Franz Schubert. Liedkomposition nach existenziell tiefgreifender Lebenskrise

  • „Im Freien“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Der „Baum“, der „voll Silberflocken flimmt“, ist ein Bild, das im Unterschied zu den beiden vorangehenden weniger das Herz erwärmt als den Geist entzückt und die Seele froh stimmt. Und Schubert widmet ihm prompt eine Melodik, die sich beim dem einleitenden „Siehst du…“ nun in einem munter anmutenden Auf und Ab entfaltet, das nach einer Viertelpause bei den Worten „der voll Silberflocken flimmt“ zu einem dieses Bild reflektierenden kurzschrittigen wird und in einem Quintfall mit nachfolgendem Sekundanstieg endet.

    Aber dem folgt ja das mit dem Ausruf „O, wie…“ eingeleitete Bekenntnis des schwellenden Busens, und das hat nicht nur zur Folge, dass die melodische Linie bei diesen Worten zu einem Anstieg in hohe Lage übergeht, dem eine zweimalige Fallbewegung nachfolgt, es bewirkt auch, dass das Klavier noch in der Viertelpause vor dem Einsatz der melodischen Linie seine Oktaven in hohe Lage aufsteigen lässt und diesen Anstieg bis in Oktavlage fortsetzt, so dass das Auf und Ab, das sie dann dort beschreiben, in einen starken Kontrast zu der sich in mittlere Lage absenkenden melodischen Linie tritt. Die stark ausgeprägte Emphase, die auf dieser Weise in die Liedmusik tritt, erfährt eine Verstärkung dadurch, dass die Harmonik hier zu dem als Tonika fungierenden As-Dur ausweicht, das in dem viertaktigen, in akkordischer Gestalt eine Fallbewegung beschreibenden Zwischenspiel sogar eine Rückung nach Des-Dur vollzieht.

    In dem aus einer Tonrepetition hervorgehenden und sich nach einer Achtelpause wiederholenden Sekundfall meint man die hin und her huschenden Gedanken des lyrischen Ichs bei den Worten „Jedes Plätzchen, das mir winkt, ist ein lieber Platz“ zu vernehmen, und bei den nachfolgenden Worten „Und wohin ein Strahl nur sinkt“ wiederholt sich dieser Gestus der melodischen Linie in gleichsam gesteigerter Form ja noch einmal. In der Leichtigkeit, mit der sie hier in Gestalt einer Folge von insgesamt sieben, durch Pausen voneinander abgehobenen kleinen Zeilen auftritt, wirkt sie wie eine zwischenspielartige Überleitung und Hinführung zur letzten Liedstrophe. Dies auch deshalb, weil das Klavier in der vorgelagerten Viertelpause für die Singstimme eine Folge von fallenden Achteln im Diskant und gegenläufigen Akkorden im Bass erklingen lässt, die in der Dominantseptversion der Tonart „B“ harmonisiert sind.

    Die letzte Strophe stellt in Melodik und Klaviersatz eine Wiederkehr der ersten dar. Und dass sie darin mehr als nur den Rahmen, vielmehr den musikalischen Kern des Liedes darstellt, lässt Schubert dadurch deutlich werden, dass er dieses Mal das Prinzip der Wiederholung auf deutlich ausgeweitete Weise handhabt. Nicht nur der Text der ganzen letzten Strophe wird noch einmal deklamiert, auch bei den beiden letzten Versen geschieht das, ergänzt noch durch die Worte „wie der Schall“ und „trauter Liebe mir“. Sie bilden das Zentrum der Liedmusik der letzten Strophe, weil Schubert in ihnen den Kern der Aussage der Seidl-Verse sieht: Die nächtliche Erfahrung des Eins-Werdens mit Natur und Welt.

    Und so lässt er denn wie einer Art liedmusikalischer Hinführung zu diesen Worten der beiden letzten Verse die melodische Linie bei der Wiederholung des ersten Verspaares ein in der tonalen Ebene sich langsam absenkendes Auf und Ab beschreiben, auf dass dann die zweimalige bogenbörmige Aufgipfelung, die sich bei der Wiederholung der Worte „Drum auch ruft es, wie der Schall / Trauter Liebe mir“ ereignet und die vom Klavier nun wieder mit in hoher Oktav-Diskantlage partiell repetierenden Oktaven und Akkordrepetitionen im Bass begleitet wird, eine umso höhere Expressivität zu entfalten vermag. Freilich eine, die, mit nur einem kurzen Ausbruch in Forte bei den Worten „ruft es“, durchweg im Pianissimo verbleibt.

    Und wie ein „leiser“ (Anweisung) Nachklang wirken danach die in eine sich über sechs Takte erstreckende, fallend angelegte Folge von Oktaven und Sexten im Diskant eingebetteten und deshalb wie kleine melodische Inseln anmutenden Worte „wie der Schall“ und „trauter Liebe mir“, wobei in die melodische Kombination aus Sekundsprung und –fall auf dem Wort „Liebe“ am Ende ein melismatischer, zärtlich wirkender Doppelschlag eingelagert ist.

  • „Fischerweise“, op.96, 4, D881

    Den Fischer fechten Sorgen
    Und Gram und Leid nicht an,
    Er löst am frühen Morgen
    Mit leichtem Sinn den Kahn.

    Da lagert rings noch Friede
    Auf Wald und Flur und Bach,
    Er ruft mit seinem Liede
    Die gold'ne Sonne wach.

    Er singt zu seinem Werke
    Aus voller, frischer Brust,
    Die Arbeit gibt ihm Stärke,
    Die Stärke Lebenslust!

    Bald wird ein bunt Gewimmel
    In allen Tiefen laut,
    Und plätschert durch den Himmel
    Der sich im Wasser baut.

    (Und schlüpft auf glatten Steinen
    Und badet sich und schnellt,
    Der Große frißt den Kleinen
    Wie auf der ganzen Welt.)


    Doch wer ein Netz will stellen,
    Braucht Augen klar und gut,
    Muß heiter gleich den Wellen
    Und frei sein wie die Flut.

    Dort angelt auf der Brücke
    Die Hirtin - schlauer Wicht,
    Entsage deiner (Gib auf nur deine) Tücke,
    Den Fisch betrügst du nicht!

    (Franz von Schlechta)

    Schuberts Jugendfreund Franz von Schlechta entwirft in diesen mit jambischem Metrum und Kreuzreim volksliedhaft einfach angelegten Strophen eine idyllische Szene von einem Fischer, der „mit leichtem Sinn“ am frühen Morgen zu seiner Arbeit aufbricht und in „Wald und Flur und Bach“ eine ganz und gar friedvolle Welt vorfindet. Wäre da nicht die „Hirtin“, die ihm, im Verstoß gegen die berufsständig guten Sitten sozusagen, ins Handwerk zu pfuschen versucht.


    Aber diese kleine, dem Gedicht in letzter Strophe beigegebene Szene bleibt episodenhaft, wird sie doch, was das Resultat des angedeuteten Geschehens anbelangt, nicht näher ausgeführt, lediglich über die Worte „schlauer Wicht“ mit einem kurzen schelmischen Kommentar versehen. Anders ist das mit der fünften Strophe, die mit den aus dem Gestus der lyrischen Schilderung in den des Kommentars umschlagenden Worten „Der Große frißt den Kleinen / Wie auf der ganzen Welt“ auf geradezu verstörende Weise aus dem idyllischen Rahmen herausfällt.
    Bezeichnenderweise hat Schubert diese Strophe nicht in seine Liedkomposition aufgenommen, von der die zweite, dieser Besprechung zugrunde liegende Fassung, im April 1828 entstand. Ganz offensichtlich ging es ihm um den im Volksliedton gehaltenen und darin sich auf ganz und gar ungebrochene Weise entfaltenden Entwurf einer liedmusikalischen Idylle.


    Sie steht in D-Dur als Grundtonart, ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, und sie soll „etwas geschwind“ vorgetragen werden. Nichts findet sich in ihr, was die Idylle klanglich stören könnte, denn die wenigen Abweichungen von dem die Harmonik beherrschenden und sich in bester Volksliedtradition im Raum von Tonika, Dominante und Subdominante entfaltenden Tongeschlecht Dur, Rückungen in den Bereich von e-Mol nämlich, stellen keinen klanglich-harmonischen Bruch dar, sie wollen vielmehr als emotionale Bereicherung von Idylle verstanden werden.
    Und die in der letzten Strophe bei den Worten „die Hirtin“ sich ereignende Störung der metrischen Regelmäßigkeit, in der die Liedmusik sich fünf Strophen lang entfaltet, beinhaltet keine Irritation der musikalischen Idyllik, sie stellt vielmehr eine kompositorisch überaus witzige Umsetzung der Verstörung in Liedmusik dar, die das Auftreten der „Hirtin“ für den Fischer mit sich bringt.


  • Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die Liedmusik ist als Strophenlied angelegt, und zwar in der Weise, dass sie in der Gestalt, in der sie auf den ersten beiden Strophen erklingt, auf den Strophen drei und vier unverändert wiederkehrt, beim letzten Strophenpaar dann aber eine Modifikation erfährt. Das zeigt wieder einmal: So wichtig Schubert das Strophenlied-Konzept als formales Substrat des Volksliedgeistes ist, der liedkompositorischen Berücksichtigung der lyrischen Aussage kommt für ihn eine größere Bedeutung zu, so dass er, eben weil mit der letzten Gedicht-Strophe ein zusätzliches, die Idylle bereicherndes lyrisches Bild in die Fischer-Welt-Szene tritt, der Melodik und dem Klaviersatz eine neue Gestalt verleihen muss, - freilich eine, die in ihrer Grundstruktur vom gleichen Geist geprägt ist, der auch die Liedmusik der vorangehenden Strophenpaare prägt. Was aber auch hier wieder reichlich Anwendung findet, ist das dieses Strophenlied-Konzept sozusagen transzendierende und wiederum den Verpflichtungen gegenüber der lyrischen Aussage geschuldete Prinzip der Wiederholung von Textpassagen.

    Und um bei dem Aspekt „spezifische Eigenarten der Liedkomposition Schuberts“ zu verbleiben: Er nutzt auch hier, wie er das ja oft tut, den Klaviersatz, um den grundlegenden, die lyrische Szene gleichsam bedingenden und prägenden Faktoren liedmusikalischen Ausdruck zu verleihen. Hier ist es das Wasser, das in der ihm eigenen Bewegtheit in einen Gegensatz zu der idyllischen Ruhe tritt, die in der Fischer-Welt herrscht. Das zehntaktige Vorspiel, das in seiner Grundstruktur und in dem Geist, der sich darin niederschlägt, gleichsam die Vorlage für die Begleitung der melodischen Linie liefert, lässt dies auf beeindruckende Weise vernehmen.

    In das gleichförmig repetierende Auf und Ab von bitonalem Achtel-Akkord und einem eine Oktave tiefer angesiedelten Einzelton im Diskant schmiegt sich im Bass, mal in tiefer, mal in hoher Lage, eine mit einem Doppelschlag eingeleitete und in eine Dehnung mündende wellenartig angelegte Achtelfigur ein, die in ihrer leichten Anmutung von Schaukeln durchaus als klangliche Imagination von Wasserwellen aufgefasst werden kann. Im Klaviersatz der A-Strophen (eins, drei und fünf) kehrt sie zwar nicht wieder, wohl aber in den B-Strophen (zwei und vier) und in den Zwischenspielen. Und da der Klaviersatz durchweg den Grundgestus des Auf-und-Ab-Springens von bitonalem Akkord und Einzelton beibehält und darin häufig den Bewegungen der melodischen Linie folgt, im Bass sich überdies immer wieder einmal Achteln in steigender und fallender Linie aufeinanderfolgen, bleibt der Eindruck, dass der Klaviersatz klanglich fließendes Wasser imaginiert, über das ganze Lied hin erhalten.

