Beethoven im Beethoven- und Corona-Jahr 2020. Welche Aufnahmen (aktuell veröffentlichte Neuaufnahmen und alte Klassiker) sind zu empfehlen?

  • Ich habe die Kleiber - CD mit den Sinfonien Nr. 5 und 7 auch vor langer Zeit gekauft.

    Lieber Wolfgang,


    zuerst einmal nachträglich vielen Dank für Deine Grüße zum 1. Mai, die ich gerne zurückgebe.


    Die Kleiber-CD mit Beethoven 5 & 7 habe ich auch. Ich habe sie nur genannt, weil die DGG kurz nach Einführung der CD glaubte, die beiden Sinfonien jeweils auf einer Einzel-CD zum Vollpreis anbieten zu können:


    Beethoven* : Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber - Symphonie No ...  BEETHOVEN:Symphony No.7 - 日東建設株式会社



    Das ist, vor allem bei der Nr. 5, schlicht nichts anderes als Preisschneiderei, bei einer Spielzeit von 30 Minuten. Genau wie es Sony jetzt bei Currentzis gemacht - und da bin ich der Meinung, daß Carlos Kleiber dagegen doch schon ein gewaltiger Qualitätssprung ist. Ich habe mir den Currentzis via Youtube angehört - mein Geschmack ist das nicht. Die DGG war aber ganz rasch lernfähig und hat die beiden Sinfonien in der Originals-Serie auf einer CD zum Mittelpreis herausgebracht.


    Ich gebe Dir aber uneingeschränkt recht, wenn Du bei der Fünften Karajan 1962, Leibowitz und Solti 1958 mit den Wiener Philharmonikern vorziehst (letztere habe ich nur auf LP, und von Bernstein habe ich von Nr. 5 nur die New Yorker Studio-Einspielung aus dem Jahr 1961 (CBS/Sony). Vor allem Karajans 1962er Version schlägt (für mich) bis heute alle Konkurrenten! Er selber hat diesen herrlichen Drive in seinen späteren Aufnahmen von 1977 und 1984 nicht mehr erreicht.


    Und was Carlos Kleiber betrifft: Seine Aufnahme ist ganz sicher überdurchschnittlich gut, aber im Vergleich mit seinem berühmten Vater (Aufnahme: 1953, DECCA) mit dem Amsterdamer Concertgebouw-Orchester kann er nicht mithalten. Schade, daß Du Mono grundsätzlich ablehnst, das ist wirklich ein Spitzenprodukt und klingt sogar ganz ausgezeichnet. Aber ich fürchte, da kann ich Dich nicht überzeugen:).


    Viele Grüße nach Bonn,

    Nemorino :hello:

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Naja, ich habe in einem anderen Thread mal einen recht ausführlichen Vergleich mal gemacht und ziehe Kleiber junior sowohl Karajan als auch Kleiber senior vor. Letztere ist in mancher Hinsicht die "modernste", nüchtern und transparent, dabei leider ziemlich dünn klingend. Karajan ist klanglich beeindruckend und mitreißend (auch meiner Ansicht nach eine der besten Aufnahmen Karajans) aber eben auch sehr opak (und natürlich mit Hörnern statt korrekten Fagotten im Seitenthema in 1) und ohne Wdh. im Finale). Carlos ist nicht weniger wuchtig als Karajan, aber transparenter und "sprechender".

    Ein guter Test für Transparenz und Schlüssigkeit ist zB, ob die berühmte Oboe im ersten Satz "aus dem nichts" kommt, oder ob man schon vorher Oboen/Fagotte hört, da Beethoven die Passage vorher auch anders gestaltet hat als in der Exposition. Karajan bietet hier zu sehr "Klangwand" und die Oboe kommt aus dem nichts.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)


  • Der finnische Basist Matti Salminen genießt bekanntlich im Forum hohes Ansehen. Jetzt tritt er sprechend in einer neuen Produktion von Beethovens Schauspielmusik zu Goethes "Egmont" in Erscheinung. Gewiss, es gibt gelungenere Aufnahmen. Aber es gibt nur einmal den legendären Opernsänger in dieser Rolle. Insofern finde ich diese Neuerscheiunung im Beethoven-Jahr sehr angemessen, zumal Salminen vielen Opernbesuchern als Rocco im "Fidelio" in bester Erinnerung ist. Leif Segerstam dirigiert sein Turku Philharmonic Orcherstra kantik, etwas rau und ruppig. Aber das passt schon. Anrühend die finnische Sopranistin Kaisa Ranta als Clärchen.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Und was Carlos Kleiber betrifft: Seine Aufnahme ist ganz sicher überdurchschnittlich gut, aber im Vergleich mit seinem berühmten Vater (Aufnahme: 1953, DECCA) mit dem Amsterdamer Concertgebouw-Orchester kann er nicht mithalten.

    Lieber Nemorino,


    Carlos hat ja auch einige Aufnahmen mit dem Concertgebouw Orkest gemacht - ich meine die 7., die es aber wohl nur auf DVD gibt. Das Problem funde ich sind ein bisschen die Wiener Philharmoniker in dieser Zeit, die - anders als heute, da spielt einfach eine andere Generation - manchmal etwas zu sehr zum Akademismus neigen. (Berühmt sind ja die Mahler-Proben mit Bernstein, der sich mit den Wienern genau wegen dieses Akademismus so richtig gefetzt hat. ^^ ) Da sind die Amsterdamer einfach noch sprechender und passen vielleicht zum Temperamentsquirl Carlos besser. Den Vergleich habe ich allerdings nicht gemacht!


