Jugendstil - gibt es den auch in der Musik?

  • Lieber Helmut Hofmann!

    …..eine Affinität zu ihm (also zum Jugendstil) entwickelten und für ihn konstitutive und charakteristische stilistische Elemente in ihre Musik aufnahmen.

    Die kann man ausmachen. Es handelt sich dabei im wesentlichen um:
    --- eine starke Betonung der Linearität in der Melodik ("Die Linie überragt alles andere an Bedeutung", wie der englische Maler Walter Crane, ein Schüler des den Jugendstil maßgeblich prägenden William Morris, feststellte);
    --- die Ausrichtung der Melodik auf ausgeprägten Lyrismus, unter Einbeziehung melismatischer Figuren und Meidung der sie markant strukturierenden Kadenz;
    --- eine im Quintenzirkel zwar frei schweifende, aber den harten Kontrast und harte Chromatik meidende Harmonik;
    --- die freie Handhabung des Metrums und der Rhythmik.

    ……..

    Der Jugendstil wird in seinen Ausdrucksformen also benutzt, es wird aber nicht, die musikalische Aussage-Intention betreffend, ganz und gar in seinem Geist komponiert.

    Wie Du das dann an verschiedenen Beispielen erhellst, finde ich ausgesprochen gelungen!

    Das hilft uns sehr weiter!

    Bitte hab Verständnis dafür, …. dass ich Dir diese Frage so direkt und unmittelbar nicht beantworten kann. Ich halte es nicht für vertretbar, Urteile abzugeben, die sich nicht auf hinreichende Sachkenntnis stützen können.

    Was wäre das für ein Forum, wenn darin diese Deine Arbeitsweise zum allgemeinen Gesetz erhoben würde - gleichsam zum Kategorischen Imperativ!
    Aber der Imperativ scheint in manchen Threads inzwischen eher, so viel Beiträge wie möglich in so schneller Folge wie möglich zu posten.


    Liebe Grüße


    Carauso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Da drängt sich mir der stille Selbstvorwurf auf:

    Ich habe mich damals, bei der Vorstellung und Betrachtung aller Lieder Gustav Mahlers, vor dem "Lied von der Erde" gedrückt, - mit der Begründung, dass es sich dabei um wesenhaft sinfonische Musik handele.

    Das war, wie mir inzwischen im Zusammenhang mit meiner - mich regelrecht fesselnden, ja begeisternden und noch anhaltenden - Beschäftigung mit dem sinfonischen Werk Mahlers bewusst geworden ist, ein Fehler.

    Vielleicht kann ich ihn ja noch korrigieren.

    Lieber Helmut, da brauchst Du Dir keinen Selbstvorwurf zu machen, sondern nimm es als Anregung!


    Dem kann ich voll zustimmen - ich hatte ja vorgehabt, genau das hier zu schreiben, aber Du bist mir zuvor gekommen und hast es viel systematischer und besser gemacht:



    Anders als etwa der Impressionismus hat der "Jugendstil" im Bereich der Musik keinen eigenen "Stil" in dem Sinne hervorgebracht, dass musikalische Gattungen von ihm durchgängig, das heißt in allen ihren Bereichen, ihrem spezifischen Orchestersatz, ihrer Harmonik, ihrer Melodik, ihrer Rhythmik usw. maßgeblich inhaltlich und strukturell geprägt worden wären, so dass sie in ihrer Gesamtheit gleichsam eine musikgeschichtliche Mini-Epoche hätten bilden können.
    Was man feststellen kann ist lediglich, dass Komponisten, die zu seiner Zeit lebten und tätig waren, von seinem Geist beeinflusst wurden, dergestalt, dass sie sich mit ihm auseinandersetzten, eine Affinität zu ihm entwickelten und für ihn konstitutive und charakteristische stilistische Elemente in ihre Musik aufnahmen.

    Auch das finde ich sehr treffend:



    Die kann man ausmachen. Es handelt sich dabei im wesentlichen um:
    --- eine starke Betonung der Linearität in der Melodik ("Die Linie überragt alles andere an Bedeutung", wie der englische Maler Walter Crane, ein Schüler des den Jugendstil maßgeblich prägenden William Morris, feststellte);
    --- die Ausrichtung der Melodik auf ausgeprägten Lyrismus, unter Einbeziehung melismatischer Figuren und Meidung der sie markant strukturierenden Kadenz;
    --- eine im Quintenzirkel zwar frei schweifende, aber den harten Kontrast und harte Chromatik meidende Harmonik;
    --- die freie Handhabung des Metrums und der Rhythmik.

