Was ist "Schwulst"?

  • Wahrscheinlich ist es aber besser, den Begriff nicht zu verwenden, oder nur als Verweis auf ihn als historische Kritik-Begriffsprägung einerseits und andererseits als Stilbegriff in der Literaturwissenschaft.

    Man muss die Bezeichnung "Schwulst" aber auch gar nicht als Stilbegriff verwenden, sondern kann ihn im ursprünglich rhetorischen Sinne der Bedeutung einer übertrieben "geschwollenen" Rede nehmen. "Üppigkeit", "Pracht" und "Fülle" müssen eben nicht zwangsläufig schwülstig, überladen etc. wirken. Dann bekommt und behält die Rede "das empfinde ich als schwülstig" ihren Sinn, nämlich dass damit eine Übertreibung bezeichnet wird, die wir als unschön (weil das rechte Maß überschreitend) empfinden. Im Sprachgebrauch sagt man ja auch "das ist mir zu barock" und meint ebenfalls ein Unmaß, was unästhetisch wirkt: Da gibt es zu viele Schnörkel, Verzierungen. Damit ist letztlich keine Abwertung des Barockstils verbunden, sondern es ist konkrete ästhetische Kritik an einem bestimmten ästhetischen Objekt.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ich habe gerade mal (Samstagabend, 20.15, 3sat) in den Ring des Nibelungen (Rheingold) reingehört, ich glaube, aus Bayreuth 2015. Barenboim am Pult. Ich erinnere mich an ein konzertantes Rheingold in Gelsenkirchen, an dem sich der Mensch, der die Übertitel bediente, völlig verwirrt zeigte, sodass ich aus dem versteckten Lachen nicht herauskam. Die obige Rheingold-Produktion zeigte die Untertitel jetzt ganz genau zur Musik. Diesmal habe ich noch mehr gelacht. Diese Texte sind eine Mischung aus Kitsch, Schwulst und "Reimarbeit" (auch als morbus stabreimii bekannt). Die Musik ist toll, obwohl in vielem doch mit Längen. Ich hatte dann die Wahl, den unteren Teil des Bildschirms abzukleben oder auszumachen. Auch angesichts der riesigen Riesen habe ich dann abgeschaltet.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Die obige Rheingold-Produktion zeigte die Untertitel jetzt ganz genau zur Musik. Diesmal habe ich noch mehr gelacht.

    Ich dachte (als Zuschauer bei dieser "Rheingold"-Fernsehübertragung):

    So sinnvoll es sein mag, bei der Übertragung einer Oper im Fernsehen die Texte unten einzublenden, - bei Wagners "Ring" sollte man darauf verzichten. Einen Menschen mit nur ein wenig Sprachgefühl schüttelt es regelrecht, wenn er diese ganz offensichtlich nach einer Stabreim-Rezeptur geradezu zwanghaft fabrizierten schauerlichen sprachlichen Konstrukte lesen muss.

    Das ist - um an das Thema dieses Threads anzuknüpfen - in der Tat sprachlicher Schwulst, und noch einer von der übelsten Sorte. Dieser Richard Wagner trieb ganz offensichtlich lustvoll Unzucht mit der Alliteration. Glücklicherweise hat er seine Musik so angelegt, dass sie diese unzüchtigen sprachlichen Gebilde fast ganz zu verschlingen vermag.

    Übrigens:

    Der Wort "Schwulst" leitet sich sprachgeschichtlich von mittelhochdeutsch "swulst" her und bedeutet dort "Geschwulst" im Sinne von lat."ulcus". Luther hat es bei der Übersetzung des Alten Testaments noch in diesem Sinne verwendet. In der stilkritischen Bedeutung von "überladene Fülle des Ausdrucks" taucht "Schwulst" erstmals 1757 bei Friedrich von Hagedorn (Poet. Wälder 1, 177) auf. Maßgeblich beteiligt an der Verbreitung des Wortes in diesem Sinne sind Gottsched, Lessing und Winckelmann.

    Wenn man "Überladenheit durch eines oder mehrere stilistische Elemente" als das maßgebliche Kriterium für "Schwulst" betrachtet und ihn deshalb negativ beurteilt, dann ist zu bedenken, dass "Schwulst" - wie gerade das Beispiel Wagner zeigt - auch zum künstlerischen Ausdrucksmittel werden kann.

  • Auch ich habe mir die komplette Übertragung angeschaut, und durch die leider nicht abstellbaren Untertitel habe ich auch gelitten. Es ist gut, wenn man bei Theaterbesuchen sehr oft den Text nicht versteht. Gerade bei Wagner ist der Text zwar wichtig, da er die Handlung und auch als bekannt wohl vorausgesetzte Tatsachen nicht zur Nebensache erklärt. Mitunter wurde man gestern daran erinnert, wie "abgehoben" bei Wagner nicht nur die Gedanken, sondern auch die Ausdrucksweise gewesen ist. Deshalb passen diese Bemerkungen auch in diesen Thread.

