Jugendstil - gibt es den auch in der Musik?

  • Anlässlich der Oper "Francesca da Rimini" von Riccardo Zandonai kam dieses Thema auf. Ich fragte dann den Tamino Caruso41: "Mich würde interessieren, was du unter Jugendstil-Lyrismus verstehst? Welche Musik kann man eigentlich dem Jugendstil zuordnen? Gibt es eine solche?"


    Er antwortete dazu recht interessant und ausführlich und ich möchte andere Taminos ermuntern, dies ebenfalls zu tun. Dass es Jugendstil in der Architektur, der Malerei und der Literatur gibt, wird kaum angezweifelt. Aber in der Musik? Hier noch einmal die lesenswerten Ausführungen von Caruso41:


    Wie Zandonai hier alte Instrumente, wie die Viola pomposa zur dekorativen Ausstattung der Geschichte von Lanzelot nutzt, wie er die Singstimmen der beiden Sänger führt und verschlingt und dabei der ornamentalen Ausschmückung Eigenwert gibt, und wie er schließlich Sinnenlust, Rausch und Ekstase ungemein raffiniert instrumentiert, ist für mich ein Beispiel für das, was ich Jugendstil-Lyrismus genannt habe. Es ist gewiss kein Zufall, dass die meisten Programmhefte und Beihefte zu Aufnahmen von „Francesca da Rimini“ mit Jugendstilgrafiken bebildert sind.

    Aber ob man Zandonai insgesamt als Vertreter des Jugendstils bezeichnen kann, bezweifle ich.

    Er ist genauso Verist, Wagnerianer, Impressionist oder Neoromantiker.

    Ob Jugendstil überhaupt als Stilbegriff für Musik taugt, ist in der Musikwissenschaft einigermaßen umstritten. Da gibt es ja nun einige umfängliche Monografien und Aufsätze, die aber die Frage nicht abschließend klären. Einig ist man sich allerdings, dass es bei verschiedenen Komponisten eine gewisse Affinität zum Jugendstil und zur Sezession gab. Kompositionstechnisch lässt die sich allerdings schwer fassen, auch wird sie kaum als expliziertes Programm greifbar. Gleichwohl taugt der Begriff ’Jugendstil’ durchaus, die Charakteristik von Einzelzügen der Musik zu fassen.

    Die Tatsache , dass es in der Musik nicht leicht fällt, Jugendstil als klar umrissene Entität zu identifizieren, ist eigentlich überraschend, da die gegenseitige Durchdringung der Künste gewissermaßen zum Programm des Aufbruchs, der ’Jugendstil’ genannt wurde, gehörte. Musik und Tanz sind dabei für Maler, Bildhauer, Architekten, Dichter und Schriftsteller stets besonders im Fokus.

    Wenn man nun fragt, in wessen Werken man denn eine besondere Affinität zum Jugendstil hören kann, werden meist Komponisten wie Alexander von Zemlinsky, Franz Schreker, Erich-Wolfgang Korngold genannt, auch verschiedene Werke von Richard Strauss, späte Kompositionen von Hugo Wolf und frühe Werke von Gustav Mahler. Alexander Scriabin und Karol Szymanowski, Ralph Vaughan Williams und Frederick Delius sind weitere heiße Kandidaten.

    Besonderes Interesse haben bei Musikwissenschaftlern die frühen Kompositionen von Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg gefunden, da sie hier Jugendstilprägungen aufgespürt und als die Öffnung des Weges in die Moderne interpretiert haben.

  • Hallo greghauser2002......hier ein paar Beispiele zum Thema....


    Lieder

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    md16261455773.jpgKlick


    DRESDEN /Semperoper: SOIREE „RAUSCH UND EKSTASE – DER WIENER JUGENDSTIL IN DER MUSIK


    Es gibt sehr viel im Netz!

    Das Hollander Buch habe ich mir mal bestellt für'n € !:)

    Den Zandonai werde ich mir mal die Tage vornehmen, ich habe 6 Aufnahmen!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Danke, lieber Fiesco.

    Das ist ein toller Anfang. Da kann ich noch viel weiterstudieren. Vor allem im Merker-Artikel sind wertvolle Anregungen enthalten.


    Würdet ihr eventuell die wunderbare Musik der Rosenüberreichung aus Richard Strauss´ Oper als Jugendstilmusik bezeichnen? Geschrieben um 1910 von einem Meister, der zu dieser Zeit gerade selber in eine Jugendstil-Villa einzog. Vielleicht hat ihn das Ambiente inspiriert?

  • Lieber Greghauser!

    Würdet ihr eventuell die wunderbare Musik der Rosenüberreichung aus Richard Strauss´ Oper als Jugendstilmusik bezeichnen?

    Na, wer da keine rankenden Ornamente und keine verführerisch-glitzernden Arabesken hört, die ganz unmittelbar Jugendstilbilder imaginieren, dem ist nicht zu helfen. Gerade weil dieses Duett so genial artifiziell komponiert ist, ist es ja schier überirdisch schön.


    Beste Grüße

    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Hallo


    Diese herrliche CD passt auch in diesen Zusammenhang:



    Gruß Wolfgang

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo

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  • Meiner Meinung nach hört man das am besten in den Liedern von den div.Komponisten Zemlinsky, Schreker, Korngold, etwas Berg und etwas Mahler, vor allem die frühen Mahler Lieder!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Ein besonders sprechendes Beispiel für den Jugendstil in der Musik ist für mich die Symphische Dichtung "Lebensreifen" von Josef Suk.



