Enno Poppe: Arbeit, Wespe & Trauben

  • Lieber moderato,

    ich bin sicher noch kein großer Klärer, aber es fällt mir schon eine Form von Humor auf. Die Vorstellung des Gedichts, dass eine Wespe im Mund uns gesund macht und die richtige Sprache verleiht, durch einen Kontratenor singen zu lassen, finde ich schon verblüffend. Der klare politische Bezug auf die 68-er und die folgende Verinnerlichung werden durch das poetische Bild der Wespe auf jeden Fall infrage gestellt. Mehr kann ich da noch nicht sagen.


    Es grüßt

    Axel

  • Ich habe jetzt endlich meinen Poppe ausgepackt und "Tier" gehört. Vielleicht ist ja besonders überzeugend, wie er von A nach B kommt. Assoziationen mit Tieren hatte ich nicht.

  • es gibt die folgende Ausgabe der Neuen Zeitschrift für Musik zu Enno Poppe.


    kann jemand sagen, ob sich die Anschaffung lohnt?


    nz_201906-heft_648.jpg

  • Was die Beliebigkeit anbelangt: Vielleicht bin ich da doch zu konservativ, aber man hatte und hat meines Erachtens eben bisweilen den Eindruck, dass eine Aufwertung des zu Hörenden entweder durch eine allzu weltumfassende Ideologie oder durch rhetorische Kunstgriffe erfolgt. Ich gebe ein Beispiel aus dem Bereich der Postmoderne, das möglicherweise nicht in der Verantwortung des Komponisten liegt, aber vielleicht prinzipiell einleuchten könnte: Die Sinfonik eines Per Nörgard ist in ihrer Klanglichkeit für mich hoch faszinierend. Die Booklet-Texte, versuchte man sie am Material nachzuvollziehen, würden da das Werk manchmal wieder in größere Ferne rücken, wie mir scheint - bisweilen, nicht generell, und vielleicht auch nur für mich. Glaube ich aber gar nicht ...

    Ich hatte versprochen, mich mit dem Inhalt des Thread so mit der Zeit zu beschäftigen. Das war für mich leider so viel auf einmal, dass es etwas Zeit bedurfte.


    Lange Hörerfahrung hat bei mir sehr häufig bewirkt, dass anfangs "beliebig" klingende Werke nach einiger Zeit sehr wohl eine klare Hörstruktur entfalteten. Das "Beliebige" ist manchmal einfach nur der Eindruck, der bei fehlender Hörgewohnheit entsteht. Diese Hörgewohnheit wird natürlich bei Werken, die auf Strukturen aufbauen, die mittlerweile in den öffentlichen Hörrraum assimiliert sind, automatisch mitgeliefert.


    Das oben von Dir vorgeschlagene Album mit Kammermusik von Enno Poppe gehört bei mir mittlerweile zum einigermaßen häufig gehörten Bestand und siehe, es wird mit jedem Mal hören gehaltvoller. Ich bin mittlerweile von diesem jungen Komponisten beeindruckt. Man braucht die Texte eigentlich nicht, sondern nur ein offenes Ohr und Bereitschaft zum Zuhören. Holz und Tier gehören zu den nachdenklichen Stücken und die gelöschten Lieder beeindrucken durchaus auch mit dynamischen Finessen. Nur bei Rad brauche ich noch Rat.


    Bei den von Dir angesprochenen Texten habe ich manchmal das Gefühl, dass das sprachliche Schablonieren das Hören vereinfachen soll. Das gelingt so aber nie. Textuelle Analyse hilft, wenn Sie denn gut gemacht ist, bei Werken, die man dann gut kennt, weiter neue Aspekte zu entdecken. Ohne Hörerfahrung passiert aber nichts Substantielles.



    ....Und hin und wieder könnte man deren Personalstile schon auch verwechseln als Halblaie. Die Nordländer Magnus Lindberg oder Kaija Saariaho oder Erki-Sven Tüür oder Kimmo Hakola wiederum haben jeweils ein Klarinettenkonzert geschrieben, und diese vier ausgewachsenen Präsentiernummern ähneln sich nicht nur im Spiel mit den hohen Lagen und in ihrer Publikumswirksamkeit, sie ähneln sich irgendwie überhaupt ...