    Aber ich habe eine Entdeckung gemacht, von der ich wirklich hingerissen bin - ich habe die 3. bislang, die "Eroica", gehört:



    Diese CD-Box ist vergriffen - und deshalb bedanke ich mich auch hier "offiziell" ganz herzlich bei Adriano, der keinen Aufwand gecheut hat, mir die Aufnahmen zu besorgen und aus der Schweiz geschickt hat! :) Scherchen dirigiert das expressionistisch und zugleich modern - glasklar, durchsichtig (die Aufnahmequalität ist erstaunlich für einen Mitschnitt aus dieser Zeit!) und mit leidenschaftlichem Engagement. Bei den Höhepunkten - das ist ein Konzertmitschnitt - schreit er die Musiker an, um sie zu motivieren, damit sie aus sich herausgehen! ^^ Beeindruckend auch, wie subtil er sein kann zu Beginn der Erioca-Variationen im Finale. Beim Trauermarsch haben die Holzbläser wirklich einen schmerzerfüllten Ton, so dass sie das Geschehen empfindsam kommentieren, ein hier wirklich passendes Vibrato, dass sich heute kein Orchestermusiker mehr erlaubt. Das ist wirklich ein "begeisternder" Beethoven, völlig ungeschminkt und direkt musiziert, also ohne ästhetisierende Schminke und Politur und auch falsche Heroisierung. Da bin ich wirklich gespannt, dann auch die 5. zu hören! :hello:


    Liebe Grüße

    Holger

  • Zitat von Dr.Holger Kaletha

    Diese CD-Box ist vergriffen

    Dem ist nicht so!!



    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

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  • die Aufnahmequalität ist erstaunlich für einen Mitschnitt aus dieser Zeit!

    Ich habe diese Einspielungen auch, habe es aber nicht ertragen, mir eine der Symphonien komplett anzuhören, weil ich die Aufnahmequalität inakzeptabel finde.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Lieber Fiesco,


    deinem Link folgend, werden mir aber nur "2 gebraucht" für 999,95 Euro angezeigt...vielleicht doch ein bisserl teuer :-D


    liebe Grüße

  • Carlos hat ja auch einige Aufnahmen mit dem Concertgebouw Orkest gemacht

    Lieber Holger,


    diese Aufnahmen kenne ich leider nicht, da ich keine DVDs sammle. Die Studio-Aufnahmen aus Wien sind ja auch bestens in Ordnung, aber ich finde sie von der Kritik ein wenig überbewertet. Inzwischen sind sie auch schon über 40 Jahre alt und deshalb keine Sensation mehr, wie bei ihrem ersten Erscheinen.


    Danke, daß Du Hermann Scherchen ins Spiel gebracht hast. Natürlich ist sie vergriffen, es sei denn, man kann so grade mal 1000 € (!) aus der Westentasche ziehen:D!

    Ich besitze diese Box nicht, sie wurde aber hier an anderer Stelle schon mehrfach genannt.

    Scherchen galt ja zeitlebens als eine Art Revolutionär, er wurde sogar kommunistischer Umtriebe bezichtigt. Immerhin hat er die Hymne "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt und hat 1933 freiwillig Deutschland verlassen, weil er wegen seiner Sympathien für die KPD zu Recht Repressalien seitens der neuen Machthaber befürchten mußte.

    Auch als Interpret, und vor allem in Sachen Beethoven, war er ein Revolutionär, der teilweise sogar tempomäßig Leibowitz noch überholte. Jedenfalls war er für seine radikalen Auslegungen der Beethoven-Sinfonien bekannt. In meiner Sammlung befindet sich nur diese CD:

    mit den Sinfonien Nr. 6 & 8. Sie sind aber nicht aus der gezeigten Box, sondern von WESTMINSTER mit dem Wiener Staatsopern-Orchester (Nr. 6, Stereo) und dem Royal Philharmonic Orchestra (Nr. 8, Mono) aufgezeichnet worden. Die Sechste liegt mir in seiner Auslegung weniger, aber die Achte ist ein echter Hammer! Da legt Scherchen ein Temperament vor, das einen schier vom Stuhl haut.


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).


  • Ich weiß nicht, ob diese neue CD empfehlenswert ist. Sie hat den Markt noch nicht erreicht. Zumindest aber dürfte sie

    einen hübschen Tupfer setzen. Mit Beethoven kann man nicht früh genug anfangen. Bei Sony heißt es dazu: "Martin Stadtfeld erklärt im Gespräch mit einer 12-Jährigen und anhand eigener Musikbeispiele das Leben und Werk von Beethoven. CD1 enthält das Hörspiel für Kinder, CD2 die Musikbeispiele in voller Länge. Beide Aufnahmen entstanden in Koproduktion mit dem SWR."

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


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  • (die Aufnahmequalität ist erstaunlich für einen Mitschnitt aus dieser Zeit!)

    Da bin ich ganz bei Dir, lieber Holger. Künstlerisch ist ohnehin schon alles gesagt dazu.
    Mir ist ja selber die Klangqualität nicht ganz unwichtig, aber wenn der Klang dort bereits

    inakzeptabel

    sein soll, dann müsste demnach ja alles von Furtwängler in Sachen Beethoven automatisch in die Tonne.
    Zum Glück ist dem nicht so.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • dann müsste demnach ja alles von Furtwängler in Sachen Beethoven automatisch in die Tonne.

    Bei den alten Furtwängler-Aufnahmen mache ich gar nicht erst einen Versuch ^^. Das soll natürlich jeder so halten, wie er es will. Aber mir schien es doch geboten, hier einmal darauf hinzuweisen, dass die Live-Aufnahmen von Scherchen aus Lugano in Sachen Klangqualität weit vom dem heutigen Standard entfernt sind.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Da bin ich ganz bei Dir, lieber Holger. Künstlerisch ist ohnehin schon alles gesagt dazu.
    Mir ist ja selber die Klangqualität nicht ganz unwichtig, aber wenn der Klang dort bereits

    sein soll, dann müsste demnach ja alles von Furtwängler in Sachen Beethoven automatisch in die Tonne.
    Zum Glück ist dem nicht so.

    Bei mir natürlich nicht, lieber Joseph! ^^ Denn die Box habe ich auch:



    Schöne Grüße

    Holger

  • Lieber Fiesco,


    deinem Link folgend, werden mir aber nur "2 gebraucht" für 999,95 Euro angezeigt...vielleicht doch ein bisserl teuer :-D


    liebe Grüße

    Darum ging es doch gar nicht, sondern um "Diese CD Box ist vergriffen" , und diesem habe ich wiedersprochen.OK.


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Nun, im Zweifelsfalle huldige ich lieber dem Jugendlichkeitswahl, als zu vergreisen und nur noch der guten alten Zeit nachzuweinen, in der Brendel und Harnoncourt den Beethoven noch "richtig" interpretiert haben.