    Es wäre ohne Untertitel und ohne die oft idiotischen Bewegungen der Akteure (mich hat Günter von Kannen z.B. sängerisch begeistert, darstellerisch und auch kostümiert gar nicht. Die 3 Rheintöchter wurden sicher nicht nach gesanglichen Gesichtspunkten ausgewählt, sondern nach tänzerischen und bodenturnerischen Fähigkeiten. Die beiden Riesen waren lachhaft. Warum mußte John Tomlinson als Chef immer wie gestochen umherrennen? u.a.)

    sicher sehr gut gewesen, denn die meisten Sänger wußten zu überzeugen, ebenso das Orchester mit Barenboim. Als es zu Ende war, habe ich mich gefragt, was das für ein tolles Erlebnis gewesen wäre ohne Bühnenbild, rein konzertant. Das Bühnenbild von Herrn Schavernoch hat mir gar nicht zugesagt. Mal sehen, wie sich Bayreuth nach Corona entwickelt. Die Bilanz der letzten 25-30 Jahre sollte nicht fortgesetzt werden, denn jetzt ist Bayreuth nicht mehr in der ersten Reihe.

    Der zweite Absatz würde evtl. in einen anderen Thread gehören. Eigentlich hatte ich gedacht, daß der gestrige Opernabend von irgendeinem Tamino zu einem neuen Thread genutzt wird.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

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  • Ich habe vor, im kommenden Winter endlich mal mir den ganzen Ring anzuhören. Ich habe ja oben schon gesagt, dass ich die Musik trotz einiger Längen absolut großartig finde. Als Gesamtaufnahme habe die Karajan-Einspielung. Also kein Bild, nur Ton. Vor allem kann ich dann verwirklichen, was ich mit Janacek auch gemacht habe, nämlich nicht immer das ganze Werk zu hören, sondern erst mal nur einzelne Szenen und die dann mehrfach.

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Dieser Richard Wagner trieb ganz offensichtlich lustvoll Unzucht mit der Alliteration. Glücklicherweise hat er seine Musik so angelegt, dass sie diese unzüchtigen sprachlichen Gebilde fast ganz zu verschlingen vermag.

    Diesen Satz werde ich mir notieren, denn das ist der Schlüssel, mit dem man den "Ring" dann doch genießen kann.

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Die letzten Postings bekräftigen mich darin, den Schwulst-Begriff abzulehnen. Er wurde ja mit "nichts dahinter" definiert. Da Wagners Musikdramen konzeptionell und inhaltlich viel dahinter haben, geht es also nur darum, dass man die sprach-künstlerische Leistung nicht wertschätzt. Aber ich bleibe dabei: Ob mit aufwändigen Mitteln oder im Stil der Tageszeitungen, Kunst darf alle Mittel verwenden, und wenn sie besser oder schlechter ist, so ist sie besser oder schlechter, verliert aber nicht die Freiheit, beliebige Mittel einzusetzen. Wobei ich letztens den Ring komplett mit Text genossen habe und den Text als Bestandteil des Gesamtkunstwerks durchaus auch toll fand. Bin halt nicht so engstirnig und durch Barockliteratur und Dekadenz so einiges gewohnt. Mir ist auch nicht klar, wo das Problem sein soll, wir sind mitten im Historismus, die Handlung spielt in grauer Vorzeit, warum soll da nicht sprachgeschöpft werden? Und dass Götter sich nicht wie Proleten ausdrücken, sollte auch einleuchten.

  • Ich akzeptiere natürlich, dass kundige Taminos hier ihren Wagner verteidigen, ich lasse auf "meinen" Janacek ja auch nichts kommen. Bei mir ist das mit Wagner allerdings so: "Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt."

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Über Wagners Stabreime wird sich immer wieder lustig gemacht. Man darf seine Dichtungen aber einfach nicht ohne die Musik betrachten.


    Ein lustiges Beispiel für Schwulst (beim Text) ist für mich aus dem "Waldmärchen" von Gustav Mahler, von ihm selbst gedichtet. Da heißt es an einer Stelle ".... gar lieblich ohne Maßen..." Das parodiere ich immer so, dass ich aus dem "ie" ein "ei" mache. Dann heißt das ".... gar leiblich ohne Maßen..." Freud lässt grüßen! :D


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Ich akzeptiere natürlich, dass kundige Taminos hier ihren Wagner verteidigen, ich lasse auf "meinen" Janacek ja auch nichts kommen. Bei mir ist das mit Wagner allerdings so: "Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt."