    Dort gibt es eine Fuge als Symbol dafür, dass sich das Leben zum wahren Lebenssinn "durcharbeiten" muss. Da denke ich gerne an die Jugenstilhäuser mit ihren Sprüchen von protestantischer Arbeitsethik über der Türschwelle. Zum Jugendstil gehört nicht nur der Genuss, sondern auch diese Seite. Vincent van Gogh sagte, besser als im Paradies zu sein sei, im Schweiße seines Angesichts sein Brot zu essen.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Lieber Holger!

    Zitat von Caruso41

    Wenn man nun fragt, in wessen Werken man denn eine besondere Affinität zum Jugendstil hören kann, werden meist Komponisten wie Alexander von Zemlinsky, Franz Schreker, Erich-Wolfgang Korngold genannt, auch verschiedene Werke von Richard Strauss, späte Kompositionen von Hugo Wolf und frühe Werke von Gustav Mahler. Alexander Scriabin und Karol Szymanowski, Ralph Vaughan Williams und Frederick Delius sind weitere heiße Kandidaten.

    Es wäre wohl sinnvoll, erst mal die Liste der 'weiteren heißen Kandidaten' aufzufüllen.


    Josef Suk ist da ganz sicher ein Kandidat, wenn ich auch nicht in vielen seiner Werke Jugendstil-Elemente entdecken kann.

    In Zrání (Reifen) op. 34 aber auf jeden Fall. In einer scheinbar spätromantisch-schwelgerischen Grund-Stimmung werden da ständig feinste motivische Übergänge, Rückungen und Entwicklungen hörbar, die sich durchaus zu einer vegetativen Ornamentik entwickeln, die deutlich Jugendstil-Affinität hat. Das ganze Gedicht von Antonín Sova, das die Vorlage der Komposition ist, vergleicht ja das menschliche Reifen mit dem Reifwerden der Natur. Dieses Reifen gipfelt dann in der Fuge, die Du ja auch in ihrem Jugendstil-Charakter überzeugend gedeutet hast.


    Auch in Pohádka léta (Ein Sommermärchen) op. 29 kann man Jugendstil hören, wenn im 'Intermezzo' zwei Englischhörner ein von der Harfe begleitetes Duett spielen. Ganz toll!


    Beste Grüße

    Caruso41



    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • B07Z76LMJP.03._SS300_SCLZZZZZZZ_.jpg

    Lieber Fiesco!


    Die CD kenne ich noch nicht, aber etliche der Lieder sind sicher gute Beispiele für den Jugendstil in der Musik.

    Darauf hatte ich schon kurz hingewiesen:

    Besonderes Interesse haben bei Musikwissenschaftlern die frühen Kompositionen von Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg gefunden, da sie hier Jugendstilprägungen aufgespürt und als die Öffnung des Weges in die Moderne interpretiert haben.

    Eine andere Lieder-CD bietet auch ein Programm, in dem es deutliche Bezüge zum Wiener Jugendstil gibt. Es gibt sogar Überschneidungen!



    Die CD habe ich schon gehört und ich kann sie nur wärmstens empfehlen


    Caruso41


    ;) - ;) - ;)


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  • Vielen Dank an alle, die sich hier beteiligt haben.

    Die meisten Musik-Tipps habe ich nun durchgehört. Man findet ja wirklich sehr viel auf YouTube.


    Ich habe zum ersten Mal Lieder von Alma Mahler-Werfel gehört. Ich wusste zwar, dass sie durchaus als begabte Komponistin galt, aber bisher hatte ich nie etwas von ihr gehört. Sie war ja nun wirklich voll in der Künstlerszene rund um den Jugendstil integriert - und ich finde die vier Lieder, die auf der von Caruso eingestellten CD von Barbara Hannigan enthalten sind, sehr stimmungsvoll und interessant.


    Am besten gefallen mir in puncto Jugendstil die Kompositionen "Einfache Lieder", mit denen Korngold noch als Kind begann (siehe CD von Camilla Tilling von Fiesco eingestellt).

    Hier vier davon in einer schönen anderen Aufnahme:



    Übrigens ist wohl auch das Lied der Marietta aus der "Toten Stadt" Jugendstil-Musik!?


    Ich habe mir eine Playlist erstellt und werde heute Abend bei einer Flasche Wein mit meiner Frau meine ersten Eindrücke verarbeiten. Dann beschäftige ich mich noch mit den anderen Tipps: Josef Suk & Co.

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  • Ich habe das Buch leider immer noch nicht erhalten :(.


    Ich hoffe es gibt mir Auskunft über eine Frage die mich die ganze Zeit umtreibt, wer/oder was bestimmte eigentlich den Begriff Jugendstil in der Musik?

    Ich kann mir nicht vorstellen das Komponisten das so gewollt oder bestimmt haben, die Zeit oder der Umstand!?


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Bei diversen Kompositionen von Korngold - so weit würde ich gehen - kann man die Jugendstilornamentik ganz konkret am Einsatz von Schlagwerk oder der Celesta erkennen.


    Wahrscheinlich ist der Nachvollzug wirklich am einfachsten bei Liedern. Es gibt ja unabhängig vom Musikalischen unverwechselbare Lyrik, die Bandbreite zwischen dem jüngeren Trakl und den Phantasus-Zyklen von Arno Holz, zwischen pantheistischer Naturbetrachtung und Kitsch-Erotik, zwischen hochartifiziellen Ding-Gedichten und Tanzliedchen, zwischen Schwanenlyrik und Teichpoesie.