    Darauf hat ja Holger sehr gut geantwortet.


    Nur ein Hinweis: es gibt da durchaus ein ( und nicht nur ein) echtes Richtig ! und nicht nur ein sogenanntes "richtig".

    Nun könnte man einwenden, dass die verschiedenen Interpretationen doch alle sehr unterschiedlich wären, was ja auch stimmt. Die meisten uns bekannten Aufnahmen sind auch in diesem Sinne richtig, denn so unterschiedlich sie auch sein mögen, gibt es immer gewisse objektive Qualitätskriterien, die über die rein handwerkliche Beherrschung des Materials (schon schwer genug!) hinausgehen und die immer vorhanden sein müssen, wenn man sich mit einer bestimmten Musik beschäftigt, wie hier z.B. Beethoven.

    Nicht alles ist relativ, sonst wäre das wirklich Gute aus der Sicht von Person A relativ gut und aus der Sicht von Person B relativ schlecht, ergo es gäbe nichts am Ende nichts wirklich Gutes und nichts, was wirklich schlecht wäre.

    Am Ende ist dann " alles Geschmackssache", und wegen des lieben Friedens haben dann alle irgendwo recht und zugleich unrecht. Gerne wird dann mit Toleranzbegriffen aus Gesellschaft und Politik argumentiert, nämlich das jeder das Recht auf seine Meinung habe, gerne auch mit der Freiheit der Kunst.


    Diese außermusikalischen Dinge greifen aber nicht genau wie "im normalen Leben", nämlich dann, wenn man sich mit einer speziellen Kunstsparte beschäftigt, hier also der Aufführung der Fünften von Beethoven, bei der ja das bekannte Problem auftritt, dass sie unfassbar bekannt ist und viele hervorragende Leute ihre diskographischen Spuren hinterlassen haben ( gäbe es keine Aufnahmen, wäre dieses Problem längst nicht so akut).

    Ein Kunstwerk wie Beethovens Fünfte ( oder das WTK, oder der Schwanengesang von Schütz oder eine Symphonie von Brahms.....) entstand auf der Basis gewisser Gesetzmäßigkeiten, die wiederum einen gewissen grundsätzlichen Respekt vor dem Material bei aller Unterschiedlichkeit der individuellen Auffassung erfordert.


    Hier nur einige wenige Beispiele, an die sich Beethoven hielt:

    Septimen müssen sich nach unten auflösen, keine parallelen Quinten, die Form (z.B. der Sonatensatz), die Verbindung von Figuren und Phrasen einerseits mit der Welt der Sprache, Rhetorik, Worte, Sätze, Gesten andererseits. Wenn er Akzente auf unbetonten Taktteilen setzt, dann haben diese bewusste "Irritation" trotzdem einen nachvollziehbaren Sinn.

    Diesem Respekt gegenüber gewissen Reglen muss auch die Interpretation mit ihren Mitteln folgen, d.h. z.B. eine Auflösung legato und leiser an den dissonanten, lauteren Vorhalt hängen.

    Wichtig ist zudem immer dieses Austarieren zwischen den verschiedenen Mitteln, die dem Interpreten zur Verfügung stehen. Wie stark macht man den Unterschied zwischen Dissonanz und Konsonanz, wie kurz soll hier ein Staccato in diesem Tempo sein, was unterscheidet z.B. einen Bogen über zwei Noten vom gleich aussehenden Bögen im Barock? Hier entscheidet sich, wie seriös der Ansatz ist, wie geschmackvoll und überzeugend es am Ende wird.

    Es wäre mir zwar möglich, das genauer auszuführen, aber ich verzichte hier darauf, weil es dann wieder "ellenlang" wird, ich ohnehin keine Zeit zum Dozieren habe und es wohl kaum jemanden interessiert. Da nehme ich dann den Vorwurf, unbewiesene Behauptungen aufgestellt zu haben gerne in Kauf.

    Der Wunsch nach totaler Entgrenzung mag einer innewohnenden Maßlosigkeit der menschlichen Natur entsprechen, hat aber die fatale Tendenz, den durch das Werk selbst definierten Bereich der Kunst zu verlassen.


    Die Järvi-Interpretation des ersten Satzes der Fünften ist ein gutes Beispiel. Handwerklich ist alles im grünen Bereich ( sehr sogar, auch seine Schlagtechnik ist hervorragend), und hörend, wie auch sein Dirigat sehend verstehe ich faktisch sofort, was er meint und stimme damit auch eigentlich, d.h. im Grundsatz überein. In diesem Fall finde ich aber, dass die durchweg sehr richtig erkannten( d.h. nachvollziehbaren und mit der Partitur übereinstimmenden) Dinge des Charakters und der kinetisch-gestischen Energien von Phrasen etc. noch besser erfahrbar wären, wenn er nicht ein so strammes Tempo gewählt hätte. Diese Phrasen brauchen um sich herum einen gewissen Anteil von "Luft" ( Luft ist hier Zeit), um ihre volle Wirkung entfalten zu können. Das empfindet man aber als Musiker oftmals dann anders, wenn man sich sehr intensiv mit einer Musik auseinandersetzt. Bei mir ist es oft so, dass ich mit der Zeit ein bestimmtes Stück immer schneller empfinde, wahrscheinlich, weil man es dann geistig mehr durchdrungen hat, als am Anfang der Arbeit. Mit einem Abstand von mehreren Jahren hört man es dann wieder anders.

    Dennoch ist dieser Järvi immer noch ein richtiger Beethoven, selbst wenn mir andere Aufführungen besser gefallen.


    Diese Klassifizierungen von "aktuell" und "alt" empfinde ich angesichts der Tatsache, dass wir hier über keineswegs aktuelle Musik reden, faktisch als lächerlich.

    Beethovens Musik entzieht sich diesen Kategorien, die seriöse Interpretation dieser Musik auch.

    Der Beifall und der kommerzielle Erfolg einer "aktuellen Beethoven-Scheibe...(naja, heute streamt man ja eher)" ist schon gar kein Gradmesser von Qualität, denn über die kann man nicht demokratisch abstimmen, weil sie so ist, wie sie nun einmal musikalisch gesehen ist. Das Einzige, was "aktuell" sein kann, ist die Aufnahme- und Wiedergabequalität.