    Vielleicht ist das Erhabene bei skeptischer Betrachtung immer lächerlich ...

  • Ich habe nie verstanden, was an Wagners Texten so lächerlich sein soll. Niemand Geringerer als Arthur Schopenhauer hat die Libretti des Rings des Nibelungen doch literarisch gelobt - und dieser kannte noch nicht einmal die Musik dazu. Die Texte können durchaus auch für sich allein genommen bestehen.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich habe nie verstanden, was an Wagners Texten so lächerlich sein soll. Niemand Geringerer als Arthur Schopenhauer hat die Libretti des Rings des Nibelungen doch literarisch gelobt - und dieser kannte noch nicht einmal die Musik dazu. Die Texte können durchaus auch für sich allein genommen bestehen.

    Lieber Joseph,


    es gibt sicherlich viele durchaus gelungene Stellen, die Wagners Unzucht mit dem Stabreim zeugte, aber: mal abgesehen von dem notorischen "Wagalaweia" - wenn ich Zeilen lese oder höre wie "Als zullendes Kind zog ich dich auf" (Mime zu Siegfried) oder "Eine zierliche Fresse zeigst du mir da, lachende Zähne im Leckermaul" (Siegfried zum Drachen), dann kann ich mir einfach nicht helfen: der Länge nach liegend lache icch laut.


    Nichts für ungut!


    Mme. Cortese

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)

  • Da Wagners Musikdramen konzeptionell und inhaltlich viel dahinter haben, geht es also nur darum, dass man die sprach-künstlerische Leistung nicht wertschätzt.

    Gehört nicht zum Thema dieses Threads. Gleichwohl zur Klarstellung (mit der Bitte um Entschuldigung):


    Dass Wagners Musikdramen "konzeptionell und inhaltlich viel dahinter haben", - wer würde das bezweifeln? Es ist sogar bekannt, welches ideologische Konzept hinter Wagners Ring-Sprache steht und welche Funktion darin dem Stabreim zukommt. Wagner stand der modernen Sprache kritisch gegenüber. Für ihn war sie ein konventionelles normatives Gebilde, das vorgibt, wie wir zu denken und wie wir unsere Gefühlswelt kontrollieren und beherrschen sollen. Den Endreim lehnt er ab, spricht von ihm als einem "phantastischen Trug", weil er nur auf eine formale Rundung der poetischen Sprache abzielt. Er täuscht, so meint er, eine innere Einheit vor, die herzustellen die "hinaufgeschraubte Verstandessprache" völlig unfähig ist, und er stellt ein "welkes Hinterteil" dar, das der Dichter als "kindisches Geklingel hinter sich herschleppt.

    Im Stabreim hingegen werden "verwandte Sprachwurzeln in der Weise zueinander gefügt, daß sie, wie sie sich dem sinnliche Gehöre als ähnlich lautend darstellen, auch ähnliche Gegenstände zu einem Gesamtbilde von ihnen verbinden, in welchem das Gefühl sich zu einem Abschlusse über sie äußern will."


    So die Theorie, wie Wagner sie in seiner Schrift "Oper und Drama" ausführlich darstellt. Der Sprache seiner Operntexte liegt also eine Ideologie zugrunde, aus der sich das Strickmuster herleitet, nach dem sie gefertigt ist. Denn das ist es, was sie, löst man sie von der Musik, der sie ja zugedacht ist, so fragwürdig und manchmal schwer erträglich macht. Sprachliche Gebilde wie dieses: "Garstig glatter glitschiger Glimmer! Wie gleit' ich aus! Mit Händen und Füssen nicht fasse noch halt' ich das schlecke Geschlüpfer!" entlarven sich, wenn sie einem rein als Text entgegentreten, als nach einer Rezeptur konstruiertes Machwerk, und damit als das Gegenteil von wahrer Poesie. Anders ist das, wenn dies in Einheit mit der ihnen zugehörigen Musik geschieht, denn darin geben sie ihr textliches Eigensein partiell auf und werden zum Bestandteil eines in sich stimmigen musikalischen Gebildes.


    Bemerkenswert ist freilich die Kreativität, die Wagner als Fertiger von derlei Texten entfaltet. Er hielt sich ja tatsächlich für den bedeutendsten und größten Dichter seiner Zeit. Und tatsächlich sind ihm auch in seiner Stabreimsprache manchmal große lyrische Würfe gelungen, wie dieser zum Beispiel:


    Winterstürme wichen dem Wonnemond,
    in mildem Lichte leuchtet der Lenz;
    auf linden Lüften leicht und lieblich,
    Wunder webend er sich wiegt;
    durch Wald und Auen weht sein Atem (...)


    Ist leider die große Ausnahme.

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