Die Klassikaufnahme als Pop-Album? Alice Sara Ott: Nightfall


  • (Aufnahme DGG Berlin, Meistersaal, März 2018)


    Die Tonträger-Industrie ist nicht erst seit Alice Sara Ott – zu nennen wären hier Anna Gourari, Hélène Grimaud und Katia Buniatishvili – insbesondere bei hübschen Damen dazu übergegangen, wie im Pop-Bereich „Alben“ zu vermarkten. So blickt nicht nur vom CD-Cover von „Nightfall“ eine zur Germany Next Topmodel-Pianistin gestylte Naturschönheit – das Textbuch mit vielen tollen Fotos ist eine Art Bewerbungsmappe für die Modekonzerne der Welt. Pop beruht zum einen auf dem Prinzip der Identifikation des enthusiasmierten Volks mit seinem „Star“, der die geheimen Sehnsüchte erfüllt mit seinem Sex-Appeal eines Idealbilds von Mann oder Frau. Und entsprechend präsentiert das Cover ein traumhaft schönes Gesicht, das Wünsche und Sehnsüchte weckt von einer Traumfrau. Solches Pop-Marketing spielt damit, dass es im Grunde unentscheidbar ist, ob das Publikum seine Traumfrau sucht oder eine Musik zum Träumen. Es suggeriert – so platt im Grunde, wie wirkungsvoll: Hier bekommt Ihr Traummusik von Eurem Traum von einer Frau! Man engagiert entsprechend einen Top-Fotographen, der Werbefotos liefert von erstklassiger ästhetischer Güte. Das ist ein tolles Cover-Bild – ohne Frage! Ein Kunstwerk geradezu! Die Marketing-Abteilung der Plattenfirma weiß damit sehr genau, was sie tut, trägt dem Umstand Rechnung, dass es sich bei den Interessenten für das Album um anspruchsvolle Klassikhörer handelt. Sie bekommen eben deshalb ihren Klassik-„Star“ als Piano-Topmodel mit dazu passender extravanganter Bildästhetik präsentiert. Dazu muss man sagen: Hut ab! Das ist wirklich gutes, Erfolg garantierendes Marketing! Denn in Zeiten der Lang Langs, Yuja Wangs und Katia Buniatishvilis trifft diese Marketing-Masche den Zeitgeist: Stars werden als Ikonen präsentiert, extravagantes Entertainment gehört mittlerweile auch im Klassik-Bereich längst zum „Geschäft“. Wobei man sagen muss: Anders als bei Yuja Wang ist exhibitionistische Extravaganz bei der in ihren privaten Youtube-Interviews sympathisch natürlich und alles andere als Mode geil wirkenden Alice Sara Ott keine Selbstinszenierung. Zur Schau gestellte Cover-Extravaganz ist also in ihrem Fall ein reines Marketing-Kunstprodukt, ein ästhetisches Konstrukt, das wie es scheint reichlich wenig mit der realen Person Alice Sara Ott zu tun hat. Und es ist ihr gerade deshalb zu wünschen, dass sie angesichts ihrer tragischen Multiple Sklerose-Erkrankung, die sie 2019, also nach dem Erscheinen dieses Albums, öffentlich machte, nicht einfach irgendwann fallen gelassen und damit ein weiteres Opfer des Zynismus eines gnadenlosen Musikbetriebs wird, dem schon andere Klaviergrößen – man denke nur an Lazar Berman oder Andrei Gawrilow – zum Opfer fielen. (Die diesbezüglichen Ratschläge, die Lazar Bermans Autobiographie aus eigener böser Erfahrung heraus gerade Jungpianisten gibt, kann man ihnen nur dringend zur Lektüre empfehlen!)


