Gustav Mahlers „Zweite“ und die Funktion der Liedmusik darin


  • Vorbemerkung:
    Dieser Thread stellt die Fortsetzung desjenigen dar, der im Kunstlied-Forum unter dem Titel Gustav Mahler. Zur Rolle und Funktion von Liedmusik in seiner Sinfonik eröffnet wurde. Die Gründe für die Verlagerung in diese Abteilung des Forums wurden dort in Beitrag 15 dargestellt.


    Die zweite Symphonie soll nicht in Gänze einer Betrachtung unterzogen werden. Von der Fragestellung des Threads her sind besonders der dritte, der vierte und der letzte Satz von Belang, der vierte insbesondere deshalb, weil hier erstmals das gesanglich vorgetragene Lied, die vierte Form also, in der Mahler Liedmusik einsetzt, Eingang in seine Sinfonik gefunden hat. Da aber, wie bei Mahler üblich, die Sätze in einem engen inneren Zusammenhang stehen, ist ein kurzes Eingehen auf die beiden ersten Sätze unumgänglich, weil ansonsten die Frage nicht zu klären wäre, warum auch in diese Symphonie Liedmusik einbezogen wurde und welche Funktion sie in diesem Fall erfüllt.

    Dass die Zweite Symphonie in ihrer kompositorischen Aussage-Absicht an die „Erste“ anbindet, ist, wie schon in den vorangehenden Betrachtungen deutlich wurde, durch Äußerungen Mahlers gut belegt. In einem Brief an Max Marschalk hat er sich darüber ausführlich geäußert, und daraus wird ersichtlich, dass er die Musik der „Zweiten“ auf der Grundlage und in Fortsetzung jenes narrativen personalisierten Konzepts komponiert hat, das der „Ersten“ zugrunde liegt.

    Der erste Satz der „Zweiten“ wurde von Mahler am 10. September 1888 vollendet, er entstand also in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur „Ersten“, und Mahler verlieh ihm den Titel „Todtenfeier“. Damit griff er auf ein literarisches Werk des polnischen Autors Adam Mickiewicz zurück, das ihm durch die Übersetzung von Siegfried Lipiner zugänglich geworden war, ohne dass dessen Inhalt allerdings Einfluss auf die Musik des Satzes hatte. Mit dem kompositorischen Konzept der „Zweiten“ muss Mahler aber lange gerungen haben, denn nach Vollendung des ersten Satzes erwog er erst einmal, diesen als symphonische Dichtung zu publizieren, verwarf diesen Gedanken aber wieder und griff seine kompositorische Arbeit am Konzept der „Zweiten“ erst im Jahr 1893 wieder auf, in der Zeit, in der auch die Lieder „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ und „Urlicht“ entstanden, die ja in unterschiedlicher Weise dann in die sinfonische Musik einbezogen wurden

    Nach dem Brief an Max Marschalk schwebte Mahler bei der Komposition der Zweiten Symphonie folgende Geschichte vor:
    Im ersten Satz, der „Todtenfeier“ also, wird der „Held“ zu Grabe getragen, musikalisch versehen dabei allerdings mit einer Art Rückblick auf die Kämpfe seines vergangenen Lebens. In den nachfolgenden Sätzen setzt sich die Musik mit den Fragen nach dem Warum seines Leidens und dem Sinn seines Lebensweges auseinander: Im zweiten Satz in Gestalt seliger Erinnerungen an die schönen Seiten desselben, im dritten in der Vergegenwärtigung solcher Lebensphasen, in denen ihm die Welt „verkehrt und wahnsinnig“ erschien. Hier kommt die Liedmusik der „Fischpredigt“ zum Einsatz.
    Gegenstand des vierten Satzes ist, dies in Gestalt eines gesanglichen Vortrags des Liedes „Urlicht“, der aus tiefster Seelennot erfolgende Ruf des auf die Abgründe der menschlichen Existenz zurückgeworfenen Protagonisten nach Heimat und Erlösung in der göttlichen Transzendenz, und im fünften und letzten Satz ereignet sich dann schließlich die unter Einsatz von Chormusik erfolgende musikalische Evokation von Erlösung durch Jüngstes Gericht und Auferstehung. Von daher kursiert diese Symphonie auch unter dem Titel „Auferstehungssymphonie“.

    Wie bei der Ersten neige ich auch bei der Zweiten dazu, die Musik abgelöst vom narrativen Konzept Mahlers zu hören und zu interpretieren und möchte sie auf diese Weise in ihrer Aussage auf die Ebene existenzieller Allgemeingültigkeit heben.
    Gegenüber Natalie Bauer-Lechner soll Mahler die Auffassung vertreten haben, dass die ersten vier Sätze im Grunde allesamt Retrospektiven darstellen und erst der fünfte und letzte Satz gegenwärtiges Geschehen beinhaltet. Das entspricht seinem Grundkonzept der Finalsymphonie, nach dem sich der Sinn der musikalischen Aussagen aller dem letzten vorausgehenden Sätze erst aus eben diesem erschließt.
    Das ist in diesem Fall der Zweiten ja wohl auch tatsächlich so, es hat aber nicht zwangsläufig zu Folge, dass man ihre Musik nach dem Raster von Mahlers „Geschichte“ hören und verstehen muss. Man könnte den ersten Satz, sich lösend von der Vorstellung, dass sich das im Kopf einer am offenen Grab stehenden Trauergemeine abspielt, als generalisierende, weil auf das Wesentliche ausgerichtete Beschreibung der Phasen eines menschlichen Lebens verstehen. Er stellte dann im Konzept der Symphonie eine Art Exposition dar.

    Die nachfolgenden drei Sätze wären dann als musikalische Evokation von existenziell bedeutsamen Verhaltensweisen und damit einhergehenden Ereignissen in einem Leben zu verstehen, das , wie der erste Satz das vernehmlich werden lässt, wesenhaft ein kämpferisches Ringen um dessen Bewältigung darstellt. Und tatsächlich hat Mahler für diese ja auch die Bezeichnung „Intermezzi“, bzw. „Episoden“ verwendet.

    Der zweite Satz wäre dann als breit angelegte Entfaltung einer Haltung aufzufassen, wie sie in Gestalt des zweiten Themas des ersten Satzes schon exponiert wurde: Die Flucht in die Imagination von heiler und schöner Welt, die aber, eben weil es sich um einen imaginativen Ausbruch aus der realen Welt handelt, nicht nur im ersten Satz alsbald, sondern am Ende des zweiten eine Destruktion erfährt. Der dritte Satz stellte mittels einer Paraphrase des „Fischpredigt“-Liedes auf schonungslos brutale Weise die Erfahrung der Wahrheit dieser Lebenswelt als ein absolut sinnloses Kreisen um sich selbst dar. Der vierte verkörperte in Gestalt eines Liedes mit dem Titel „Urlicht“ eine weitere Phase der Flucht aus dieser Welt: Dieses Mal in Gestalt einer gesanglich artikulierten Glaubensgewissheit des Aufgehoben-Seins bei Gott.

    Wenn man die ersten vier Sätze in diesem Sinn als gleichsam episodenhafte Bausteine einer Lebenswelt auffasst und versteht – und Mahler verstand jede seiner Symphonien als Versuch „eine Welt aufzubauen“, wie er das selbst formulierte -, wobei der erste Satz die Funktion einer alles umfassenden Skizze und Charakterisierung dieser Lebenswelt hätte, dann käme dem letzten Satz die Aufgabe zu, das Aufgehoben-Sein dieses Lebens, das im unmittelbar vorangehenden und ohne Pause in ihn übergehenden vierten Satz nur als aus der Suche nach Hilfe aus der Not hervorgehende Beschwörung Ausdruck fand, nun als absolute Gewissheit emphatischen Ausdruck zu verleihen.

    Und wieder dient Mahler dabei das Wort als das maßgebliche Ausdrucksmittel: Ein Klopstock-Text, den er durch eigene Worte um zwei Drittel erweiterte.
    Und darin, wie insgesamt im letzten Satz, wird mehr als in der Ersten das immense menschlich-persönliche, wesenhaft weltanschaulich-philosophische Ausdrucksbedürfnis Mahlers sinnfällig. Mahler macht aus den gläubige Ergebenheit in Gottes Willen zum Ausdruck bringenden acht Versen Klopstocks durch vierundzwanzig hinzugefügte und die ihnen durch das Mittel des Chores Ausdruck verleihende Musik eine regelrechte Verkündigung nach der Parole: „Hör auf, zu beben! Bereite dich, zu leben“! Du lebst und leidest nicht umsonst, der Tod kann dir nichts anhaben, denn „Aufersteh´n, ja aufersteh´n wirst du!"

  • Zu Satz 1

    Kurz soll auf die Musik des ersten und des zweiten Satzes, ihre Grundstruktur und ihre Aussage eingegangen werden, nur in dem Maß, wie es erforderlich ist, um der für die Problemstellung des Threads maßgeblichen Frage nach dem Sinn und der Funktion von Liedmusik in dieser Symphonie nachgehen zu können. Die Musik des ersten Satzes ähnelt in ihrer Grundstruktur der des vierten Satzes der Ersten. Sie setzt zwar nicht mit einem schmetternden Fortissimo ein, wie dieser, wohl aber ebenfalls fortissimo, nun aber in einer Art schroff-unruhigem, fast bedrohlich wirkenden Gestus. „Allegro maestoso. Mit durchaus ernstem und feierlichem Ausdruck“ lautet die Anweisung. Mit Fortissimo-Tremoli der Violinen und Violen in der Grundtonart c-Moll beginnt die Musik. Aber schon im zweiten Takt setzen die Celli im Unisono mit den Kontrabässen mit Sechzehntel-Figuren ein, die sie bis Takt 20 fortsetzen, gegen Ende allerdings durch das Aussteigen der Kontrabässe klanglich etwas dünner werdend. In ihrem Auf und Ab strahlen sie große, durchaus etwas unheimlich wirkende Unruhe aus.

    Von Takt 18 an erklingt, von den Hörner vorgetragen, das Hauptthema: Ein langsamer, in vier partiell rhythmisierten Schritten sich vollziehender Anstieg über eine Oktave, dem nach einem Quartfall ein fallend angelegte triolische Achtelfigur nachfolgt, die in einen nun dreischrittigen, aber wieder rhythmisierten Fall über ein Oktave zum Ausgangston „C“ in tiefer Lage übergeht.
    Signalhaft wirkt diese Figur aber nicht, auch weil sie piano vorgetragen wird, nicht schmetternd hinaustönend, sondern rufend. Es folgen ihr ja auch drei als Quintsprünge angelegte rufartige Signale nach, und das Ganze mutet an wie eine Eröffnung zur nachfolgenden Erzählung eines Lebens, die in ihrem ersten Stadium in Gestalt einer sich bis zu Takt 49 erstrechen Variation dieses Thema einsetzt. Nachdem die Musik von Takt 37 an in eine expressive Fallbewegung im dreifachen Forte übergegangen ist, der ein von den Blechbläsern getragener chromatischer Wiederanstieg mit anschließendem auftrumpfendem Signalgestus nachfolgt, beginnt sie, sich in ihrer Expressivität wieder zurückzunehmen, und dies auf eindrucksvolle Wiese in Gestalt eines langsamen Zerbröckelns des Hauptthemas.

    Nun schließt sich, beginnend von Part. Z 3 an, als zweites Thema und zweites Stadium eine Episode in E-Dur. Die Musik entfaltet sich nun in klanglich lieblich anmutenden, weil von liedmelodischem Geist beseelten Bewegungen, schwingt sich, den Marsch-Gestus der vorangehenden hinter sich lassend, in hohe Lagen empor, um in einer Art Wellenbewegung dort erst einmal zu verharren und sich anschließend auf ebenso ruhig-beschwingte Weise wieder in mittlere Lage abzusenken.

    Das, diese vorwiegend von den Streichern getragene und in Dur-Harmonik gebettete wellenartig-rhythmisierte Entfaltung über mittlere und hohe tonale Ebenen hin ist der Geist, der sie in dieser Episode prägt, und diese soll wohl als musikalische Evokation einer Phase der inneren Beseligung und Beglückung aufgefasst und verstanden werden, wie sich in diesem Leben, das in seiner Gänze Gegenstand des ersten Satzes ist, immer wieder einmal ereignet hat. Aber schon nach sechzehn Takten bricht, eingeleitet mit aufsteigend angelegten fff-Staccato-Sechzehntelfiguren der Celli und Kontrabässe der Geist der Hauptfigur wieder in sie ein und findet Ausdruck in den Bläsern, sich in Gestalt immer neuer nach oben gerichteter Anläufe artikulierend, in die schließlich auch die Streicher einstimmen, auf dass dann schließlich alle Instrumentengruppen in die Wiederkehr der Musik des Satzanfanges einstimmen, die nun einen geradezu emphatisch expressiven Ton annimmt

    War es nur eine kurze Episode innerer Beglückung, wie es dieses Leben so an sich hat? Die Musik will das nicht gelten lassen, und so kehrt sie, nachdem die Musik des Hauptsatzes im Pianissimo in sich zusammengesunken ist, mit Part. Z 7 wieder zum Gestus des melodisch geprägten Idyllik zurück, beharrt darin nun sogar noch länger. Die Violinen stimmen wieder wie beim ersten Mal ihre liebliche Anstiegsfigur an, und in der Folge steigern sie sich, nun darin von den Holzbläsern mit klanglich lieblichen Figuren begleitet und sogar von den Hörnern unterstützt, in den von liedmelodischem Geist getragenen Ausdruck von innerer Beseligung, etwa in Gestalt von aus hohen Lagen erfolgenden terzenbetonten Fallbewegungen und nachfolgenden Anstiegen, in die die Hörner ihrerseits mit Terzenfiguren einstimmen.
    Aber eine untergründige Unruhe west darin an, die Musik verfällt in ein Auf und Ab im Marschrhythmus, der ja den Geist des ersten Satzes grundlegend prägt. Und dann ist es zu Ende mit der neuerlichen Beschwörung von Idylle. Die Streicher gehen zu sprunghaften Bewegungen im Fortissimo über, verharren lange in hoher Lage, die Hörner setzen laue Rufen hinein und die Trompeten folgen ihnen mit schmetternden Signalen nach.

    Die Musik ist wieder zu der in Moll gebetteten lauten Unruhe übergegangen, mit der sie einsetzte. Das Leben, das sie in seinen wesentlichen Zügen abbildet, ist eben keines der geruhsamen Idylle. Die ist nur ein Wunschtraum, dem nur zwei kurze Phasen der Musik des ersten Satzes vergönnt sind, in die jedes Mal die realweltliche Musik auf geradezu schroffe Weise einbricht, um zu verdeutlichen, dass er keinen Bestand haben kann.

    Die Blechbläser machen das in der Weise sinnfällig, dass sie immer wieder den in c-Moll gebetteten ersten Teil des Hauptmotivs fortissimo erklingen lassen, wobei die Streicher sie mit hektischen, aus hoher Lage erfolgenden Fallbewegungen darin begleiten. Und schließlich lassen sogar die Hörner von Takt 270 an (Part. Z 16) „sehr bestimmt“ das „Dies irae-Motiv“ erklingen, das im Finale eine zentrale Rolle spielen wird.
    Bemerkenswert ist freilich, dass in die immer wieder aufs Neue sich ereignenden und vorwiegend von den Blechbläsern vorangetriebenen Ausbrüche in extreme Expressivität auf einmal, erst von der Flöte, dann von der Solo-Geige, die Melodik der E-Dur-Episode auf überaus zarte, ja sogar zärtliche Weise zurückkehrt.