    Wurden eigentlich in einem musikalischen Jugendstil vorwiegend Gedichte vertont, die man einem literarischen Jugendstil zuordnen kann. Da müsste ich jetzt nachhören und recherchieren; meine Lied-Expertise hält sich denn doch recht in Grenzen. Wer mehr davon versteht: sehr gerne! :)


    Der Begriff ist so umstritten wie eben doch unverwechselbar, zumindest in der Bildenden Kunst und in der Dichtung.


    Was Fiescos Frage anbelangt, ein ganz kleiner Versuch sie zu beantworten: Der Begriff geht auf die Zeitschrift Jugend zurück, die um die Jahrhundertwende begründet wurde. Außerhalb Deutschlands existieren etliche verwandte Termini wie Sezession oder Art Nouveau. Kulturgeschichtlich ist dieses Kunstphänomen wohl Ausdruck einer politischen Blütezeit, die den Rückzug in eine ästhetische Elfenbeinturm-Haltung begünstigt hat. Eine gewisse Saturiertheit der Gesellschaft dürfte Voraussetzung sein.


    Cum grano salis - das ist mir klar. Weder bin ich Experte noch kann man wohl diesen Stil in drei Sätzen einigermaßen treffend umreißen. Das betrifft besonders hier gewiss auch die Metaebene: Ist es überhaupt ein Stil? ... Was ist ein Stil? ...


    Hier noch zwei großangelegte Hörbeispiele im Sinne dieses Threads:




    :)Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Zitat von WolfgangZ

    Wahrscheinlich ist der Nachvollzug wirklich am einfachsten bei Liedern

    Habe ich auch schon so in Beitrag #6 angemerkt!

    Zitat von WolfgangZ

    Bei diversen Kompositionen von Korngold - so weit würde ich gehen - kann man die Jugendstilornamentik ganz konkret am Einsatz von Schlagwerk oder der Celesta erkennen.

    Ja im Nachhinein ist das leicht gesagt!? Aber woher wusste das ein Komponist?, das wir das HEUTE so bezeichnen!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Zitat

    Ja im Nachhinein ist das leicht gesagt!? Aber woher wusste das ein Komponist?, das wir das HEUTE so bezeichnen!

    ;):P:) Da sprichst Du ein sehr großes Wort sehr gelassen aus! Den letzten Satz aus Fontanes Effi Briest hätte ich auch noch anzubieten ...


    Das nennt man halt Rezeptions- und Interpretationsgeschichte. Der Komponist wusste es wohl bestenfalls implizit aus dem Geist seiner Zeit heraus. Es ist eine Frage der Kriterien, die man zur Klärung eines Stilbegriffs ad hoc anlegt. Das Vorgehen ist dabei ein hermeneutisches; es wird sowohl deduktiv wie induktiv vorgegangen. Das Wissen, welches wir besitzen über jene Zeit, und die Perspektive unserer eigenen werden dialektisch aufeinander bezogen.


    Die berühmte Schülerfrage: Hat der Lyriker hier mit Absicht eine Alliteration verwendet und wusste er das, was wir soeben im Deutsch-LK herausgefunden haben? Da habe ich dann einen halbstündigen Vortrag gehalten und war keinesfalls sonderlich glücklich hinterher ...


    Im Einzelfall kann man zumindest rekurrieren, dass ein Begriff bereits zur betreffenden Zeit geläufig war. Das ist hier der Fall, aber das muss ja nicht immer so sein.


    Das waren meine drei Pfennige ...

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Das nennt man halt Rezeptions- und Interpretationsgeschichte. Der Komponist wusste es wohl bestenfalls implizit aus dem Geist seiner Zeit heraus. Es ist eine Frage der Kriterien, die man zur Klärung eines Stilbegriffs ad hoc anlegt. Das Vorgehen ist dabei ein hermeneutisches; es wird sowohl deduktiv wie induktiv vorgegangen. Das Wissen, welches wir besitzen über jene Zeit, und die Perspektive unserer eigenen werden dialektisch aufeinander bezogen.

    Lieber Wolfgang,

    das Problem, das Greghausers Frage aufwirft, hast Du prima auf den Punkt gebracht.

    Jede Abgrenzung einer Epoche und jede Etikettierung eines Stil ist immer ein Akt der Willkür und kaum je unumstritten.

    Im konkreten Fall des Jugendstils hat sich dazu Carl Dahlhaus dazu sehr einleuchtend geäußert

    • Carl Dahlhaus: Die Musik des 19.Jahrhunderts (Neues Handbuch der Musikwissenschaft Band 6).
      Insbesondere im Kapitel "Die Moderne als musikgeschichtliche Epoche".

    Wenn jemand daran interessiert sein sollte, die von 'WolfgangZ' referierten Einsichten, etwas eingehender und sehr grundlegend entfaltet zu bekommen, dem empfehle ich das noch immer höchst lesenswerte Büchlein:


    csm_g_002_202_6c121aa9e5.jpg


    Da Generationen von Geschichtsstudenten das im ersten Semester lesen mussten, gibt es das heute für einen Appel und ein Ei!


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Vielen Dank, werter Caruso!


    Mir ist auch klar, dass dem Problem immer nur behelfsmäßig beizukommen ist. Quasi per definitionem. Andererseits müssen wir uns mit solchen Begriffen verständigen als Geisteswissenschaftler - wobei ich zwar in der Linguistik promoviert habe, aber letztlich doch Deutschlehrer am Gymnasium geworden bin -, wollen wir nicht in einer Art Chaosraum debattieren. ;):)


    Schönen Gruß,


    Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Ich bin tendenziell sehr skeptisch, wenn man Stilbegriffe, die sich ziemlich eng auf eine Kunstsparte beziehen (oder jedenfalls sehr deutlich von ihr geprägt worden sind), auf andere überträgt. (Finde ich zB auch beim Impressionismus problematisch, eigentlich fast überall :D) Jugendstil stammt nun mal zuallererst aus der bildenden Kunst und Dekoration.