    Die melodische Linie der Singstimme präsentiert sich, darin die ländliche Fischerwelt reflektierend, im Gestus volkliedhafter Einfachheit. Das ist ganz wesentlich dadurch bedingt, dass sich die Figuren, in denen sie sich bei der A-Strophe in den einzelnen, jeweils zwei Verse beinhaltenden Zeilen entfaltet, in zwar leicht variierter, aber strukturell doch identischer Gestalt wiederholen. Und das schließt sogar die Wiederholung des letzten Verses ein, denn ihr liegt eine identische Melodik zugrunde, die nur im auftaktigen Sekundanstieg und im nun auf dem Grundton endenden Quintfall am Ende von der Erstfassung abweicht.

    Der Eindruck der Gleichförmigkeit in der Wiederkehr deklamatorischer Figuren kommt – um dies am Text der ersten Strophe aufzuzeigen – dadurch zustande, dass der Fall auf den Worten „Fischer fechten“ bei „löst am frühen“ in leicht gedehnter Gestalt und dann noch einmal bei „mit leichtem Sinn“ wiederkehrt, der gedehnte melodische Fall auf dem Wort „Sorgen“ sich bei dem reimlich mit ihn korrespondierenden Wort „Morgen“ wiederholt und beide Melodiezeilen mit einem Sprung, bzw. einem Fall in einer Dehnung enden. Hier aber zeigt sich, dass die Suggestion von Volksliedhaftigkeit bei Schubert – wie das ja eigentlich der Regelfall ist – eine wesenhaft artifizielle ist. Bei der ersten Melodiezeile ereignet sich, darin den affektiven Gehalt der Worte „Gram“ und „Leid“ reflektierend, der in eine Dehnung mündende Sekundsprung in e-Mol-Harmonisierung, der am Ende der zweiten stattfindende Terzfall auf den Worten „den Kahn“ ist hingegen mit einer harmonischen Rückung von der Dominante in die Tonika D-Dur verbunden.
    (Fortsetzung folgt)

  • (leider noch zu dem Lied In Freien D 880, ich brauch etwas länger... :()


    Lieber Helmut,


    ich habe Deine Sätze so verstanden, als wäre es Dir nicht unlieb, wenn man sich durchaus auch vom naivem Standpunkt hier zu den Liedern etwas zu sagen traut.


    Ich habe gesagt, dass ich hier Fischer-Dieskau als ein bisschen zu viel empfinde. Das möchte ich gerne erklären.


    Zuerst möchte ich sagen, was mich an dem Lied "Im Freien" reizt. Obwohl ich gar nicht viele Lieder in den letzten Jahren gehört habe, gehört für mich die Winterreise (Einspielung Fischer-Dieskau, Moore ca. 1972) zu den berühmten 10 Werken, die man auf die einsame Insel mitnimmt (wird hier im Forum an anderer Stelle diskutiert ). Der Zyklus war für mich einfach prägend. Das Lied im Freien steht für mich hier im argen Kontrast. Die positive Stimmung, aber auch der deutlich weniger dichte Klaviersatz hätten mich das Lied früher einfach übergehen lassen. Die Neugier ist ist aber mittlerweile erwacht und ich habe versucht, mir das Lied ein wenig anzueignen. Alles, was ich nun zu sagen habe , ist persönlich und kann von jedem anderen natürlich anders gesehen werden.


    Das Gedicht von Seidl versetzt erst das lyrische Ich an eine Stelle, von wo aus es die Gegend betrachtet. Es gibt eine monologische Erklärung, wie es an diese Stelle kommt. Danach beginnt ein Dialog mit Leser, wo es ihm fast eine Bildbeschreibung liefert, immer mit Erläuterungen, welche symbolischen Bedeutungen mit den Gegenständen der Landschaft verbunden sind. Am Ende gibt das Ich eine Erklärung, dass alles hier "Im Freien" ein Bild der Liebe vermittelt.


    Ohne auf die verschiedenen Ebenen einzugehen, auf die der Leser beim Rezipieren versetzt wird, der Dialog, eine mögliche Identifikation und anderes, wirkt das ganze Gedicht wie die Betrachtung eines Landschaftsgemäldes, wo man durch die Betrachtung der Details langsam ein Gefühl für die Schönheit genau dieser Landschaft erfährt. Es ist eine absolut unaufgeregte sich positiv entwicklende Betrachtung.


    Nehmen wir nun die ersten zwei Strophen:


    Draußen in der weiten Nacht

    Steh' ich wieder nun:

    Ihre helle Sternenpracht

    Läßt mein Herz nicht ruhn!


    Tausend Arme winken mir

    Süß begehrend zu,

    Tausend Stimmen rufen hier:

    »Grüß dich,Trauter, du!«


    Dass das lyrische Ich "wieder nun" draußen steht, gibt der "hellen Sternenpracht" etwas Periodisches, aber nichts Überraschendes. Es sollte gefühlvoll gesungen werden ohne zu starke Betonung. Es ist etwas Schönes, was das Ich nun wieder nicht ruhen lässt


    Wenn man jetzt die verschiedenen Interpretationen bewerten möchte, kommt man um Subtilitäten nicht herum. Leider kann ich die von mir präferierte Einspielung mit Prégardien nicht im Internet finden. ich habe eine mit Bostridge gefunden, bei der man dann akzeptieren muss, dass es auch "Hütchen" in der Landschaft gibt ;). Trotzdem finde ich den Anfang des Liedes hier wesentlich ruhiger und meiner Empfindung adäquater.



    Der Glanz in der Stimme bei der "Sternenpracht" überwältigt mich trotzdem. Und, obwohl Moore unvergleichlich viel besser spielt als Drake, kann ich die Sternenpracht und damit die eigentliche Ursache für die folgende Betrachtung bei Fischer-Dieskau nicht nachempfinden. Es klingt bei ihm mehr wie eine Erklärung, warum man sich jetzt draußen befindet. Das wäre an sich ja auch eine mögliche Interpretation, passt dann aber nicht mit der ambitionierten Begleitung von Moore zusammen. (Wie gesagt, sehr persönlich!)


    Die "tausend winkenden Arme" sind natürlich eine poetische Übertreibung, die die Attraktion der Landschaft beschreiben sollen. Es ist keine Handlung im poetischen Geschehen, was man angesichts tausend winkender Arme ja durchaus denken könnte.


    Dieses wohlig umfassende Ambiente zu beschreiben, gelingt hier Bostridge auch sehr gut. (Ich höre leider in der ersten Zeile, dass die tausend Arme "dir" und nicht "mir" winken, aber sicher bin ich mir bei der Artikulation leider nicht). Bei Fischer-Dieskau meint man die Arme wirklich winken zu sehen. Ich sehe da schon fast einen Zug abfahren, eine für mich überhaupt nicht passende Empfindung.


    Lieber Helmut, ich hoffe, Du konntest ein wenig meine Probleme mit der Interpretation F-D nachvollziehen. Ich kenne hier kein Notenbild und weiß natürlich auch nicht, was Schubert intendierte. Es ist einfach ein persönliches Gefühl, was ich zu erklären suchte.


    Beste Grüße,

    Axel

  • Zitat von astewes

    Leider kann ich die von mir präferierte Einspielung mit Prégardien nicht im Internet finde


    Hier lieber Axel.....



    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Mal abgesehen davon, dass es völlig unwichtig ist, ob mir etwas "lieb" oder "nicht lieb" ist...

    Du siehst das richtig, lieber astewes, dass ich mich über jeden Betrag freue, der zu dem erfolgt, was ich hier tue und treibe, und dass der "Standpunkt" aus dem er erfolgt, dabei völlig unerheblich ist.

    Aber nun zur Sache:

    Ich habe, wie ist das versprochen hatte - allerdings unter Vorbehalt -, mich der gesanglichen Interpretation des Liedes "Im Freien" durch Fischer-Dieskau noch einmal im genaueren Hinhören gewidmet, Deine Einwände dabei im Hinterkopf, die Du nun ja dankenswerter Weise ein wenig konkretisiert hast, so dass man weiß, worum es geht.

    Aber als ich das diskursive Geschehen im Thread "Dietrich Fischer-Dieskau - Eine Referenz" verfolgte, brach ich die Sache ab. Ich erinnerte mich an meinen mir selbst geleisteten und auch hier irgendwo publizierten Schwur, mich niemals mehr in diesem Forum auf das Thema "Sänger und Gesang" einzulassen. Da ist so viel Subjektivität im Spiel, dass ein Diskurs darüber fast mit Notwendigkeit dazu führt, dass man einem Anderen auf den Fuß tritt. Ich weiß, wovon ich rede. Hab schlimme Erfahrungen diesbezüglich gemacht, - übrigens u. a. Bostridge betreffend.

    Bitte habe also Verständnis dafür, dass ich keinen ausführliche Betrachtung von Fischer-Dieskaus Interpretation hier liefere, sondern mich auf wenige Anmerkungen dazu beschränke. Ich denke, dass ich das bis morgen Nachmittag vielleicht hinkriege. (Leider habe ich gelöscht, was ich schon geschrieben hatte, und ich verfüge, bedingt durch meine persönlichen Lebensumstände, nun seit längerem über nur noch wenig Zeit für die Betätigung im Tamino-Forum. Die hiesigen Beiträge wurden vor einem Jahr verfasst).

  • Zur Interpretation des Schubert-Liedes „Im Freien“ durch Dietrich Fischer-Dieskau

    Ich möchte – aus den im vorangehenden Beitrag genannten Gründen – so weit wie möglich auf der objektiven Ebene bleiben und deshalb nur an wenigen Beispielen zu erklären versuchen, warum Fischer-Dieskau gesanglich so interpretiert, wie er das tut.
    Hier noch einmal der Link zur Aufnahme:




    Du sagst, lieber astewes, Du empfändest bei Ian Bostridge „den Anfang des Liedes hier wesentlich ruhiger und meiner Empfindung adäquater.“
    Bitte bedenke:
    Fischer-Dieskau wählt einen lebhafteren Vortragsgestus, und er hat einen guten Grund dazu. Bei Seidl heißt es gleich in der ersten Strophe von der „Nacht“: „Ihre helle Sternenpracht / Läßt mein Herz nicht ruhn!“. Es geht also lyrisch im Nachfolgenden nicht um „nächtliche Ruhe“, sondern um seelische Unruhe, die im lyrischen Ich durch die Erfahrung von Nacht ausgelöst wird.
    Es ist eine ganze Fülle von seelischen Ereignissen, die in den einzelnen Strophen lyrisch-sprachlichen Ausdruck finden. Und um die musikalisch aufzugreifen, hat Schubert die Durchkomposition gewählt. Ein Interpret hat das zu bedenken, und dieses seelische Geschehen in seiner jeweils spezifischen Art, in der Schubert es musikalisch ausdrückt, in angemessener Weise wiederzugeben.
    Deshalb ist es fraglich, ob Deine Forderung „Es sollte gefühlvoll gesungen werden, ohne zu starke Betonung“ sachlich berechtigt ist.