    Das ist typischer Mahler: Er will sich nicht abfinden mit der brutalen und gnadenlosen Härte und Schroffheit der Lebenswelt, und auch nicht mit ihrer Verlogenheit und Unveränderlichkeit, wie sie der dritte Satz zum Gegenstand hat. Und deshalb immer wieder das harte Nebeneinandersetzen von zarter, wesenhaft liedmelodischer Musik und solcher, die auf geradezu brutale Weise laut, hart und schroff auftritt.

  • Zu Satz 2

    Der weitere Verlauf der Musik der Musik des ersten Satzes, die bezeichnenderweise in einem gewaltigen, von allen Instrumenten-Gruppen ausgeführten und am Ende mit einem ppp-Beckenschlag kommentierten Fortissimo-Unisono-Sturz endet, soll, weil das für die Thematik dieses Threads irrelevant ist, nicht weiter beschrieben werden. Auf die Musik des zweiten Satzes ist aber noch kurz einzugehen. Sie wenigstens in ihrer Aussage zu erfassen, ist sehr wohl von Bedeutung für die nun wirklich wichtige Frage, warum Mahler im dritten und vierten Satz kompositorisch wieder zu Liedmusik gegriffen hat.

    Es ist ein Ländler, der da aufklingt, und einer, dessen Musik in ihrem zentralen, gleich den Anfang bildenden Thema überaus eingängige, gar liebliche Klanglichkeit atmet und darin seine Nähe zu böhmisch-ländlicher Volksmusik gar nicht leugnen will. „Andante moderato. Sehr gemächlich. Nie eilen“ lautet die Vortragsanweisung“, und die Streicher haben das Sagen. Sie lassen eine Melodie erklingen, die, und das auftaktig, sich „grazioso“ und „sempre piano“ in Gestalt von im Dreiachteltakt rhythmisierten, weil aus einer Kombination aus einem Achtel und vier Sechzehnteln bestehenden Figuren aus tiefer in höhere Lage emporschwingt, sich dort mit Zweiunddreißigstel-Vorschlägen in ihrer Seligkeit kurz auslebt, um danach in eben dieser Beschwingtheit wieder in tiefe Lage zurückzukehren.

    Natürlich ist sie in Dur-Harmonik, As-Dur-als Grundtonart gebettet, und das kurze Moll, das sich in sie einschleicht, bevor sie erneut zum Gestus ihres Anfangs zurückkehrt, ist kein Anflug von Schmerzlichkeit, sondern beseligter Innigkeit. Und die drängt voran, bringt einen im Walzertakt sich entfaltenden Schreitrhythmus in die Musik, wobei die Celli mehr und mehr die Führung im Ausdruck der Melodik übernehmen. Und am Ende dieser ersten Phase der Ländler-Musik finden sie sich mit den Violinen zu einem Ausklingen in einer sich mehrfach wiederholenden Figur zusammen, die einem Auf und Ab in Sechzehnteln und einem Fall über ein großes Intervall besteht und darin immer noch den tänzerischen Ländler-Geist zum Ausdruck bringt.

    Mit einem rhythmisierten, auf der tonalen Ebene verharrenden Hörner-Signal, in das die Violinen mit einer geradezu spitz anmutenden, weil staccato ausgeführten und in extrem hoher Lage einsetzenden Fallbewegung einstimmen, setzt mit Part. Z 3 die zweite Phase der Ländler-Musik ein. Hier herrscht gis-Moll vor. Die Staccato-Triolen klingen vier Takte lang weiter fort, von allen Streichern ausgeführt und von den Hörnern pianissimo mit einem repetierenden Sechzehntel begleitet. Dann lässt die Flöte eine liebliche Melodie in hoher Lage erklingen, die von den Klarinetten zwei Takte lang weitergeführt wird, schließlich aber erlischt. Beharrlich weiter ertönen aber die Staccato-Triolen, eine verminderte Tonart nach der anderen durchlaufend, bis schließlich bei Part. Z 4 die Klarinetten zum Vortrag einer Melodie anheben, die Elemente des Anfangsthemas enthält und in die nach und nach die Flöten, die Fagotte und die Hörner einstimmen. Aber die Streicher melden sich wieder mit ihren Staccati, gehen darin sogar zu einem drängenden Gestus über, bis sie schließlich ins Stocken geraten, eine Triole im Wechsel mal von den Violinen, dann von den Celli und Kontrabässen ausgeführt wird. Und dann setzt, nach einer eintaktigen Generalpause die Reprise der der Ländler-Passage in ihrer ganzen Länge ein.

    Was nun nachfolgt, soll und muss nicht in dieser detaillierten Weise weiter beschrieben werden. Der Geist dieses zweiten Satzes ist in seiner musikalischen Grundsubstanz dargestellt. Natürlich – möchte man fast sagen – ereignen sich nun die vorwiegend von den Hörnern ausgeführten typisch Mahlerschen Einbrüche von Expressivität in die melodische Ländler-Idyllik, und die stellt sich im weiteren Verlauf des Satzes als ein permanentes Nebeneinander von Variationen des Ländler-Grundthemas und seine Destruktion durch die Bläser dar. Bis dann sich schließlich etwas überaus Reizvolles ereignet: Mit einem Mal erklingt Teil des Ländler-Themas in einem den Geist des Tanzes gleichsam auf den Punkt bringenden Staccato, an dem sich alle Streicher beteiligen, um danach in eine überaus gefühlvoll-expressive Legato Fortführung des Themas überzugehen.
    Man empfindet das als Aufgipfelung des wesenhaft lyrischen und tänzerisch-beschwingten Geists dieses Satzes. Und in diesem klingt er auch aus, in einem Harfen-Arpeggio bezeichnenderweise, dem die Streicher zum Schluss zwei Pianissimo-Akkorde beigeben.

    Auch wenn es in diesem zweiten Satz Einbrüche und Verfremdungen des den Ländler-Geist verkörpernden und in immer neuen Varianten auftretenden Grund-Themas gibt, dieses „Intermezzo“, und als solches hat Mahler die Musik ja konzipiert, steht in einem bemerkenswerten, gar nicht mehr steigerbaren Kontrast zur Musik des ersten Satzes.
    Mahler war sich dessen natürlich bewusst, und er meinte sich sogar dafür entschuldigen zu müssen, in einem Brief an den Dirigenten Julius Buths, der die Zweite Symphonie in Düsseldorf aufführte. Er sprach darin von einer „Schwäche der Disposition“, „weil der 2. Satz nicht als Gegensatz, sondern als bloße Diskrepanz nach dem 1. wirkt.“

    Aber abgeändert hat er ihn nicht. Und das aus gutem Grund, verkörpert er doch in gleichsam ausführlicher, alle Dimensionen erfassender Weise die musikalische Evokation von Wesensmerkmalen der Lebenswelt jener menschlichen Existenz, die Gegenstand der Musik der ersten und der zweiten Symphonie ist. Von Bedeutung dabei ist allerdings:
    Während im ersten Satz dieses lebensweltliche Element nur als kurze und alsbald wieder destruierte Idylle auftaucht, wird es im zweiten voll ausgelebt. Nun aber nicht als Deskription von Lebenswelt, sondern – so verstehe ich diesen Satz – als Reklamation. Als Ausdruck der Überzeugung Mahlers, dass menschliche Existenz nur in einer solchen Welt zu sich selbst und ihrer Sinnerfüllung finden kann.

  • Zu Satz 3

    Dem dritten Satz liegt das von Mahler selbst komponierte Lied „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ zugrunde. Eine Besprechung desselben findet sich hier: Gustav Mahler. Seine Lieder, vorgestellt und besprochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und Publikation. Liedkomposition und Arbeit am dritten Satz der Zweiten Symphonie erfolgten in enger zeitlicher Nachbarschaft. Das Klavierlied lag am 8. Juli 1893 fertig vor. Die Niederschrift der Partitur des Symphonie-Satzes begann am 16. Juli, vollendet war sie am 1. August 1893. Ob Mahler von vornherein die Absicht hatte, Melodik und Klaviersatz des Liedes in sinfonische Musik umzusetzen, oder dabei einem spontanen Einfall folgte, lässt sich nicht sicher, das heißt auf eine eindeutige Aussage seinerseits gestützt, ermitteln.

    Natalie Bauer-Lechner scheint davon ausgegangen zu sein, dass er das ursprünglich nicht vorhatte. Denn man kann bei ihr lesen:
    „Ich fragte Mahler, wie es gekommen sei, daß ihm die >Fischpredigt< zum mächtigen Scherzo der Zweiten anwuchs, ohne daß er zunächst daran gedacht und es gewollt.“
    Mahlers Antwort, wie sie sie überlieferte, war ausführlich und vielsagend, auf den Aspekt, ob die Verwendung der Liedkomposition für den dritten Satz tatsächlich zunächst „nicht gewollt“ war, ging er aber nicht ein.

    Er entgegnete ihr:
    „Es ist ein seltsamer Vorgang! Ohne daß man anfangs weiß, wohin es führt, fühlt man sich immer weiter und weiter über die ursprüngliche Form hinaus getrieben, deren reicher Gehalt doch, wie die Pflanze im Samenkorn, unbewußt in ihr verborgen lag. Daher scheint mir, könnte ich mich nur schwer in den festgesetzten Grenzen halten, wie sie ein Operntext (…) oder auch nur das Vorspiel zu einem fremden Werke einem auferlegen.
    Etwas anderes ist es bei Liedern, aber nur darum, weil man da mit der Musik doch viel mehr ausdrücken kann, als die Worte unmittelbar sagen, oder man wieder sein eigener Dichter wird. (…) Der Text bildet eigentlich nur die Andeutung des tieferen Gehaltes, der herauszuholen, des Schatzes, der zu heben ist.

    „In der >Fischpredigt< (…) herrscht (…) eine etwas süßsaurer Humor. Der heilige Antonius predigt den Fischen, und seine Worte verwandeln sich sofort in ihre Sprache, die ganz besoffen, taumelig (in der Klarinette) erklingt, und alles kommt daher geschwommen. Ist das ein schillerndes Gewimmel: die Aale und Karpfen und die spitzgoscheten Hechte, deren dumme Gesichter, wie sie an den steifen, unbeweglichen Hälsen im Wasser zu Antonius hinaufschauen, ich bei meinen Tönen wahrhaft zu sehen glaubte, daß ich laut lachen mußte. Und wie die Versammlung dann, da die Predigt aus ist, nach allen Seiten davon schwimmt: >Die Predigt hat g´fallen, / Sie bleiben wie alle< - und nicht um ein Jota klüger geworden ist, obwohl der Heilige ihnen aufgespielt hat. (…)“.
    Und bemerkenswert ist der Zusatz:
    „Die Satire auf das Menschenvolk darin werden mir aber die wenigsten verstehen.“

    Was man hier über das Wesen und die Genese des Kompositionsprozesses erfährt, ist interessant, für die Fragestellung dieses Threads aber nicht von Belang. Anders ist das mit Mahlers Feststellung:
    „Etwas anderes“ - (als im Falle von Operntexten) – „ist es bei Liedern, aber nur darum, weil man da mit der Musik doch viel mehr ausdrücken kann, als die Worte unmittelbar sagen, oder man wieder sein eigener Dichter wird.“

    Darin findet sich für mich schon die Antwort auf die Frage, warum Mahler für die Musik des dritten Satzes auf die Melodik eines Liedes als deren Quellgrund zurückgegriffen hat. Wenn man den zweiten Satz als im Geist des Protests sich ereignende Evokation einer Lebenswelt auffasst und versteht, die es, wie Mahler das zu eigenen Lebzeiten leidvoll erleben musste, unter den Bedingungen realweltlicher Gegebenheiten nicht geben kann, dann musste er dem eben die musikalische Evokation von Realität entgegensetzen. Sein der Wahrheit zutiefst verpflichtetes menschliches und künstlerisch-kompositorisches Ethos ließ ihm keine andere Wahl.

    Und für diese kompositorische Intention ist keine Musik besser geeignet als eine, die in ihrer Melodik und dem ihr zugeordneten, sie in ihren semantischen Dimensionen auslotenden Klaviersatz aus einem lyrischen Text hervorging, der eben diese realweltlichen Gegebenheiten auf sprachlich direkte und harte, weil das Mittel der Ironie zu Hilfe nehmende Weise zum Ausdruck bringt. Die Vortragsanweisung „mit Humor“, die Mahler seinem Lied beigegeben hat, mutet auf den ersten Blick wie eine Farce an, denn dessen Musik ist im Grunde Ausdruck abgrundtiefer Resignation und Hoffnungslosigkeit.

    Versteht man aber diesen „Humor“ als einen sarkastischen, und so hat Mahler ihn ja gemeint, dann hat diese Anweisung sehr wohl ihre Berechtigung. Und wie für das Lied, so gilt das auch für seine sinfonische Paraphrase. Deren aus dem Lied hergeleitete wichtigste melodische Figur, auf deren Gestalt und Funktion einzugehen sein wird, ist mit der Vortragsanweisung „mit Humor“ versehen. Aber ihr sich immer wieder aufs Neue ereignender Auftritt ist nicht nur allemal mit sarkastisch anmutenden Kommentaren versehen, er mündet schließlich in einen hochexpressiv-dissonanten Ausbruch der Musik, den Mahler selbst mit den Worten „Schrei des Ekels“ kommentiert hat.

    Womit eine Betrachtung dieser Musik des dritten Satzes ansteht. Diese soll, weil das im Hinblick auf die Fragestellung dieses Threads nicht erforderlich ist, nicht in Gestalt einer Beschreibung ihres Verlaufs, dessen Binnengliederung und der sich darin abzeichnenden Struktur erfolgen. Hans Heinrich Eggebrecht hat dies alles in mustergültiger, sogar eine graphische Darstellung beinhaltender Weise in seinem 1999 erschienenen Buch „Die Musik Gustav Mahlers“ vorgelegt (S.199ff.). Die Grundstruktur des Satzes stellt sich so dar:

    Scherzo in c-Moll nach Schema A-B-A´ (A: Takt 1-102; B: ab Takt 103; A´: ab Takt 149.);
    Trio in D-Dur und E-Dur ( lyrische Episode) (ab Z 40) und (ab Takt 212);
    Wiederkehr des Scherzos, verkürzt um den A´-Teil (ab Takt 348);
    Wiederkehr des Trios in variierter Gestalt (T.441ff.) – darin „Schrei des Ekels“ (ab Takt 465);
    Wiederkehr des Scherzos, nun nur noch mit Anfang des A-Teils (ab Takt 545)


    Ich denke, für eine Antwort auf die Frage, warum Mahler für die Musik seines dritten Satzes auf dieses sein Wunderhorn-Lied zurückgegriffen hat, dürfte es genügen, die Art und Weise herauszuarbeiten, wie er dessen Melodik in sinfonische Musik umsetzt und das kompositorische Prinzip zu erfassen, das dieser Umsetzung zugrunde liegt. Denn daraus geht die musikalische Aussage-Absicht im Rahmen des kompositorischen Grundkonzepts der „Zweiten“ hervor. Und sie ist es, die hier von Interesse ist.

  • Zu Satz 3 (2)

    Der Einsatz ist vielsagend, - unter eben diesem Aspekt Grundkonzept. Die Pauke lässt fortissimo einen Quartschlag erklingen. Und das will doch wohl sagen: Harter Schnitt zu dem, was vorangegangen ist. Schluss mit Ländler-Welt, die nun nachfolgende ist eine total andere.
    Nach einer ganztaktigen, mit einer Fermate versehenen Pause folgt ein zweiter nach, allerdings nur noch forte. Wieder eine fermatierte ganztaktige Pause, dann eine auftaktig eingeleitete Folge von nun fallend angelegten Quart-Schlägen, in die erst die Fagotte, dann einen Takt später auch die Klarinetten mit einer Sekundfall-Figur einfallen, die mit einem Vorschlag versehen ist und in dem repetierenden Gestus, in dem diese erklingt, schon hier, gleich am Anfang, den Geist der nachfolgenden und ihren in ihren Geist maßgeblich sie prägenden Musik vernehmen lässt: Es ist der einer in der leiernden Repetition der immer gleichen Motive geradezu hoffnungs- und perspektivlos anmutenden Wiederholung des immer Gleichen, das sich aus den verschiedenen Gestalten seines musikalischen Auftretens in geradezu aufdringlicher Weise herausschält.