    "Rankende Ornamente und glitzernde Arabesken) gibt es halt auch als wesentliche Stilelemente in Rameau-Suiten, in Chopin Nocturnes und in Debussy Preludes. Nun sollen die aber nicht so klingen wie Klimt aussieht, sondern wie entsprechende bildende Kunst ihrer jeweiligen Epoche?!?

    Von "Jugendstil-Musik" würde ich eine Abkehr? oder jedenfalls eine deutliche Differenzierung von der "normalen" Spät/Nachromantik, Expressionismus, Neoklassizismus oder was auch immer man an Kategorien ca. 1890-1920 haben mag. Also eine Dominanz von Stilisierung und Ornamentik gegenüber romantisch-expressionistischem Ausdruck oder "impressionistischer Klangmalerei" (s.o.)

    Bei einigen (oft "kleineren") Stücken mag man das finden; aber dominiert es größere Werke oder gar das gesamte Werk mancher Komponisten?

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber Johannes Roehl1

    So ganz verstehe ich die Pointe Deines Beitrages nicht-

    Ich bin tendenziell sehr skeptisch, wenn man Stilbegriffe, die sich ziemlich eng auf eine Kunstsparte beziehen (oder jedenfalls sehr deutlich von ihr geprägt worden sind), auf andere überträgt. ….

    Oder hast Du meine Einlassung nicht gelesen?

    Ob Jugendstil überhaupt als Stilbegriff für Musik taugt, ist in der Musikwissenschaft einigermaßen umstritten. Da gibt es ja nun einige umfängliche Monografien und Aufsätze, die aber die Frage nicht abschließend klären. Einig ist man sich allerdings, dass es bei verschiedenen Komponisten eine gewisse Affinität zum Jugendstil und zur Sezession gab. Kompositionstechnisch lässt die sich allerdings schwer fassen, auch wird sie kaum als expliziertes Programm greifbar. Gleichwohl taugt der Begriff ’Jugendstil’ durchaus, die Charakteristik von Einzelzügen der Musik zu fassen.

    ….

    Die Tatsache , dass es in der Musik nicht leicht fällt, Jugendstil als klar umrissene Entität zu identifizieren, ist eigentlich überraschend, da die gegenseitige Durchdringung der Künste gewissermaßen zum Programm des Aufbruchs, der ’Jugendstil’ genannt wurde, gehörte. Musik und Tanz sind dabei für Maler, Bildhauer, Architekten, Dichter und

    Schriftsteller stets besonders im Fokus.

    ;) - ;) - ;)


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  • Nach dem Zitat konnte ich nichts mehr einfügen.

    Ist mir schon öfter passiert. Muss ja eigentlich auch nichts weiter zugefügt werden - außer:


    Beste Grüße

    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Der Impressionismus-Begriff ist nun primär einer aus der Malerei. Seine Übertragung auf die Literatur wird meines Erachtens ähnlich eng gefasst wie der des Jugendstils. In der Musik wird er traditionsgemäß gerne mit Debussy und Ravel verbunden. Und in der zweiten Reihe findet man Namen wie Delius, Cyril Scott oder Respighi. Es gibt wiederum diverse Kritiker, die diesen Terminus bereits für die beiden Franzosen ablehnen, sich sogar auf deren Eigenaussagen berufen und ihn damit eigentlich komplett desavouieren. Gründe wie Gegengründe dürfte es zur Genüge geben.


    Wahrscheinlich ist es müßig darüber zu spekulieren, zumindest in der Musik, ob nicht alles, was man als impressionistisch oder jugendstilhaft bezeichnen könnte, sich im Rahmen einer Spätromantik bewegt. Wir hätten es demzufolge mit einer Hierarchie und keineswegs einem Nebeneinander von Konzepten zu tun.


    Es ist nicht schwer, Literaturgeschichte als ein Wechselspiel von konträrem oder spezifizierendem Nacheinander und Zugleich wahrzunehmen. Wenn man einen besonders kleinen gemeinsamen Nenner in diesem Spiel sucht, so ist es der Dualismus von Subjekt und Objekt. Der Naturalismus wäre ein konsequenter Realismus, das Subjekt soll ausgeschlossen werden. Zeitgleiche Strömungen - ich benenne Begriffe weiter unten - betonen um so stärker das Subjekt. Der Expressionismus folgt chronologisch, stellt eine zumindest europäische Kategorie dar und betont das Subjekt-Objekt-Verhältnis als Reibefläche im Einzelwerk und im Rahmen eines ideologischen Überbaus.


    Die Musik indes dürfte man so nicht klassifizieren können, was damit zusammenhängt, dass sie eine ganzheitliche, eine quasi analoge Kulturform darstellt, bei der sich nicht wie in der Literatur, die auf Sprache basiert, das Bezeichnende, also die Form, und das Bezeichnete, also die Bedeutung, strukturell trennen lassen, zumindest so gut wie nie direkt und eindeutig.


    Ist Musik nicht per se Kunst für die Kunst? :/


    Aus dem eben Gesagten folgt, dass es in der autonomen Musik eben keinen Realismus gibt, der dem literarischen vergleichbar wäre. Von "Verismus" spricht man ja nur in der Oper. Das könnte erklären, warum der Romantik-Begriff in der Musik ein Kontinuum von rund hundert, wenn nicht noch mehr Jahren umfasst und man bestenfalls noch den Terminus des Klassizismus heranzieht, um formstrenge Traditionalisten wie Brahms zu umreißen. Die Sonderrolle des musikalischen Impressionismus ist problematisch. Und wenn unter den - eigentlich völlig wertneutralen - Begriff der stilistischen "Jahrhundertwende" (Fin de Siècle) ein Spektrum von Konzepten wie Impressionismus, Symbolismus, Dekadenz, Neuromantik, Neuklassik oder Jugendstil etc. subsumiert wird, so ist deren Zuweisung und Trennung schon in der Literatur problematisch, in der Musik um so mehr.