    Fischer-Dieskau (ich nenne ihn jetzt aus Bequemlichkeit „FiDi“) hebt, weil sich in ihr die Grundbefindlichkeit des lyrischen Ichs ausdrückt, die sich bogenförmig erhebende melodische Linie auf den Worten „Läßt mein Herz nicht ruhn! deklamatorisch leicht hervor.
    Apropos „Geschehen“:
    Es ist ein tatsächlich überaus lebhaftes und vielgestaltiges, wie diese Strophe zum Ausdruck bringt:

    Tausend Arme winken mir
    Süß begehrend zu,
    Tausend Stimmen rufen hier:
    »Grüß dich,Trauter, du!«

    Und da es ja ein genuin seelisches ist, legt FiDi auf die Worte „tausend“ und „süß begehrend“ einen leichten deklamatorischen Akzent, und in den Worten „Grüß dich, Trauter, du“ deklamiert er, ihren affektiven Gehalt vernehmlich werden lassend, in einem lieblichen Ton.

    Nun aber kommt das lyrische Thema „Freundschaft“ auf, und da es für Schubert ein zentrales ist, legt er auf die entsprechenden Verse eine besonders affektiv aufgeladene Melodik. Hier schon klingt das an. Die von Seidl poetisch geschickt eingesetzte und von Schubert melodisch entsprechend umgesetzte Aufeinanderfolge der Worte „“weiß“ und „was“ greift FiDi in angemessener deklamatorischer Akzentuierung auf:

    O ich weiß auch, was mich zieht,
    Weiß auch, was mich ruft,
    Was wie Freundes Gruß und Lied
    Locket durch die Luft.

    Das anfängliche Verbleiben der melodischen Linie in identischen Figuren beim ersten Vers, betont FiDi deutlich, schlägt danach einen lieblich-zärtlichen Ton an, lässt ihn bei der melodischen Linie auf „wie Freundes Gruß und Lied“ aufgipfeln und in einer bemerkenswert zart anmutenden Deklamation des Wortes „locket“ ausklingen. Dass er dabei die Silben durch eine winzige Pause zwischen ihnen und die Konsonanten markant deklamiert, verleiht dem für die lyrische Aussage des Gedichts so wichtigen lyrischen Bild eine Hervorhebung. Das Angesprochen- Werden durch die nächtliche Natur ist ja doch zentraler Inhalt von Seidls Versen.

    Wenn es um die mit den Worten „siehst du“ eingeleiteten Aufforderungen geht, dem Blick des lyrischen Ichs zu folgen, greift FiDi greift FiDi, diesen appellativen Gestus auf und deklamiert mit tief gehaltener Stimme betont sachlich. Bei den Worten „schläft mein liebster Freud“ bring er aber die melodische Bogenbewegung auf zärtlich markante Weise zum Ausdruck. Und wenn das lyrische Ich ins Schwärmen kommt, wie bei den Worten „Siehst du jenen Baum, der voll Silberflocken flimmt?“ tritt in seinen gesanglichen Vortrag ein deutlich ausgeprägter Ton von Zartheit und Lieblichkeit, wobei er bei „Silberflocken“ wieder, wie bei „locket“, durch leicht stockende Deklamation dieses Wortes und ein Klingen-Lassen des doppelten sonoren Konsonanten „m“ bei „flimmt“ das lyrische Bild heraushebt.

    Das sind keine manieristischen Mätzchen, sondern ein Umsetzen dessen, was Schubert an dieser Stelle liedmusikalisch vorgegeben hat. Weil er dieses Bild als metaphorische Verdichtung des Faszinosums verstand, das sich im lyrischen Ich in der Erfahrung von „weiter Nacht“ ereignet, hat er diese beiden Verse in der Melodik und ihrer Harmonisierung selbst liedmusikalisch hervorgehoben. Auf den Worten „jenen Baum“ ereignet sich ein verminderter Terzsprung mit nachfolgendem Quintfall und Wiederanstieg um eine Sekunde, wobei die Harmonik eine Rückung von B-Dur nach f-Moll vollzieht. Und dann folgt eine Viertelpause nach, die dieser kleinen Melodiezeile durch Exposition ein eigenes Gewicht verleiht. Und auch die Aussage des nachfolgenden Verses erfährt eine solche Akzentuierung. Das an sich als Relativpronomen fungierende Wort „der“ erhält ungewöhnlicherweise eine Dehnung in Gestalt eines punktierten Achtels. Sie führt damit zu dem Wort „Silberflocken“ hin, bei dem Schubert auf jede Silbe ein Sechzehntel legt, wobei diese kurzen deklamatorischen Schritte in ihrer Aufeinanderfolge ein Auf und Ab beschreiben, das bei „flimmt“ mit einem Sekundanstieg zu einer relativ langen Dehnung übergeht, wobei die Harmonik zur Tonika Es-Dur übergeht.
    Das alles gibt, und dies in markanter Deklamation, Fischer-Dieskau ganz im Sinne Schuberts wieder.

    Besonders ausgeprägt und durchaus beeindruckend ist das bei den Worten „Jedes Plätzchen, das mir winkt“ der Fall. Er vollzieht, dabei das Diminutivische des lyrischen Bildes durch eine in Helligkeit angehobene Stimme besonders betonend, den sich auf identische Weise wiederholenden Aufschwung-Gestus der melodischen Linie auf überaus behutsame Weise nach, indem er hinter das Wort „Strahl“ eine ganz kleine Pause setzt. Aber wenn das lyrische Ich, so wie Schubert es verstanden hat, bei den Worten „O wie oft mein Busen schwoll, / Froher dort gestimmt!“ bringt FiDi die entsprechend ausdrucksstark angelegte, nämlich bogenförmig erst nach oben ausgreifende und dann ruhig sich wieder absenkende melodische Linie mit ausgeprägter deklamatorischer Emphase zum Ausdruck.

    Wie deklamatorisch hochgradig differenziert, und darin jeweils die Struktur der Melodik und ihre Aussage reflektierend Fischer-Dieskau in seinem gesanglichen Vortrag verfährt, das wird, um es an einem Beispiel zu konkretisieren, beim Vortrag der melodischen Linie auf den Worten „Unter seinem trauten Dach / Schläft mein liebster Freund“ sinnfällig.
    In die über Terzsprünge in der tonalen Ebene um eine Sekunde ansteigende und dann in ein Auf und Ab in einer Quarte übergehende melodische Linie legt er, eben diesen Anstieg betonend, ein ganz leichtes Crescendo. Bei der mit einem gedehnten Quartsprung auf „schläft“ einsetzenden und in einem zweischrittigen Sekundfall sich absenkenden Bogenbewegung nimmt er dann aber die Stimme deutlich zurück, hebt dabei aber die Dehnung auf „schläft“ hervor und lässt den Sekundfall auf „liebster“ überaus zärtlich erklingen.

    Wenn Du kritisierst, lieber astewes, „Bei Fischer-Dieskau meint man die Arme wirklich winken zu sehen. Ich sehe da schon fast einen Zug abfahren, eine für mich überhaupt nicht passende Empfindung“, so bitte ich Dich zu bedenken:
    Dieses – auf durchaus differenzierte Weise erfolgende - deklamatorische Hervorheben des Wortes „winken“ entspricht der Bedeutung, die ihm bei Seidl zukommt. Es spielt dort ja eine zentrale Rolle in der Erfahrung von nächtlicher Natur, die eine lyrisch eminent bewegte und die Seele auf vielfältige Weise bewegende ist.

  • Mal abgesehen davon, dass es völlig unwichtig ist, ob mir etwas "lieb" oder "nicht lieb" ist...

    So ganz stimme ich nicht zu. Als Ersteller dieses Threads bestimmst Du schon Thema und auch ein wenig, in welcher Art hier diskutiert wird. Ich freue mich, Dich so aufgeschlossen zu sehen, dass bei Dir (auch naiver) Widerspruch zu detaillierter Analyse führt.


    Ich bin wieder überrascht, wie tief man in die Details gehen kann, um eine solche Liedinterpretation zu verstehen. Im Folgenden versuche ich, Deinen Beitrag rekapitulierend zu verstehen. Ich bitte um wohlwollende Sicht auf das Ganze.


    Meine Einwände gegen die an manchen Stellen auffällige Deklamatorik DiFis (ich passe mich hier gerne an Deine Definition an) beruhen, so wie ich das jetzt verstehe, auf einer unterschiedlichen Herangehensweise an das Gedicht. Ich sah ein lyrisches Ich, was sich regelmäßig von der Sternenpracht angezogen fühlt und draußen dann (Im Freien) die Landschaft symbolbehaftet betrachtet. Jedes Detail kann es mit einer beruhigenden und schönen Erfahrung in Beziehung setzen. Wenn man das so sieht, kann man vielleicht nachvollziehen, dass die Sternenpracht hier einer besonderen Betonung bedarf, was Bostridge hier schön macht. Der Rest zeigt dann eher eine ruhige Sicht.


    So, wie ich Dich jetzt verstehe, gehst Du eine Stufe weiter und siehst eine seelische Unruhe, die das Ich überhaupt ins Freie treibt.

    auf den Worten „Läßt mein Herz nicht ruhn! deklamatorisch leicht hervor.
    Apropos „Geschehen“:
    Es ist ein tatsächlich überaus lebhaftes und vielgestaltiges, wie diese Strophe zum Ausdruck bringt:

    Tausend Arme winken mir
    Süß begehrend zu,
    Tausend Stimmen rufen hier:
    »Grüß dich,Trauter, du!«

    was, wie Du hier schreibst, auch der Text hergibt. In diesem Falle finden wir eine Erklärung für das Bild mit den tausend Armen, was jetzt dann keine poetische Übertreibung mehr, sondern ein poetisches Bild ist.

    „“weiß“ und „was“ greift FiDi in angemessener deklamatorischer Akzentuierung auf:

    O ich weiß auch, was mich zieht,
    Weiß auch, was mich ruft,
    Was wie Freundes Gruß und Lied
    Locket durch die Luft.

    Das anfängliche Verbleiben der melodischen Linie in identischen Figuren beim ersten Vers, betont FiDi deutlich, schlägt danach einen lieblich-zärtlichen Ton an

    Diese Strophe wäre auch mit meiner Interpretation verträglich, es muss hier keine seelische Unruhe sein, es kann ganz einfach nur des "Freundes Gruß und Lied" sein, was ihn ruft. Aber es ergibt sich auch ein schlüssiges Bild mit Deiner Interpretation des Gedichtes.


    Ein starkes Argument für Deine Ansicht ist, dass durch die Deiner Interpretation zugrundeliegende Hinterfragung des Zustandes des Ich das Werk insgesamt eine ästhetische Aufwertung erfährt, weil es dem Rezipienten eine neue Ebene des Werksverständnisse eröffnet. Das wird natürlich durch FiDis Interpretation (und vor allem auch Deklamatorik) stärker unterstützt als durch die Bostridges.


    Ich werde mir unter diesem Gesichtspunkt die verschiedenen Interpretationen noch einmal anhören. Auch die von Prégardien. Es wäre schön, wenn ich hier dann Gefallen an der Interpretation von Fischer-Dieskau finden könnte.


    Ich möchte mich bei Dir für Deine Geduld und Dein Interesse bedanken.

  • Ich bin es, lieber astewes, der zu danken hat.