    Der leiernde Gestus kommt beim ersten Auftreten dadurch zustande, dass die Klarinetten eine Figur aus repetierend fallenden Sechzehntel erklingen lassen, in die alle anderen Holzbläser mit Ausnahme der Flöten ebenfalls repetierende Fallfiguren hineinsetzen, bis dann mit Takt 13 die ersten Violinen eine sich über neun Takte erstreckende wellenartig ansteigende und sich wieder absenkende Sechzehntel-Melodielinie erklingen lassen. In Takt 21 greifen die ersten und die zweiten Klarinetten diese Linie auf, und dies im Terzintervall, und schließlich führen bei die Flötengruppen das Ganze, ebenfalls anfänglich im Terzintervall, in einem wellenartig leiernden Fall weiter fort. Violen, Celli und Kontrabässe sorgen dabei durch gezupfte Achtel für eine markante Akzentuierung im Dreiachteltakt.

    Aus diesem eminent eintönig leiernd anmutenden, weil aus einer permanent repetierenden Folge von steigend und fallen angelegten Sechzehntelgfiguren gebildeten klanglichen Fundament schält sich nun, vorgetragen von den ersten Violinen, während die zweiten den Leiergestus fortsetzen, eine melodische Linie heraus, die sich als Paraphrase derjenigen zu erkennen gibt, die im Lied auf den Eingangsworten „Antonius zur Predigt die Kirche find´t ledig“ liegt. Und nachfolgend umschreiben die Violinen auch die Melodik des nachfolgenden Verspaares der ersten Strophe.

    Hat sich bis dahin die Musik in ihrem Grundcharakter der eintönigen Repetition, der wie endlos anmutenden Wiederholung strukturell immer gleicher Figuren offenbart und sich dabei in einem Gestus entfaltet, der sie prägen wird bis an ihr Ende, so vollzieht sie nun, von Takt 45 an, den ersten Schritt zu ihrer zentralen Aussage. Die Klarinetten lassen eine auftaktig eingeleitete, erst fallende und dann sich wieder erhebende Sechzehntel-Figur erklingen, die die ersten und zweiten Violinen aufgreifen und in Gestalt eines Sextenintervalls fortsetzen. Und dieses Wechselspiel wiederholt sich gleich noch einmal, wobei sich die Violinenfigur in ihrer ohnehin schon großen klanglichen Lieblichkeit noch steigert, indem sie über erweiterte Anstiegsintervalle zu größerer Höhe emporsteigt.
    Es ist die Melodik auf den Worten „Kein Predigt niemalen den Fischen so g´fallen“, die hier in leichter Variation ertönt, und Mahler hat durch das Sextenintervall im Zusammenspiel von ersten und zweiten Violinen der ihr ohnehin schon eigenen klanglichen Gefälligkeit einen noch höheren Grad verliehen.
    Was sich da auf der Grundlage eines wiegenden Dreiachteltakts musikalisch ereignet, kann in seiner süßlich-gefälligen Klanglichkeit kaum noch potenziert werden.

    Nun aber geschieht, was immer in diesem Scherzo geschieht, wenn Musik sich in diesen Ton hineinsteigert: Der Kommentar folgt unmittelbar nach, und es ist allemal ein hart destruktiver, sie in diesem Gestus in all seiner Verlogenheit entlarvender.
    Hier tritt er in Gestalt einer von der Es-Klarinette in spitz anmutender Klanglichkeit vorgetragenen und in Sechzehntelschritten sich entfaltenden melodischen Linie auf, die aus tiefer in hohe Lage aufsteigt, um sich dort einer leiernden Pendelbewegung zu überlassen, bis dann die B-Klarinetten diese Linie in verminderten Terzintervallen aufgreifen und in Moll-Harmonik gebettet in tiefere Lage zurückführen. Die Flöten führen diese Fallbewegung bis zu einem tiefen „Des“ hin weiter, und dann fällt, eingeleitet mit der schon bekannten Vorschlags-Sekundfallfigur der Oboen, die Musik wieder in ihren Leierton zurück. Dabei bleibt sie aber nicht lange. Sie geht, und dies nun im Einklang von Streichern und Holzbläsern zum neuerlichen Erklingen-Lassen der Liedmelodik über. Und dieses Mal führt sie die auf dem zweiten Verspaar der ersten Strophe sogar noch markanter auf, indem sie zum Fortissimo greift.

    Mit Part. Z 31 aber klingt erneut das Gefälligkeitsmotiv auf, und dies wieder im schon bekannten Wechselspiel zwischen den Klarinetten und den im Terzenintervall antwortenden ersten und zweiten Violinen. Und wieder fallen erst die Es-Klarinetten, dann die B-Klarinetten in diesem destruktiv-schneidend anmutenden Gestus in es ein. Dieses Mal ereignet sich dieser Vorgang sogar noch auf expressiv gesteigerte Weise. Die Flöten, die Oboen und die ersten und zweiten Violinen steigen – und das fortissimo – in die in verminderte Harmonik gebettete und dieses Mal sogar auf einen tiefen „As“ endende Fallbewegung in Sekundschritten ein. Die Violen verstärken sie mit verminderten Terzintervallen, die Hörner begleiten das mit lang gehaltenen Fortissimo-Oktaven, und am Ende, nachdem die Tuba noch eine Fortissimo-Oktave hinzugefügt hat, schließt die Pauke alles mit zwei Schlägen ab. Pianissimo allerdings.

  • Zu Satz 3 (3)

    Was will Mahler mit dieser auf dem Gefälligkeitsmotiv aufbauenden Passage dieses Satzes sagen?
    Weil er sie wiederholt und dabei zum Mittel der Expressivitätssteigerung greift, muss ihm diese Aussage wohl wichtig gewesen sein. Jedes Mal lässt er die Melodik auf den Worten „Kein Predigt niemalen den Fischen so g´fallen“ unvermittelt in eine Musik übergehen, die sie durch die Schärfe der von der Klarinette darin vorgetragenen melodischen Linie in ihrer ins Süßliche gesteigerten klanglichen Schönheit regelrecht zerschneidet, und diesen Vorgang lässt er in Fortführung durch die Flöten über eine sich die die Tiefe absenkende melodische Linie in Moll-Harmonik enden.
    Das soll wohl heißen: Diese melodisch-klangliche Schönheit ist eine zutiefst verlogene, denn sie ist Ausdruck von Unverständnis, ja von Nicht-verstehen-Wollen der Botschaft durch ihre Rezipienten.

    Im Lied sind es die Fische, die ihre Mäuler aufgerissen haben, als würden sie sich des Zuhörens befleißigen, wie der Autor des Textes ironisch kommentiert, wohl wissend, dass aufgerissene Mäuler nur ans Fressen denken. Aber natürlich sind sie Metaphern für eine elementare Eigenart menschlichen Verhaltens, das Mahler wohlbekannt war. Er hat diese Wunderhorn-Verse aus tiefer innerer Betroffenheit vertont, weil er sie als eine Art Gleichnis für das künstlerische Schaffen und die Rezeption der daraus hervorgehenden Werke las.

    Das geht aus einer von Natalie Bauer-Lechner überlieferten Äußerung über seine Dirigententätigkeit in Hamburg (August 1893) hervor:
    „Da studiere ich unter solcher Anspannung aller meiner Kräfte bis ins kleinste Detail meine Vorstellungen ein, bis sie wirklich klappen und wie aus einem Guß gehen: und für wen geschieht das? Für welche Herde von Schafen, die es gedankenlos und nutzlos anhören, denen es bei dem einen Ohr hinein, bei dem anderen wieder hinausgeht, wie den Fischen bei der Predigt des heiligen Antonius von Padua.“

    Was sich – infolge davon - in dieser Passage der Musik des dritten Satzes ereignet, und weiter ereignen wird, weil es Niederschlag der kompositorischen Intention Mahlers ist, hat Hans Heinrich Eggebrecht auf höchst treffende Weise in die Worte gefasst:
    „Jedesmal nach dem >G´fälligen< taucht Mahler auf, als Subjekt, zeigt spöttisch darauf, äfft es nach und lässt anschließend den Satz, die Strophe zusammenbrechen, chromatisch abwärts und unter Preisgabe aller Sanglichkeit und Periodik.“

    Mit Part. Z 32 greift die Musik die Melodik der vierten Strophe auf und paraphrasiert diese auf vielgestaltige Weise. In ihrer ruhigen, im Gestus des Erzählens erfolgenden Entfaltung ereignet sich aber im Takt 148 mit einem Mal ein überrascher Fortissimo-Paukenschlag, dem eine Sechzehntel-Fallbewegung bei allen Blasinstrumenten nachfolgt, und nun wird die Melodik auf den Worten „Spitzgoschete Hechte, die immerzu fechten…“ staccato von den Piccolo-Flöten und den Klarinetten vorgetragen und von den Violinen dabei ebenfalls staccato umspielt. Und dann fallen die Trompeten im Terzenintervall noch in diese Liedmusik ein, von den Piccoloflöten nun mit spitzen Sekundvorschlägen in sehr hoher Lage begleitet. Aus dieser sich nun sehr lebhaft entfaltenden Musik erfolgt von Part. Z 36 an die Überleitung zum Trio: Die Piccolo-Flöten lassen einen Dauerton in hoher Lage erklingen, und die Celli und Kontrabässe die leiernd wirkenden Sechzehntelfiguren.

    Mit signalhaft schmetterndem Ton, eingebracht von den Hörnern und Trompeten, setzt das Trio mit Part. Z 37 ein. Da die Holzbläser und die Streicher fortissimo hinzutreten und die Trompeten repetierende Terzen schmettern, nimmt die Musik den in heftigen und lauten Bewegungen sich entfaltenden Gestus an, wie er den ersten Satz prägt. Sie will wohl mit heftigem Protest einschreiten gegen all das, was sich bislang an Sinnlosigkeit ereignet hat. Und dabei begnügt sie sich nicht mit einem Mal. Nach einer kurzen Zwischenphase, in der Motive der Liedmusik aufklingen, setzt sie mit Part. Z 39 erneut in diesem lautstark-signalhaften Gestus ein, und dieses Mal auf sogar auf in der Expressivität noch gesteigerte Weise. Mit Part. Z 40 geht sie dann aber alsbald in einen wiegenden Gestus über, dem eine Anmutung von Wehmut innewohnt, weil er von Terzen-Fallmotiven geprägt ist, die die Trompeten in die Musik einbringen. Die Streicher greifen sie auf, und mehr und mehr überlässt sich die Musik, Trompeten und Streicher zusammen, diesem eigenartig wiegenden, weil von permanenten, im Dreiachteltakt rhythmisierten Fallbewegungen geprägten Gestus, von dem sie sich gar nicht lösen zu können scheint.

    Schließlich scheint ihr aber der Atem auszugehen. Die Trompeten lassen von Part. Z 42 an nur noch, dabei vom Forte ins Piano übergehend, Sekundfallbewegungen auf gleichbleibender tonaler Ebene erklingen, und die Violinen, die Violen und sogar die Celli gehen zur Artikulation einer wie ein Taumeln anmutenden Fallbewegung in Gestalt von fallend angelegten Sechzehntel-Figuren über, die im dreifachen Piano in tiefer Lage ausklingen.

    Ist dieser Ausklang des Trios als Ausdruck von Resignation, von wehmütiger Klage aufzufassen, hervorgehend aus der Erkenntnis, dass an dem Sosein dieser Welt, an dem Verhalten der Menschen in ihr nichts zu ändern ist?
    Im Kontext der bislang erklungenen Musik des dritten Satzes gehört kann man das Trio in seiner spezifischen, vom lauten Protest in die stille Resignation übergehenden Klanglichkeit wohl so hören und verstehen.

  • Zu Satz 3 (4)

    Nach einer bei Part. Z 43 einsetzenden Überleitungsphase, in der sich eine Art Unruhe aufbaut, die in Takt 348 in eine geradezu schrill anmutende, in hoher Lage ansetzende und fortissimo von den Holzbläsern und Streichern ausgeführte Glissando-Fallbewegung mündet, setzt ab Part. Z 44 das Scherzo mit der Paraphrase der Liedmusik der ersten Strophe wieder ein und geht alsbald unter markanter Hervorhebung der Melodik auf den Worten „Die Stockfisch´ ich meine zur Predigt erscheinen“ zur dritten und ab Part. Z 47 zu der der vierten Strophe über. Das nun weiter noch in detaillierter Weise zu betrachten und zu beschreiben dürfte keinen Nutzen für die Fragestellung dieses Threads bringen. Nur eines ist dafür noch von Interesse: Der hochexpressive klangliche Aufschrei, der sich in der Musik dieses dritten Satzes ab Part. Z 49 ereignet. Denn er ist von großer Relevanz für die musikalische Aussage der ganzen Symphonie und insbesondre auch für die Rolle und die Funktion, die der Liedmusik darin zukommt.

    In der ab Part. Z 48 erklingenden Musik ereignet sich, vorwiegend von den Streichern ausgeführt, eine Paraphrase der Melodik auf den Worten „Auch Krebse, Schildkroten, sonst langsame Boten, steigen eilig vom Grund, zu hören diesen Mund“, da ereignet sich mit einem Mal in Takt 441 ein Fortissimo-Stoß der Trompeten und Posaunen, der sich in einem schmetternden Auf und Ab über Quart- und Sekundintervalle fortsetzt. Die Tuba tritt hinzu, Pauke und große Trommel lassen ein Tremolo erklingen, das nicht mit Schwamm-, sondern mit Holzschlägel ausgeführt wird, und beide Tamtams tragen das Ihre zur Musik bei. Mit einem Sekundanstieg bei den Holzbläsern, der im dreifachen Forte ausgeführt wird und nach einem Fortissimo-Tutti-Akkord sich noch einmal wiederholt, geht die Musik in einen wilden Wirbel in Gestalt von immer wieder bei den Holzbläsern, den Trompeten und den Violinen sich wiederholenden bogenförmigen, jeweils in eine Dehnung mündenden fff-Sechzehntelfiguren über, und beschreiben sie in einer in hohe Lage führende Anstiegsbewegung in Zweiunddreißigstel-Schritten, die in einen gewaltigen, vom ganzen Orchester ausgeführten, vier Takte lang gehaltenen und von den Schlaginstrumenten akzentuierten Akkord münden.

    Danach aber beginnt die Musik sich in großen akkordischen Schritten langsam abzusenken und aus dem Forte-Fortissimo-Bereich zurückzuziehen und zu einem wiederum als Tutti ausgeführten Akkord überzugehen, der nun aber im Pianissimo erklingt.
    Umso erschreckender wirkt der in ihn hineinfahrende Fortissimo-Paukenschlag über eine Quarte, der sich in zwei weiteren, nun aber mezzoforte und piano ausgeführten Figuren fortsetzt. Aber die Musik lässt sich in ihrem Auskling-Gestus nicht mehr beirren. Holzbläser, Horner, Trompeten und Violinen lassen lang gehaltene Pianissimo-Akkorde erklingen. Nur bei den Celli und den Kontrabässen rumort es in Gestalt von Staccato-Sechzehntelfiguren. Die Streicher gehen zur Artikulation von tänzerisch anmutenden, weil im Dreiachtaltakt rhythmisierten und sprunghaft angelegten Bogenfiguren über.
    Die Musik wird nun lebhafter und lebhafter, ansteigend angelegte Sechzehntelfiguren erklingen mehr und mehr, und schließlich kehrt sie mit Part. Z 53 zum Scherzo zurück, in dessen Geist sie in Gestalt einer Paraphrase auf die Melodik von „Die Predigt hat g´fallen“ schließlich auch ausklingt. Dies in einem einsamen, sehr tiefen und überaus dumpf-dunklen „C“, vorgetragen von den Kontrabässen im Einklang mit Horn und Fagott.