    Auch ich sehe nicht so ganz eine "Pointe" bei dem, was Johannes Roehl ausführt, und wüsste nicht, wo ich ihm widersprechen sollte. Wir sind uns in diesem Faden vermutlich alle einig über die theoretische Problematik. Das ändert aber nichts daran, meine ich, dass das Sammeln und gegebenenfalls Diskutieren von Beispielen Freude bereiten kann. Das war doch die Absicht des Thread-Erstellers?


    :)Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

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  • Lieber WolfgangZ!

    Wahrscheinlich ist es müßig darüber zu spekulieren, zumindest in der Musik, ob nicht alles, was man als impressionistisch oder jugendstilhaft bezeichnen könnte, sich im Rahmen einer Spätromantik bewegt. Wir hätten es demzufolge mit einer Hierarchie und keineswegs einem Nebeneinander von Konzepten zu tun.

    Ich hätte auch einen anderen Absatz als Zitat auswählen können, um zu daran ankündend zu sagen, wie erhellend ich Deine Ausführungen finde.


    Sich mit der theoretischen Problematik weiter zu beschäftigen, bringt uns in ein Feld mit offensichtlichen und versteckten Fallen, weil all die Begriffe, mit denen man sich ja verständigen muss, uneindeutig sind und in ihrer Beziehung zueinander unklar. Das fängt schon beim Begriff der "Spätromantik" an, dem ja doch etwas pejoratives anhaftet und der den für den Jugendstil charakteristischen Geist des Aufbruchs so gar nicht enthält.


    Deshalb stimme ich Dir entschieden zu, wenn Du vorschlägst, zunächst erst mal Beispiele zu sammeln und zu diskutiere, in denen wir Jugendstil entdecken oder zu entdecken glauben. Vielleicht bringt uns das dann eine Vorstellung davon, wogegen der Jugendstil sich denn genau abgrenzt und wohin der Aufbruch gehen sollte und ging. Vielleicht gelingt es darüber auch noch, charakteristische Merkmale und Eigenheiten der Jugendstilaffinität in der Musik zu erfassen.


    Beste Grüße

    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Übrigens, werter Caruso, war mir gar nicht so klar, dass der Jugendstil zumindest auch eine Zeit des Aufbruchs verkörpert. Doch bereits der Begriff legt das ja nahe. Eine Doppelbödigkeit schwingt hier wohl mit, so wie zeitgleich und später das riesige Zeitalter des Expressionismus (1). da waren es dann Verfall und neue Blüte, Angst und Mut, um zwei Dichotomien zu benennen. Könnte schon sein, dass wir (erst) heute in den elfenbeinernen Girlanden und Arabesken vor allem den Rückzug in eine selbstverliebte Ästhetik wahrnehmen. Und schon wären wir wieder bei jener Dialektik ... :)


    (1) Was mich immer verblüfft hat, was aber so abwegig vielleicht gar nicht ist: Die Literaturgeschichte von Glaser/ Lehmann/ Lubos (Wege der Literatur; Ullstein) lässt den Expressionismus keineswegs irgendwann vor dem Zweiten Weltkrieg zu Ende gehen, sondern führt ihn neben zwei anderen Konzepten - nämlich Surrealismus und Konservative Erneuerung - in die Gegenwart weiter, also bis etwa 1970 in meiner Auflage.


    Klar, das sind Namen, vielleicht doch eher Schall und Rauch ... ?


    Es grüßt Wolfgang.

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Lieber WolfgangZ!

    Übrigens, werter Caruso, war mir gar nicht so klar, dass der Jugendstil zumindest auch eine Zeit des Aufbruchs verkörpert. Doch bereits der Begriff legt das ja nahe.

    Aufbruch war ja für den Jugendstil gewissermaßen die tragende Idee.
    Die Schwierigkeit, in der Musikwissenschaft den Jugendstil als eigenständigen Stil zu erfassen und zu verstehen, fängt allerdings schon damit an, dass es schwer ist zu beschreiben, was denn eigentlich das Gegenüber ist, von dem man sich absetzen wollte.
    Der Jugendstil, der sich als Programm des Aufbruchs proklamierte, richtete sich in der Architektur, Malerei und Bildhauerei gegen

    vorherrschenden Konservatismus und traditionellen – am Historismus orientierten – Kunstbegriff. Ein Historismus, der eklektisch Versatzstücke früherer Stile benutze. um seinen Kunstwerken Anspruch und Würde zu geben, war aber in der Musik mit einiger Sicherheit nicht wirklich das Problem.

    Könnte schon sein, dass wir (erst) heute in den elfenbeinernen Girlanden und Arabesken vor allem den Rückzug in eine selbstverliebte Ästhetik wahrnehmen. Und schon wären wir wieder bei jener Dialektik ... :)

    Ja, das ist sicher richtig.

    Trotzdem: auch wenn wir uns beim Versuch, den Jugendstil als Stil in der Musik präzise zu identifizieren, schwer tun, hat nicht doch jeder aufmerksame Musikhörer ein Ohr dafür, wenn Musik nach Jugendstil / Sezession / Art nouveau / Stile Liberty / Modern style klingt. Und die Cover-Designer zeigen uns das dann ganz deutlich.