    Ein Gespräch über Musik ist etwas Schönes, eine wahre Freude.

    Hat er doch wieder einmal recht, der alte Nietzsche: Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.

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  • „Fischerweise“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts. v. Beitrag 93)

    Gar nicht volksliedhaft, vielmehr als Folge eines hochgradig artifiziellen, sich der lyrischen Aussage verpflichtet sehenden liedkompositorischen Konzepts erweist sich die Tatsache, dass die zweite (und damit auch die vierte) Strophe eine in Melodik und Klaviersatz eigene Liedmusik erhält. Und wie tiefgreifend sich Schubert dabei von der lyrischen Aussage leiten lässt, das zeigt sich nicht nur in der strukturell deutlich von der der A-Strophe abweichenden Melodik, es wird auch darin vernehmlich, dass diese anfänglich in der nun als Tonika fungierenden Dominante A-Dur harmonisiert ist.

    Darin schlägt sich der mit den Worten „Da lagert…“ eingeleitete lyrische Perspektivwechsel vom „Fischer“ hin zu seiner Lebenswelt nieder. Aber weil der lyrische Text noch innerhalb dieser zweiten Strophe mit den Worten „Er ruft“ zur Perspektive „Fischer“ zurückkehrt, lässt Schubert die Harmonik schon bei den Worten „er ruft mit seinem Liede“ eine Rückung nach D-Dur und G-Dur vollziehen und kehrt in der Harmonisierung der melodischen Linie bei den mehrfachen Wiederholungen aller Verse der zweiten und vierten Strophe zu einem permanenten Wechsel zwischen dem nun wieder als Tonika fungierenden D-Dur und seiner Dominante A-Dur zurück.

    Die Textwiederholungen dienen Schubert – wie das bei ihm ja generell der Fall ist – dazu, die lyrische Aussage und speziell die Metaphorik in ihrem semantischen Gehalt, bzw. ihrem evokativen Potential auszuloten. So liegt auf den beiden, jeweils eine Melodiezeile bildenden Verspaaren der B-Strophe zunächst eine stark von deklamatorischen Tonrepetitionen geprägte und deshalb narrativ anmutende Melodik. Nur bei den Worten „die gold´ne Sonne wach“ beschreibt die melodische Linie keine auf einen Sprung folgende Tonrepetitionen, vielmehr eine aus einem Sekundsprung hervorgehende nach unten gerichtete Bogenbewegung. Die Melodik reflektiert in dieser Struktur den deskriptiv-narrativen Gestus des lyrischen Textes der zweiten und auch der vierten Strophe.

    Aber die Worte „Da lagert rings noch Friede“ entwerfen ja ein idyllisches Bild, und so legt Schubert nun bei ihrer Wiederholung eine, den repetitiven Gestus der melodischen Erstfassung geradezu konterkarierende, bogenförmig angelegte melodische Linie aus Achtelschritten auf sie, die am Ende in einen das Wort „Friede“ akzentuierenden gedehnten Quartfall münden. Und bei der zweimaligen Wiederholung der Worte des zweiten Verspaares beschreibt die melodische Linie beim ersten Mal auf den Worten „Er ruft mit seinem Liede“ eine wie eine Ouvertüre zur Melodik des letzten Verses wirkende, in tiefer Lage ansetzende und sich über eine ganze Oktave erstreckende Anstiegsbewegung, beim zweiten Mal liegt auf ihnen aber eine sich wellenartig in Achtelschritten entfaltende melodische Linie, die mit der auf den Worten „Da lagert rings noch Friede“ identisch ist und wie diese in einem gedehnten und in der Tonika D-Dur harmonisierten Quartfall endet.

    Schubert will in der B-Strophe stärker, als dies in der A-Strophe der Fall ist, die idyllische Atmosphäre der in den Schlechta-Versen lyrisch entworfenen Szene einfangen und zum Ausdruck bringen. Eben deshalb wiederholt er hier weitaus umfangreicher als in der A-Strophe, und er lässt am Ende der Melodiezeilen auf der Wiederholung des zweiten Verspaares in der Diskantlage des Klavierbasses die sich in die Auf-und-Ab-Figuren des Diskants einlagernde wellenartige Achtelfigur aus dem Vorspiel erklingen.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Fischerweise“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Die letzte Gedicht-Strophe entwirft ein mit der Figur der „Hirtin“ die vorangehende Fischer-Szene kontrastierendes, sie in ihrer Idyllik aber nicht wirklich störendes, sondern im Grunde bereicherndes Bild. Gleichwohl ist sie für Schubert in diesem ihrem Gehalt mit der Liedmusik der A- oder der B-Strophe nicht adäquat zu erfassen, sondern erfordert eine eigene. Sie ist in ihrer Melodik, deren Harmonisierung und im zugehörigen Klaviersatz darauf ausgerichtet, den Aspekt des Schelmisch-Witzigen zum Ausdruck zu bringen, den Schlechta mit diesem lyrischen Bild und der darin eingefügten, vom narrativen Gestus abweichenden Anrede „schlauer Wicht“ der Fischer-Szenerie hinzugefügt hat.

    Das gelingt Schubert auf höchst humorvolle Art und Weise, wobei er, darin der Syntax und der Semantik des lyrischen Textes folgend, dieses Mal von dem bislang durchweg gehandhabten Prinzip abweicht, jeweils zwei Verse in einer Melodiezeile zusammenzufassen. Die erste beinhaltet die Worte „Dort angelt auf der Brücke / Die Hirtin“, und die melodische Linie entfaltet sich darin noch in durchaus narrativem Gestus, indem sie dem Wort „angelt“ durch eine leicht gedehnte Fallbewegung über eine ganze Oktave einen Akzent verleiht, dann bei „Brücke“ in einer gedehnten Tonrepetition verharrt, um danach mit einem doppelten Sekundschritt in einen Anstieg überzugehen, der bei „Hirtin“ in einen dieses Wort wiederum mit einem Akzent versehenden Terzfall überzugehen. Das Klavier begleitet das mit, darin von seinem bisherigen Verfahren abweichend, in Diskant und Bass mit Achtelfiguren, die aus einer Kombination aus bitonalem Akkord und Einzelton bestehen.

    Der Anrede „schlauer Wicht“, die bei Schlechta ohne sonderliche Heraushebung in den vierfüßigen Fluss der Jamben eingebettet ist, erhält bei Schubert ein vom lyrischen Text auf markante Weise abweichendes melodisches Eigensein. Dies durch eine Tonrepetition in Gestalt zweier Dehnungen im Wert von halben Noten, die zweite sogar punktiert, mit eingelagertem Viertel, wobei die Harmonik eine Rückung von D-Dur nach G-Dur beschreibt. Die nachfolgenden Worte „entsage deiner Tücke“ (die Interpreten verwenden hier zumeist die Worte der Erstfassung „Gib auf nur deine Tücke“) werden wiederholt, wobei ihrem Aufforderungscharakter bei der zweiten Fassung dadurch Nachdruck verliehen wird, dass die melodische Linie nun keinen Bogen in mittlerer Lage beschreibt, sondern in einen eine ganze Oktave einnehmenden Anstieg übergeht, der in einem das Wort „Tücke“ mit einem Akzent versehenden gedehnten Sekundfall in hoher Lage endet.

    Und nun wiederholt Schubert die ganze Strophe noch einmal, um ihren latenten Witz und Humor liedmusikalisch vollumgänglich zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen. Auf den Worten „Dort angelt auf der Brücke“ liegt nun wieder die wellenartige Achtelschrittfolge, die wohlvertraut ist, weil sie schon mehrfach zuvor erklang, - bei den Worten „da lagert rings noch Friede“ erstmals. Und sie kehrt prompt bei der Wiederholung der Worte „entsage einer Tücke“ wieder und mündet, wie bei „Brücke“, bei „Tücke“ ebenfalls in einen gedehnten Quartfall.

    Der liedmusikalische Witz ereignet sich aber bei den Worten „schlauer Wicht“. Auf dem Wort „Hirtin“ liegt nun bei der Wiederholung wieder ein gedehnter Fall, allerdings nur einer über eine Sekunde in mittlerer Lage. Danach setzt melodische Linie ihre Bewegungen aber nicht fort, sondern legt eine Viertelpause ein. Und im nächsten Takt folgt überraschenderweise eine weitere, und wie hastig, weil verzögert, werden dann die Worte „schlauer Wicht“ in Gestalt einer Tonrepetition mit nachfolgendem Terzsprung deklamiert. Und weil die melodische Linie danach um eine Quinte angehoben ihre Bewegung bei dem Wort „entsage“ auftaktig fortsetzt, weist diese Anrede nun – im Gegensatz zum ersten Mal mit melodisch-repetierender Doppeldehnung in hoher Lage – die Anmutung von höchst witziger, weil wie nebenbei hurtig nachgetragener Bemerkung auf.

    Den Schlussworten „den Fisch betrügt du nicht“ verleiht die Melodik der zweiten Fassung so etwas wie Gewissheit und Endgültigkeit: Auf einen Quartfall folgt eine gleichförmige, weil in deklamatorischen Viertelschritten vorgetragene Tonrepetition auf der Quinte zum Grundton „D“. Und am Ende senkt sich die melodische Linie auf diesen ab, überlässt sich dort einer Dehnung, und das Klavier hat nachspielhaft dazu nur noch eine Wiederkehr des Vorspiels beizutragen.

  • Exkurs: Zur Rezeption von „Fischerweise“

    Schubert hat das Thema „Fischer mit der Angel“ ja neben diesem auch in den Liedern „Die Forelle“ (D 550, Text von Schubart) und „Wie Ulfu fischt“ (D 525, Text von Mayhofer) aufgegriffen. Wir hören diese Lieder heute als liedmusikalisch reizvolle und ansprechende Gestaltung einer Idylle aus vergangener ländlicher Lebenswelt. Demjenigen aber, der sie mit den Ohren des Historikers hört (wie der dieser Spezies zugehörige Verfasser der hiesigen Liedbetrachtungen), stellen sie sich als kleine musikalische Werke mit politischem, durchaus subversiv angehauchtem Subtext dar.

    Denn es ist zu bedenken: Sie wurden in der Zeit der Metternich-Restauration und nach den Karlsbader Beschlüssen komponiert. Dem Schubertkreis und den über diesen hinausgehenden Rezipienten seiner Kompositionen im Wiener Bildungsbürgertum gehörten viele Sympathisanten und sogar Aktivisten der damaligen Freiheitsbewegung an. Die Forelle wird in diesen lyrischen Texten als die Freiheit liebendes und ganz von ihr und in ihr lebendes Wesen dargestellt, sie wurde also als metaphorische Verkörperung eines Sich-Auflehnens gegen den repressiven Geist der Zeit und das ihn vertretende politische System verstanden.

    Schlechtas „Fischerweise“ und Mayrhofers „Wie Ulfru fischt“ können durchaus als bewusste Nachdichtungen der Ballade „Die Forelle“ von Friedrich Daniel Schubart verstanden werden, die dieser während seiner Festungshaft auf Hohenasperg (von 1777 bis 1787) verfasste, die 1783 im „Schwäbischen Musenalmanach erschien und danach 1820 und 1825 noch einmal nachgeduckt wurde.
    Sie enthalten ja beide Verse mit politischem Gehalt. In „Fischerweise“ ist es die Strophe:
    „Und schlüpft auf glatten Steinen
    Und badet sich und schnellt,
    Der Große frißt den Kleinen
    Wie auf der ganzen Welt.“

    Und bei Mayrhofer sind es die Verse:
    „Forellen zappeln hin und her,
    Doch bleibt des Fischers Angel leer,
    Sie fühlen, was die Freiheit ist,
    Fruchtlos ist Fischers alte List.