    Aber kommen wir nochmals auf Mahler zurück. Wenn der im jugendlichen Jugendstil komponierende Alban Berg Mahlers "Lied von der Erde" quasi zitiert, könnte man hier vielleicht aber auch etwas anderer Meinung sein:


    An einem anderen Komponisten, der auch immer mal wieder, und das sehr zu Unrecht, für den „Jugendstil“ in Anspruch genommen wurde, Gustav Mahler nämlich, soll noch gezeigt werden, was ich meine. Hans Hollander merkt in seinem Buch „Musik im Jugendstil“ zu ihm an:
    „Mahlers Volkston Melodik ist in ihrer Verfremdung und Verzeichnung ebenso stilisiert und natur-verfremdet, wie es die Natur- und Pflanzenmotive des Jugendstils sind.“

    Das ist , was den Aspekt „Stilisierung“ anbelangt, durchaus zutreffend, es ist aber eine Parallelität, die in gar keiner Weise in einer Identität im zugrundeliegenden künstlerisch-schöpferischen Geist gründet. Wenn Mahler in seiner Sinfonik Volks- und Populärmusik zitiert, dann steht dahinter eine kompositorische Intention und musikalische Aussage-Absicht, die nicht das Geringste mit „Jugendstil“ zu tun hat, also nicht aus der Identifikation mit seinem Geist hervorgeht.

    Ich denke hier an Hans-Heinrich Eggebrecht, der davon spricht, dass Mahler verschiedene Musiksprachen als idiomatisch vorgeprägte "Vokabeln" verwendet. Das gehört zu Mahlers Heterogenität, die ja auch Adorno in seinem Mahler-Buch hervorhebt, dass Mahler wie ein Romanschriftsteller arbeitet. Damit muss man zwar nicht der Meinung sein, dass Mahler ein "Jugenstilkomponist" ist, aber mit Eggebrecht kann man glaube ich durchaus nachweisen, dass es solche Jugendstil-"Vokabeln" bei Mahler gibt. Ein Beispiel dafür ist finde ich "Schildwaches Nachtlied":



    Hier wird die Jugendstil-Charakteristik von Mahler parodistisch als Mittel der Charakterisierung verwendet - unnachahmlich finde ich gesungen von Elisabeth Schwarzkopf. Die Frauenstimme singt in Jugendstil-Girlanden in fast schon abenteuerlich verschraubter, um nicht zu sagen: verschrobener Verrenkung als Ausdruck des Sirenenhaften, Dämonisch-Verlockenden. Es geht ja darum, den Soldaten zu verführen, von seiner Pflichterfüllung abzubringen und zu einem locus amoenus zu locken (in den "Rosengarten", ein klassischer Topos). Das ist Jugendstilgesang als Ausdruck des Verführerischen - in einer ganz bewussten artifiziellen Übertreibung des Linienhaften, Verschlungenen, die "seltsam" befremdlich wirkt und eben auch so wirken soll, weil dieses menschliche Wesen - wie eine Sirene eben - etwas Unnahbar-Übermenschliches an sich hat. :)


    Schöne Grüße

    Holger

  • In Beitrag 27 hatte mich das geschätzte Mitglied greghauser2002 - Starter dieses Threads - um eine Stellungnahme zu einer Aufnahme von einem Teil der "Einfachen Liedern" op. 9 von Erich Wolfgang Korngold gebeten, in denen er, so vermute ich, Jugendstil-Elemente vernimmt. Und tatsächlich sind ja, wenn ich das recht sehe, einige von ihnen in die u.a. von Caruso oben angezeigte Aufnahme "Jugendstil-Songs" mit Camilla Tilling und Paul Rivinius aufgenommen.


    Ich sagte greghauser zu, dass ich seinem Ersuchen nachkommen werde, sobald ich den Thread "Italienisches Liederbuch" abgeschlossen habe. Inzwischen habe ich aber bereits mit einer näheren Betrachtung dieser Lieder des Opus 9, bei denen es sich insgesamt um sechs handelt, begonnen und mich auch um erste Erkenntnisse, das kompositorischen Werks von Korngold betreffend bemüht, von dem ich bislang keine Ahnung hatte.