    Was hat sich hier ereignet, in dieser Phase der Musik des dritten Satzes, die aus dieser auf klanglich so eminente Weise herausragt, dass man sie tatsächlich als Aufschrei des Orchesters wahrnimmt?
    Denn es agiert ja acht Takte tutti im Forte-Fortissimo unter Inanspruchnahme aller hochexpressiven Ausdrucksmittel wie Dissonanzen, Tremoli, Arpeggien, rasenden Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelketten und exzessiv lautem Auftreten aller Schlaginstrumente.


    Auf der Grundlage des kompositorischen Konzepts dieses Satzes und seiner musikalischen Aussage will Mahler das wohl als – wie er selbst das nannte – „Schrei des Ekels“ verstanden wissen, als Ausdruck der tiefen Verzweiflung darüber, dass es keinen Ausweg aus dem „sinnlosen Getriebe des Lebens“ gibt.
    Gegenüber Natalie Bauer-Lechner äußerte er sich im Januar 1896 über das Scherzo in den Worten:
    „Das Im Scherzo Ausgedrückte kann ich nur so veranschaulichen: Wenn du aus der Ferne durch ein Fenster einem Tanze zusiehst, ohne daß du die Musik dazu hörst, so erscheint die Drehung und Bewegung der Paare wirr und sinnlos, da dir der Rhythmus als Schlüssel fehlt. So mußt du dir denken, daß einem, der sich und sein Glück verloren hat, die Welt wie im Hohlspiegel verkehrt und wahnsinnig erscheint. – Mit dem furchtbaren Aufschrei der so gemarterten Seele endet das Scherzo.“
    Und im Kommentar im Programm für die Dresdner Aufführung im Dezember 1901 heißt es:
    „Der Geist des Unglaubens, der Verneinung hat sich seiner (des Menschen) bemächtigt, er blickt in das Gewühl der Erscheinungen … er verzweifelt an sich und Gott. Die Welt und das Leben wird ihm zum wirren Spuk; der Ekel vor allem Sein und Werden packt ihn mit eiserner Faust und jagt ihn bis zum Aufschrei der Verzweiflung.“

    Wenn man – sich lösend von dem narrativen Basis-Konzept Mahlers – den zweiten und den dritten Satz als ausführliche und alle wesentlichen Aspekte aufgreifende und ausführende musikalische Evokation jener Elemente von menschlich lebensweltlicher Existenz auffasst und versteht, die der erste Satz in Gestalt von gleichsam punktuellen musikalischen Skizzen aufzeigt, dann kommt dem dritten, nach der Reklamation von heiler und schöner Welt im zweiten, eine zentrale Funktion in dieser zweiten Symphonie zu.
    Er bringt das existenzielle Gefangen-Sein in der Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit realweltlicher Gegebenheiten zum Ausdruck, - Niederschlag der menschlichen, gesellschaftlichen und politischen Erfahrungen des Komponisten in der Welt des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts und darin die bis heute und darüber hinaus reichende Aussage-Relevanz seiner Musik konstituierend.

    In dieser Evokation von Realweltlichkeit gründet, wie ich meine, die zentrale Stellung des dritten Satzes. Die in ihm aufgeworfene Frage, ob die „wie im Hohlspiegel“ als „verkehrt und wahnsinnig“ erscheinende Welt das letzte Wort ist über die Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz erfordert im kompositorischen Gesamtkonzept der Symphonie eine Antwort.
    Der vierte und der fünfte Satz liefern sie: Der eine als in tiefer Gläubigkeit wurzelnde Hoffnung ausdrückendes Gebet, der andere als emphatischer Ausdruck der Gewissheit von „Auferstehung“.

  • Zu Satz 4

    Die Sängerin setzt mit dem Lied, das Mahler mit dem Titel „Urlicht“ versehen hat, unmittelbar nach dem Ausklingen des Schlusstones des dritten Satzes ein. In der Partitur heißt es: „Folgt ohne Unterbrechung der 4. Satz“. „Sehr feierlich, aber schlicht“ soll das es vorgetragen werden, wobei Mahler ausdrücklich darauf hinweist, dass ein „Schleppen“ dabei vermieden werden soll.

    Der Einstieg ist von einer geradezu überwältigenden Feierlichkeit. Nach dem langsamen, aus zwei fermatierten halben Noten und einer ganzen bestehenden Sekundanstieg der melodischen Linie auf den Worten „O Röschen rot“, der in tiefer Lage ansetzt und von den Violinen, den Violen und den Celli begleitet wird, bei die Harmonik von b-Mol nach Des Dur rückt, gehen die Bläser (Fagott, Horn, Trompete) zur Intonation einer choralähnlich anmutenden Liedmusik über. Diese steigt dabei in überaus ruhigen Schritten aus tiefer Lage in mittlere auf und senkt sich danach wieder ab. Weil sich dabei eine permanente harmonische Modulation von „Des“ über „As“, Ges“ b-Moll“ und wieder über „Ges“ und „As“ zurück nach „Des“ ereignet, in die auch das Tongeschlecht Dur einbezogen ist, erweckt die Musik den Eindruck einer Öffnung in die Helligkeit, die danach wieder zurückgenommen wird. Denn die melodische Linie setzt danach in des-Moll-Harmonisierung ein.

    Zunächst bewegt sie sich in ruhiger Form in mittlerer Lage, und das auch in einem engen tonalen Raum. Darin reflektiert sie die lyrische Aussage, die ja zunächst in ihrem sprachlichen Gestus die einer Feststellung ist. Aber schon hier ereignet sich das – in noch verhaltener Weise -, was ihr klangliches Wesen ausmacht.
    Indem sie dem lyrischen Text in seiner Semantik folgt, geht sie mehr und mehr zu größerer Expressivität über. Denn das lyrische Ich lässt in die einzelnen Verse ja zunehmend seine subjektive Befindlichkeit, seine Wünsche und seine Sehnsucht nach Erlösung einfließen. Dieser wachsende Anteil an affektiven Komponenten führt dazu, dass sich die melodische Linie zusammen mit der Orchesterbegleitung erst nur phasenweise, dann aber, gegen Ende des Liedes, in den Gestus seliger Verzücktheit steigert, der man sich als Hörer nur schwer entziehen kann.

    Der dritte Vers der ersten Strophe bringt mit seinem konjunktivischen „möcht´ ich“ einen innigen Wunsch des lyrischen Ichs zum Ausdruck. Mahler verleiht diesem Aspekt seelenvoller Innigkeit große Expressivität, und er steigert ihn noch in seinem musikalischen Gewicht, indem er – wie er das ja oft tut – zum Mittel der Textwiederholung greift. Überdies tragen auch das Orchester und die Harmonik das Ihre zu dieser so ausdrucksstarken Innigkeit der Liedmusik bei. Die melodische Linie senkt sich zunächst langsam in Sekundschritten in tiefe Lage ab. Das aber macht den Oktavsprung, der sich dann inmitten des Wortes „Himmel“ ereignet nur noch expressiver. Und dann, bei der Wiederholung dieses „je lieber möcht´ ich geht die melodische Linie in eine ruhige, weil z.T. in Doppelschritten erfolgende Aufstiegsbewegung über, die in eine neuerliche Aufgipfelung bei dem Wort Himmel mündet, - nun in Gestalt einer Dehnung auf der ersten Silbe des Wortes, der dann ein zweifacher Sekundfall folgt.

    Die Oboen steigern dies alles noch in seiner Expressivität, indem sie den Bewegungen der melodischen Linie folgen. Die ersten und die zweiten Violinen artikulieren gegenläufige melodische Bewegungen, und nachdem die Singstimme geendet hat, setzen die Oboen die melodische Linie in ihrer zur Aufgipfelung neigenden Tendenz fort, steigern sich dabei, inzwischen von den Streichern begleitet, in immer höhere Lage und gehen dann am Ende in eine lang gedehnte Fallbewegung über. Hierbei folgen ihnen die Streicher mit Sextenparallelen.
    Zum ersten Mal ist der musikalische Gestus klanglicher Verzückung erreicht, der dieses Lied in seinem Charakter so sehr prägt und zu einem singulären Hörerlebnis werden lässt. Aufgipfelungen der melodischen Linie und Terzen- und Sextenparallelen im Orchestersatz spielen dabei eine maßgebliche Rolle

    Ein neuer Ton kommt mit dem zweitaktigen Zwischenspiel vor der zweiten Strophe in das Lied. Über lang gehaltenen Sexten der Hörner lassen die Klarinetten triolische Achtelfiguren erklingen, die in ein gedehntes „C“ münden. Und das in b-Moll-Harmonik. Das lyrische Ich geht zu narrativer Sprachlichkeit über, und die Musik reflektiert dies. Diese triolischen Figuren begleiten die melodische Linie auch bei den Worten „Da kam ich auf einen breiten Weg“. Mit feinen Einzeltönen tut das auch das Glockenspiel, - bei Mahler immer eine Art musikalische Vokabel für das Hereinragen der Transzendenz in das irdische Geschehen. In ihrer Struktur ist die Vokallinie hier einfach angelegt, dem narrativen Charakter des lyrischen Textes entsprechend: Sie verbleibt weitgehend in tiefer Lage, macht dort nur zweimal eine Sprungbewegung zur Akzentuierung der Worte „ich“ und „breiten“.

    Bedeutsam ist das viertaktige Solo der Violine, das sich anschließt und die Pause der Singstimme ausfüllt. Die bogenförmigen Achtel- und Sechzehntel-Figuren, immer noch in b-Moll stehend und ohne Dämpfer ausgeführt, muten an, als würden sie die melodische Linie der Singstimme fortsetzen, nun aber mit mehr Leben erfüllt, - denn das lyrische Ich bewegt sich ja auf dem „breiten Weg“ zum Himmelreich hin. Mit dem Auftritt des „Engeleins“ hellt sich die Liedmusik klanglich deutlich auf: Die Harmonik moduliert nun zwischen A-Dur und D-Dur. Auch die melodische Linie geht zu lebhafteren Bewegungen über, wobei sie, auf einem tiefen „C“ ansetzend, zunächst über eine Oktave aufsteigt, um mit einer Dehnung auf einem hohen „C“ das Wort Engelein“ zu akzentuieren.

    Nach einem Fall bis hinunter zu einem tiefen „E“ steigt sie erneut auf, wieder um eine Oktave, und hebt nun mittels eines gedehnten Sprungs bis zu einem hohen „E“ das Wort „abweisen“ in markanter Weise hervor. Hier ereignet sich, der Bedeutung des Vorgangs entsprechend, eine Rückung nach a-Moll. Und eben weil sich hier Bedeutsames ereignet, ist das ganze Orchester an der Begleitung der Singstimme beteiligt: Solo-Violine und Flöte vollziehen die Aufgipfelung der melodischen Linie bei dem Wort „abweisen“ mit, die Violinen und die Violen artikulieren fortwährend triolisch fallende Achtelfiguren, die Celli hingegen aufsteigende, und beide Harfen begleiten mit dem Auf und Ab von Einzeltönen, bzw. arpeggierten Akkorden.

  • Zu Satz 4 (2)

    In der zweitaktigen Pause der Singstimme lassen die Flöte und die Solo-Violine wieder diese aus einem Sprung und Fall bestehende Achtel-Sechzehntel-Figur erklingen. In die Melodik auf den Worten „Ach nein! Ich ließ mich nicht abweisen“ hat Mahler insistierende Beharrlichkeit gelegt. Er lässt die Worte wiederholen, und die melodische Linie soll „leidenschaftlich“ vorgetragen werden. Sie ist nun in Cis-Dur harmonisiert und bewegt sich zwei Mal in ähnlicher Weise mit silbengetreuer Deklamation in Sekunden auf einer tonalen Ebene auf und ab, wobei ein Steigerungseffekt dadurch zustande kommt, dass diese beim zweiten Mal um eine Terz angehoben ist. Am Ende erfolgt jeweils eine gedehnte Kombination aus Sekundsprung und –fall, um das Wort „abweisen“ wieder mit einem Akzent zu versehen. Das Orchester setzt seinerseits Akzente durch einen das Wort „nein“ begleitenden, von den Celli, den Violen und der Harfe akzentuierten Akkord, Tremoli in den zweiten Violinen und die Bewegung der melodischen Linie begleitenden Terzen der Oboen. Bei dem Wort „abweisen“ erklingen Tremoli in den ersten und zweiten Violinen, und die Oben artikulieren danach eine klanglich schmerzlich anmutende Figur aus in hohe Lage aufsteigenden Terzen.

    Mit den Worten „Ich bin von Gott und will wieder zu Gott“ kommt ein „zart drängender“ (Anweisung) Ton in das Lied. Nun herrscht, nach der Kreuz-Harmonik des Mittelteils, wieder B-Harmonik vor. Sie moduliert bis zum Ende des Liedes zwischen Des-, Es-, Ges- und As-Dur. Wieder baut sich, nun aber weiter gespannt, eine Steigerung der Expressivität auf. Bei der melodischen Linie geschieht dies erneut durch Textwiederholungen und die Anhebung der tonalen Ebene von Melodiezeile zu Melodiezeile, verbunden jeweils mit einer harmonischen Rückung, durch die Begleitung der melodischen Linie durch die zweite Solo-Violine, durch von den Celli und den Bässen pizzicato artikulierte Einzeltöne und permanent erklingende Tremoli in den zweiten Violinen und den Violen. Die Fagotte und Hörner lassen lang gehalten Einzeltöne, bzw. Terzen erklingen. Bei der Wiederholung der Worte „der liebe Gott“ hat dieser Prozess der Steigerung der Expressivität seinen Höhepunkt erreicht. Die melodische Figur, die hier auf diesen Worten liegt, ein Terzfall mit nachfolgendem Doppel-Sekundanstieg in hoher Lage, wird von den Solo-Violinen, den ersten Violinen, den Flöten und den Oboen mitvollzogen, während die Hörner, die Posaunen und die Violen Akkorde erklingen lassen. Man empfindet das so, als würde die Liedmusik hier die Luft anhalten, um danach in ein großes Ausatmen überzugehen, dies auch deshalb, weil diese Aufgipfelung mit einer Rückung in die Dominante Es-Dur verbunden ist.

    Und tatsächlich: Die Fallbewegung in Sekunden, die die melodische Linie bei den Worten „wird mir ein Lichtchen geben“ vollzieht und bei der jeder Schritt mit einem Portato-Zeichen versehen ist und von den Flöten und dem Englisch-Horn mitvollzogen wird, während die zweiten Violinen und die Violen Tremoli erklingen lassen, ereignet sich in As-Dur und begegnet dem Hörer wie ein Ausatmen der Musik, wie eine große Entspannung, eine Erlösung von der Angst des lyrischen Ichs, der Zugang zum himmlischen Reich könne ihm verwehrt werden. Es glaubt fest an dieses „Lichtchen“, und die Musik drückt das auf klanglich faszinierende Weise aus. Dies auch deshalb, weil die melodische Linie auf dem Wort „geben“ am Ende einen gedehnten Sekundfall in tiefer Lage vollzieht, der mit einer weiteren Rückung, nach Des-Dur nämlich, verbunden ist.