    Diese beiden letzten Verse stellen den Kontext „Forelle – Freiheit“ sogar explizit her. Schubert hat zwar – vermutlich weil sie ihm nicht ins lyrische Bild passte und vielleicht auch, weil er offene politische Agitation mit den Mittel der Kunst grundsätzlich ablehnte - die fünfte Strophe in seiner Komposition nicht berücksichtigt, er konnte aber davon ausgehen, dass die hochgebildeten Hörer sie sehr wohl kannten und damit den tieferen Sinn der Ballade verstanden.

    So kann also Michael Kohlhäufl in seiner Untersuchung zum Thema „Dichtung und politisches Denken im Freundeskreis Franz Schuberts“ („Poetisches Vaterland“, Kassel 1999) zu Recht feststellen:
    „Im Gewand der Ballade fand so manches Freiheitslied den Weg in eine begrenzte Form von Öffentlichkeit, die durch das bürgerliche und adlige Musikpublikum geschaffen wurde. Indem die Texte in ihren musikalischen Rezeptionsweisen durch die Netze der Zensoren und Spitzel schlüpften, repräsentierten sie wirksam den subversiven Geist, den sie verkündeten.“ (S.185)

  • „Im Frühling“, op. post. 101, 1, D 882

    Still sitz' ich an des Hügels Hang,
    Der Himmel ist so klar,
    Das Lüftchen spielt im grünen Tal,
    Wo ich beim ersten Frühlingsstrahl
    Einst, ach, so glücklich war;

    Wo ich an ihrer Seite ging
    So traulich und so nah,
    Und tief im dunkeln Felsenquell
    Den schönen Himmel blau und hell,
    Und sie im Himmel sah.

    Sieh, wie der bunte Frühling schon
    Aus Knosp' und Blüte blickt,
    Nicht alle Blüten sind mir gleich,
    Am liebsten pflückt' ich von dem Zweig,
    Von welchem sie gepflückt.

    Denn alles ist wie damals noch,
    Die Blumen, das Gefild;
    Die Sonne scheint nicht minder hell,
    Nicht minder freundlich schwimmt im Quell
    Das blaue Himmelsbild.

    Es wandeln nur sich Will' und Wahn,
    Es wechseln Lust und Streit;
    Vorüber flieht der Liebe Glück,
    Und nur die Liebe bleibt zurück,
    Die Lieb' und ach, das Leid.

    O wär' ich doch ein Vöglein nur
    Dort an dem Wiesenhang,
    Dann blieb' ich auf den Zweigen hier
    Und säng' ein süßes Lied von ihr
    Den ganzen Sommer lang.

    (Ernst Schulze)

    Schulzes Verse, die – wie dies ja oft der Fall ist – in seinem „Poetischen Tagebuch“ keinen Titel aufweisen, entwerfen ein Frühlingsbild aus der Perspektive eines lyrischen Ichs, dem sich all die Bilder, die ihm begegnen, als ganz und gar mit den Erinnerungen an eine große Liebe verwoben darstellen. Schon in der ersten Strophe, die mit der im Präsens gehaltenen Feststellung „Still sitz' ich an des Hügels Hang“ eingeleitet wird, schlägt das Tempus mit dem Wort „einst“ ins Imperfekt um. Darin ereignen sich die lyrischen Aussagen der zweiten Strophe. Mit der dritten kehren sie zwar ins Präsens zurück, beziehen aber in die metaphorische Deskription der gegenwärtigen Situation permanent die Perspektive der Vergangenheit ein, sich in der gleichsam bilanzierenden Feststellung niederschlagend: „Denn alles ist wie damals noch“.

    Mit der fünften Strophe geht lyrische Ich aus der Haltung der Gegenwart und Vergangenheit einbeziehenden Wiedergabe seiner Erfahrung von Frühling zu der einer reflexiven Verarbeitung derselben über, wobei das Bewusstsein den Ausgangpunkt bildet, dass das Liebesglück eines ist, das längst vergangen ist und sich nur in den augenblicklichen Frühlingsbildern vergegenwärtigt. Der mit einem leisen „Ach“ versehenen Klage über die Vergänglichkeit will es sich aber nicht überlassen und setzt ihr in der letzten Strophe das fiktive Bild von sich als einem Vöglein entgegen, das „den ganzen Sommer lang“ ein „süßes Lied“ von der ehemaligen Geliebten singt und auf diese Weise der Vergänglichkeit trotzt.

    Schuberts Lied auf diese Verse entstand im März 1826. Den Titel „Im Frühling“ hat er ihm selbst gegeben, die lyrischen Bilder aufgreifend und gleichsam auf den Punkt bringend, die Inhalt der ersten vier Strophen sind. Es handelt sich um ein variiertes Strophenlied, in dem das Prinzip der Variation auf der Basis von Strophenpaaren in höchst kunstvoller, Melodik und Klaviersatz einbeziehender Weise gehandhabt wird, eben die Tatsache berücksichtigend, dass die lyrischen Aussagen auf der Grundlage von Deskription und Reflexion polyvalent und in der Einbeziehung von Vergangenheit in die Gegenwart multiperspektivisch angelegt und ausgerichtet sind.


  • :thumbup::jubel::hail::!::!::!:


    Freue mich!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • „Im Frühling“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die Liedstrophen entsprechen den Gedichtstrophen, die Liedmusik der beiden ersten kehrt in den Strophen drei und vier in variierter Gestalt wieder, die fünfte Strophe weist, darin den Umschlag von lyrischer Deskription in Reflexion aufgreifend, eine eigene Liedmusik auf, deren Eigenständigkeit so weit geht, dass das G-Dur, das als Grundtonart fungiert, nun mit einem Mal in das Tongeschlecht Moll (g-Moll also) umschlägt. Wenn man die Liedmusik der ersten beiden Strophen mit den Buchstaben A und B versieht, so würde die fünfte Strophe den Buchstaben C erhalten, die sechste würde einem dann als erneut variierte Wiederkehr der B-Strophen-Liedmusik begegnen.

    Aber das Prinzip der Variation wendet Schubert nicht nur auf die Melodik, sondern - und das macht unter anderem den besonderen Reiz dieses Liedes aus, das Dietrich Fischer-Dieskau zu Recht als „das anmutigste der Schulze-Lieder“ Schuberts charakterisiert hat – auch auf den Klaviersatz und die Zwischenspiele an. So kehrt das viertaktige Vorspiel als Zwischenspiel vor der dritten Strophe wieder, deren variierte Liedmusik dadurch einleitend, dass es selbst die akkordische Gestalt im Diskant des Vorspiels in Gestalt von arpeggienhaften Sechzehntel-Figuren aufbricht, den dort gleichsam schreitend sich entfaltenden Einzeltönen im Bass aber viel stärkeres Gewicht dadurch gibt, dass sie nun als Kombination aus Achtel-Einzelton und dreistimmigem Akkord erklingen.

    Das Vorspiel gibt in gleich mehrfacher Hinsicht den Charakter der nachfolgenden Liedmusik vor: Indem es auf der Basis schreitend angelegter, und darin die Liedmusik in ihrer fließenden Entfaltung auf markante Weise strukturierender Einzeltöne mit den Obertönen der Akkordfolgen im Diskant eine melodische Linie konfiguriert, die von der Singstimme nachfolgend aufgegriffen und weiterentwickelt wird. Die Harmonik beschreibt dabei die Liedmusik typische, weil in dieser Gestalt immer wiederkehrende Rückung von der Tonika G-Dur über die Subdominante C-Dur hin zur Dominante D-Dur, und dies unter gleichsam flüchtigem Streifen der Parallelen a-Moll und e-Moll, wobei im Vorspiel die Dominante als harmonischer Auftakt zur Wiederholung dieser Akkordfolgen fungiert.

    In der Melodik der A- und der B-Strophen schlägt sich auf höchst reizvolle und beeindruckende Weise das innere Beglückt-Sein des lyrischen Ichs durch die sich in der Erfahrung von Frühling ereignende Wiederbegegnung mit vergangenem Liebesglück nieder. In ihrer Grundstruktur ereignet sich immer wieder der Ausbruch aus in Achtel-Schritten ruhig schreitendem Sich-Entfalten in lebhafte Sechzehntel-Bewegungen, wobei Schubert am Strophenende das Prinzip der Wiederholung nutzt, um diesem melodischen Effekt noch größere Nachdrücklichkeit zu verleihen. Man begegnet ihm schon in der ersten Strophe in mehrfacher Gestalt. Auf den Worten „Still sitz' ich an des Hügels Hang“ beschreibt die melodische Linie, darin den konstatierenden Charakter der lyrischen Aussage reflektierend, eine sich über das Intervall eine Septe erstreckende Fallbewegung, die, obgleich sie am Ende leicht rhythmisiert ist, die Anmutung von Ruhe aufweist, dies auch deshalb, weil sie in Tonrepetitionen endet und in ihrer Harmonisierung eine Rückung von der Tonika zur Subdominante beschreibt. Aber unmittelbar darauf ereignet sich eine kürze harmonische Rückung in die Dominantsepte der Tonart „E“, und anschließend beschreibt die melodische Linie bei den Worten „Der Himmel ist so klar“ eine lebhafte, mit einer Kombination aus Sext- und Terzsprung eingeleitete, in hoher Lage ansetzende Fallbewegung in Sechzehntel-Schritten, die auf dem Wort „klar“ in einem gedehnten Sekundsprung endet. Die Harmonik entfaltet sich dabei in ebenfalls lebhaften, geradezu kühn anmutenden Bewegungen: Vom anfänglichen Dominantseptakkord „E“ über a-Moll nach F-Dur hin zu C-Dur.

    Die Erfahrung des klaren Himmels hat, wie man in Schuberts Liedmusik vernimmt, den Geist des lyrischen Ichs beflügelt, und das setzt sich bei den Worten „Das Lüftchen spielt im grünen Tal“ fort, denn hier ereignet sich erneut diese melodische Sechzehntel-Fallbewegung, nur dass sie sich nun in tiefere Lage fortsetzt, um, nach einer kurzen Aufwärtsbewegung, in einer Tonrepetition auf einem tiefen, die Oktave darstellenden „E“ zu enden. Bei den Worten „Wo ich beim ersten Frühlingsstrahl“ kehrt die melodische Linie wieder zum Gestus der ruhigen, leicht rhythmisierten Entfaltung in einem mit einem mit einem Sprung einsetzenden Auf und Auf in oberer Mittellage zurück, um dann aber erneut, den semantischen Gehalt der Worte „Einst, ach, so glücklich war“ zu reflektieren, eine bogenförmig fallende und wieder ansteigende Sechzehntel-Figur zu beschreiben, die bei der Wiederholung der Worte „so glücklich war“ nun als Figur mit doppeltem Sekundanstieg und nachfolgend expressivem, weil aus einer Dehnung hervorgehendem Sextfall wiederkehrt, darin das Wort „glücklich“ mit einem Akzent versehend. Beim der ersten Sechzehntel-Figur auf diesen Worten beschreibt die Harmonik eine Rückung von einem das „ach“ aufgreifenden a-Moll über A-Dur nach E-Dur, bei der zweiten dann aber eine Kadenz-Rückung über die Dominante zur Tonika G-Dur.