    Beste Grüße

    Carusu41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Zitat

    Und die Cover-Designer zeigen uns das dann ganz deutlich.

    Mehr oder weniger, manchesman etwas zu gewollt!


    Zitat

    Zeitlich gehört der Jugendstil zum Fin de siècle.


    Vor allem in der Gebrauchskunst des Jugendstils, der als Überwindung des übermächtigen Historismus gesehen wurde, zeigte sich eine paradoxe gleichzeitige Hinwendung zum Elitären wie zum Populären. Der Impressionismus wie die Spätromantik in der Musik und die ersten Anfänge der Avantgarden in allen Sparten der Künste sind in der Zeit des Fin de siécle entstanden.

    Dazu fällt mir Claude Debussys Oper "Pelléas et Mélisande"ein!


    Kann man das als Überbegriff sehen!?


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • „Jugendstil- gibt es den auch in der Musik?“

    Mit dieser Frage habe ich mich, weil ich sie sehr interessant fand, seitdem sie Anfang April von Greghauser2002 hier in diesem Thread aufgeworfen wurde, etwas näher beschäftigt.
    Dabei bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass Caruso längst die den Sachverhalt exakt treffende Antwort gegeben hatte, indem er feststellte:

    "Ob Jugendstil überhaupt als Stilbegriff für Musik taugt, ist in der Musikwissenschaft einigermaßen umstritten. Da gibt es ja nun einige umfängliche Monografien und Aufsätze, die aber die Frage nicht abschließend klären. Einig ist man sich allerdings, dass es bei verschiedenen Komponisten eine gewisse Affinität zum Jugendstil und zur Sezession gab."

    Anders als etwa der Impressionismus hat der "Jugendstil" im Bereich der Musik keinen eigenen "Stil" in dem Sinne hervorgebracht, dass musikalische Gattungen von ihm durchgängig, das heißt in allen ihren Bereichen, ihrem spezifischen Orchestersatz, ihrer Harmonik, ihrer Melodik, ihrer Rhythmik usw. maßgeblich inhaltlich und strukturell geprägt worden wären, so dass sie in ihrer Gesamtheit gleichsam eine musikgeschichtliche Mini-Epoche hätten bilden können.
    Was man feststellen kann ist lediglich, dass Komponisten, die zu seiner Zeit lebten und tätig waren, von seinem Geist beeinflusst wurden, dergestalt, dass sie sich mit ihm auseinandersetzten, eine Affinität zu ihm entwickelten und für ihn konstitutive und charakteristische stilistische Elemente in ihre Musik aufnahmen.

    Die kann man ausmachen. Es handelt sich dabei im wesentlichen um:
    --- eine starke Betonung der Linearität in der Melodik ("Die Linie überragt alles andere an Bedeutung", wie der englische Maler Walter Crane, ein Schüler des den Jugendstil maßgeblich prägenden William Morris, feststellte);
    --- die Ausrichtung der Melodik auf ausgeprägten Lyrismus, unter Einbeziehung melismatischer Figuren und Meidung der sie markant strukturierenden Kadenz;
    --- eine im Quintenzirkel zwar frei schweifende, aber den harten Kontrast und harte Chromatik meidende Harmonik;
    --- die freie Handhabung des Metrums und der Rhythmik.

    Solche stilistischen Elemente werden aber von den hier infrage kommenden Komponisten – es handelt sich vor allem um Schreker, Berg, Schönberg, Strauss und Debussy - nicht en bloc und die Musik in umfassender und tiefer Weise formend und prägend eingesetzt, sondern sie sind in den meisten Fällen singuläre Ausdrucksmittel in einem musikalischen Kontext, der in der Regel auf eine ganz andere, keineswegs jugendstilistische Aussage-Intention ausgerichtet ist. Der Jugendstil wird in seinen Ausdrucksformen also benutzt, es wird aber nicht, die musikalische Aussage-Intention betreffend, ganz und gar in seinem Geist komponiert.

    Bei einer analytischen Betrachtung des liedkompositorischen Werks von Arnold Schönberg kommt man diesbezüglich etwa zu der Erkenntnis:
    Seine Liedsprache erfuhr in ihrer Entwicklung nach seinem eigenen Bekenntnis gleichsam zwei maßgebliche Impulse. Und die sind jeweils aus der Rezeption des vom Jugendstil beeinflussten lyrischen Werks zweier Dichter hervorgegangen: Richard Dehmel und Arnold Schönberg. Was die Lieder des Opus 15 anbelangt, so bekannte Schönberg: „Mit den Liedern nach George ist es mir zum ersten Mal gelungen, einem Ausdrucks- und Formideal nahezukommen, das mir seit Jahren vorschwebt.“ Die Hinwendung zur Atonalität in der Liedsprache ist bei ihm aus eben dieser Rezeption der lyrischen Sprache Georges hervorgegangen, wie sie ihm im „Buch der hängenden Gärten“ begegnete.

    Das in dieser Begegnung sich ereignende Aufeinandertreffen einer genuin expressionistischen kompositorischen Grundhaltung mit einer dem „maas“ verpflichteten, sich am Geist des Jugendstils orientierenden und darin streng geregelten lyrischen Sprache führte immer wieder aufs Neue zu eben jener, das musikalische Ausdrucksmittel der Atonalität nutzenden und die lyrische Sprache in ihrer Prosodie regelrecht aufsprengenden, sie in gleichsam deklamatorische Prosa verwandelnden Liedsprache, wie sie so ganz charakteristisch und typisch für diesen großen Liederzyklus ist. Und in dieser seiner spezifischen Liedsprache ist er weit weg vom „Jugendstil“.