    Was nachfolgt, ist musikalisch beseligte Verzückung, - und darin wahrlich überwältigend. Von dem tiefen „Des“ aus, auf dem das Ausatmen der melodischen Linie endete, steigt sie bei dem Wort „leuchten“ mit einem veritablen, aber im Pianissimo vollzogenen Oktavsprung zu einem hohen „Des“ auf und senkt sich dann, bei den Worten „wird leuchten mir bis in das ewig“, in silbengetreuen Sekundschritten, und dabei nun in Ges-Dur harmonisiert, langsam bis zu einem tiefen „Es“ ab, um bei dem Wort „ewig“ am Ende einen in eine Dehnung mündenden Sekundanstieg zu vollziehen. Alle Violinen, einschließlich der Solisten, folgen dieser Bewegung der melodischen Linie und verleihen ihr auf diese Weise einen starken Ausdruck. Die Violen tun das mit Tremoli, und die Celli lassen dazu lang gehaltene Akkorde erklingen.

    Bei der Deklamation des Wortes „ewig“ verstummen alle Streicher überraschend. Die Harfe lässt ein großes Arpeggio erklingen, und die Klarinetten fügen aufsteigende Terzen hinzu. Das ereignet sich während der langen Dehnung der melodischen Linie auf der zweiten Silbe des Wortes „ewig“ und verleiht diesem Wort das musikalische Gewicht, das ihm von der Aussage des lyrischen Textes her zukommt.
    Auf dem gedehnten „As“ setzt die Singstimme dann auch ohne Pause zur Deklamation der melodischen Linie auf den Schlussworten „selig Leben“ an. Es ist klanglich rauschhaft, was sich hier musikalisch ereignet. Die melodische Linie beschreibt einen in zwei Sekundschritten ansteigenden und dann weit gespannten, auf einem durch Punktierung lang gedehnten hohen „Es“ aufgipfelnden Bogen, der sich dann auf der zweiten Silbe des Wortes „Leben“ um eine Sekunde absenkt und auf einem hohen „Des“ zur Ruhe kommt.
    Das lyrische Wort „Leben“ wirkt hier wie in eine Aura strahlenden Glanzes gehüllt.

    Das Orchester hat das Seine dazu beigetragen, indem alle Violinen und die Violen nach einem lang gehaltenen Triller in hoher Lage diesen weit gespannten melodischen Bogen mittvollziehen, die Klarinetten aufsteigende Sexten erklingen lassen und die Celli gehaltene Sexten hinzufügen. Danach gehen die Streicher, nur noch begleitet von einem Arpeggio der Harfe, in ein mit einem Ritardando versehenes Ausklingen in Gestalt einer fallenden und in einen lang gehaltenen As-Dur Akkord mündenden melodischen Linie über. „Gänzlich ersterbend“ lautet hier Mahlers Anweisung.

  • Zu Satz 4 (3)

    Für die Fragestellung dieses Threads kommt dem vierten Satz der „Zweiten“ eine besondere Bedeutung zu. Sie gründet darin, dass Mahler hier erstmals ein Lied in seiner genuinen Gestalt, als in Melodik umgesetzter und musikalisch begleiteter Text also, in seine sinfonische Musik integriert, wobei besonders bemerkenswert ist, dass es sich in diesem Fall – anders als bei der Liedmusik der ersten Symphonie und der des vorangehenden dritten Satzes der Zweiten – nicht um eine Übernahme aus dem vorliegenden Bestand an eigenen Liedkompositionen handelt. Vielmehr ist das im Juli 1893 als Klavierlied entstandene, am 19. dieses Monats orchestrierte und als Nummer 7 in der Sammlung „Lieder, Humoresken und Balladen“ 1899 publizierte Lied „Urlicht“ von vornherein als vierter Satz der Zweiten Symphonie komponiert worden. Für den auf dem Hintergrund der traditionellen Vorgaben für die Komposition sinfonischer Musik ungewöhnlichen Schritt, ein gesanglich vorgetragenes Lied als eigenen Satz in eine Sinfonie einzubringen, bestand für Mahler also ganz offensichtlich eine zwingende, weil sachlich erforderliche Notwendigkeit.

    Woraus ergab sich diese für ihn?
    Wie in fast allen Fällen von für sein kompositorisches Schaffen wichtigen Fragen hat er sich auch dazu geäußert. Natalie Bauer-Lechner berichtet, dass er Anfang 1894, was das Grundkonzept seiner zweiten Symphonie in ihren letzten Sätzen betraf, das „Ei des Kolumbus“ gefunden habe:
    „Das war das Ei des Kolumbus“, meinte er, „daß ich in meiner Zweiten Symphonie mit dem Wort und der menschlichen Stimme einsetzte, wo ich es, um mich verständlich zu machen, brauchte. (…) Schade, daß mir das in der Ersten noch gefehlt hat.“

    Für die zentrale Fragestellung dieses Threads von großer Bedeutung sind die Worte „um mich verständlich zu machen“. Sie lassen erkennen:
    Mahler nutzt in seinem sinfonischen Schaffen die Liedmusik, hier beim vierten Satz sogar in ihrer genuinen Gestalt, als für die intendierte kompositorische Aussage in bestimmten Fällen am besten sich eignendes musikalisches Ausdrucksmittel.
    Und diese „Fälle“ sind allemal die Stationen im Schaffensprozess einer Symphonie, in denen die kompositorische Aussage-Absicht eine hochgradig personale ist, eine, die seine menschlich-künstlerische Grundhaltung und seine Weltanschauung tangiert und damit für ihn von großer existenzieller Relevanz ist.

    Die Musik des vierten Satzes lässt das zu einer höchst eindrücklichen Erfahrung und Erkenntnis werden. In ihrer genuin liedhaften und eben darin wesenhaft schlichten Melodik tritt sie, und das in der für Mahlers sinfonische Musik so typisch direkten, völlig unvermittelten Weise der so extrem innerlich zerrissenen Musik des Scherzos gegenüber. Nur das Fortklingen des von Mahler als klangliche Verkörperung von Erhabenheit eingesetzten Tamtams stellt eine Art klangliche Brücke her, öffnet den musikalischen Raum für die Transzendenz. Eine Pause wäre von Mahlers kompositorischem Grundkonzept hier fehl am Platze. Erst wenn der Erfahrung von realweltlicher Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit der Glaube an ein existenzielles Zuhause in einer transzendenten Welt unmittelbar entgegen tritt, kann er sein ihm innewohnendes Potential an Sinnstiftung voll entfalten. Und das geschieht durch den musikalisch nicht vermittelten Übergang der permanent kompositorisch-reflexiv in ihre Elemente zerstückten und in einen Ekel-Schrei mündenden Melodik desFischpredigt-Scherzos in eine, die, weil sie einen kindliche Gläubigkeit zum Ausdruck bringenden lyrischen Text reflektiert, sich in ganz und gar ungebrochener Phrasierung und deklamatorisch gebundener Deklamation zu entfalten vermag.

    Für Mahler hat sich bei dem, worum es ihm im dritten und vierten Satz seiner Zweiten geht, Liedmelodik als in ganz besonderer Weise geeignet erwiesen. Sein kompositorisches Anliegen ist eines von hoher personaler Relevanz: Die Transzendierung der Erfahrung von realweltlicher Sinnlosigkeit durch die musikalische Evokation alternativen, wesenhaft sinnerfüllten menschlichen Seins. Liedmelodik eignet sich in ganz besonderer Weise dazu, weil sie infolge ihrer spezifischen, aus der Reflexion von lyrischem Text hervorgehenden Struktur mehr von Welt zu sprechen vermag als jede andere Form von Musik.

    Das Lied „Urlicht“ kann man durchaus als musikalischen Ausdruck der existenziellen Befindlichkeit Mahlers verstehen, die er gegenüber Alma in die Worte fasste: „Ich bin dreifach heimatlos, als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude auf der ganzen Welt“.
    „Heimatlosigkeit“ ist der substanzielle Kern der Feststellung: „Der Mensch liegt in größter Not“, und von daher erschließt sich der Sinn des Ausrufs „Ich bin von Gott und will wieder zu Gott“ als Sehnsucht nach existenzieller Heimat.
    Die Aufnahme des Liedes in die Zweite Symphonie erfolgte dann in der Absicht, seine spezifische musikalische Aussage zum integralen Bestandteil von deren Grundaussage zu machen und sie auf diese Weise gleichsam in einen größeren Rahmen zu stellen und ihr höheres Gewicht zu verleihen.

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  • Zu Satz fünf

    Mit der Darstellung und der analytischen Betrachtung der Musik des vierten Satzes und der Klärung der Frage, welche Funktion hier der Liedmusik im Rahmen des kompositorischen Konzepts der Zweiten Symphonie zukommt meine ich, auf die wesentlichen Fragen dieses Threads hinreichende Antworten gefunden zu haben, so dass es mir nicht erforderlich scheint, das Finale einer ins Detail gehenden Betrachtung zu unterziehen. Aber in ihm vollendet sich, weil Mahlers Symphonien nun einmal wesenhaft Finalsinfonien sind, die Musik der „Zweiten“, überdies kommt in ihr textbezogener Melodik in Gestalt eines Chorsatzes die Aufgabe der Konstitution der zentralen musikalischen Aussage zu, und so ist es doch wohl angebracht, zum Schlusssatz noch einige Anmerkungen zu machen.

    „Wild herausfahrend“ setzt die Musik ein. „Attaca: Im Tempo des Scherzos“ lautet die Anweisung. Die Celli lassen, vereint mit den Kontrabässen“, forte-fortissimo eine aus der Tiefe will nach oben rauschende Zweiunddreißigstel-Kette erklingen, große Trommel, Becken und Tamtam geben ein ebenfalls wildes Donnern von sich, und dann setzten alle Bläser, Holz und Blech, mit einem schmetternden fff-Akkord ein, der zehn Takte lang gehalten wird, wobei die Holzbläser allerdings von vierten an zur Artikulation einer Folge von fallenden und wieder steigenden Sechzehntel-Figuren übergehen.
    Der Dirigent Michael Gielen hat diesen Auftakt sehr treffend charakterisiert:
    „Der Ausbruch im Scherzo und der zu Beginn des Finales, das ist dieselbe Musik, die zugleich Musik des Appells ist: Tata, tata, tata! Die Feuerwehr ruft zum letzten Appell. Und das, was da alles aufgefahren wird einschließlich Fernmusik, das ist da ganz besonders gelungen. Die schmetternden Trompeten erinnern an das >Klagende Lied< seiner Jugend. Und wenn die Hörner weit genug weg sind, dann rufen sie ja wirklich aus dem (…) Jenseits oder aus dem Unbewußten.“

    Und dann fügt Gielen etwas hinzu, was für diese Symphonie, ja Mahlers kompositorisches Schaffen ganz allgemein höchst vielsagend ist:
    „Diese Mischung aus Transzendenz, Diesseitigkeit und Natur in den Flöten und Piccoli-Soli, das ist unglaublich, das ist einmalig. So etwas kenne ich überhaupt nicht noch einmal in der Literatur; und ich könnte es auch bei keinem anderen ertragen. Wenn bei einem anderen Komponisten die Vöglein singen, möchte ich am liebsten gleich nach Hause gehen.“ (Mahler im Gespräch, Stuttgart 2002, S.54)

    Der „Attacca“-Auftritt der Musik erstreckt sich bis Takt 39, geht dabei aber kontinuierlich, auch weil die Blechbläser sich zurücknehmen und die Streicher erst mit Tremoli, dann mit eigenen Figuren stärker in den Vordergrund treten, in den Bereich des Pianos über. Mit Part. Z 3 setzt sie zu einem neuen Gestus und einer neuen Thematik an. Dieser Vorgang, Neuansatz mit gewandelter Thematik, Durchführung in Gestalt von Variationen und langsames Ausklingen am Ende, wiederholt sich nun immer wieder bis hin zu Part. Z. 28, wobei allerdings eine immer mehr sich steigernde Expressivität in die Musik kommt. Zunächst bleibt sie aber noch im Bereich der Verhaltenheit. Bei Part. Z 3 setzt sie mit einem Hörner-Ruf ein, dem triolische Achtelfiguren der Oboen nachfolgen. Das wiederholt sich gleich noch einmal, nun aber vom kleinen Fernorchester ausgeführt, denn ein solches Mahler hier eingesetzt, um den Raum orchestraler Musik und dessen, was sie zu sagen hat, zur großen Welt hin auszuweiten.
    Es ist wirklich so, wie Mahler das gegenüber Natalie Bauer-Lechner betont hat: „Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.“

    Keine Beschreibung der Anlage und Binnenstruktur der Musik des Finales soll jetzt noch folgen, nur eine Wiedergabe von Impressionen, Höreindrücken, wie sie sich in der Rezeption der Videoaufzeichnung der Aufführung der Sinfonie durch das Concertgebouw Amsterdam unter der Leitung von Leonard Bernstein einstellen, die mich die ganze Zeit über begleitet, mich immer wieder aufs Neue begeistert und für mich das interpretatorische Nonplusultra darstellt.
    Nach dem Ruf der Hörner treten kleine musikalische Figuren in die Musik, flirrend, fallend, von den Holzbläsern und den Harfen eingebracht, dunkle Töne der Hörner und Posaunen treten hinzu, dann ein dumpfer Trommel-Wirbel. Flöte und Oboe lassen eine Melodiie erklingen, Streicher-Pizzicati begleiten sie, die Blechbläser setzen sie fort, die Streicher fallen ein, die Musik geht zum großen Tutti über. Nun wieder der Eingangs-Hörnerruf mit den nachfolgenden Achtel-Triolen der Oboen. Alles wiederholt sich noch einmal.

    Dann ein neues Thema. Markanter kleiner Sekundfall in Moll gebettet, vorgetragen von den Holzbläsern, dramatischer Anstieg in Schritten, an denen sich die Streicher und die Blechbläser beteiligen, die Musik steigert sich in den Forte-Bereich und hält darin inne. Nach kurzer Pause das nächste Thema: Kantatenhafte Melodik, terzenbetont von den Hörnern vorgetragen. Wieder begleiten Streicher-Pizzicati, Blechbläser treten hinzu, die Musik steigert sich wieder ins Forte, geht in Dur-Harmonik über, Trommelwirbel akzentuieren sie, und in schmetterndem Ton der Trompeten setzt das nächste Thema ein.

    Es ist eines, das glorios-emphatischen Geist atmet und an dessen Artikulation sich nun alle Instrumentengruppen beteiligen, dabei immer wieder von mächtigen Paukenschlägen unterstützt. Ein Innehalten in einem hellen, lang gehaltenen Trompetenton, Harfenklänge im Quartfall, Trommelwirbel, sich ins Fortissimo steigernd, eine schmetternder Trompetenakkord, neues lautes Trommel-Tremolo, und nun eine geradezu hektisch sich entfaltende Musik der Streicher.
    Das nächste Thema ist da. Es ist eines, das von lebhaften, sprunghaften, über große Intervalle erfolgenden Bewegungen geprägt ist, in die die Schlaginstrumente immer wieder starke Akzente setzen, bis dann schließlich das ganze Orchester in ein überaus markantes hüpfendes Gestampfe übergeht.