    IMHO (ich habe hier wirklich bei den genannten Komponisten und Komponistinnen viel zu wenig Ahnung) könnte es auch einfach daran liegen, dass mann sie nicht gut genug kennt? Ich kenne Leute, für die hören sich Streichquartette von Mozart, Haydn, Kraus und Beethoven (lassen wir mal die Große Fuge weg! ;)) auch alle gleich an. Da ist schon der Quartettklang am Anfang musikalische Belastung genug. Ich habe etwas Musik von Kaija Saariaho, die ich sehr mag, aber ich würde nicht behaupten den Personalstil erkennen zu können.


    Tatsächlich gibt es aber schon an der Oberfläche hörbare Differenzen zwischen Musik aus dem nordischen, dem slawischen oder dem mitteleuropäischen Bereich, die ich zu erkennen glaube. Ich denke hier, dass die umgebende Landschaft einen prägenden Einfluss hat. Poppe würde ich ohne zu zögern dem etwas konstruktiveren mitteleuropäischem Klangraum zuordnen. Es fehlt das Flächige, was die Musik der Skandinaven und das Tänzerische, was die Osteuropäer gerne nach vorne bringen. Diese Begriffe sind als reiner Behelf zu verstehen und nicht auf die Goldwaage zu legen. Ich hoffe man kann sie ein wenig nachvollziehen.


    Auch wenn es beim ersten Hören vielleicht nicht so auffällt, ist Poppes Musik nicht unmelodiös. Die Melodien sind allerdings etwas verzerrt, eine Weiterentwicklung des melodischen Ansatzes des frühen Kurt Weill etwa. Dazu kommt IMHO ein tiefes Hineinhören in den Klang der Instrumente. Die evozierten Stimmungen ergeben beim Hören einen Sinn. Man hat ein Erlebnis. Das ist in meinen Aufgen ein großer Unterschied zwischen Kunst und Technik.


    Zu Holz: Der leicht aufgeregte kakophonische Start mit den vielen gleichberechtigten Instrumenten, die kaum miteinander interagieren, führt über in einen ruhigen sehr melodischen Teilum dann eine klare Steigerung kurz vor Ende zu finden, die etwas ernsthaft Beunruhigendes hat. Das stück endet mit einem sanften Ausklang. Man kann der Musik nach kurzer Zeit problemlos emotional folgen.


    Zu Tier liesse sich Ähnliches sagen. Das Quartett startet mit einem Blick auf klassische Quartettkomposition aber so, dass man die ganze Zeit das Gefühl hat der Satz wäre gummiartigen Transformationen ausgesetzt. So sind dann auch die enstehenden Stimmungen. Der Klang lässt hier Trauer aufkommen, obwohl sie etwas unspezifisch ist. Vielleicht gibt es ja tatsächlich einen Bezug zu dem Kopf auf dem Cover, wenn ich dem Booklet glauben darf eine Skulptur von Dagmar Poppe. Hier haben wir aber durch die klanglichen Vorausetzungen eines Streichquartetts einen völlig anderen musikalischen Kontext, der eine wesentlich abstraktere aber nicht unernsthafte Stimmung vermittelt, als es zum Beispiel Holz oder die gelöschten Lieder tun.


    Tatsächlich kann ich den zum Teil vernichtenden Urteilen über die modernere Musik kaum folgen, insbesondere bei Poppe kommt man doch ohne viel Textlesen ziemlich schnell zum Ziel.


    Es grüßt der neue Musik gefunden habende

    Axel

  • Danke für Deine Kommentare, Axel! Als wichtig empfinde ich nach deren Lektüre unter anderen Deine - implizite - These, dass tendenziell philosophische oder assoziative Erläuterungen eher dann einleuchten oder mich als Hörer wirklich noch einmal weiterbringen, wenn ich ein Werk öfters gehört habe, es besser kenne. Das scheint mir richtig - aus eigener Erfahrung.


