Die erste dicke Empfehlung ist eine Neuerscheinung zum Jubiläumsjahr:
Seine sich über Jahrzehnte hinstreckenden Aufnahmen der 32 Klaviersonaten Beethovens begann Pollini einst mit der Einspielung der späten Klaviersonaten op. 101 bis op. 111., die 1977 erschien, also vor 43 Jahren:
Zum Ende kehrt Pollini mit dieser Konzertaufnahme aus München von 2019 zum Anfang zurück. Und diese Neuerscheinung ist wirklich ein würdiger Beitrag zum Beethoven-Jahr eines der bedeutendsten Beethoven-Interpreten unter den großen Pianisten. Der späte Pollini entdeckt nämlich Beethovens Subjektivität nicht mehr nur im Sinne von titanischer Kraft und dem Gestus revolutionären Aufbegehrens, gepaart mit klassischer Klarheit und Ausgewogenheit, was seine Beethoven-Debut-Aufnahme von einst nach wie vor zum Klassiker macht. Jetzt hört man einen Beethoven, der statt ein souveränes idealistisches Subjekt zu sein unglücklich getrieben ist, nicht mehr Herr seiner selbst. Man gewahrt die Aporien des Versuchs etwa zum Ende op. 109, in der schlicht gesungenen Melodie im Sinne von Rousseauscher Natur-Naivität Ruhe zu finden: Der Schein trügt, es bleibt bei einem vergeblichen Versuch der Suche nach Ruhe, der das unaufhörliche Weiterdrängen nicht wirklich aufhalten kann. Besonders großartig ist op. 111: Wie ich es schon vorher im Konzert in Köln im selben Jahr (Januar 2019) dieser Aufnahme aus München erleben durfte erfährt man bei Pollini etwas von der Würde des Alters in der bemerkenswerten Identifikation der Situation des gealterten Virtuosen mit dem vom Alter und seinen Gebrechen gezeichneten Komponisten: Das Aufbegehren des verletzten Subjekts, gerade auch, was das Streben nach dem "Ideal" von Vollkommenheit und Perfektion angeht, sich dem "Schicksal" musikalisch-technischer Selbstbeherrschung und gleichermaßen der Auflösung von Musik, wie sie sich in der "Arietta" ereignet, im menschlich-allzumenschlichen Verfall von titanischer Kraft nicht zu ergeben, sich vielmehr mit äußerster Kraftanstrengung immer wieder zu sammeln und so das Auseinanderdriftende zusammenzuhalten. Pollini verklärt Beethovens letzte Klaviersonate nicht romantisierend ins Jenseits-Metaphysische eines Überirdisch-Ätherischen (die romantische Auslegung lautet bekanntlich, dass die beiden so gegensätzlichen Sätze die Dualität der Welten des "Diesseits" und das "Jenseits" verkörpern sollen), wofür in der "Arietta" der Triller als Kulminationspunkt der Auflösung von musikalischer Bewegung in reinen Klang und eine Klangfarbenfläche steht, er wendet ihre Aussage ins Humanistisch-Diesseitige, als Ausdruck des leidenden Menschen, seines Enthusiasmus im Streben nach einer höheren Realität, die von ihm aber auch ihr Opfer des Einsatzes höchster Willensenergie verlangt. Da gelingt dem altersweisen Pollini wirklich ein ungemein authentischer Beethoven jenseits aller Klischees vom Titanen und Willensmenschen: Er zeigt ein innerlich gebrochenes musikalisches Genie, dessen Leben ein einziger unerfüllter Wunsch bleibt, ein nunmehr eher leidendes als tatkräftiges "Ich", das aber trotzdem sich selbst niemals aufzugeben bereit ist: Beethovens "Willen" als tragisch-trotziges "Dennoch" und "Trotzdem". Das zeichnet den großen Beethoven-Spieler Maurizio Pollini aus, dass er eben nicht Beethoven nur technisch perfekt und gefällig herunterspielen kann wie heute so viele Pianisten, sondern wirklich etwas Essentielles und Unverwechselbar-Eigenes zum Thema Beethoven zu sagen hat. Ganz großartig und eine Lehrstunde, was Beethoven-"Interpretation", welche den Namen auch wirklich verdient, sein kann und eigentlich sein sollte!
Schöne Grüße
Holger