    Fortschritt gibt es in der Technik, aber nicht in der Kunst. Das Neue kann und wird meistens auch anders sein, aber nicht zwangsläufig besser.

    Alte Aufnahmen sind aus meiner Sicht nur dann "überholt", wenn man von der Aufnahmetechnik oder einem gewissen Standard hinsichtlich der handwerklichen Perfektion spricht.


    Ob ich eine Aufnahme beitragen kann, die ich empfehle?

    Tja, das wird dann wohl eher aus dem Bereich der "Klassiker" sein ( bin ja verstaubt), aber dazu ggf. mehr in einem anderen Beitrag.


    LG

    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • Hallo


    Klavierkonzerte Nr.1-5


    Bernd Glemser, p

    Bruno Weil, cond

    Duisburger Philharmoniker


    (MDG, DDD, 2003)


    Leider kommt das Bild nicht rein.

    Ich kann diesen Live-Mitschnitt aus der Mercator-Halle Duisburg wärmstens als GA empfehlen. Die Konzerte wurden im Jubiläumsjahr der Duisburger Philharmoniker gegeben. Glemser spielt virtuos und doch integrativ. Die Duisburger spielen HIP-artig. Exzellente Akustik.


    LG Siamak

  • Es kommt im Jahr längst nicht so oft vor, dass ich Beethoven hören möchte, als etwa Bach, Wagner, oder Brahms. Gerade so ein Werk wie die Neunte Symphonie mit dem Durchdrehen im letzten Satz, muss ich nicht immer haben, so sehr ich es auch im Moment des Hörens liebe. Ob wir nun 2020, Corona oder sonst etwas haben oder nicht: ich dachte mir, ich stelle einmal kurz einige Beethoven-Aufnahmen vor, die bei mir "immer gehen".


    Vor allem zur 6. Symphonie zieht es mich innerhalb eines Jahres öfter, und hier meistens in der Interpretation Carl-Maria Giulini mit dem New Philharmonia Orchestra, bei mir im auf iTunes mit Apple-Lossless eingerippten CD-Bestand, noch mit altem EMI-Cover:


    81nPtYDnI2L._SS500_.jpg


    Hier wird man behutsam in die ländliche Szene eingeführt, und Streß ist bei dieser Musik ein Fremdwort. Von Beethoven ist bekannt, dass er sich gerne in der Natur aufhielt und dort Zeiten des Friedens fand. Von daher finde ich schon, dass Giulinis Sichtweise durchaus etwas mit den Intentionen des Komponisten zu tun haben wird. Mich überzeugt es so jedenfalls.


    Ebenso empfehle ich eben diese 6. auch mit den Wiener Philharmonikern unter Christian Thielemann:



    Hier wird man z.B. in die Szene am Bach geradezu hineingezogen. Es ist, als ob man diesen Spaziergang selbst machte.


    Entscheiden will ich mich zwischen den beiden Aufnahmen nicht, dann dafür haben sie jeweils für sich zu viele Vorteile. Thielemann ist vom Tempo nicht ganz so ruhig wie Giulini unterwegs, aber schnell ist es bei beiden nicht -gut so.


    Von den Klavierkonzerten kann ich das erste gerne auch öfter hören, vor allem, wenn es so wuchtig, kraftvoll und im besten Sinne klassisch gespielt wird, wie hier mit dem Team Michelangeli und -wieder einmal- Giulini:



    Allen drei Aufnahmen ist gemeinsam, dass ein voller und warmen Orchesterklang zu hören ist. Nichts klingt erzwungen, gewollt oder sentimental, und die Intention, besser gesagt die innere Bewegung des Komponisten beim Schreiben kommt -jedenfalls bei mir als Hörer- an.

    Ich sage nicht, dass es nur so und nicht anders sein muss, aber ich höre es in den letzten Jahren doch so am liebsten. In den 90er bis hin zu den ersten Jahren des neuen Jahrtausends das bei mir noch nicht so.


    Was soll man viel darüber reden? Anhören ist das Beste.

    Seit ich bei TIDAL Kunde bin, liegen mir übrigens so gut wie alle wichtigen Aufnahmen vor, auch jene, die bei Amazon nach und nach auslaufen.

    So konnte ich z.B. angesichts der obigen Diskussionen sehr schön in die besprochenen Aufnahmen hören, so lange wie ich wollte. Die zurecht bekannte und gelobte Kleiber DG-Aufnahme der Fünften wird dabei sogar in Master-Audio-Qualität gestreamt ( der SACD-Kauf erübrigt sich damit für mich), die anderen wenigstens in CD-Qualität.

    Man braucht nur noch einen guten DAC, und schon öffnen sich die unendlichen Weiten des Klassikangebots. Jetzt müsste man nur noch Zeit haben und wissen, wo man anfangen soll.


    Doch das nur nebenbei....


    Gruß

    Glockenton


    PS: Woran es liegt, dass nicht die Cover zu sehen sind, weiß ich nicht. ASIN-Nr. hineinkopiert, markiert auf das Amazon-Symbol geklickt. Ich weiß nicht, was ich falsch mache.

    Danke, Reinhard, habe es korrigiert:-)

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Ich weiß nicht, was ich falsch mache.

    Die Schriftart paßt nicht, da ist unsere Forensoftware sehr mimosenhaft. Entweder merken und händisch eintippen (so macht es garaguly) oder einen Umweg über einen Editor nehmen (so mache ich es) ...

    Und wenn dann nur ein kleines Pünktchen erschein, an die ASIN noch ;lo anhängen, dann erscheint wenigstens ein kleinesa mazon-Symbol zum anklicken.


    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Danke lieber Reinhard für diesen Hinweis. Ich erlebe es oft, dass ich eine ältere CD einstellen will, jpc führt sie gar nicht mehr, aber beim Urwaldfluss wird sie noch angegeben. Nur wenn ich sie wie gewohnt im Forum einstellen will, erscheint nur der Punkt. Dann lass ich das Ganze sein. Ich gebe immer manuell ein, also am Kopieren liegt es nicht. In Zukunft versuche ich es mit dem von dir genannten Trick. Woher soll man das wissen?