  • Zu Satz 5 (2)

    Diese Wiedergabe von Hör-Impressionen soll nicht weiter fortgeführt werden. Der Geist der Finale-Musik dürfte deutlich geworden sein. Es ist, so kann man ihn aufnehmen und verstehen, einer, der sich über die variierende Verarbeitung einzelner Themen, von denen sich einige als Vorwegnahmen jener erweisen, die in der Schlusskantate eine wichtige Rolle spielen, und sich darin in immer größere Expressivität steigert, bis hin zu schrillen Tutti-Dissonanzen im dreifachen Forte, in denen mit einem Mal das „Dies irae“-Thema aufklingt. Der Komposition dieser Musik liegt ja – wie das generell bei der Ersten und der Zweiten der Fall ist – eine Art Programm zugrunde, das Mahler in die Worte gefasst hat:

    „Es ertönt die Stimme des Rufers: Das Ende alles Lebendigen ist gekommen – das Jüngste Gericht kündigt sich an, und der ganze Schrecken des Tages aller Tage ist hereingebrochen. Die Erde bebt, die Gräber springen auf, die Toten erheben sich und schreiten in endlosem Zug daher. Die Großen und die Kleinen dieser Erde – die Könige und die Bettler, die Gerechten und die Gottlosen – alle wollen dahin – der Ruf nach Erbarmen und Gnade tönt schrecklich an unser Ohr. Immer furchtbarer schreit es daher – alle Sine vergehen uns, alles Bewußtsein schwindet uns beim Herannahen des ewigen Geistes.
    Der >Große Appell< ertönt – die Trompeten der Apokalypse rufen; mitten in der grauenvollen Stille glauben wir eine ferne, ferne Nachtigall zu vernehmen, wie einen letzten zitternden Nachhall des Erdenlebens!
    Leise erklingt ein Chor der Heiligen und Himmlischen: >Aufersteh´n, ja aufersteh´n wirst Du<. Da erscheint die Herrlichkeit Gottes. Ein wundervolles, mildes Licht durchdringt uns bis ans Herz – alles ist still und selig! Und siehe da es ist kein Gericht – es ist kein Sünder, kein Gerechter, kein Großer – und kein Kleiner – es ist nicht Strafe und nicht Lohn!
    Ein allmächtiges Liebesgefühl durchleuchtet uns mit seligem Wissen und Sein.“

    Das, was Mahler in diesem Programm als intendierte Aussage seiner Musik darstellt, ist, wenn man darum weiß, in ihr ja auch tatsächlich zu vernehmen. Von Part. Z 17 an folgen die Passagen von eher verhaltenem Gestus und einem vorwärtsdrängenden. in Expressivität aufbrechenden immer dichter aufeinander, wobei letztere mehr und mehr das Übergewicht bekommen. „Immer vorwärts drängend“, „Mit einem Mal etwas wuchtiger“, „Heftig drängend“ (so Part. Z 20) lauten aufeinanderfolgend die Anweisungen. Bei Part. Z 21 tritt eine kurze Phase mit der Anweisung „Wieder zurückhaltend“ in sie, aber schon nach 19 Takten setzt sich der Gestus „Mit etwas drängendem Charakter“ wieder durch, und von Part Z. 24 an steigert sich die Musik in extreme fff-Expressivität, mit schmetternden Signalen der Trompeten triolischen Repetitionen der Hörner, in die Tiefe fallenden und sich wieder erhebenden Achtelfiguren der Tuben und Posaunen, Tremoli der großen Trommel und mächtigen Beckenschlägen.

    Man kann in dieser Musik durchaus die von Mahler beschriebenen Bilder und Vorgänge vernehmen, aber davon einmal abgesehen stellt sie sich, so wie Mahler sie Von Beginn des Finales an bis zu Part. Z 28 kompositorisch gestaltet und angelegt hat, als ein von tiefer, aus der Vergegenwärtigung vergangener Lebensphasen hervorgehender Unruhe angetriebenes Vorwärtsdrängen hin zum Akt der großen Erlösung dar.

    Die Erlösung, das ist das, was die Musik mit dem Chorgesang „Aufersteh´n“ zu sagen hat, auf den sie nicht nur im Finale, sondern in allen ihren Sätzen davor letzten Endes zuläuft. Aber sie geht in dieses ihr Ziel und Ende nicht einfach mit dem Ausklingen der großen Emphase über, in die sie sich ab Part. Z 26 und aufgipfelnd in Z 27 hineingesteigert hat. Zu vor ereignet sich Ungewöhnliches.

    Es ereignet sich in großer Stille, sempre „pp“ und „ppp“. „Sehr langsam und gedehnt“ lautet die Vortragsanweisung. Zwei Gruppen von Instrumenten artikulieren sich: Die eine, Trompeten, Hörner und Paule „in weiterer Entfernung“, die andere, Flöte, Piccolo und große Pauke, „im Orchester. Für die Trompeten gibt Mahler eine „Anmerkung für den Dirigenten: die 4 Trompeten müssen aus entgegengesetzter Richtung her erklingen.“

    Ein Wirbel der großen Trommel setzt ein und hält sieben Takte lang vor, es erklingt ein Quartruf des Horns und hallt lange nach, fermatierte Pause, der Ruf erkling noch einmal, wieder eine lange Pause, ein drittes Mal das Horn, nun aber sich im Ruf in die Höhe fortsetzend, Pause, die F-Trompete setzt mit einem Terzruf ein, ein zweiter folgt nach einer fermatierten Pause, „wie eine Vogelstimme“ gibt die Flöte vier Einzeltöne von sich und geht in einen Triller über, erste und zweite Trompete lassen im Zusammenspiel fallende Achteltriolen erklingen, die in einen lang gehaltenen Akkord münden, den die Pauke mit einem Schlag begleitet.
    Wieder eine sehr lange Pause, nun erklingt, „leicht und luftig gespielt“, von der Piccoloflöte erst eine triolische Folge von Einzeltönen in Quartsprung-Gestalt, dann, nach einem Triller, ein fallendes und wieder steigendes Zweiunddreißigstel-Arpeggio, eingeleitet mit einem Paukenwirbel setzt das Horn erst mit einem „sehr langsam und sehr entfernt“ artikulierten Quintsprung mit Dehnung ein, dem „schnell“ ein schmetternder Trompetenruf folgt, der ebenfalls in eine Dehnung übergeht. Und wieder ruft die Piccolo-Flöte,

    Die Aufeinanderfolge von Horn-Quintsprung und Trompetenschmettern wiederholt sich, geht nun aber in ein über zwei Takte gehaltenes „G“ über, das sich danach erst in einem Halbtonschritt zu einem „Gis“ erhöht, wieder zwei Takte gehalten wird, um danach mit der Wandlung der Harmonik zu einem „As“ zu werden. Auch der Flöten-Quartruf erklingt erneut, ebenso der des Horns, nun aber als Quintfall mit nachfolgendem Quartsprung, der in einen Sekundanstieg übergeht von der Paule mit einem Wirbel begleitet. Nun haben nur noch die Flöten, die erste und die Piccolo das Sagen, denn alle anderen Instrumente halten je einen Ton, der mit dem der anderen zusammen einen leisen Akkord bildet. Ein schneller Zweiunddeißigstel-Fall kommt von der Flöte, nach dem Zwischenruf der Piccolo-Flöte setzt diese aber im vierfachen Piano zu Sprungbewegungen in hoher Lage an, die in einen Sechzehntelfall mit nachfolgendem Quartsprung übergehen. Und nach einem letzten doppelten pp-Quartfall-Ruf der Piccolo-Flöte verhallt der der ersten in Gestalt eines dreifachen, in eine lange Dehnung übergehenden „Cis“ in hoher Lage.

    Und da hinein klingt, in Ges-Dur-Harmonik gebettet, „Langsam. Misterioso“ wie aus der Ferne kommend, weil im dreifachen Piano einsetzend, der Chor auf, - mit dem Wort „Aufersteh´n“ in Gestalt eines wunderbar ruhigen, weil im Wert von halben Noten deklamatierten Sekundschritts von einem tiefen „Des“ zu einem „Es und wieder zurück, um sich dort einer langen Dehnung zu überlassen, der eine Viertelpause nachfolgt.
    Auch die nachfolgenden Worte „ja aufersteh´n“ strahlen diese große, geradezu überirdisch anmutende Ruhe aus, denn hier setzt die melodische Linie bei dem Wort „ja“ von einem tiefen „H“ aus mit einem Ritardando Sekundsprung zum „Des“ ein, beschreibt aber dann bei „aufersteh´n“ nach einem Quartsprung einen sehr langsamen, legato erfolgenden, in zwei Schritten einen Sekundfall im Wert von halben Noten und endet wiederum in einer fermatierten Dehnung mit nachfolgender Pause.

  • Zu Satz 5 (3)

    Was ist hier geschehen?
    Nach dem immer wieder erneut in ein gewaltiges Espressivo Ausbrechen der sinfonischen Musik mit einem Mal diese geradezu befremdlich anmutende Stille, in der es nur noch singuläre, von einzelnen Instrumenten pianissimo ausgeführte und teilweise aus der Ferne hereinklingende Ereignisse gibt, - zu denen, so mutet das an, ja auch das Aufklingen des Chors gehört, ereignet es sich doch in dem Ausklingen des hohen Flötentons „Cis“, das Mahler ausdrücklich mit den Worten „sich verlierend“ versehen hat. Wie ist das zu verstehen?

    Zu dieser Frage findet man in dem Buch „Die Musik Gustav Mahlers“ von Hans Heinrich Eggebrecht (Wilhelmshaven 1999) eine - wie bei ihm üblich - hochgescheite und überdies überzeugende, weil aus der Analyse der Partitur gut begründete Antwort.
    Er vernimmt in dieser mit Part. Z 29 einsetzenden und auf so überraschende Weise aus ihr herausragenden Passage der sinfonischen Musik jenen „großen Appell“, von dem Mahler in seinem Kommentar zum Finale spricht. Und er stützt sich dabei auf die Tatsache, dass Mahler im Partitur-Autograph diese Passage mit der Überschrift „Der große Appell“ versehen hat.


    Der Abschnitt Part. Z 29 bis 30 ist für ihn „der gedankenmusikalisch wichtigste des Finales“, ja sogar der ganzen Symphonie, weil er eine Art „Umschlagstelle von einem Aussagebereich der Musik zu einem gänzlich anderen“ darstelle. Damit meint er den Übergang der vorangehenden Musik, die er – im Sinne Mahlers – als nach dem Dies-irae-Thema einsetzenden „Marsch zum jüngsten Gericht“ auffasst. Der davon sich deutlich abhebende andere „Aussagebereich“ beginnt mit dem „Misterioso“-Einsatz des Chores und mündet, ohne dass das „Jüngste Gericht“ tatsächlich zu einem musikalischen Ereignis wird, in die Verkündung der Gewissheit der Auferstehung. Das von Mahler verwendete Wort „Appell“ versteht er in einer Transposition der militärisch konkreten Bedeutung „Antreten zur Befehlsausgabe“ auf die allgemeine Ebene als „Bereitsein zum Empfang einer Mitteilung“.

    Und hier setzt nun seine Interpretation der Musik der besagten Passage ein, die mich sehr beeindruckt und überzeugt hat. Der Mensch muss innerlich bereit sein für den Empfang der die Transzendenz betreffenden Mitteilung, wie sie mit den Worten des Chors „Aufersteh´n, ja aufersteh´n wirst du“ einsetzt und in die Gewissheit mündet: „Sterben werd´ ich, um zu leben“.
    Bereit sein aber heißt: Er muss sich gleichsam von seinem irdischen Dasein lösen und befreien. Dieser Vorgang wird, so hört und versteht Eggebrecht diesen Abschnitt des Finales, von Mahler in dieser Passage der Sinfonie unter Einsatz der ganz spezifischen musikalischen Ausdrucksmittel dargestellt. Ich habe vorangehend diese deshalb so detailliert zu beschreiben versucht, damit man die sachliche Berechtigung dieser Interpretation überprüfen kann. Und sie ist, wie ich finde, voll und ganz sachlich fundiert.

    Die Ablösung und Befreiung vom Irdischen ist, so Eggebrecht, „zunächst versinnlicht durch die Aufhebung der gewohnten musikalischen Raumvorstellung“. Er bezieht sich damit auf die von Mahler vorgenommene Trennung von musikalischen Signalen „aus weiter Entfernung“ und solchen „im Orchester“. Das „Schwinden des Zeitgefühls“ sieht er bewirkt durch die Vielzahl der Mahlerschen Anweisungen, die ich hier einmal zitieren möchte: „Lang, „sehr lang“, „schnell und schmetternd“, „viel näher und stärker“, „langsam“, „sehr langsam“ , „immer fern und ferner“ und zum Schluss mehrfach „sich verlierend“.
    Das „Aufheben des Denkens in der Zeit als Geschehen und Geschichte, Ursache und Folge“ sieht er bewirkt „durch den extremen Episodencharakter“ des Abschnitts. Und dann fasst er, unter Bezugnahme auf seine, das ganze sinfonische Schaffen Mahlers betreffende „Vokabel“-Hypothese, seine Interpretation dieses Abschnitts in den Worten zusammen:

    „Konkret ausgefüllt wird das exterritoriale Feld hauptsächlich durch drei Vokabeln: Ruf, Signal und Vogelstimmen, die das Auslöschen des menschlichen Wollens und Willens dadurch bewerkstelligen, daß sie selbst gleichsam exterritorial sind, das heißt nicht aus der Sphäre subjektiv emotionalen Fühlens und Empfindens, sondern aus einer Welt jenseits der irdischen Befindlichkeit stammen.“ (S.95)

    Eggebrechts reflexiv tiefschürfende Interpretation dieser Übergangspassage in der sinfonischen Musik hat mir buchstäblich Augen und Ohren geöffnet für das, was sich hier musikalisch ereignet, und sie hat zu meinem Verständnis der kompositorischen Anlage der ganzen Zweiten Symphonie und ihrer musikalischen Aussage einen überaus wichtigen Beitrag geleistet.
    Aber damit möchte ich es nun gut sein lassen, die Gestalt der Musik des fünften Satzes betreffend. Nur noch die Aspekte, die für die zentrale Fragestellung dieses Threads von Belang sind, bedürfen noch einiger abschließender gedanklicher Einlassungen.

  • Zu Satz 5 (4)

    Auch hier, im Schlusssatz seiner „Zweiten“ hat Mahler wieder zur Liedmusik als dem maßgeblichen kompositorischen Ausdrucksmittel gegriffen, und dies sogar in ihrer wortbezogenen und –fundierten Gestalt, - nun allerdings in Gestalt einer Kombination aus Chorsatz und solistischem Gesang. Nach allem, was die bisherigen analytischen Betrachtungen der Musik der Ersten und Zweiten Symphonie ergeben haben, möchte man sagen:
    Er musste es tun. Denn nur mit dem Mittel der Liedmelodik, die im äußersten Fall die wortbezogen-gesangliche sein muss, vermag er Aussagen von höchster personaler Relevanz den musikalisch adäquaten Ausdruck zu verleihen. Hier, bei der Zweiten, ist es die Verkündung des Glaubens an eine Auferstehung nach dem Tod. Wobei ich angesichts der so hochgradig emphatischen Weise, in der das geschieht, eher von einer Beschwörung dieses Glaubens sprechen möchte.