    Die Anreicherung der Melodik mit melismatisch wirkenden, die Emotionen des lyrischen Ichs bei bestimmten Bildern oder Worten zum Ausdruck bringenden deklamatorischen Sechzehntel-Figuren begegnet einem auch in der Liedmusik der B-Strophe. Bei den Worten „an ihrer Seite ging“ geht die melodische Linie zu einer wellenartig angelegten Sechzehntel-Figur über, in die sich sogar ein Vierundsechzigstel-Sekundfall einschmiegt, und bei dem Wort „Felsenquell“ beschreibt sie, wie bei der vorangehenden Melodiezeile, nach einer anfänglich ruhigen Entfaltung in Tonrepetitionen einen Achtel-Sechzehntel-Sekundanstieg, der sich in wellenartiger Gestalt bei „Himmelblau“ fortsetzt, nun aber in einen expressiven, weil in ein mit einer Fermate versehenes hohes „F“ mündenden Septsprung übergeht, der das Wort „hell“ geradezu klanglich strahlen lässt, dies auch deshalb, weil hier die Harmonik, von einem a-Moll kommend, mit einem Mal eine Rückung in die Dominantsepte der Tonart „G“ vollzieht und damit die Liedmusik für die Melodik auf den Worten des Schlussverses öffnet. Und diese sind in ihrer Aussage vielsagend, denn das lyrische Ich erinnert sich, die Geliebte damals „im Himmel“ gesehen zu haben.

    Die Fülle der Emotionen, die sich in ihm dabei einstellen, greift Schubert erneut mit einer Wiederholung auf, nun eine des ganzen Verses. Auf den Worten „Und sie im Himmel sah“ liegt zunächst noch ein ruhiger, aus einer Dehnung in hoher Lage hervorgehender Quintfall mit nachfolgender Tonrepetition, Sekundsprung und Terzfall, den das Klavier im Diskant mit drei fallenden Achtelakkorden begleitet. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung von C-Dur über D-Dur nach e-Moll. Bei der Wiederholung beschreibt die melodische Linie dann aber wieder eine lebhafte Sechzehntelfigur, die sich in ihren Anstiegs- und Fallbewegungen über eine ganze Oktave erstreckt. Nun begleitet das Klavier mit gleichsam gegenläufigen, weil in Sprüngen sich aufwärts bewegenden Vierteln und Achteln in Diskant und Bass, und die Harmonik rückt von a-Moll über die Dominante D-Dur zur Tonika G-Dur, dem Grundton „G“ entsprechend, auf dem die Sechzehntelfigur endet.
    (Fortsetzung folgt)

  • :thumbup::jubel::hail::!::!::!:


    Freue mich!

    Ich sehe das gerade, lieber Fiesco, und denke:

    Dieser Smiley-Ausbruch hat nicht unwesentlich damit zu tun, dass ich Dir dieses von Dir hochgeschätzte Lied in einer Interpretation durch Ian Bostridge präsentiert habe.

    Ich hoffe, Du kannst auf der Grundlage meiner Beschreibung der Liedmusik erkennen, warum er diese auf eine in der Tat faszinierende, weil ihr vollkommen gerecht werdende Weise gesanglich wiedergibt.

  • Ich sehe das gerade, lieber Fiesco, und denke:

    Dieser Smiley-Ausbruch hat nicht unwesentlich damit zu tun, dass ich Dir dieses von Dir hochgeschätzte Lied in einer Interpretation durch Ian Bostridge präsentiert habe.

    Ich hoffe, Du kannst auf der Grundlage meiner Beschreibung der Liedmusik erkennen, warum er diese auf eine in der Tat faszinierende, weil ihr vollkommen gerecht werdende Weise gesanglich wiedergibt.

    Lieber H.Hofmann, nicht allein wegen Bostridge, sonder des Liedes wegen !

    Ich weiß gar nicht recht wie ich's erklären soll, lieber H.Hofmann, aber alle bisherigen Lieder hier im Thread sind Lieblingslieder von mir und dafür Danke ich dir!:!::hail:

    Ich lese alles sehr aufmerksam und höre mir danach verschiedene Interpretationen an, das löst richtig Freude in meinem Herzen aus! :jubel:


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

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  • Lieber Helmut,


    wenn es Dir etwas bedeuten sollte, hast Du in mir einen einen eifrigen zweiten Leser, der allerdings immer etwas Zeit braucht. Leider sind für mich fast alle Lieder neu. Deine Besprechungen haben bei mir Interesse an der Liedinterpretation an sich geweckt.


    BTW Die Interpretation von Bostridge finde auch ich hier sehr gelungen. Was mich überrascht ist, dass er hier hervorragend artikuliert, was in dem von mir geposteten Beispiel nur bedingt der Fall war?


    BTW2 Der historische Exkurs zur Fischerweise hat mir sehr gefallen. Ist das nur bei wenigen Liedern interessant?

  • . . . wenn es Dir etwas bedeuten sollte, hast Du in mir einen einen eifrigen zweiten Leser,

    Und ob! Sehr viel bedeutet mir das, lieber astewes!

    Was mich überrascht ist, dass er ( Bostridge) hier hervorragend artikuliert, was in dem von mir geposteten Beispiel nur bedingt der Fall war?

    Das begegnet einem immer wieder einmal bei ihm. Teilweise ist das mit dem Alter der Aufnahme erklärlich, manchmal auch damit, dass es sich um einen Live-Mitschnitt handelt. Aber ein bisschen rätselhaft bleibt es schon!

    Der historische Exkurs zur Fischerweise hat mir sehr gefallen. Ist das nur bei wenigen Liedern interessant?

    Man kann durchaus viele Lieder Schuberts "Mit den Ohren des Historikers" hören, wie ich oben formulierte , und dann erschließen sich interessante Aussage-Dimensionen. Schubert litt unter den gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten seiner Zeit. Er macht dies allerdings nicht explizit zum Gegenstand seiner Liedkompositionen, wohl aber wählte er Texte aus, in denen sich das Leiden an der Zeit indirekt ausdrückt. So erschließen sich etwa jene, die Musik und Kunst als ersehnten Zufluchtsort beschwören, in ihrer Aussage erst voll und ganz aus dieser Perspektive.

    An Schober schrieb er einmal:

    "Ich möchte mit Göthe ausrufen: >Wer bringt nur eine Stunde jener holden Zeit zurück!<. Jener Zeit, wo wir traulich beyeinander saßen u. jeder seine Kunstkinder den anderen mit mütterlicher Scheu aufdeckte …". Und in "Erster Verlust" hat er diese Goethe-Verse ja in Liedmusik umgesetzt.

    In diesem Brief findet sich auch ein Gedicht von ihm, das in der ersten Strophe lautet:


    "O Jugend unsrer Zeit. Du bist dahin!

    Die Kraft zahllosen Volks, sie ist vergeudet,

    Nicht einer von der Meng´ sich unterscheidet,

    Und nichtsbedeutend all´ vorüberzieh´n."


    Und in der letzten dichtet er:


    "Nur Dir, o heil´ge Kunst, ist´s noch gegönnt

    Im Bild´ die Zeit der Kraft und That zu schildern,

    Um weniges den großen Schmerz zu mildern,

    Der nimmer mit dem Schicksal sie versöhnt."


    Im Rückblick auf die damalige Zeit schrieb Joseph von Spaun 1864:

    "Es war eine ernste Zeit und die Welt stöhnte damals unter der Gewaltherrschaft eines mächtigen Tyrannen. Der Wunsch der Erlösung wirkte unter der besseren Jugend begeisternd, es entstand in Deutschland der sogenannte >Tugendbund< als Vorbereitung zu besseren Tagen. Auch wir waren begeistert, und waren darüber einig, daß nur Fortschritte den Jüngling, in Tugend und Wissenschaft durch lange Zeit zurückgehalten, zum Besseren führen können. (…)

    Es entstand auf diese Weise ein Verein, ohne Namen, ohne Statuten, ohne Formalitäten, der sich weiter und weiter ausbreitete (…) Obwohl dieser Verein durchaus nicht als eine politische Verbindung angesehen werden konnte, fing er doch an, einigen Verdacht zu erregen."


    Joseph von Spaun war der erste Förderer Schuberts und sein lebenslanger Mentor, und Schubert gehörte diesem "Verein" auch an.

    (Ich habe einen Thread mit dem Thema "Schubert und Mayrhofer" erstellt, den ich irgendwann einmal hier einstellen könnte. Er beschäftigt sich u.a. mit diesen Fragen. Mayrhofer, der ebenfalls diesem "Verein" angehörte, ist aus diesem Leiden an der Zeit erst in die Kunst (die Dichtung) und dann, als das nichts half, bekanntlich in den Suizid geflüchtet.)

  • „Im Frühling“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Bei der dritten Strophe liegt auf den ersten drei Versen die gleiche Melodik wie in der ersten Strophe. Der Klaviersatz ist freilich nun ein völlig anderer, er setzt nämlich im Diskant die arpeggienhaften, aus einem Fall in eine Aufstiegsbewegung übergehenden Sechzehntelfiguren fort, mit denen das Klavier das viertaktige Zwischenspiel gestaltet, und ganz offensichtlich ist es das liebliche lyrische Bild von dem aus Knospen und Blüten blickende „bunte Frühling“, das Schubert zu dieser Variation des Klaviersatzes bewegt hat.

    Auch die Variation, die mit dem zweitletzten Vers, den Worten „Am liebsten pflückt' ich von dem Zweig“ also in der Melodik einsetzt, gründet in der lyrischen Aussage. Abweichend von der entsprechenden der ersten Strophe geht die melodische Linie nun, die den Wunsch begleitenden Emotionen des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringend, zu im Intervall sich ausweitenden Sprungbewegungen über, denen nach einem zweifachen Sekundanstieg auf den Worten „Von welchem sie gepflückt“ wieder einmal eine einen nach unten gerichteten Bogen beschreibende Sechzehntelfigur nachfolgt, in der sich die zärtlich-liebevollen Gedanken des lyrischen Ichs niederschlagen und die deshalb im Tongeschlecht Moll (a-Moll mit Rückung nach E-Dur) harmonisiert ist.
    Die Wiederholung dieser Worte wirkt in der einen dreifachen Sekundanstieg mit nachfolgendem Septfall beschreibenden melodischen Linie, die ihnen nun zugrunde liegt, wie eine Bekräftigung dieser Aussage des lyrischen Ichs. Dies auch deshalb, wie sie mit einem Sekundanstieg auf dem Grundton „G“ endet und die Harmonik im Kadenz-Gestus eine Rückung über die Dominante D-Dur zur Tonika beschreibt.

    Wie ein wenig aus dem klanglichen Rahmen fallend wirkt die Liedmusik der fünften Strophe schon. Nach der lieblich wirkenden, in C-Dur, D-Dur und G-Dur harmonisierten, und vom Klavier mit seinen Sechzehntel-Arpeggien im Diskant begleiteten Sechzehntelfigur auf der Wiederholung der Worte „das blaue Himmelslicht“, die eine Wiederkehr der Figur auf den Worten „und sie im Himmel sah“ darstellt, muten die nun im zweitaktigen Zwischenspiel erklingenden, von Sechzehntelpausen unterbrochenen und von ansteigenden Sechzehntelfiguren im Bass begleiteten Achtel-Sechzehntel-Akkordpaare im Diskant durchaus befremdlich an. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie fast ausschließlich, mit nur kurzen Rückungen nach As-Dur und G-Dur, im Tongeschlecht Moll harmonisiert sind und damit, weil es sich dabei um ein g-Moll und c-Moll handelt, gleichsam die Grundtonart klanglich verfremdet.