    An einem anderen Komponisten, der auch immer mal wieder, und das sehr zu Unrecht, für den „Jugendstil“ in Anspruch genommen wurde, Gustav Mahler nämlich, soll noch gezeigt werden, was ich meine. Hans Hollander merkt in seinem Buch „Musik im Jugendstil“ zu ihm an:
    „Mahlers Volkston Melodik ist in ihrer Verfremdung und Verzeichnung ebenso stilisiert und natur-verfremdet, wie es die Natur- und Pflanzenmotive des Jugendstils sind.“

    Das ist , was den Aspekt „Stilisierung“ anbelangt, durchaus zutreffend, es ist aber eine Parallelität, die in gar keiner Weise in einer Identität im zugrundeliegenden künstlerisch-schöpferischen Geist gründet. Wenn Mahler in seiner Sinfonik Volks- und Populärmusik zitiert, dann steht dahinter eine kompositorische Intention und musikalische Aussage-Absicht, die nicht das Geringste mit „Jugendstil“ zu tun hat, also nicht aus der Identifikation mit seinem Geist hervorgeht.

    Diese hat Theodor W. Adorno auf unübertreffliche Weise mit den Worten zum Ausdruck gebracht:
    „Die Anleihen beim Volkslied und bei volkstümlichen Musikformen werden durch die Kunstsprache, in die sie verschleppt sind, mit unsichtbaren Anführungszeichen versehen und bleiben Sand im Getriebe der rein musikalischen Konstruktion. Der musikalischen Logik fährt die Besinnung auf das gesellschaftliche Unrecht in die Parade, das Kunstsprache unabdingbar denen antut, die am Bildungsprivileg nicht teilhaben.
    Der Streit der hohen mit der unteren Musik, in dem seit der industriellen Revolution der objektive gesellschaftliche Prozeß von Verdinglichung, zugleich von Auflösung der naturwüchsigen Residuen ästhetisch sich spiegelte, und den kein künstlerischer Wille schlichtete, erneuert sich in Mahlers Musik.
    Seine Integrität hat für die Kunstsprache sich entschieden. Aber der Bruch zwischen beiden Sphären war zu seinem eigenen Ton geworden, dem von Gebrochenheit.“

    Der „Ton von Gebrochenheit“ als Wesensmerkmal von Mahlers Musik, in diesem Fall sich manifestierend im Zitat des Volkliedes in seiner Sinfonik, - weiter weg von „Jugendstil“ kann seine Grundhaltung und seine kompositorische Intention gar nicht sein.

    Als einer, der sich in gründlicher Kennerschaft mit der in diesem Thread aufgeworfenen Frage auseinandergesetzt hat, kommt Hans Hollander auf vielsagende Weise zu der Feststellung:
    „Wohl ließe sich darüber streiten, inwiefern man berechtigt ist, die aufgezeigten musikalischen Erscheinungen als Phänomene des Jugendstils anzusprechen. Die Anklänge und das Aroma sind nicht zu übersehen.“
    So ist es! Es handelt sich um „Anklänge“, um musikalisches „Aroma“. Aber keine Musik in der künstlerischen Idiomatik des Jugendstils.
    Bei Mahler schon gleich gar nicht. Aber auch – wie ich finde – nicht bei Schönberg. Allenfalls kann man die Musik des jungen Richard Strauss und die „krausen Bewegungsarabesken“ (Hollander) von Claude Debussy dafür in Anspruch nehmen.

    Am stärksten ist wohl die Musik – insbesondere die Liedmusik - des jungen Alban Berg (für Interessierte: Alban Berg. "Sieben frühe" und weitere Lieder) vom Geist des Jugendstils angehaucht und relativ stark geprägt. Adorno vernimmt in ihr – und das zu Recht – „etwas Schwelgerisches, Luxurierendes“ und merkt zu den frühen Liedern an:
    „Berg streift (in ihnen) mehr als irgendwo sonst die süchtig-erotische Einsamkeit des Jugendstils. Jene Einsamkeit ist am letzten einsam; vielmehr ein kollektives Bild ihres Dezenniums.“

    Ich möchte das zum Schluss mit einem Beispiel belegen:

    Alban Berg: „Wo der Goldregen steht“

    Eh wir weitergehen
    Laß uns stille stehen,
    Hier ist alles ruhig, weit und klar.
    Eine Blütendolde
    Von dem gelben Golde
    Dieses Strauches in dein braunes Haar!
    Seine Zweige hängen
    Schwer und voll und drängen
    Über uns mit süßer Kraft herein.
    Laß und stehn und warten
    Tief im fernsten Garten
    Kann die Liebe nicht verborg´ner sein.
    Eine alte Weise
    Klingt verträumt und leise,
    Und du siehst mich an und lächelst hold.
    Quellen gehen und rinnen,
    Ach, was jetzt beginnen?
    Sieh, es regnet Glück und Sonnengold.

    (F. Lorenz (1869-1957)

    Das ist wohl ein wirkliches „Jugendlied“ Alban Bergs. Ich vermochte es nicht zu datieren, – das ist bei vielen dieser Lieder wohl auch gar nicht möglich, weil diesbezügliche Angaben im Manuskript fehlen. Aber aus der Erfahrung, die sich beim hörenden und lesenden Verfolgen seiner liedkompositorischen Entwicklung einstellte, würde ich es als ein Werk des knapp sechzehnjährigen Berg einstufen, entstanden eben zu der Zeit, in der ihn sein Freund Hermann Watznauer erstmals zum Komponieren angeregt haben soll.