    In einem an Arthur Seidl gerichtetem Brief aus dem Jahr 1897 findet sich eine aufschlussreiche Bemerkung Mahlers, das Verhältnis Wort und Musik betreffend:
    „Wenn ich ein großes musikalisches Gebilde konzipiere“, so heißt es dort, „so komme ich immer an den Punkt, wo ich mir das >Wort< als Träger meiner musikalischen Idee heranziehen muß. (…) Mir ging es mit dem letzten Satz meiner II. einfach so, daß ich wirklich die ganze Weltliteratur bis zur Bibel durchsuchte, um das erlösende Wort zu finden.“

    An den „Punkt“, so verstehe ich diese Äußerung Mahlers, kommt er immer dann, wenn die „musikalische Idee“ eine von eben dieser personalen Relevanz ist, seine existenzielle Grundhaltung und seine weltanschaulichen Überzeugungen betreffend. Und da benötigt er „das Wort“ als „Träger“ dieser „Idee“, der, wie es dieser Begriff ja verrät, genuin weltanschaulich geprägten und personal relevanten Aussage, die ihm am Herzen liegt. Und weil diese für ihn als Komponisten eine eminent musikalische ist, muss er zur Liedmusik als Ausdrucksmittel greifen, eben weil diese wie keine andere sonst eine wesenhaft wortgenerierte Form von Musik ist.

    Auf das „erlösende Wort“ stieß er übrigens bei der Teilnahme an der Totenfeier von Hans von Bülow. Dort intonierte ein Chor nämlich den Klopstock-Choral „Auferstehen“.
    Höchst aufschlussreich, was meine These von der Bedeutung des Aspekts „personale Relevanz“ anbelangt, ist die Art und Weise, wie Mahler diese Klopstock-Verse für seine kompositorische Aussage-Intention einsetzt. Diese sind eigentlich, wie die dritte Strophe das zum Ausdruck bringt, Ausdruck gläubiger Ergebenheit in Gottes Willen:
    „Tag des Dank´s, der Freudenthränen Tag!
    Du meines Gottes Tag!
    Wenn ich im Grabe genug geschlummert habe,
    erweckest du mich.“

    Aber eben diese Strophe verwendet Mahler nicht. Er benutzt nur die beiden ersten und ergänzt sie durch sechs eigene. Die erste lautet
    „O glaube, mein Herz, es geht dir nichts verloren!
    Dein ist, ja dein, was du gesehnt,
    Was vergangen, auferstehen!
    O glaube: du wardst nicht umsonst geboren,
    Hast nicht umsonst gelebt, gelitten.“
    Und die letzte:
    „Aufersteh´n, ja aufersteh´n wirst du,
    Mein Herz, in einem Nu!
    Was du geschlagen,
    Zu Gott wird es dich tragen.“

    Allein schon der semantische Gehalt der textlichen Weiterführung von Klopstocks Versen, von der Musik darauf mal ganz abgesehen, bringt mich dazu, im Finale des fünften Satzes nicht ein als Verkündigung angelegtes Bekenntnis des Glaubens an Auferstehung zu vernehmen, sondern eine emphatische Beschwörung desselben in der Absicht, dem menschlichen Leben und Leiden eine Sinnhaftigkeit abzuringen.
    Mit der schlichten Glaubensüberzeugung Klopstocks, die sich in den Worten ausdrückt „Wieder aufzublüh´n, werd´ ich gesä´t“ konnte sich Mahler nicht zufrieden geben. Vielleicht, weil er sie nicht wirklich zu teilen vermochte? Ich weiß es nicht.

    Wie tief Mahlers christliche Gläubigkeit reichte, ist in der Literatur umstritten. Aber er setzt in seinen sechs hinzugefügten Strophen ja einen Akzent, der nicht auf ein religiöses Bekenntnis, sondern in den zentralen Worten „Hast nicht umsonst gelebt, gelitten“ auf eine Lebenshilfe hinausläuft.
    Und wie sehr sich all das auch an ihn selbst richtet, aus einem inneren Ringen um diese Sinnstiftung menschlicher Existenz hervorgeht, das lässt der Übergang des Texts von der – partiell imperativischen – sprachlichen Ebene der Allgemeingültigkeit in die der personalen erkennen. Die zweitletzte Strophe lautet:

    „Mit Flügeln, die ich mir errungen
    Werde ich entschweben!
    Sterben werd´ ich, um zu leben!“

    Zweimal ein Ausrufezeichen. In diesen Versen artikuliert sich ein Gustav Mahler, der, um die Sinnhaftigkeit seines Lebens und all des Kampfes und Leidens darin ringend, zu einer Glaubensgewissheit gelangt ist, die er der Menschheit mitzuteilen sich berufen fühlt, weil er dies als seinen Auftrag als Komponist versteht.
    Der Musik des fünften Satzes dieser Symphonie, und damit auch der aller vorausgehenden Sätze, findet sie doch in dieser zu sich selbst, liegt also ein hochgradig personal motiviertes künstlerisch-kompositorisches Aussagebedürfnis zugrunde.
    Um das kompositorisch in voll adäquater Weise umzusetzen, muss er, weil der rein instrumentalen Musik das erforderliche semantische Potential abgeht, zur Liedmusik als Ausdrucksmittel greifen. Und dies gleich in ihrer höchstentwickelten Gestalt: Als Chor- und einzelstimmlicher Liedgesang in Einheit.

    In dem exzellenten Mahler-Kenner Kurt Blaukopf (Gustav Mahler, Wien 2011) sehe ich mich in meinem Verständnis der Musik des Finales der „Zweiten“ bestärkt.
    Er kommentiert Mahlers Verwendung der Klopstock-Verse mit den Worten:
    „Mahler verwandelt den gläubig ergebenen Text (Klopstocks) in eine Beschwörungsformel, die den Tod überwindet: >Hör auf, zu beben, bereite dich, zu leben!“ (…) Die Beharrlichkeit, mit der Mahler jahrelang um das Finale dieser Symphonie rang, ist nur zu begreifen, wenn man die tiefe Überzeugung Mahlers von seiner eigenen Sendung bedenkt. Er ist von der Idee besessen, sein kompositorisches Schaffen sei im höheren Sinn des Wortes unverlierbar, und er scheut nicht vor dem Ausspruch zurück, Kunst und Menschheit wären ärmer ohne seine c-Moll-Symphonie. (…) Bei Mahler gewinnt diese Philosophie kompositorische Relevanz. Sie wird zu einem Werkstattprinzip, das Kontinuität des Schaffens gewährleisten soll.“ (S.126/27)

  • Zum Schluss

    Obgleich ich mich, anders als geplant, nur auf das Material der analytischen Betrachtung von lediglich zwei Symphonien und nicht das von vier stützen kann, denke ich doch, zu einer sachlich hinreichend fundierten Antwort auf die zentrale Frage dieses Threads gelangt zu sein. Eigentlich hätte ich es mir ja leicht machen und auf diese ins Detail gehende und damit recht umfangreich gewordene Betrachtung der Musik von Mahlers Erster und Zweiter Symphonie verzichten können, denn es war, als ich auf diese Frage bei der Beschäftigung mit Mahlers Liedern stieß, von vornherein klar, dass es sich bei der Inanspruchnahme von einigen derselben für die Komposition sinfonischer Musik nicht um simple, aus welchen Gründen auch immer vorgenommene Kopie handelt, sondern das etwas mit der grundlegenden kompositorisch-musikalischen Aussage-Intention Mahlers zu tun haben musste.

    Denn es ist ja doch auffällig. Auch von anderen Komponisten gibt es Vokalsymphonien, also sinfonische Musik, in die ein Chorsatz und im Zusammenhang damit gesanglicher Einzelvortrag einbezogen ist. Neben dem bekanntesten Fall, Beethovens Neunter, wären hier etwa Mendelssohns zweite Symphonie mit dem Titel „Lobgesang“ und Liszts „Faust-Symphonie“ und seine „Dante-Symphonie“ zu nennen. Aber vielleicht auch die „Symphonie funêbre et triomphale“ mit ihrer „Apothéose“ mit Chor ad libitum, oder auch die weltlichen Kantaten von Johannes Brahms.
    Aber bei keinem dieser Komponisten kommt der Gattung „Vokalsymphonie“ eine so wesentliche Rolle als musikalisch-kompositorisches Ausdrucksmittel zu, und bei keinem ist instrumentale und gesangliche Liedmusik ein solch bedeutsamer, für die intendierte kompositorische Aussage konstitutiver Bestandteil der Sinfonie, wie das bei Mahler der Fall ist. Und es ist diesbezüglich vielsagend, dass er sein „Lied von der Erde“, bei dem es sich um ein sinfonisches Werk in Gestalt von Orchesterliedern als Satz handelt, zu seinen „persönlichsten“ Werken zählte.

    Dieser Sachverhalt legt die Vermutung nahe, dass der kompositorische Griff zur Liedmusik als musikalisches Ausdrucksmittel in Mahlers Haltung als Mensch und der daraus hervorgehenden Eigenart seines künstlerisch-kompositorischen Schaffens gründen muss. Man hätte also einfach im vorliegenden schriftlichen Quellenmaterial suchen können und wäre wahrscheinlich zu relevanten Erkenntnissen gelangt, denn Mahler hat diesbezüglich auf umfangreiche Weise Stellung genommen, in Briefen und mündlichen Äußerungen, wie sie von Natalie Bauer-Lechner überliefert sind. Aber das allein hätte nicht genügt, um die Antwort auf die zentrale Thread-Frage zu mehr als eine schlichte Hypothese werden zu lassen. Analytische Musikbetrachtung war angesagt, weil erforderlich.

    Gleichwohl möchte ich, bevor ich deren Ergebnisse abschließend auf einen Nenner zu bringen versuche, doch noch, um sie auf die Ebene des Allgemeingültigen und Grundsätzlichen zu heben, auf Mahlers einschlägige Äußerungen eingehen. Man stößt auf einen auf den ersten Blick nicht recht erklärlichen Widerspruch in ihnen, die Frage betreffend, ob seinen Sinfonien ein inneres Programm zugrunde liegt.

    Diesbezüglich ist zunächst einmal festzustellen:
    Allen vier „Wunderhorn“-Symphonien lagen bei der Komposition mehr oder weniger ausführliche und von Mahler selbst verfasste Programme zugrunde. Auf die der beiden ersten Symphonien wurde ja vorangehend mehrfach eingegangen. Mahler aber hat diese Programme allesamt zurückgezogen, sich davon ausdrücklich distanziert und die Partituren ohne jegliche programmatische Titel und Zusätze publiziert.
    Die markanteste Distanzierung vom musikalischen Programm ereignete sich anlässlich einer Aufführung der Zweiten Symphonie am 20. Oktober 1900 durch den Münchener Hugo-Wolf-Verein. Über das Treffen einer „illustren Gesellschaft aus ersten Künstlern, Gelehrten und Schriftstellern“ danach liegt ein Bericht von Ludwig Schiedermair vor. Und danach soll Mahler vom Tisch aufgesprungen und mit bewegt Worten ausgerufen haben:

    „Fort mit den Programmen, die falsche Vorstellungen erzeugen. Man lasse dem Publikum seine eigenen Gedanken über das aufgeführte Werk, man zwinge es während der Wiedergabe nicht zum Lesen, man bringe ihm kein Vorurteil bei! Hat ein Komponist den Hörern von selbst die Empfindungen aufgedrängt, die ihn durchfluteten, dann ist sein Ziel erreicht. Die Tonsprache ist dann den Worten nahegekommen, hat aber unendlich mehr, als diese auszudrücken vermögen, kundgegeben.“
    Und dann soll er sein Glas ergriffen und mit den Worten geleert haben: „Pereat den Programmen“.

    Auf solche Äußerungen Mahlers und sein damit einhergehendes Verhalten stützte sich schon früh die These, dass es sich bei Mahlers Sinfonik um „absolute Musik“ handele. Deren prominenteste Vertreter waren u. a. Guido Adler, Paul Bekker. Richard Specht, Bruno Walter und auch Theodor W. Adorno. Bemerkenswert ist aber, dass schon Ludwig Scheidermair, aber auch Arthur Seidl damals Zweifel an der Gültigkeit und Berechtigung von Mahlers Distanzierung vom musikalischen Programm kamen. Sie sahen, wie Seidl das formulierte, darin einen „Widerspruch zu den eigensten artistischen Tendenzen“.
    Und sie hatten gute Gründe dazu. Schließlich gab es auch Mahlers Bekenntnis des Glaubens an die „inneren Programme aller modernen Musik“ und die Feststellung, dass es „von Beethoven angefangen keine moderne Musik gebe, die nicht ihr inneres Programm“ habe.

    Darauf soll jetzt nicht näher mehr eingegangen werden. Zur Frage, ob es sich bei Mahlers Sinfonik um „Programmmusik“ handele, liegt eine ausführliche Untersuchung von Constantin Floros vor (Gustav Mahler, Bd.1, Wiesbaden 1977). Er kommt darin zu dem Ergebnis:

    „Mahlers symphonisches Oeuvre gibt sich bei näherer Untersuchung als Programmusik zu erkennen, freilich als >esoterische< Programmusik, die sich von der rein >illustrierenden< Spezies der Gattung in mancher Hinsicht unterscheidet. Der wichtigste Unterschied: die Programme Mahlers sind nicht immer Werken der Weltliteratur entlehnt, sondern bringen häufiger persönliche Erlebnisse, Bekenntnisse, Visionen oder weltanschauliche Ideen zum Ausdruck. (…)
    Zwischen der Symphonik Mahlers und seiner Weltanschauung besteht ein inniger Zusammenhang. Erst wenn man sich Klarheit über diesen Punkt verschafft hat, vermag man auch den tieferen Sinn der zunächst rätselhaft anmutenden Äußerung zu verstehen, daß Mahlers >Musik schließlich zum Programm als letzter ideeller Verdeutlichung gelang, währenddem bei Strauss das Programm als gegebenes Pensum daliegt< (GMB 228). Auch den vielgerühmten rein instrumentalen Symphonien Mahlers (der Fünften, Sechsten, Siebenten, Neunten und Zehnten) liegen >innere<, esoterische Programme zugrunde, die Mahler freilich verschwiegen hat.“ (S.29/30)

    So abwegig das Sich-Einlassen auf diese Frage des Wesens von Mahlers sinfonischer Musik hier anmuten mag, - es hat unmittelbar mit der Leitfrage dieses Threads zu tun. Und warum?
    Die „esoterische Programmatik“ der Symphonien Mahlers ist, so meine ich erkannt zu haben, die Folge von dessen hoch ausgeprägtem, mit einem regelrechten Sendungsbewusstsein einhergehenden künstlerisch-kompositorischen Aussage-Willen. Dieser wiederum gründet in seinem unmittelbaren personalen Erleben von Lebenswelt und der kognitiven und emotionalen Auseinandersetzung damit. Und schließlich bringt die Notwendigkeit, die diesem Aussage-Willen voll adäquaten musikalischen Ausdrucksmittel zu finden, seine spezifische und darin einmalige Musiksprache hervor, die wesenhaft von der Verwendung von „Vokabeln“ und dem Einsatz von Liedmelodik in ihren verschiedenen Varianten geprägt ist.

  • Mahlers sinfonische Musik bezieht die ihr eigene und sie von der seiner zeitgenössischen Komponisten-Kollegen so deutlich abhebende Gestalt wesenhaft aus dem personalen Erlebnis, aus der Auseinandersetzung des Menschen Mahler mit den Gegebenheiten seiner Lebenswelt in ihren für ihn existenziell relevanten Gegebenheiten, wobei den allgemein gesellschaftlichen und politischen eine nicht unerhebliche Bedeutung zukommt. Aber auch das ganz persönliche Erlebnis, etwa die Erfahrung von zwischenmenschlicher Beziehung oder von sich von städtischem Leben in ihrer Unberührtheit abhebender Natur können zur Quelle von Musik werden.
    Natalie Bauer-Lechner berichtet, dass Mahler, versunken „in den wundervollen Ausblick“ von einer Alpenhütte und „in die tiefe Stille des Ortes“ Mahler gesagt haben soll:
    „Die Musik muß immer ein Sehnen enthalten, ein Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus.“

    Die Bedingtheit der Musik im Erlebnis ist vielfältig durch überlieferte Äußerungen von Mahler selbst bezeugt. Etwa in diesen:
    An Oskar Bie, 3. April 1895:
    „Meine Musik ist >gelebt<, und wie sollten sich diejenigen zu ihr verhalten, die nicht >leben<, und zu denen nicht ein Luftzug dringt von dem Sturmflug unserer großen Zeit.“
    An Max Marschalk, 17.12. 1895:
    „Der Parallelismus zwischen Leben und Musik geht vielleicht tiefer und weiter, als man jetzt noch zu verfolgen imstande ist.“
    Oder an Max Marschalk, 26.3. 1896:
    „Ebenso, wie ich es als Plattheit empfinde, zu einem Programm Musik zu erfinden, so sehe ich es als unbefriedigend und unfruchtbar an, zu einem Musikwerk ein Programm geben zu wollen. Daran ändert die Tatsache nichts, dass die Veranlassung zu einem musikalischen Gebilde gewiß ein Erlebnis des Autors ist, also ein Tatsächliches, welches doch immerhin konkret genug wäre, um in Worte gekleidet werden zu können.