    Daher nochmals kurz zu Nörgard. Die Sinfonien haben mich von Anfang an fasziniert, aber ich konnte sie schlicht so gut wie nicht unterscheiden zunächst. Dabei sind es wirklich Individuen - nicht nur Nörgard selbst macht das geltend. ^^Vielleicht lohnt sich jetzt doch eher ein nochmaliges Lesen der Booklet-Texte.


    Vor vielleicht dreißig Jahren (oder noch etwas länger) ging es mir übrigens so mit dem berühmt-berüchtigten Schweden Allan Pettersson - dem ich damals nur zufällig im Rundfunk begegnete. Da war etwas Geheimnisvolles, völlig Unzugängliches. Das ist heute ganz anders, die Faszination ist aber geblieben. Doch das wäre ein langes und eigenes Kapitel - wobei ich mich hier im Forum an passendem Ort auch schon dazu geäußert hatte.


    Mal schauen, wann ich wieder zu Poppe komme ... Es gibt halt so beinahe unendlich viel ...


    :)Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Ich möchte hier ein wenig ergänzen, als Frucht meiner Arbeit mit Enno Poppe. Die Trauben hängen allerdings immer noch in Nachbars Garten und viel zu hoch ;)


    Im Jahre 2019 kam in der Reihe musica viva des Bayerischen Rundfunks die Nummer 36 heraus mit zwei Werken unseres Komponisten. Das erste heißt Fett und ist aus den Jahren 2018 und 2019. Wir hören hier eine Liveaufzeichnung aus dem Herkulessaal in München zwei Monate nach der Urauffährung, in diesem Fall mit dem Sinfonierorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Susanna Mälkki.


    Jetzt kann ich mich doch wieder erinnern ... :P


    Es fing sehr langsam an. Irgendwie "feldmansch". Dann kam mir alles plötzlich etwas langweilig vor (wahrscheinlich falsche Erwartungshaltung, habe feldmansche Entwicklung erwartet - immer tieferes Reinhören in die Instrumente ), mit der Zeit entwickelte sich aber das Orchester und es wurde richtig fett. Bruckner hätte wahrscheinlich seine Freude gehabt.



    Hier die Scheibe:


    500-500_Poppe-CD_mit-Diapason-400x400.jpg


    Irgendwie haben die (mikro-)tonalen Reibungen und orchestralen Steigerungen bei Poppe für mich einen leicht ironischen Charakter, womit der gewaltige Orchestersatz eine Relativierung erfährt.


    Im Web habe ich ich ein Interview mit Enno Poppe in Helsinki zur Uraufführung gefunden, das ich über den folgenden Link zur Verfügung stelle


    https://www.ricordi.com/de-DE/News/2019/06/Poppe-Fett.aspx


    Es gibt die Uraufführung in Helsinki auch im Web. Susanna Mälkki mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra vom 10. Mai 2019


  • Ja, das wünscht man sich, eine Villa im Grünen ..... Ach nee doch lieber ein Stück von Enno Poppe.


    Man kann gar nicht genug davon bekommen, aber verbreitet ist es nicht .... :(


    Urauführung 2021 in Donaueschingen



    Was sagt der Komponist:


    Zitat

    Werkkommentar von Enno Poppe


    Gerne und immer wieder wird das Wort "verkopft" gebraucht. Dieses soll generell das Nachdenken verunglimpfen und kommt aus einer unguten, sehr deutschen Tradition, die den Geist als Widersacher der Seele begreift. In Wirklichkeit macht das Gehirn alles. Hypnose ist ein zerebraler Vorgang, Trance spielt sich im Gehirn ab. Das Gehirn ist unser größtes Geschlechts organ. Wo soll die Seele sein, wenn nicht im Gehirn? In Hirn beobachte ich, wie sich der Tonraum kontinuierlich verändert. Die Musik ist schnell, die Veränderungen langsam. Der Energiezustand der Musik steigt, je mehr wir die Orientierung verlieren. Immer wieder erlebe ich, dass rational entworfene Ordnungen in einen Taumel und in Kontrollverlust münden. Das liegt daran, dass ich der Musik mehr vertraue als dem Kalkül. Aber all das, die Kontrolle und der Rausch, liegen an einem Ort ganz nahe beieinander: dem Gehirn.