    Es ist ein klangschönes und in dem Zugleich von melodischer Inspiration und Schlichtheit der kompositorischen Umsetzung derselben anrührendes Lied, aus dem man den Geist des Jugendstils herauszuhören meint. Da ist ein noch junger Mensch von dichterisch wenig gelungenen, weil in Jugendstil-Manier entworfenen und affektiv hoch aufgeladenen, aber ihn offensichtlich emotional sehr bewegenden lyrischen Bildern liedkompositorisch gleichsam „in Bewegung“ gesetzt worden. Und man nimmt aus der Distanz des späten Hörers mit Rührung Anteil daran. Zumal sich in all der Einfachheit der Faktur des Liedes in ihr kompositorische Kreativität andeutet.

    Worin diese sich andeutet? Es ist nicht der Klaviersatz. Der ist in der Tat von auffälliger Schlichtheit, denn er erschöpft sich in der schlichten Begleitung und im Nachvollzug der Bewegungen der melodischen Linie der Singstimme, - . ein für eine Liedkomposition des zwanzigsten Jahrhunderts eigentlich nicht mehr relevanter Sachverhalt. Es ist die Art und Weise, wie Berg dieses Lied gleichsam aus einem einzigen melodischen Motiv, jenem nämlich, das gleich am Anfang bei den ersten drei Versen aufklingt, zu entwickeln versucht.

    Dieses Lied lässt vernehmen, wie sehr er damals noch auf der Suche nach eigenen Ausdrucksmöglichkeiten für den Willen war, das, was ihm in der Rezeption von Lyrik begegnete und ihn emotional ansprach, weil er sich darin in seinem Lebensgefühl wiederfand, in Musik zu setzen. Er greift dabei auf die Liedsprache des romantischen Klavierliedes zurück, ohne diese freilich in der Vielfalt und dem Reichtum ihrer Ausdrucksmöglichkeiten, wie sie sich seit Schubert entwickelt hatten, voll nutzen zu können. Oder vielleicht nicht zu wollen?
    Nicht zu wollen, weil er auf der Suche nach liedsprachlich Neuem war?


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  • Lieber H.Hofmann, ich habe das Buch s.o. bekommen aber noch nicht gelesen, nur kurz überflogen.

    Vieles von deinen Ausführungen ist super, und mir ist beim kurzen überf. aufgefallen, das vieles sehr stark vom (bei den Liedern) Text ausging, wie du auch berichtest!


    Witeres folgt!


    LG Fiesco


    ****die CD mit Norman ist übrigens :thumbup:!

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • „Jugendstil- gibt es den auch in der Musik?“

    Mit dieser Frage habe ich mich, weil ich sie sehr interessant fand, seitdem sie Anfang April von Greghauser2002 hier in diesem Thread aufgeworfen wurde, etwas näher beschäftigt.

    Mich hat die Frage eben auch sehr interessiert. Allerdings fehlt mir der musiktheoretische Background, ich kann nur staunen, lernen und profitieren, was da alles von den geschätzten Taminos zu Tage gefördert wird. Jedenfalls bin ich nun schon klüger. Danke an alle, die sich beteiligt haben und vor allem an jene, die mit ihren druckreif formulierten Überlegungen hier sogar echte Wissenschaft betreiben. An Helmut Hofmann sei noch die Frage gerichtet, was er von Korngolds "Einfachen Liedern" hält, die dieser ab 1911 komponiert hat?

    https://www.youtube.com/watch?v=NlWRLkN5g90

  • An Helmut Hofmann sei noch die Frage gerichtet, was er von Korngolds "Einfachen Liedern" hält, die dieser ab 1911 komponiert hat?

    Bitte hab Verständnis dafür, lieber greghauser, dass ich Dir diese Frage so direkt und unmittelbar nicht beantworten kann. Ich halte es nicht für vertretbar, Urteile abzugeben, die sich nicht auf hinreichende Sachkenntnis stützen können.

    Mit den Liedern Korngolds habe ich mich bislang noch nicht näher befasst, werde das aber auf Deine Anregung hin tun, sobald ich mit der Betrachtung des "Italienischen Liederbuchs" von Hugo Wolf im Kunstliedforum fertig bin. Da stehen noch 6 Lieder an, es wird also noch ein wenig dauern, und ich bitte um Geduld.

  • Das ist ein wirklich schöner und erhellender Beitrag, lieber Helmut. :thumbup:


    Beim frühen Berg-Lied sind die Bezüge zum Lied von der Erde nicht zu verkennen ("Sonne spiegelt ihre schlanken Glieder..." in "Von der Schönheit") - das ist geradezu eine Mahler-Paraphrase :) :



    Schöne Grüße

    Holger

  • Beim frühen Berg-Lied sind die Bezüge zum Lied von der Erde nicht zu verkennen ("Sonne spiegelt ihre schlanken Glieder..." in "Von der Schönheit") - das ist geradezu eine Mahler-Paraphrase.

    In der Tat! Das habe ich nicht bemerkt. Vielen Dank für den Hinweis!


    Da drängt sich mir der stille Selbstvorwurf auf:

    Ich habe mich damals, bei der Vorstellung und Betrachtung aller Lieder Gustav Mahlers, vor dem "Lied von der Erde" gedrückt, - mit der Begründung, dass es sich dabei um wesenhaft sinfonische Musik handele.

    Das war, wie mir inzwischen im Zusammenhang mit meiner - mich regelrecht fesselnden, ja begeisternden und noch anhaltenden - Beschäftigung mit dem sinfonischen Werk Mahlers bewusst geworden ist, ein Fehler.

    Vielleicht kann ich ihn ja noch korrigieren.

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