    Es ist der kurze Ausflug des lyrischen Ichs in Gedanken über Zeit und Vergänglichkeit, der Schubert zu einer in Melodik, Harmonik, Klaviersatz und Dynamik sich von der vorangehenden deutlich abhebenden Liedmusik bewogen hat. Während sich die Liedmusik der A- und der B-Strophe dynamisch ausschließlich im Bereich eines Pianos entfaltet, das sich immer wieder ins Pianissimo, zuweilen gar ins dreifache Piano zurückzieht und nur ein einziges Mal ins Forte-Piano ausbricht, bei der zweimaligen Fermate-Aufgipfelung der Melodik am Ende der B-Strophe (bei den Worten „hell“ und „Quell), erklingt das Zwischenspiel im Mezzoforte, das sogar vorübergehend noch in ein Crescendo übergeht, um sich dann aber am Ende doch wieder zu dem Piano abzusenken, in dem die melodische Linie dann einsetzt.

    In der Melodik greift die fünfte Strophe durchaus auf die A-Strophe zurück. In den ersten drei Versen ist sie mit jener identisch, die auf der entsprechenden Versgruppe der ersten und der dritten Strophe liegt. Da sie aber nun in Moll harmonisiert ist und durch den veränderten Klaviersatz eine markante Akzentuierung erfährt, mutet sie fast wie eine an, die eine neue Aussage aufweist. Die melodische Figur, die auf den Worten „es wechseln Lust und Streit“ liegt, ist mit jener identisch, auf der zum Beispiel die Worte „der Himmel ist so klar“ deklamiert werden. Da nun aber die anfängliche Tonrepetition in tiefer Lage in As-Dur harmonisiert ist, sich danach bei dem Sprung über eine ganze Oktave eine Rückung nach G-Dur ereignet und der nachfolgende dreifache Sechzehntel-Sekundfall mit nachfolgendem Sekundsprung in c-Moll harmonisiert ist, geht der Melodik jegliche Anmutung von Leichtigkeit und klanglicher Helligkeit ab und ihre Aussage wirkt ernst und gewichtig.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Im Frühling“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Die Erkenntnis des lyrischen Ichs, dass „nur die Liebe“ zurückbleibe, hat zur Folge, dass die melodische Linie nun vom Gestus der A-Strophe abweicht und zunächst in einer Folge von Sprungbewegungen mit wachsenden Intervallen in hohe Lage aufsteigt und dann in einen Fall übergeht, der sie in eine die Ausgangslage unterschreitende Tiefe führt, wobei nun die Harmonik das Tongeschlecht Moll verlässt und Rückungen zwischen As-Dur und Es-Dur beschreibt. Beim Schlussvers, dessen Worte „und, ach, das Leid“ wiederholt werden, kehrt sie freilich zu den Figuren der A-Strophe zurück, die freilich zunächst in As- und Es-Dur harmonisiert sind, bei der Wiederholung aber eine Rückung in das Tongeschlecht Moll erfahren. Das Wort „Leid“ und der vorgelagerte Ausruf „ach“ machen die Rückkehr der Harmonik nach g-Moll mit Zwischenrückung nach D-Dur erforderlich.

    Die Melodik auf allen Versen der letzten Strophe ist, und das auch in ihrer Harmonisierung, mit der auf der zweiten Strophe identisch, nur dass sie dieses Mal vom Klavier, den lieblichen Bildern des Wunschtraums entsprechend, mit den Arpeggien-Figuren im Diskant begleitet wird, die es erstmals im Zwischenspiel vor der dritten Strophe und in der Begleitung der melodischen Linie derselben angeschlagen hat. Aber da ist ja noch dieser innige Wunschtraum vom „Singen“ für die Geliebte, und das „den ganzen Sommer lang“. Schubert will ihm Nachdruck verleihen, und er setzt dafür sein in solchen Fällen immer herangezogenes Mittel der Wiederholung ein, und dies, wenn die seelischen Tiefendimensionen ausgelotet werden sollen, in vielgestaltiger Form. Zunächst wird, wie das ja durchweg in diesem Lied der Fall ist, der letzte Vers (bzw. Teile davon) wiederholt, und zwar auf der melodischen Sechzehntel-Figur, die die Melodik beider vorangehenden B-Strophen beendet: Einem zweimaligen Anstieg in Sekundschritten mit zwischengelagertem und nachfolgendem Fall, hier in einer Rückung von e-Moll über D-Dur nach G-Dur harmonisiert.

    Eine Fünfachtelpause folgt für die Singstimme nach, in der das Klavier seine arpeggienhaften Sechzehntel im Diskant erklingen lässt. Bei der Schluss-Melodiezeile hat Schubert in den lyrischen Text eingegriffen, denn sie lautet: Ich säng´ von ihr den ganzen Sommer lang“. Die melodische Linie, die er auf sie gelegt hat, entfaltet den Zauber großer Herzinnigkeit. Sie setzt gleichsam auftaktig ein: Mit einem Sekundanstieg in tiefer Lage auf den Worten „ich säng´ von ihr“, bei dem das Wort „säng´“ eine kleine Dehnung trägt. Eine Achtelpause folgt nach.
    Und dann schwingt sich die melodische Linie mit einem Quintsprung in hohe Lage empor, hält, zusammen mit dem Klavier, auf der ersten Silbe des Wortes „ganzen“ in Gestalt einer Fermate inne, um sich danach zur zweiten Silbe hin über das Intervall eine Sexte in tiefe Lage abzusenken, nach einer Tonrepetition einen Terzsprung zu beschreiben und schließlich über einen doppelten Sekundfall auf dem Grundton „G“ zu enden. Der stark gedehnte Sextfall auf dem Wort „ganzen“ ist in einem a-Moll harmonisiert, das ihm die Anmutung von wehmütiger Innigkeit verleiht. In der Folge beschreibt die Harmonik dann die klassische Kadenz-Rückung über die Dominante zur Tonika.

    Nur einen Takt lang währt das Nachspiel. Aber in der Terzen- und Sextenbetontheit, in der die Akkorde ihre wellenartige Fallbewegung vollziehen, stellt es ein Nach- und Ausklingen der Innigkeit dar, die den Geist dieser ganzen Liedmusik ausmacht und ihren Zauber begründet.

  • „Über Wildemann“, op.108, 1, D 884

    Die Winde sausen
    Am Tannenhang,
    Die Quellen brausen
    Das Tal entlang;
    Ich wandre in Eile
    Durch Wald und Schnee,
    Wohl manche Meile
    Von Höh zu Höh.

    Und will das Leben
    Im freien Tal
    Sich auch schon heben
    Zum Sonnenstrahl;
    Ich muß vorüber
    Mit wildem Sinn
    Und blicke lieber
    Zum Winter hin.

    Auf grünen Heiden,
    Auf bunten Au'n,
    Müßt’ ich mein Leiden
    Nur immer schaun,
    Daß selbst am Steine
    Das Leben sprießt,
    Und ach, nur Eine
    Ihr Herz verschließt.

    O Liebe, Liebe,
    O Maienhauch!
    Du drängst die Triebe
    Aus Baum und Strauch;
    Die Vögel singen
    Auf grünen Höhn,
    Die Quellen springen
    Bei deinem Wehn.

    Mich läßt du schweifen
    Im dunklen Wahn
    Durch Windespfeifen
    Auf rauher Bahn.
    O Frühlingsschimmer,
    O Blütenschein!
    Soll ich denn nimmer
    Mich dein erfreun?

    (Ernst Schulze)

    Bei „Wildemann“ handelt es sich um ein „Bergstädtchen am Harz“, wie aus Ernst Schulzes „Poetischem Tagebuch“ hervorgeht. Zum Entstehungsdatum des Gedichts ist dort vermerkt: „Den 28sten April 1816“. Sein Thema ist: Erfahrung naturhafter Außenwelt aus der Perspektive der seelischen Innenwelt eines lyrischen Ichs.
    Sie stellt sich lyrisch dar als eine von tiefer, schmerzhaft erlebter Diskrepanz und ereignet sich bei den beiden ersten Strophen als unvermittelter Umschlag der Perspektive inmitten derselben, im Übergang von vierten zum fünften Vers nämlich.

    Bei den nachfolgenden Strophen setzt sich in den lyrischen Aussagen immer stärker die Dominanz der seelischen Innenwelt durch, insofern in die Artikulation der Außenwelt-Erfahrungen von vornherein die existenzielle Situation und die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs einfließen, bis es dann am Ende, in der fünften Strophe ausschließlich von diesen spricht und in eine von schmerzlicher Klage erfüllte Frage ausbricht.
    Sein Leiden gründet in unerfüllter Liebe, und das macht es ihm unmöglich, sich in der winterlichen Landschaft, die es durchwandert, an den Zeichen kommenden Frühlings zu erfreuen. Der „Maienhauch“, der draußen die Triebe aus Baum und Strauch drängen, die Vögel singen und die Quellen springen lässt, drängt ihn in seinem Innern dazu, „im dunklen Wahn „durch Windespfeifen auf rauher Bahn zu schweifen“. Die Frage, in die die Verse der letzten Strophe münden, mutet an wie ein Hilferuf, der aus tiefem Seelenleid kommt.

    Schuberts Liedkomposition auf diese Verse Ernsts Schulzes entstand im März 1826. In seiner existenziellen Grundsituation hat er sich wohl durch sie in ihrem Kreisen um die Diskrepanz zwischen Innen- und Außenwelt unmittelbar angesprochen und zur liedkompositorischen Auseinandersetzung mit ihnen motiviert gefühlt. Herausgekommen ist ein variiertes Strophenlied, das in der ihm innewohnenden liedmusikalischen Unruhe, dem vorwärts drängenden Gestus, in dem sich die Melodik wie angetrieben vom Klaviersatz entfaltet, in seiner geradezu schroff anmutenden Dynamik und den tongeschlechtlichen Umbrüchen wie ein weit über die Aussage des lyrischen Texts hinausgehendes Bekenntnis des Komponisten anmutet, - „Winterreise“-Geist atmend.


  • "Über Wildemann". Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die Liedstrophen entsprechen denen des lyrischen Textes und sind durch zum Teil sich bis über fünf Takte erstreckende Zwischenspiele voneinander abgehoben. Die Liedmusik der ersten Strophe kehrt in der fünften in partiell variierter Gestalt wieder. Dasselbe ist bei der zweiten und der dritten Strophe der Fall, die vierte weist hingegen eine ganz und gar eigene, in ihren melodischen Motiven nirgends sonst zitierte oder verwendete Liedmusik auf. Und es ist ganz offenkundig, warum Schubert liedkompositorisch in dieser Weise verfuhr.
    Diese Strophe nimmt in ihrer Aussage insofern eine herausragende Stellung ein, als das lyrische Ich sich hier inmitten seiner Wanderschaft durch winterliche Landschaft in einen geradezu schwärmerischen Jubel über „Liebe“ und „Maienhauch“ versteigt, - eine reale und seelische Lebenswelt, die ihm, so wie es das im Augenblick sieht, für immer verschlossen bleiben dürfte. Die Melodik entfaltet sich in dieser Strophe in lieblich anmutenden Figuren, und dies im Pianissimo und ungebrochener Dur-Harmonisierung. Eine Liedmusik, die sich gerade noch, am Ende der vorangehenden dritten Strophe, fortissimo in einer stürmisch nach oben drängenden und in Moll harmonisierten Melodik erging.