    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Folgendes sollte helfen:


    Kontrollzentrum -> Einstellungen: Allgemein -> Bedienung: Text-Formatierung beim Einfügen in den Editor übernehmen auf Nein stellen


    (Hinweis kann später entfernt werden)

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

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    – Luís de Camões

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  • Hier nur einige wenige Beispiele, an die sich Beethoven hielt:

    Septimen müssen sich nach unten auflösen, keine parallelen Quinten, die Form (z.B. der Sonatensatz), die Verbindung von Figuren und Phrasen einerseits mit der Welt der Sprache, Rhetorik, Worte, Sätze, Gesten andererseits. Wenn er Akzente auf unbetonten Taktteilen setzt, dann haben diese bewusste "Irritation" trotzdem einen nachvollziehbaren Sinn.

    Diesem Respekt gegenüber gewissen Reglen muss auch die Interpretation mit ihren Mitteln folgen, d.h. z.B. eine Auflösung legato und leiser an den dissonanten, lauteren Vorhalt hängen.

    Lieber Glockenton,


    das ist wieder einmal ein wunderbarer lehrreicher Beitrag von Dir! Ich bin was Kompositions- und Dirigiertechnik angeht ja auch absoluter Dilettant. :D (Die Bezeichnung "Dilettant" ist übrigens synonym mit der des "Liebhabers" - im Unterschied zum "Kenner" mit Sachverstand. Die Unterscheidung von "Kenner" und "Liebhaber" (= dem Dilettanten) geht auf das 18. Jhd. zurück.) Schön wäre von daher, so einen Film bei Youtube mal mit Dir durchzugehen, wo Du dann erklären kannst, warum so ein Dirigent da macht. Nun könnten wir fragen: Wozu braucht ein Liebhaber Fachwissen? Bisher war es so, dass die großen Dirigenten der Vergangenheit alle sehr fachkompetent waren. D.h. das Publikum hat dann die fachkompetente Interpretation intuitiv aufgenommen und selber danach seine Hör-Maßstäbe gebildet. Es hatte seine Hörgewohnheit an fachkompetenten Interpretationsleistungen gebildet, weiß also, was gut und schlecht ist auch ohne eigentliches "Wissen". Demnach: Wenn man von Furtwängler, Karajan, Böhm, Kleiber, Kubelik, Mrawinsky, Haitink, Abbado, Neumann, Celibidache usw. usw. vorgeführt bekommt, was eine qualitativ hochstehende Interpretation ist (sie sind alle "im grünen Bereich", wie Du in Bezug auf Järvi sagst), dann merkt man, auch wenn man die Regeln und die Grammatik dahinter eigentlich nicht kennt, wenn diese Qualität mal nicht da ist. Das Problem was ich bei Musikern vom Typ Currentzis, Lang Lang etc. sehe (obwohl ich schon glaube, dass C. begabt ist und vielleicht auch wirklich gute Aufnahmen gemacht hat, aber darum geht es mir jetzt nicht), die dieses Fachwissen nicht mehr in ihre Interpretation einfließen lassen aus welchen Gründen auch immer, sondern vornehmlich auf pure Wirkungsrhetorik, den reinen Effekt, aus sind, ist, dass dann auch der Hörer diese Maßstäbe nicht mehr vermittelt bekommt und seine Hörgewohnheiten nicht mehr kultivieren kann, maßstablos wird in seinem Urteilsvermögen und damit anfällig, von solcher Effekthascherei beeindruckt zu werden. Die Fähigkeit, so etwas wie "guten Geschmack" zu entwickeln, geht so verloren, wenn der Hörer nur Geschmacklosigkeit vorgeführt bekommt. Und diejenigen, die keinen guten Geschmack bzw. auch keine intuitiven Maßstäbe mehr haben, ärgern sich in ihrer eigenen Maßstablosigkeit am meisten über die "Wahrheit" mangelnder Qualität, wenn ein Fachmann und Kenner ihnen dann erklären will, was richtig und was falsch ist. Das ist eigentlich nicht so schwer zu verstehen! ^^


    Ob ich eine Aufnahme beitragen kann, die ich empfehle?

    Tja, das wird dann wohl eher aus dem Bereich der "Klassiker" sein ( bin ja verstaubt), aber dazu ggf. mehr in einem anderen Beitrag.

    Ich habe z.B. auch noch einen der deutschen Dirigenten der alten Generation, Paul Kletzki, mit der Tschechischen Philharmonie. Die Aufnahmen habe ich aber schon lange nicht mehr gehört. :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • das wird dann wohl eher aus dem Bereich der "Klassiker" sein ( bin ja verstaubt)

    Hallo Glockenton,


    auch ich zähle zu den "Verstaubten", meine Regale und Schränke sind vornehmlich gefüllt mit den Aufnahmen der "goldenen LP-Ära", also den Jahren 1950 bis ca. 1985. Es gibt auch neuere, aber die sind verhältnismäßig selten.


    Deine Vorstellung der PASTORALE mit Giulini und dem New Philharmonia Orchestra (aufgenommen 1968) hat mich veranlaßt, eine alte FonoForum-Kritik auszugraben, sie steht in Heft 5/1970. Ich hatte im Gedächtnis, daß sie dort hymnisch gelobt wurde, und weil auch Du sie zu den bevorzugten Aufnahmen rechnest, will ich sie hier auszugsweise wiedergeben: ".... Giulini erweckt mit jeder seiner Aufnahmen den Eindruck, daß er nicht leichthin fürs Repertoire einspielt, sondern daß er die Summe gründlicher Beschäftigung mit einem Werk präsentiert. Von dieser Art ist auch die "Pastorale".

    (…) Von einem Dirigenten aus Bari erwartet man mit wohligem Gruseln eine Gewitterszene à la Toscanini, eine sinfonische Tempestà, eine Sturmfahrt in den Wienerwald. Giulini überrascht durch das Gegenteil eines Donnerwetters: durch ein sinfonisch stilisiertes Gewitter von äußerster klanglicher Disziplin und thematischer Prägnanz. Ähnlich gesammelt und durchdacht wird der Allegro-Mittelteil des Tanzes der Landleute angelegt. Giulini hat die innere Ruhe für die "Pastorale", den Mut zum gelassenen Ausmusizieren, das Ohr für das Melos - welch ein ideales Andante-Tempo! - und die Bedächtigkeit für gleitende Akzente und sanfte Steigerungen … bringt die Bässe als Fundament voll zum Klingen, geht sorgsam jedem motivischen Detail nach, führt das zweite Thema so klar und intelligent ein, wie man derlei seit Furtwängler nicht mehr gehört hat und nutzt den runden Ton der Aufnahme, um jede Floskel motiviert zum Klingen zu bringen.

