfahren, eben um ihre psychische Dimension auszuleuchten, eine hochgradig differenzierte melodische Behandlung.
Dem Klavier kommt dabei die Aufgabe zu, die melodische Linie nicht nur in ihren Bewegungen zu begleiten, sondern ihre jeweilige Aussage auch mit klanglichen und rhythmischen Mitteln zu akzentuieren. Eine klangliche Grundfigur spielt dabei eine dominante Rolle, weil sie den Klaviersatz von Anfang bis Ende beherrscht. Es ist eine Dreier-Kombination aus einem punktierten Achtelakkord, einem Sechzehntelakkord und einem unmittelbar darauf folgenden und mehr oder weniger lang gehaltenen Akkord aus Viertel- oder haben Noten, der mit einer Rückung in die harmonische Verminderung verbunden ist.
Rhythmisch wirkt das wie ein kurzes Voranstürmen, dem ein Innehalten folgt. Und darin drücken sich ja eigentlich Seelenlage und Verhalten des lyrischen Ichs aus. Als zweite Figur begegnen einem noch aufwärts gerichtete, zumeist akkordische Achteltriolen, deren Funktion ganz offensichtlich ist, den Bitten und Aufforderungen Nachdruck zu verleihen. Sie erklingen nicht nur am Anfang oder vor den Melodiezeilen, sondern zuweilen auch mittendrin. Das verstärkt die Dynamik, die dem ersten Teil dieser klanglichen Hauptfigur des Klaviersatzes innewohnt und lässt das nachfolgende Innehalten nur noch umso intensiver wirken.
Die Eindringlichkeit, mit der das lyrische Ich sich melodisch artikuliert, erfährt im Verlauf des Liedes eine deutliche Steigerung. In der Struktur der melodischen Linie zeigt sich das darin, dass neben die Deklamation auf einer tonalen Ebene Fall- und Sprungbewegungen über immer größere Intervalle treten. Bei dem anfänglichen „Tu ihr den Willen“ steht am Ende eine triolische Kombination aus Sekundsprung und Quartfall. Die Bitte „besuch mich doch“ wird auf zwei Sekundfallbewegungen deklamiert, die durch Pausen eingegrenzt sind und dadurch melodisch exponiert wirken. Bei den Worten „folg´ ihr nimmermehr“ beschreibt die melodische Linie zwei Fallbewegungen über ein Quinte und eine Terz, wobei sie beim zweiten Mal höher ansetzt, was die Eindringlichkeit der Ansprache steigert.
Bemerkenswert sind die Veränderungen der melodischen Linie bei dem Wort „Trotz“. Beim ersten Auftauchen des Wortes macht sie noch einen Sekundsprung, beim zweiten beschreibt sie – überraschenderweise – auf den Worten „zum Trotz“ eine triolische Kombination aus Sext- und Sekundfall, und die Worte „Tu´s ihr zum Trotz“ werden zunächst nur auf einem „A“ in mittlerer Lage deklamiert, aber zu dem Wort „Trotz“ hin beschreibt die melodische Linie einen Sprung zu einem hohen „F“. Auch die Harmonisierung wird immer wieder zur Akzentuierung der Bitte und der Aufforderung eingesetzt, - in der Form, dass für nur einen deklamatorischen Schritt das Tongeschlecht von Moll nach Dur hin wechselt.
Man blickt als Hörer dieses Liedes tatsächlich tief in die Seele einer liebenden Frau.