    Diese zweite, an Max Marschalk gerichtete briefliche Äußerung ist übrigens recht aufschlussreich, das Thema „Programm-Musik“ betreffend. Sie belegt, dass Mahler tatsächlich ein „Programmmusiker“ ist, wenn man, wie Constantin Floros das vorgeschlagen hat, „Programm“ als ein „esoterisches“ versteht, als ein dem kompositorisch-schöpferischen Akt innerlich zugrunde liegendes. Und bei Mahler geht dieses eben wesenhaft aus dem „Erleben“ in all seinen vielen Gestalten und der inneren Auseinandersetzung damit hervor.
    Eine Äußerung, gegenüber Natalie Bauer-Lechner im Juli 1893 getätigt und seine beiden ersten Symphonien betreffend, belegt das auf eindrückliche und vielsagende Weise:

    „Meine beiden Symphonien (die erste und die zweite) erschöpfen den Inhalt meines ganzen Lebens: es ist Erfahrenes und Erlittenes, was ich darin niedergelegt habe, Wahrheit und Dichtung in Tönen. Und wenn einer gut zu lesen verstünde, müßte ihm in der Tat mein Leben darin durchsichtig erscheinen. So sehr ist bei mir Schaffen und Erleben verknüpft, daß, wenn mir mein Dasein fortan ruhig wie ein Wiesenbach dahinflösse, ich – dünkt mich – nichts Rechtes mehr machen könnte.“

    Man könnte jetzt gerade noch einmal die Musik dieser beiden Symphonien durchlaufen und der Frage nachgehen, worin sich denn das „Erfahrene und Erlittene“ ganz konkret musikalisch niedergeschlagen hat. Aber ich glaube, dass dies schon aufgezeigt wurde, - in der Erfahrung von erwachender Natur im Eingangssatz der Ersten etwa, oder der Art und Weise, wie sich die innere Auseinandersetzung mit realweltlicher Lebenswelt in der kompositorischen Verarbeitung der Frère-Jacques-Melodik oder der vom „Fischpredigt“-Lied niedergeschlagen hat, oder in der musikalischen Beschwörung der Möglichkeit einer Erlösung aus der existenziellen Gefangenschaft in dieser Welt, wie sie sich im Lied „Urlicht“ und der „Auferstehungskantate“ der „Zweiten“ ereignet.

  • Mahler soll, wie Richard Specht berichtet, im Jahr 1906, während der Arbeit an der achten Symphonie, die Frage gestellt haben:
    „Können Sie sich eine Sinfonie vorstellen, die von Anfang bis Ende durchgesungen wird? (…) Es ist doch eigentlich merkwürdig, daß niemand bisher auf diese Idee verfallen ist – es ist doch das Ei des Kolumbus, die >Sinfonie an sich<, in der das schönste Instrument, das es gibt, seiner Bestimmung zugeführt wird.“
    Auf diese „Idee“, so könnte man Mahler antworten, konnte vor ihm und auch zu seinen Lebzeiten gar kein anderer Komponist von sinfonischer Musik „verfallen“, weil für keinen von ihnen Liedmusik ein für diese infrage kommendes Ausdrucksmittel war. Auch für diejenigen, die Vokal-Sinfonien schufen, war sie das nicht in der Funktion und Relevanz, wie das bei Mahler der Fall war.

    Ich denke, dass mittels der analytischen Betrachtung der Musik der Ersten und der Zweiten Symphonie auf hinreichende Weise die Gründe dafür aufgezeigt werden konnten, warum für Mahler Liedmusik zu einem so wichtigen Medium des sinfonisch-musikalischen Ausdrucks wurde, dass er sie in der Wunderhorn-Tetralogie in allen ihren verschiedenen Gestalten in ungewöhnlich großem Umfang zum Einsatz brachte, aber auch in den nachfolgenden Symphonien immer wieder auf sie zurückgriff, - in Gestalt seiner wesenhaft melodisch angelegten Adagios nämlich. In dem der Neunten ereignet sich dann auf höchst eindrückliche Weise die Reduktion von Liedmelodik auf eine einzige instrumentale Stimme, der unmittelbar – typisch für den späten Mahler - ein hochexpressiver Fortissimo-Ausbruch in das orchestrale Tutti nachfolgt.

    Relevanz und Funktion von Liedmusik im Rahmen des sinfonischen Schaffens gründen, so meine ich aufgezeigt zu haben, in Mahlers kompositorischer und künstlerisch-intentionaler Grundhaltung. Sie ist, wie das im mit Beethoven einsetzenden Zeitalter des kompositorischen Subjektivismus bei allen bedeutenden Schöpfern klassischer Musik der Fall ist, in maßgeblicher Weise geprägt von der kognitiven und emotionalen Auseinandersetzung mit einer hochgradig disparaten und deshalb existenziell tief verstörenden und verunsichernden Lebenswelt.
    Bei Mahler schlägt sich diese Erfahrung, eben weil er seine Lebenswelt einerseits in ihrem realen Sosein reflektieren, sie aber andererseits aber mit einer Gegenwelt konfrontieren wollte, in einer ihrerseits hochgradig disparaten Musik nieder, die aus der oft unvermittelten Aneinanderreihung von höchst unterschiedlichen musikalischen Idiomen, der Einbeziehung volkstümlicher und populär-musikalischer Elemente und dem hochexpressiven Ausbruch in emotionale Extreme besteht und darin den traditionellen sinfonischen Satz sprengt.

    Die kompromisslose Entschiedenheit, mit der er sich als Komponist den Gegebenheiten seiner realen Lebenswelt stellt, führt dazu, dass er neben hochartifiziellen auch solche musikalischen Themen einsetzt, denen man den Vorwurf der Banalität gemacht hat. Arnold Schönberg, der ihn an sich bewunderte, war das so peinlich, dass er in seinen Äußerungen zu Mahlers Musik einfach darüber hinwegging. Hans Werner Henze kam allerdings In einem Vergleich zwischen Schönberg und Mahler, den er 1969 anstellte, zu der Feststellung, Mahler habe zwar „wenig dazu getan, neue Systeme zu erfinden, doch war er ein Zeuge seiner Zeit; seine Darstellung von Frustration und Leid in einer unmißverständlichen und direkten Musiksprache scheint mir interessanter und wichtiger als die der Resultate der Wiener Schule. Ich finde Mahler unaristokratisch, während alle drei Wiener (Schönberg, Berg und Webern) sehr viel Wert auf das Aristokratische ihres künstlerischen Verhaltens gelegt haben. Dieses >Sich öffnen jeder Schmach<, wie Werfel einmal sagte, findet sich doch nur bei Mahler.

    Zwar hat er in der Tat keine „neuen Systeme“ erfunden, gleichwohl war seine Musik zukunftsweisend. In dem hoch ausgeprägten Schwanken zwischen den Tongeschlechtern, das sich in ihr ereignet, drückt sich für Th. W. Adorno die Zukunftsgerichtetheit von Mahlers Musik aus. Er meint:
    „Tonalität, die im permanenten Dur-Moll-Spiel sich schärft, wird zum Medium der Moderne. (…) Die Mahlerschen Moll-Akkorde, welche die Dur-Dreiklänge desavouieren, sind Masken kommender Dissonanzen.“

    Wenn Mahler bekennt „Meine beiden (ersten) Symphonien erschöpfen den Inhalt meines ganzen Lebens: es ist Erfahrenes und Erlittenes, was ich darin niedergelegt habe“, so gilt das im Grunde für seine ganze Sinfonik. „Jede seiner Symphonien“, so stellt Constantin Floros fest, verleiht philosophischen Einsichten, religiösen Bekenntnissen, poetischen Visionen und Vorstellungen und literarischen Ideen musikalischen Ausdruck“. Richard Specht berichtet:
    „Ich entsinne mich, daß er mir auf einem Spaziergang sagte, er wüßte, daß er imstande sei, seine ganze Weltanschauung, seine philosophische Lebensauffassung ebenso in Tönen wiederzugeben, wie irgendeine Empfindung, einen Naturvorgang, eine Landschaft.“

    Aber es wäre ein Missverständnis, Mahlers Musik als Medium der Vermittlung von Weltanschauung aufzufassen. Sie transportiert sie nicht, sie reflektiert sie, greift sie mit musikalischen Mitteln auf, so dass daraus ein künstlerisches Werk wird. Hans Heinrich Eggebrecht hat das so dargestellt:
    „Indem Mahlers Musik sowohl die Realwelt und den durch sie ausgelösten Empfindungsreflex als auch die Gegenwelt (in der I. Symphonie: die Traumsphäre der Lindenbaum-Episode) und den Versuch einer Lösung der Weltendualität (wiederum in der I. Symphonie: der Durchbruch >al Paradiso<) zum Inhalt sich macht, umfaßt seine Musik beide Welten und reagiert auf sie; dadurch aber ist sie selbst und insgesamt eine >andere Welt<, jene, die nur der Innerlichkeit zugänglich ist und nur als Kunst Gestalt gewinnen kann.
    Die Realitätswelt ist die Verursachung der >anderen Welt< in dem doppelten Sinne, daß das Werk der Kunst Abbild der Wirklichkeitswelt ist und zugleich Einspruch und Anklage.“

    In dem ihm ganz eigenen stark weltanschaulich geprägten musikalischen Ausdrucksbedürfnis gründet Mahlers spezifische sinfonische Musik, die sich, eben infolge dieses hoch ausgeprägten künstlerischen Mitteilungswillens als solche durch, wie Adorno das formuliert har, „extreme Sprachähnlichkeit“ auszeichnet. Eines der kompositorischen Mittel, die Mahler nutzt, um diese „Sprachähnlichkeit“ in ihrem evokativen Potential zu steigern, ist, wie Eggenbrecht aufgezeigt hat, die „Vokabel“. Darunter versteht er „musikalische Gebilde innerhalb der komponierten Musik, die an vorkompositorisch geformte Materialien anknüpfen.“

    In dem oben in detaillierter Weise beschriebenen, dem Einsatz des Chores vorausgehenden Abschnitt des fünften Satzes der zweiten Symphonie setzt Mahler zum Beispiel drei solche Vokabeln ein: Den Ruf, das Signal und die Vogelstimme. Und Eggebrecht sieht in diesem Einsatz der Vokabel eine wesentliche Bedingung dafür, dass Mahlers Musik die von Adorno so genannte „extreme Sprachähnlichkeit“ zu entwickeln vermag. Er kommentiert die Passage der „Zweiten“ mit den Worten:
    „Daß Mahlers Musik die Imagination in so starkem Maß anregt, basiert auf ihrer vokubular sprechenden Art. Die semantisch aufgeladenen Substanzen (…) sind voll eines musikalischen Besagens, das die Phantasievorstellungen mächtig affiziert, sie bewegt und leitet.“

    Auf die neben dem Einsatz von „Vokabeln“ die Musik Mahlers ebenfalls stark prägende Einbeziehung von Liedmusik und die Frage, weshalb das geschieht, geht Eggebrecht in seinem großartigen Mahler-Buch nicht näher ein. In der Mahler-Literatur, soweit ich sie überblicke, wird diese Frage ebenfalls nirgends ausdrücklich thematisiert und reflektiert.
    Bei Adorno findet sich nur dieser allgemein gehaltene Gedanke:
    „Melodik war in Mahlers Epoche insgesamt problematisch. Die tonalen Kombinationsmöglichkeiten, zumal die diatonischen, sind zu verbraucht für jenes Neue, das seit Anfängen der Romantik Kriterium von Melodie war. Die neuen, chromatischen Konfigurationen tendieren zumindest im Anfang der Wagnerischen und nach-Wagnerischen Phase zur Verkleinerung, zur Reduktion aufs kurze Motiv, entsprechend den engen Melodieschritten. (…) Bei Reger wird Melodik atomisiert zu Sekundschritten, Strauss und Berlioz entwickeln die Technik des imprévu, des Abbrechens als Effekt.
    Mahler die die umgekehrte Konsequenz gezogen, Melodie dort diktiert, wo sie schon nicht mehr sein will, und damit den Melodien selber ihr Cachet verliehen.“ (S.274f.)

  • Ergebnis

    Eben deshalb, weil ich zu dieser Frage in der mir bekannten Mahler-Literatur nichts Rechtes finden konnte, sie mir sich aber regelrecht aufgedrängt hatte, wollte ich ihr hier in diesem Thread näher nachgehen.
    Und ich denke – wohlgemerkt als musikwissenschaftlicher Laie und deshalb mit den entsprechenden Vorbehalten – auf der Grundlage der analytischen Betrachtung der Musik der beiden ersten Symphonien zu folgender Erkenntnis gelangt zu sein.

    Dass Liedmelodik in ihren drei Grundgestalten (textfundierter Liedgesang, liedmelodisches Zitat und liedmelodisch inspirierte Musik) für Mahler zu einem wesentlichen, seine Sinfonik maßgeblich prägenden musikalischen Element wird, gründet in seiner von einem starken personalen Aussagewillen getragenen kompositorischen Grundhaltung.
    Sie eignet sich dabei insofern in besonderer Weise für ihn, als sie ihrerseits, weil aus dem persönlichen Angesprochen-Sein durch einen lyrischen Text hervorgehend, in ihrer spezifischen Struktur und in ihrer Klanglichkeit ein hohes personal ausgerichtetes semantisches und emotionales Aussage-Potential aufweist.
    Und eben deshalb ist sie für ihn dort das optimale kompositorische Medium, wo es um für ihn personal hochgradig relevante sinfonisch-musikalische Aussagen geht.

    Wie die Betrachtung der Musik der Ersten und der Zweiten Symphonie hat erkennen lassen sind das vor allem die, in denen sich die Evokation einer die reale Lebenswelt ideell überhöhenden und Erlösung aus ihren existenziellen Nöten versprechenden Gegenwelt ereignet. .
    Dass sie, wie das in der „Frére Jacques“- Episode geschieht, auch einmal dazu dient, diese reale Lebenswelt in ihrer abgrundtiefen Fragwürdigkeit zu enthüllen, ist im Grunde nur als Vorstufe zu dieser ihrer eigentlichen Funktion zu verstehen.

    Wenn Mahler von sich sagt:
    „Mein Bedürfnis, mich musikalisch-symphonisch auszusprechen, beginnt erst da, wo die dunkeln Empfindungen walten, an der Pforte, die in die >andere Welt< hineinführt; die Welt, in der die Dinge nicht mehr durch Zeit und Ort auseinanderfallen“,
    so kommt der Liedmusik für ihn diesbezüglich infolge des ihr innewohnenden, wesenhaft personalen Aussage-Potentials eine ganz besondere Bedeutung und Aufgabe zu.