    Ein Ereignis ist der Übergang vom Gewitter zum Hirtengesang … jeder Ton wird thematisch verstanden und in einen großen Bogen einbezogen. Das Finale - rigoros durchgehaltenes Allegretto! - ist getragen von sanfter Verzückung. Kein Fortissimo knallt, alles wird gesungen. Über dem Ausklang liegt eine innere Heiterkeit, wie sie kaum ein Pultkollege heutzutage darzustellen versteht."

    Ich weiß noch, daß ich gleich nach dem Lesen dieser Kritik mehrere Kölner Plattengeschäfte (SATURN gab's noch nicht) nach der Platte "durchforstet" habe, bis ich sie endlich gefunden hatte. So sah sie aus (allerdings noch mit dem Nipper):

    und befindet sich noch in meiner LP-Sammlung, die ich aber leider aus Platzgründen auslagern mußte. Leider ist sie auf CD z.Zt. vergriffen bzw. nur in einer umfangreichen Box zu haben, aber ich danke Dir, daß Du an sie erinnert hast und werde sie auf meine Merkliste setzen. Vielleicht gibt's ja mal eine preiswerte Neuauflage.


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Lieber Nemorino,


    zum Glück habe ich mir diese CD noch gebraucht bestellen können, damals für einen Spottpreis. Ich höre sie jetzt allerdings eingerippt von der SSD über iTunes.

    Auch über Tidal könnte ich auch diese Einspielung und anderen beiden Aufnahmen der Symphonie mit Giulini gestreamt hören (mit La Scala Philharmonic Orchestra und Los Angeles Philharmonic Orchestra) ....aber ich fühlte mich immer wieder zu dieser EMI-Aufnahme besonders hingezogen, eben weil sie noch langsamer ist als die anderen beiden.

    Dass die von 1968 ist, hätte ich angesichts des guten Klangbilds, welches auch Tiefenstaffelung enthält, nicht gedacht.

    Die von Dir zitierte Rezension kann ich nur in allen Aspekten bestätigen, auch hinsichtlich der Bässe, die hier gut abgebildet wurden.


    Gestern habe ich gedacht, dass ich für den Beitrag ein bisschen in die Musik hineinhören könnte, aber es ist dann doch die ganze Symphonie geworden. Das waren entspannte, entschleunigte Minuten, eine echte Bereicherung.


    Gruß

    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Schön wäre von daher, so einen Film bei Youtube mal mit Dir durchzugehen, wo Du dann erklären kannst, warum so ein Dirigent da macht....

    Lieber Holger,


    das wäre vor allem dann schön, wenn wir den Film zusammen bei mir oder in Münster sehen könnten.

    Über das Medium eines Forums wird das etwas umständlich...


    Aber es ist ein unglaublich interessantes Thema.

    Jeder der von Dir genannten Dirigenten hat eine ganz andere Körpersprache. Manche dirigieren wirklich "vorbildlich", also ein bisschen in Richtung Lehrbuch, mit den Schlagfiguren etc. Mir sind da die Herren Maazel ( z.B. Wagner, Ring ohne Worte, Blue-ray), Sohn Järvi und auch Norrington aufgefallen ( dessen Ergebnisse ich selten mag). Auch Rattle ist da richtig gut, vielleicht etwas freier.

    Mit den kurzen Winken, die z.B. Herreweghe macht, kann ein "normales" Orchester wahrscheinlich gar nichts anfangen. Wenn Du in der Hochschule so dirigierst, fällst Du garantiert durch.

    Dennoch ist Herreweghe vom Ergebnis her aller Wahrscheinlichkeit nach wesentlich besser, als all diese Hochschullehrer....

    Auch die flatternde linke Hand Furtwänglers ( da gibt es ein tolles Video, bei der er die Chaconne des Finalsatzes der Vierten von Brahms dirigiert, Wahnsinn) verfehlte Ihre magische Wirkung nicht, aber mit der reinen Lehre des Dirigieren hat es gar nichts zu tun.


    Böhm war eher ein strenger Aufseher der Musik. Er war von Strauss inspiriert, der meinte, dass man hauptsächlich mit dem rechten Arm arbeiten sollte.


    Dann gibt es die Magier, z.B. Celibidache. Es ist ein Genuss sich anzuschauen, wie er die 7. von Bruckner für das Versöhnungskonzert mit den Berlinern probt und dirigiert.


    Harnoncourt, von der Alten Musik herkommend, war eigentlich kein gelernter Dirigent, was man auch sah. Aber im Laufe der Jahre wurde er auch besser, d.h. er wusste schon, was man machen muss, dass dieses Band zwischen ihm und dem Orchester existiert. Ich habe ihn wohl zu oft gesehen, denn mein Professor sagte mir an der Hochschule einmal, dass man eigentlich nicht mit geballten Fäusten dirigieren sollte....:D


    Solti sehe ich auch gerne, mag vor allem seine Proben. Dass er mit den Ellenbogen immer diese Ausleger machte, stört mich da nicht.


    Abbado zelebrierte ekstatisch und diszipliniert zugleich, er brachte seine Forderung des Aufeinanderhörens, der disziplinierten Hochspannung und der innerlichen Ekstase zusammen.


    Karajan und Thielemann sind sehr individuell in ihrer Körpersprache.

    Die singuläre Metaphysik Karajans konnte grandios funktionieren ( er wusch ja eigentlich imaginäre Wäsche, verband die Töne seines Legato-Klangstroms ineinander, und zwar mit geschlossenen Augen; bei wuchtigen Passagen schlug er die Arme von über dem Kopf bis ganz hinunter parallel, dazu die autoritäre Kieferpartie. Wenn es nicht funktionierte, dann konnte das auch grandios scheitern, wie man in Büchern anhand von Aussagen der Orchesterleute lesen kann. Ich nehme aber an, dass es selten vorkam. Seine Art zu dirigieren konnte auch nur mit den Orchestern funktionieren, die auf ihn eingestellt waren, d.h. mit den Berlinern und den Wienern, auch den Symphonikern.