    Nun stelle ich fest: Eine kurze Stellungnahme zu der von greghauser verlinkten Aufnahme, das wird eine halbe Sache. Und halbe Sachen mag ich nicht. Also habe ich mich entschlossen, zu dem liedkompositorischen Werk von Erich Wolfgang Korngold einen eigenen Thread im Kunstliedforum zu starten. Das wird, da ich immer ja so verfahre, aber erst möglich sein, wenn ich den größten Teil der vorgesehenen Liedbetrachtungen für mich selbst abgeschlossen habe, weil ich nur so über die Grundlage an Erkenntnissen verfüge, die mir den Start eines Threads erlaubt.

    Ich bitte also - insbesondere Dich, lieber greghauser - um ein wenig Geduld. Der Thread kommt aber bestimmt, - (wenn mich nicht der verflixte Corona-Unhold dahingerafft haben sollte).

  • Ich bitte also - insbesondere Dich, lieber greghauser - um ein wenig Geduld. Der Thread kommt aber bestimmt, - (wenn mich nicht der verflixte Corona-Unhold dahingerafft haben sollte).

    Ich danke dir für deinen Zwischenbericht. Vermutlich wird sich für dich (und in weiterer Folge für uns alle) deine Beschäftigung mit Korngolds Liedgut lohnen. Ich jedenfalls freue mich auf Hofmanns Erzählungen darüber in einem anderen Thread!

  • Zu: Jugendstil bei Alban Berg


    Der bereits erwähnte Verfasser des Buches „Musik und Jugendstil“ (Zürich 1975), Hans Hollander, betrachtet das Lied „Liebesode“ von Alban Berg (den „Sieben frühen Liedern“ zugehörig) als typisches Jugendstil-Werk. „Jugendstilhaft“ seien, so meint er, „ schon die Worte und die poetische Situation des Liedes“. Das Ganze wirke „wie ein Ornament“. „Die Musik“ mache „die miteinander vermischten Träume und Düfte gleichsam transparent“. „Eine wiegende Melodie“ durchziehe das Lied, und die anfängliche „Quartenspannung“ setze sich "in leicht beschwingten 32tel-Arpeggien fort. Diese deuten den Sommerwind an, den Atemzug der Liebenden und den Rosenduft.“

    Ich habe mir dieses Lied noch einmal näher angehört und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass man darin zwar Anklänge an den Jugendstil-Geist zu vernehmen vermag, es wohl aber nicht als typische Jugendstil-Musik auffassen und einordnen kann. Ohnehin vertrete ich ja die Auffassung, dass es eine solche gar nicht gibt.

    Alban Berg: „Liebesode“

    Im Arm der Liebe schliefen wir selig ein.
    Am offnen Fenster lauschte der Sommerwind.
    Und unsrer Atemzüge Frieden
    Trug er hinaus in die helle Mondnacht.

    Und aus dem Garten tastete sich
    Ein Rosenduft an unserer Liebe Bett
    Und gab uns wundervolle Träume,
    Träume des Rausches, so reich an Sehnsucht.

    (Otto Erich Hartleben)

    Dieses Gedicht zeichnet sich durch eine eigentümliche Spannung zwischen der romantisierenden Idyllik seiner lyrischen Bilder und der von konstatierender Sachlichkeit geprägten dichterischen Sprache aus. Schon der erste Vers ist von seiner Syntax her eine fast sachlich wirkende Feststellung, die prompt mit einem Punkt abgeschlossen wird. Und so geht das weiter: Alle weiteren Verse haben lyrisch-sprachlich einen gleichsam konstatierenden Charakter. Aber sie transportieren lyrische Bilder von ausgeprägter Emotionalität, was sich auch in den zentralen lyrischen Worten niederschlägt: „Mondnacht“, „Rosenduft“, „Liebe“, „Träume“, „Rausch“, „Sehnsucht“.

    In dieser Abfolge exzerpiert aneinandergereiht, muten sie in dem hochgradig affektiven Lyrismus, der ihnen innewohnt, als dem Geist des Jugendstils nahe stehend an. Das täuscht aber, denn Hartleben bringt es f fertig, diese Nähe auf durchaus elegante Weise zu umgehen: Mittels einer auf konstatierende Sachlichkeit abgestellten lyrischen Sprache. Das ist sicher kein großes Gedicht. Aber es ist eines, das einen jungen und lyrisch sensiblen Komponisten wie Alban Berg sehr wohl anzusprechen und musikalisch zu inspirieren vermochte.