    Bei einem Pop-Album geht es zum anderen vornehmlich um die Vermittlung von „Gefühlen“ und Stimmungen. Gefühle lassen sich auch leicht über ein bestimmtes „Image“ vermarkten, und entsprechend suggeriert auch die Programmauswahl mit stimmungshaften Stücken von Debussy, Satie und Ravel, dass man ein Album mit Musik zum Träumen erwirbt. Wie es das Klischee sentimentaler Traummusik erwarten lässt, bekommt man in diesem Album scheinbar eingängige impressionistische Romantik serviert, Musik also, die vor allem Assoziationen und Stimmungen wecken und nicht den „Kopf“ allzu sehr anstrengen will – mit einem Wort: Bauchmusik für die empfindsame Seele! Ist es Zufall, dass ausgerechnet attraktive Frauen sich für diese Vermarktungsstrategie so anzubieten scheinen, die eine ausnehmend lyrische Begabung haben? Offenbar befriedigt die Tonträger-Industrie damit ein auch im Klassik-Bereich verbreitetes Bedürfnis nach Sentimentalität. Extravaganz und Sentimentalität – diese „Mischung“ scheint heutzutage Erfolg am Markt zu garantieren. Nun ist allerdings eine Pianistin, die „klassische“ Musik präsentiert, kein musikalisch minderbegabtes Schlager-Sternchen. Professionalität und musikalisch-artistisches Können ist die Grundvoraussetzung, um im Klassik-Markt bestehen zu können und Ernst genommen zu werden. Die Tonträger-Industrie profitiert hier von der hohen Professionalität der jungen Pianistengeneration. Klavier spielen auf hohem und höchsten internationalen Niveau kann Alice Sara Ott ohne Frage. Und auch besitzt sie die Musikalität, um auf der internationalen Bühne Beachtung zu verdienen – auch ohne solches Marketing. Das muss finde ich klar gesagt werden. Ein fragwürdiges Marketing ist beileibe kein Grund, eine künstlerische Leistung abzustreiten und einen Künstler nicht Ernst zu nehmen. Nur ist die Frage erlaubt, was eine solche Programm-Präsentation für die Musik bedeutet – und das um so mehr, als im Falle dieses Albums der romantisierende Interpretations-Ansatz der ebenfalls das „Romantische“ beschwörenden Klischee-Vermarktung offensichtlich sehr entgegenkommt. Eine solche Kongruenz fordert die Kritik dann auch heraus: Liegt nicht genau da die Achillesverse, eine sentimentalisierend gesoftete Moderne zu präsentieren? Wird so das Unkonventionell-Moderne gerade auch des französischen Impressionismus nicht populistisch verharmlost zur romantisch-eingängigen Empfindungs-Konventionalität?


    „Nightfall“ erklärt Alice Sara Ott in ihrem durchaus intelligent und kompetent selbst geschriebenen Klappentext als Schwellenerfahrung zwischen Licht und Dunkel. Ihre Programmgestaltung, mit frühem Debussy zu beginnen, erscheint deshalb schlüssig. Denn Debussys frühe Klavierwerke stehen gleichsam auf der Schwelle von Spätromantik und Moderne. Doch genau da liegt auch das entscheidende Interpretationsproblem: Hat der Interpret bzw. die Interpretin einen eher rückwärts gewandten oder vorwärts gerichteten Blick? Im Vergleich mit klassischen Einspielungen der Suite bergamasque von Monique Haas, Alexis Weissenberg, Svjatoslav Richter oder auch Rafal Blechacz muss man sagen, dass Alice Sara Otts früher Debussy eher „noch romantisch“ klingt, wo er sich bei M. Haas, Weissenberg, Richter und Blechacz „schon modern“ anhört. Es ist sicher kein Zufall, dass die deutsch-japanische Pianistin ihr „Album“ mit Debussys „Träumerei“ („Rêverie“) eröffnet. Die Dramaturgie des Albums „Nightfall“ ist es offenbar, den Hörer in ein Quasi-Nocturne-Dämmerlicht anfänglich einzustimmen und in der Folge dann das ganze Debussy-Ravel-Programm in eine traumhafte Stimmung einzuhüllen. Das aber bedeutet: In diesem Traummusik-Album werden scharfe Kontraste wohlig abmildert und harte Konturen weichzeichnend verwischt.


    Gerade schon bei Debussys „Rêverie“ kann man sich jedoch fragen, ob diesem romantisierenden Stückchen eine nochmals romantisierende Interpretation wirklich gut bekommt. Wird impressionistische Musik an der Schwelle zur Moderne so nicht als biedermeierlich gemütliche Stimmungs-Romantik allzu eingängig gemacht? Ist Debussys Träumerei wirklich nur so etwas wie harmloser Gefühligkeits-Pop zum Kuscheln auf dem Sofa? Walter Gieseking verstand es einst, gerade diesem Debussyschen Traumstück das Klischee von Kitschromantik zu nehmen, indem er den tragenden Rhythmus herausarbeitete, die Musik damit beschwingt ins „Schwingen“ brachte und so über die Schwelle der Romantik zur Moderne hinübertrug: „Rêverie“ ist damit nicht mehr Romantik, sondern ein französisches Bild, ein „Image“ (im Sinne des Titels der Klavier- und Orchesterstücke Debussys) von Romantik. Nichts ist da mehr von der Nachtmystik eines biedermeierlichen Nocturne, welche sich gewaltlos behutsam verwandelt hat in die schwebende Leichtigkeit und sonenstrahlende Traum-Heiterkeit, die wir von impressionistischen Gemälden kennen – so etwas wie dem Duft und Zauber der Tänzerinnen von Edgar Degas oder den Spaziergängerinnen mit Sonnenschirm bei Claude Monet: Romantischer Impressionismus als sanfte Revolution.