    Thielemann macht bei spannungsreichen Sachen gerne eingewinkelte Knie und lehnt sich dabei mit dem Oberkörper nach hinten, dazu die Hände ganz nach unten, kleine Akzente in die Luft mit den Fingernd winkend. Oder er beschäftigt sich gerade mit den ersten Geigen und beugt sich zu denen herunter, so als ob er denen etwas wie ein Kellner serviert....

    Es sieht irgendwie sehr konservativ aus, gegen alles, was so an Hochschulen erzählt wird.

    Ach ja, wie sehr ich das liebe, gerade das.

    ;)


    Nagano nickt vor entsprechenden Einsätzen ( Vorspiel Parsifal) gerne mit geschlossenen Augen zu jemanden hinüber, als wollte er sagen " ich fühle, was Du jetzt machen willst, tu es, Du hast meine volle Unterstützung, ist genau das, was wir gleich ( in 1s) brauchen werden." Faszinierend.


    Effektivität ist das Stichwort, auf das es ankommt. Je weniger Du machen musst, umso besser. Wenn also jemand wie ein Irrer vor dem Orchester herumtanzt und springt ( ich verzichte jetzt darauf, den Namen zu nennen....) , sich also seine ganzen Affektionen aus dem Leibe schwitzt, dann trifft das bei den "alten Säcken" eines guten Orchesters auf jeden Fall auf Verachtung.


    Man kann von der Kunst des Dirigierens die Frage, wie geprobt wird, eigentlich nicht trennen. Da geschieht die eigentliche Arbeit, gerade bei Leute wie Herreweghe. Von dem gibt es im Netz kaum Probenausschnitte, sehr schade.


    Gerade in der Coronakrise, in der Hinz und Kunz mit seiner Musik ins Netz drängt, fällt einem übrigens auf, wie sehr es in Mode gekommen ist, dass Musiker über ihre Musik vorher quatschen müssen.

    Ich lehne das ab. Entweder kann die Musik für sich stehen, oder man sollte sie besser nicht spielen. Harnoncourt nehme ich aus, weil der aufgrund der damaligen Neuheit der Sachen, die er machte, einfach etwas erklären musste, um das ein oder andere Sandkörnchen von Verständnis bei den Hörern zu erzeugen. Seine Erklärungen zu den Brandenburgischen Konzerten auf DVD ( in den 80ern aufgezeichnet) sind hervorragend. Aber normalerweise sollten Musiker spielen und vor allem nicht direkt vor dem Musikerlebnis herumreden.

    Auch sollten Dirigenten in den Proben nicht zu viel reden, sonst werden die Musiker nöckelig, wie der Ostwestphale sagt.


    Eigentlich wäre das ein Extrathema, aber Fragen des "Wie" interessieren meisten eher Musiker, weniger die "Kunden"....


    Die Fähigkeit, so etwas wie "guten Geschmack" zu entwickeln, geht so verloren, wenn der Hörer nur Geschmacklosigkeit vorgeführt bekommt.

    Tja, eben das ist ja das kulturelle Problem "unserer Zeit". Hier wünschte sich ja im Thread jemand, dass wir beiden "Alten" noch mehr über "unsere Zeit" klagen sollten. Bitteschön, ich klage;(


    Hier ein fiktives Beispiel: es fängt "heutzutage" schon in der Kindheit an. Wenn man z.B. so etwas von den eigenen Eltern serviert bekommt, bei dem einer in amerikanischer Fäkalsprache ( es geht dabei wiederholt um den sprachlich verwendeten Geschlechtsakt mit der eigenen Mutter....) zu schlecht-monotonen Beats in ein Mikrofon schimpft/brüllt/schreit, und das dann auf Youtube in einer musikgeschichtlichen Dokumentation als etwas "ganz Großes" in der Retrospektive beschrieben wird ( weil damit ganz ganz viel Geld verdient wurde...) dann kann man sich schon ausmalen, dass ihm später, wenn er entdeckt, dass man mit der Stimme auch singen kann ( oder dass es so etwas wie Musikinstrumente gibt) die Unterschiede zwischen Guldas Version des Türkischen Marsches und Lang Langs ( der schon vor Obama spielte:pfeif:) so vorkommen, dass er die fliegenden Finger des Letztgenannten faktisch "geiler" finden wird. Was soll man machen. Wie gesagt, hiermit klage ich, und zwar auf Bestellung;(;(, siehe weiter oben....Beitrag 45.

    Vorsorglich sage ich, dass das ein bisschen satirisch gemeint war und dass ich vom Lang Lang, der im Grundsatz sehr gut Klavier spielen kann, auch schon Sachen hörte, gegen die ich nichts einzuwenden hatte, sondern die ich sogar gut fand.


    Aber ich komme hier von Beethoven weg. Deswegen schließe ich lieber...;)



    Gruß

    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • das wäre vor allem dann schön, wenn wir den Film zusammen bei mir oder in Münster sehen könnten.

    Über das Medium eines Forums wird das etwas umständlich...

    Lieber Glockenton,


    das wäre wunderbar! :) Nur leider in Corona-Zeiten stehen wir unter Hausarrest! Unseren Enkel sehen wir deshalb auch nicht. Gestern meinte er so süß, er werde uns im Sommer besuchen kommen! ;(

    Vorsorglich sage ich, dass das ein bisschen satirisch gemeint war und dass ich vom Lang Lang, der im Grundsatz sehr gut Klavier spielen kann, auch schon Sachen hörte, gegen die ich nichts einzuwenden hatte, sondern die ich sogar gut fand.