    Der klangliche Charakter dieses Liedes ist von einer ausgeprägten harmonischen Instabilität geprägt. Die melodische Linie der Singstimme pendelt ständig zwischen Dur und Moll und der Chromatik harmonischer Modulationen hin und her. Und überdies: Sie weist zwar weit gespannte Bögen und Dehnungen auf, gleichwohl will daraus nicht so recht eine figurative Gestalt werden, die dem Lied ein melodisches Zentrum zu verleihen vermag. Vielmehr drängen sich in diese melodischen Dehnungen immer wieder deklamatorische Fallbewegungen. Und selbst wenn die Vokallinie in ihren Bewegungen einmal innehält, so tut sie das in der Deklamation auf nur einer tonalen Ebene. Vielleicht sind es diese strukturellen Merkmale, die gemeint sind, wenn Adorno – mehr andeutungsweise als konkret ausgeführt – von einem „Stück Dialektik zwischen Wagner und Schönberg“ spricht. In der Tat sind hier Anklänge an die Brangäne-Melodik des Tristan zu vernehmen.

    Bei den Worten „und unser Atem“ verharrt die Vokallinie zunächst auf der tonalen Ebene eines hohen „e“ und macht dann, nach einer chromatischen Eintrübung von einer halben Sekunde einen höchst expressiven Septfall bei dem Wort „Atemzüge“. Und als wäre dies der Expressivität nicht genug, vollzieht sie auf der Stelle noch innerhalb dieses Wortes einen Sextsprung. Bei den Worten „trug er hinaus“ gipfelt die Vokallinie auf einem hohen „fis“ auf und macht danach, zu dem Wort „Mondnacht“ hin, wieder diese für das Lied klanglich so prägend wirkende chromatische Fallbewegung. Innerhalb dieses Wortes kommt es allerdings dann noch am Ende zu einem Sextsprung, der ihm einen starken melodischen Akzent verleiht. Ganz offensichtlich hat es Berg darauf angelegt, das Ausdruckspotential der Melodik so weit wie möglich kompositorisch auszureizen. Und das kann man durchaus als eine vom Geist des Jugendstils inspirierte kompositorische Haltung deuten.

    Wenn es in den letzten beiden Versen um die im lyrischen Zentrum stehenden Worte „Träume“, „Rausch“ und „Sehnsucht“ geht, entfaltet die Melodik große Emphase. In weit gespannter Phrasierung gipfelt die Vokallinie mehrfach in Gestalt einer Sprungbewegung über ein großes Intervall in hoher Lage auf und verharrt dort: So zwei Mal bei dem Wort „Träume“. Bogenförmig nähert sie sich dem Wort „Rausch“, und dieses wird dann in einem mit langer Dehnung versehenen Sekundfall deklamiert. Das Ganze ereignet sich in Moll-Harmonisierung bei permanent nach oben rauschenden Arpeggien.

    Fortissimo – und nun zwischen Dur- und Mollharmonisierung pendelnd – wird der Schlussvers deklamiert. Die melodische Linie der Singstimme verbleibt dabei zunächst in hoher Lage und bewegt sich dort wieder in langsam fallenden Sekundschritten herunter zu einem „c“ in mittlerer Lage, das lange gehalten wird. Bei dem Wort „Sehnsucht“ ereignet sich ein kleiner Sekundfall von einem mit einer Fermate versehenen „d“ hin zu einem „cis“, der diesem Wort eine überaus zart wirkende klangliche Anmutung von Schmerzlichkeit verleiht. Auch hier begegnet man wieder Bergs hoch entwickelter kompositorischer Kunstfertigkeit in der Gestaltung der melodischen Linie.

    Dieses Lied „Liebesode“ sei, so meint Th. W. Adorno , „von einem harmonischen Einfall inauguriert, der sacht in ein höhlenhaftes Dunkel hinabgeleitet, mit jener Macht des Unbewußten, die allein den Angriff zu tragen ausreicht, den Bergs Bewußtsein späterhin aufs Material der Musik unternahm“.

    Für mich besteht sein klanglicher Reiz und und seine liedkompositorische Größe in dem überaus kunstvollen Spiel zwischen einer wie inselartig auftauchenden Dur-Harmonik und den vielfältigen Formen, in denen Chromatik in Gestalt von Moll-Klängen und verminderter Harmonik in sie einbricht. Das ist musikalischer Ausdruck der Art und Weise, wie Berg die Verse von Otto Erich Hartleben gelesen hat und weist in der auf schweifende Entfaltung abzielenden harmonischen Modulation durchaus eine Nähe zu den Jugendstil prägenden stilistischen Merkmalen auf.

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner