Ich habe über diese interessanten Aspekte nachgedacht und sie mit meiner eigenen Erfahrung verglichen, nicht auf einem Instrument, sondern in der Chormusik. Im normalen Kirchenchor singt man schöne Choräle, auch Schütz, Bach ist meist schon zu schwer, Händel geht mit ganz viel üben. Hier aber, im Messias, scheitern normale Kirchenchöre meist an dem Chor "Durch seine Wunden sind wir geheilet...". Hier verwendet Händel nämlich die alte polyphone Schreibweise, die Kirchenchöre meist nicht beherrschen. Jedes Jahr gehe ich nach Essen in die Philharmonie, wo am 2. Weihnachtstag das "Weihnachtsoratorium zum Mitsingen" angeboten wird. Unten, nach Stimmen sortiert, sitzen die Sänger, oben die Zuhörer. Die Frauen, alle mit den blauen Bach-Klavierauszügen bewaffnet, machen auch in der Darbietung einen guten Eindruck. Für die Männer, besonders die Tenöre, kann man das nicht sagen. Die ersten drei Kantaten sind relativ leicht, weil sie überwiegend Choräle enthalten. Es gibt aber zwei Teufelsstücke, das ist der erste Chor (Jauchzet, frohlocket) und das "Ehre sei Gott". Das ist polyphon und richtig schwer. Folge: wir Tenöre steigen da regelmäßig aus, auch ich, obwohl ich das eigentlich kann.
Für mich begann meine Chorkarriere erst mit einer Männerschola (6 Männer, Literatur: Gregorianik und 14. Jahrhundert). Unser Dirigent hat uns da alles ausführlich erklärt, hinterher waren wir süchtig danach, obwohl die gregorianische Einstimmigkeit richtig schwer ist. Später dann im Vokalensemble war für mich der Schlüssel zum Verständnis der meisten Chormusik das Singen der "Missa Papa Marcelli" von Palestrina. Als erstes habe ich gelernt, dass jede Stimme gleich wichtig ist und der Tenor nicht nur dazu da ist, den Sopran zu "unterfüttern". Danach habe ich gelernt, dass die Musik so schwer nicht ist, dass man aber nicht rauskommen darf. So ging das weiter in allem meinen Vokalensembles: wir kriegten immer alles erklärt, obwohl ich die ganz theoretischen Dinge nicht so konnte. Ich habe auch selber an den Analysen mitgewirkt. Ich kann mich erinnern, dass ich für "Brittens Hymn to St. Cecilia" eine Übersetzung und eine Analyse des zugrundeliegenden Textes von T.S.Eliot erstellt habe.
Zudem lernt man natürlich, wie die Verbindung von Text und Musik sich gestaltet. Es ist gut zu wissen, dass die Wurzeln von Schütz in Venedig liegen, dass es darauf ankommt, die Sprache und die Musik harmonisch zu verbinden. Bei Bach ist das anders. Er behandelt die Chorstimmen wie Streichinstrumente, was für untrainierte Stimmen erstmal richtig schwer ist.
Fazit: In einem kompetenten kleinen Chor ist die Notwendigkeit von Analysen unverzichtbar; dazu muss der Leiter fähig sein, was er aber immer ist, sonst würde er einen solchen Chor gar nicht leiten.