    Anfänglich habe ich ihn ja gesammelt. Er hat natürlich viel Potential (gehabt) und auch einige anhörbare Sachen gemacht. Ab einem bestimmten Zeitpunkt - dem missratenen Wiener Konzert - habe ich mich dann für ihn nicht mehr interessiert. Er wird nur immer extremer - leider in der falschen Richtung. Dagegen verfolge ich alles, was Yuja Wang macht. Sie ist für mich mit Abstand die beste der jungen chinesischen Pianisten - wirklich sehr intelligent, gebildet (sie liest Wagners Schriften!) und hochbegabt. Im Unterschied zu Lang Lang kann sie in ihren jungen Jahren schon eine Beethoven-Sonate nicht nur überzeugend, sondern auch wirklich berührend schön spielen (op. 106!)! Inzwischen ist bei mir auch Segerstam mit "Die Geschöpfe des Prometheus" angekommen.


    Noch eine Empfehlung - die Beethoven-Symphonien in der Klavierfassung von Franz Liszt. Vorbildlich gespielt von Cyprien Katsaris. Für dieses Repertoire ist Katsaris schlicht ein idealer Interpret - damals von ihm eingespielt auf einem für ihn eigens gebauten Flügel. Eine Symphonie habe ich vor sehr vielen Jahren von ihm in der Düsseldorfer Tonhalle gehört. Interessant war, was dann in der Presse passierte. Der Kritiker, der Liszt nicht mochte, polterte: Sowas gehöre nicht in den Konzertsaal und damit habe sich Katsaris als seriöser Pianist von der Weltbühne verabschiedet. Darauf meldete sich per Leserbrief sein Vorgänger bei der Rheinischen Post, der damals schon pensionierte ehemalige Chefkritiker Alfons Neukirchen (der wirklich Niveau hatte!) und meinte: Das könne er nicht stehen lassen. Man müsse das ja nicht mögen, aber kompositorisch seien Liszts Transkriptionen einfach hervorragend gemacht. Recht hatte er! ^^



    :hello: Liebe Grüße

    Holger

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  • Aber es ist ein unglaublich interessantes Thema.

    Jeder der von Dir genannten Dirigenten hat eine ganz andere Körpersprache.

    Lieber Glockenton,


    da hatte ich es doch glatt versäumt, darauf zu antworten. Sehr spannend! Da fällt mir noch Pierre Boulez ein, der nur mit Händen dirigierte... :)


    Liebe Grüße

    Holger

  • Ja wirklich, es ist sehr spannend, denn allein durch die Art der Bewegungen erzielt ein großer Dirigent einen speziellen, nur bei ihm so zu hörenden Klang. Karajan meinte ja, dass es so klänge, wie einer schlüge.


    Zu diesem Dirigenten vergaß ich zu erwähnen, dass er mit den Jahren immer weniger mit dem Oberkörper machte, allein schon, weil er ja bekanntermaßen ein Rückenleiden hatte.

    Ich habe da eine DVD, auf der er Bruckner live dirigiert. Von hinten sieht es aus, als wenn er sich kaum bewegt, nur leicht vornübergebeugt. Von vorne hat er praktisch einen ganzen Satz der Symphonie lang die Augen geschlossen, kaum Einsätze gebend. Aber mit den Wiener Philharmonikern funktionierte das offenbar sehr gut, eben weil die ihn ja schon seit gefühlten Ewigkeiten kannten.


    Warum es so ist, dass die Körpersprache einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Klangbild hat, ist nur rudimentär zu erklären. Man stößt da schnell an Grenzen und muss wohl akzeptieren, dass es Dinge gibt, die ganz offensichtlich vorhanden sind, aber sich einer naturwissenschaftlichen Untersuchung erfolgreich entziehen. Deswegen finde ich es ja so spannend.

    Am Ende kommt es darauf an, dass man "es" hat.


    Wir mussten im Studium einmal für Haydns Schöpfung als Kirchenmusiker mitsingen. Es ging darum, dass Dirigentenschüler sich ausprobieren sollten. An einer bestimmten Stelle sagte die Lehrerin ( Grete Pedersen): "Darf ich einmal"? Dann dirigierte sie die entsprechenden Takte, ohne etwas zu proben oder zu sagen. Du hättest nicht geglaubt, dass es dasselbe Orchester war. Es klang 100% mal besser. Da habe ich vorgeführt bekommen, was es bedeutet, wenn man "es" hat....


    LG

    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Ja wirklich, es ist sehr spannend, denn allein durch die Art der Bewegungen erzielt ein großer Dirigent einen speziellen, nur bei ihm so zu hörenden Klang. Karajan meinte ja, dass es so klänge, wie einer schlüge.

    Frappierend fand ich das mal in einer Celibidache-Meisterklasse, lieber Glockenton. Celi, als er merkt, der Dirigierschüler kapiert einfach nicht, was er machen soll, nahm selbst den Dirigierstab in die Hand. Unglaublich, wie anders plötzlich das Orchester spielte nur mit seinem Schlag! :)


    Liebe Grüße

    Holger

  • Zitat von Glockenton

    Vor allem zur 6. Symphonie zieht es mich innerhalb eines Jahres öfter, und hier meistens in der Interpretation Carl-Maria Giulini mit dem New Philharmonia Orchestra,

    Hier wird man behutsam in die ländliche Szene eingeführt, und Streß ist bei dieser Musik ein Fremdwort. Von Beethoven ist bekannt, dass er sich gerne in der Natur aufhielt und dort Zeiten des Friedens fand. Von daher finde ich schon, dass Giulinis Sichtweise durchaus etwas mit den Intentionen des Komponisten zu tun haben wird. Mich überzeugt es so jedenfalls.

    Hier eine sehr interressante Rezension von Classic Today, allerdings in engl.!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Hier eine sehr interressante Rezension von Classic Today, allerdings in engl.!


    LG Fiesco

    6/10 Punkte für die künstlerische Qualität. :pfeif:

    "... not a particularly memorable recording on the whole ..."


    Nach meiner Erinnerung vor Jahren, als ich alles von Giulini, was ich kriegen konnte, zusammentrug, fand ich mit Abstand am besten die späte Einspielung mit dem Scala-Orchester (es gibt noch eine dritte Pastorale aus L.A.). Dieser Scala-Beinahe-Zyklus (es fehlt die Neunte) hat generell einen satten, bassstarken Klang und ist vielleicht der nobelste Ansatz, den man sich denken kann.




    Mittlerweile am günstigsten in dieser Box:



    P.S. Die fehlende Neunte steuert man am besten anhand der späten Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern bei (rechts besseres Remastering):


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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