    Arturo Benedetti Michelangeli äußerte einst, Debussy müsse man „wie Beethoven“ vortragen, also klar ohne impressionistische Nebelschwaden und die Kontraste scharf herausarbeitend, statt sie dämmernd abzumildern. Alice Sara Otts romantisierende Interpretation der Suite bergamasque macht aber genau das, ist damit gleichsam „Anti-Michelangeli“. Debussys frühe Klavierstücke werden so zur hochromantischen Traumstimmung verklärt, wo andere Interpreten wie Alexis Weissenberg spätromantisches Gefühlsdunkel modernisierend auflichten. Gerade weil die Pianistin Wohlfühl-Pianistik betreibt, verliert Debussys Musik ihre betörenden Reiz-Qualitäten und damit letztlich auch ihre Idiomatik „französischer“ Musik: französische „clarté“, die analytische Schärfe und Konstruktivität einer nicht mehr intuitiven Romantik, die ein „künstliches Paradies“ erschafft, wozu nicht zuletzt auch die harmonische Würze der Dekadenz gehört. Und wo bleibt in Alice Sara Otts wenig präzisionsbeflissener und eher etwas ungelenk wirkender rhythmischer Gestaltung die Pariser Eleganz, in die Debussy seine Grieg-Reminiszenzen kleidet, die Leichtigkeit des Seins des Montmartre? Aus Eric Saties exzentrischem, scharfem Witz, seiner komprimierten Einfachheit und lakonisch reduzierten Empfindsamkeit macht sie breite, klangverliebte Sentimentalität und tappt damit in die Falle des musikalisch fast schon Seichten.


    Und Ravel? Ist Gaspard de la nuit nicht romantische Nachtmusik? Nein, muss man auch hier einwenden! Ravel liest Bertrands Dichtung durch die Brille des Modernisten Stéphane Mallarmé. Aus der romantischen Vorlage wird auf solche Weise musikalisiert ein Stück über den Stillstand der Zeit. Nur so ist „Le Gibet“ zu verstehen, nicht als schauerromantisches Stimmungsbild. Im Geiste von Jean Cocteau, der von der Emendation des Impressionismus bei Ravel sprach, von einer „Musik ohne Sauce“, bekommt „Le Gibet“ trocken und rhythmisch hart im Takt gespielt die existenzialistische Dimension erstarrter Zeit, verdichteter Leblosigkeit. Man kann freilich aus diesem Satz auch betörendes impressionistisches Parfüm machen wie Martha Argerich, einen übersensibilisierten Hyper-Sensualismus morbider, dekadenter Überfeinerung, eine geradezu unerhörte, mit den ausgefeiltesten pianistischen Anschlags- und Pedalisierungskünsten hingezauberte klangästhetische Delikatesse. Auch das ist „modern“. Alice Sara Ott wählt hier den eher biederen Weg sentimentalisierender Breite, vermeidet damit die Extreme – auch im pianistischen Sinne: Das ist weder ein hyperpräziser noch übermäßig klangfarblich differenzierungsreicher Ravel, sehr gut aufgenommen zwar – aber nicht betörend und auch nicht beklemmend. Was schon bei Debussy als romantisierende Glättung auffiel, führt bei Ravel schließlich zur Entdämonisierung der Musik: Die Akkorde in ihrer harmonischen Kühnheit „reiben“ sich nicht aneinander bei Ott. Und diese Reibungslosigkeit führt dazu, dass Otts „Scarbo“ zwar nicht fade gerät, aber auch nicht beunruhigend aufsässig. Wie bei so vielen anderen Interpretationen fehlt auch diesem „Scarbo“ die Manuel de Falla verwandte Herbheit und Härte bohrend-insistierender Rhythmen des Halb-Iberers Maurice Ravel. Eine Enttäuschung ist leider die „Pavane“ zum Schluss, der einfach die Intensität und Tiefe fehlt. Und was hat Alice Sara Ott nur bewegt, die dynamischen Kontraste hier dermaßen einzuebnen, um dann wenig schlüssig eine dynamische Spitze als Schlussbekräftigung zu setzen?


    Wenn man all das durchgehört hat, fragt man sich zum Schluss: Was also erbringt die „Pop“-Idee, Klaviermusik als ein musikalisches „Album“ mit einem sentimentalisierenden Motto zu präsentieren, für einen musikalischen Gewinn? Auch die vorliegende Aufnahme bleibt wie so viele andere Klassik-„Alben“ die Antwort auf diese Frage letztlich schuldig.


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"


    Alice Sara Ott - deutsch-japanische Pianistin


    Interpretationsvergleiche Klavier - Diskussionsforum