    Dieses kontrastive und durch den durchgängig stürmischen Geist des Klaviersatzes in den Zwischenspielen nicht wirklich abgemilderte Aufeinandertreffen von sich in der sie konstituierenden Sprache deutlich voneinander abhebenden Liedmusiken ist ein charakteristisches Merkmal dieser Komposition, und es begegnet einem nicht nur in der Aufeinanderfolge der Strophen, sondern sogar in deren musikalischer Binnenstruktur.
    Das muss es sogar, möchte man behaupten, - Schuberts kompositorische Grund-Intention der Verwandlung lyrischer Sprache in liedmusikalische bedenkend. In der ersten Gedichtstrophe geht die lyrische Sprache mit dem fünften Vers perspektivisch von der vorangehenden Betrachtung der realen Außenwelt zum Sich-Aussprechen des lyrischen Ichs in seiner gegenwärtigen Situation und Befindlichkeit über. Und dieser perspektivische Wandel schlägt sich auch in der Liedmusik nieder, rein formal schon dadurch, dass am Ende des vierten Verses eine in ihrem Wert eintaktige Pause in die melodische Linie tritt. Aber auch ihre Struktur und ihre Harmonisierung nehmen eine neue Gestalt an.

    Nicht aber der Klaviersatz. Und das ist bemerkenswert. Er behält, bei allen Variationen, die er in seiner Gestalt durchläuft, durchweg die Grundstruktur bei, in der er im sechstaktigen Vorspiel erstmals auftritt: Im Diskant entfaltet sich eine durch Achtelpausen unterbrochene Folge von triolischen, als Fall angelegten Achtelpaaren, von denen das erste ein Einzelton oder ein Akkord sein kann, über unterschiedliche Bewegungen beschreibenden, aber auch schon einmal in Repetitionen verharrenden Oktaven im Bass. Die Dynamik steigt dabei mit einem Crescendo vom anfänglichen Piano ins Forte an und die Harmonik beschreibt immer wieder Rückungen von d-Moll nach F-Dur. Dieser zwar überaus vielgestaltige, aber von seiner Grundstruktur an keiner Stelle abweichende Klaviersatz will auf diese Weise wohl seine liedkompositorische Intention bekunden: Als gleichsam die Wanderschaft des lyrischen Ichs klanglich imaginierender, und darin die Melodik in ihrer Entfaltung drängender und vorantreibender liedmusikalischer Faktor. Und das gelingt ihm auf beeindruckende Weise, mutet doch die Melodik, in der das lyrische Ich sich äußert, so an, als würde sich die geradezu hektische Unruhe, die vom Klaviersatz ausgeht, immer wieder geradezu in sie hineindrängen.

    Die auf den ersten vier Versen liegende Melodik lässt dies auf eindrückliche Weise vernehmen. Mit einem Quintfall setzt die melodische Linie bei den Worten „die Winde“ ein. Danach geht sie aus tiefer Lage in einen zweifachen Sekundanstieg über, senkt sich danach aber bei „sausen am Tannenhang“ erst einmal wieder in noch tiefere Lage ab, wobei, die innere Unruhe der Bewegung ausdrückend, auf den Worten „sausen am“ ein Sekundfall mit nachfolgender Achtel-Tonrepetition liegt. Auf der letzten Silbe von „Tannenhang“ geht sie aus der tiefen Lage eines „Cis“ in einen Sekundanstieg über, den sie nach einer Achtelpause bei den Worten „Die Quellen brausen das Tal entlang“ wie unaufhaltsam bis zu einem hohen „C“, also über eine ganze Oktave, fortsetzt, wobei sich auf „entlang“ noch ein Sekundsprung mit nachfolgendem Fall zurück auf dieses „C“ ereignet.

    Das Klavier begleitet die melodische Linie durchweg mit seinen unruhigen Achtel-Fallfiguren im Diskant und lässt sie dabei ihren Bewegungen folgen. Das gilt auch für die Oktaven im Bass, so dass der Anstieg in hohe Lage im gemeinsamen Vollzug von melodischer Linie, Klavierdiskant und Klavierbass stürmische Eindringlichkeit entfaltet. Dies auch deshalb, weil die Harmonik hier eine Rückung vom anfänglichen a-Moll erst nach F-Dur und anschließend nach C-Dur vollzieht. Und dass der Klaviersatz hier die letztlich treibende Kraft ist, lässt er dadurch vernehmen, dass die Kombination aus Sekundsprung und –fall auf „Tal entlang“ mit akkordischen Achtelfiguren im Diskant begleitet und diese in der Pause für die melodische Linie deren letzte Sprung- und Fallbewegung noch einmal nachvollzogen wird.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Über Wildemann“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Mit den Worten „Ich wand´re“, mit denen der lyrische Text von der Deskription von Landschaft zur Selbstaussprache des lyrischen Ichs übergeht, wandelt sich auch der deklamatorische Gestus der melodischen Linie. Bei den Worten „ich wand´re in Eile“ und „durch Wald und Schnee“ beschreibt sie jeweils eine mit einem Sekundsprung eingeleitete Fallbewegung, wobei sich bei der ersten wieder ein, eben die „Eile“ ausdrückender Terzfall mit nachfolgender Achtel-Tonrepetition auf den Worten „wand´re in“ ereignet und vor der zweiten Fallbewegung ein ausdrucksstarker Oktavsprung stattfindet. Wieder erfolgt eine Steigerung der Expressivität der Melodik dadurch, dass beide Male der Fall von den Oktaven im Diskant mitvollzogen wird und sich beim zweiten eine harmonische Rückung von e-Moll nach E-Dur ereignet. Auf den Worten „Wohl manche Meile von Höh zu Höh“ geht die melodische Linie dann wieder zu ihrem, ebenfalls von den Bass-Oktaven mitvollzogenen Aufstiegs-Gestus über, wobei das Bild „von Höh zu Höh“ in der Weise von ihr aufgegriffen wird, dass sie in gewichtigen Vierteltonschritten eine expressive Kombination aus Oktavfall und nachfolgendem Quartsprung vollzieht, bei der die Harmonik von E-Dur nach a-Moll rückt.

    Danach setzt Schubert wieder sein kompositorisches Mittel der Textwiederholung ein. Sie umfasst die gesamte zweite Vers-Vierergruppe der ersten Strophe, ergänzt durch die nochmalige Wiederholung der Worte „von Höh zu Höh“. Und wie das dabei ja grundsätzlich seine Absicht ist, gewinnt er auf diese Weise der lyrischen Aussage neue Dimensionen ab, die Seelenlage des lyrischen Ichs betreffend. Bei den Worten „und manche Meile von Höh zu Höh“ geht die melodische Linie, nachdem sie sich zuvor in tiefer Lage bewegt hat, in einem Crescendo zu einem Auf und Ab in sich ausweitenden Intervallen über, das am Ende in einen fortissimo zu deklamierenden und sie zu einem hohen „F“ führenden Sextsprung mündet, wobei das Klavier diese Bewegungen mit seinen Achtelfiguren im Diskant und den Oktaven mitvollzieht und der die Seelenlage des lyrischen Ichs reflektierenden melodischen Aussage zusätzliche Expressivität verleiht.

    Mit der zweiten Strophe geht die melodische Linie zu einem neuen, geradezu lieblich anmutenden Gestus über, der sich deshalb auf so markante Weise von der vorangehenden Liedmusik abhebt, weil sich das Klavier gerade noch in einem sechstaktigen Zwischenspiel auf stürmische Weise in seinen Diskant- und Bassfiguren ausgetobt hat, und dies fortissimo und in d-Moll-Harmonik mit zweimaliger Rückung nach A-Dur. Nun aber ist die melodische Linie ganz und gar in Dur harmonisiert, und dies bemerkenswerterweise in derTonart „D“, und sie steigt vier Mal mit einem Sprung in obere Mittellage empor, um sich von dort aus, nach einem anfänglichen Auf und Ab, in Sekundschritten in hohe Lage hinauf zu bewegen und sich dort einer kleinen Dehnung zu überlassen. Ganz offensichtlich ist sie darin von dem zentralen lyrischen Bild des sich zum „Sonnenstrahl“ hebenden Lebens im „freien Tal“ inspiriert. Und wieder ereignet sich beim Übergang von der ersten zur zweiten Vers-Vierergruppe der aus der ersten Strophe schon bekannte liedmusikalische Bruch

    Mit den Worten „Ich muß vorüber mit wildem Sinn“ geht das lyrische Ich wieder zum Bekenntnis seiner Seelenlage über, und die melodische Linie greift dies in der Weise auf, dass sie, nun wieder in d-Moll harmonisiert und vom Pianissimo davor zu einem Forte übergehend, einen in tiefer Lage (dem Grundton „D“ nämlich“ ansetzenden Sekundanstieg übergeht, der bei den Worten „wildem Sinn“ in einem Terzsprung mit nachfolgendem Quintsturz in tiefe Lage endet. Die Melodiezeile auf den Worten „Und blicke lieber zum Winter hin“ wirkt wie eine Wiederholung dieser Bewegung in gleichsam expressiv gesteigerter Form. Sie setzt nun, dieses Mal in g-Moll harmonisiert, auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene ein, so dass sich die Kombination aus Terzsprung und Quintfall in oberer Mittellage ereignet, wobei die Harmonik eine Rückung nach A-Dur vollzieht.

    Aber das Klavier bleibt nun in seinem nur zweitaktigen Zwischenspiel vergleichsweise ruhig, indem es seine Achtelfiguren im Diskant und seine Oktaven im Bass in repetierender Weise auf einer tonalen Ebene verharren lässt. Und das ist auch angebracht, wiederholt doch die melodische Linie alle ihre Bewegungen der zweiten Strophe in der nachfolgenden dritten noch einmal. Nur bei der Wiederholung der Worte „nur Eine ihr Herz verschließt“ beschreibt sie eine neue Bewegung. Es ist eine in Sekundschritten erfolgende Bogenlinie in hoher Lage, in d-Moll harmonisiert und fortissimo vorgetragen, - Ausdruck des tiefen Seelenschmerzes, den Schubert dem lyrischen Ich in seinem Leiden an unerfüllter Liebe zuschreibt.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Über Wildemann“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Das nachfolgende, zur vierten Liedstrophe hinführende, nun wieder sechstaktige Zwischenspiel wirkt mit der zweimaligen, mit einem Sprung noch einmal neu ansetzenden Fall seiner Figuren in Diskant und Bass wie ein Nach- und Ausklingen der tiefe innere Erregung des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringenden Liedmusik der vorangehenden Strophe. Und dieses Ausklingen muss ja sein, geht die melodische Linie doch nun mit dem Ausruf „O Liebe, Liebe, o Maienhauch!“ zu einem Ausbruch in einen regelrechten Jubel-Gestus über, der ganz und gar in Dur-Harmonik gebettet ist, einem A-Dur, das Rückungen in seine beiden Dominanten vollzieht und bei dem das Klavier bemerkenswerterweise seine Achtelfiguren im Diskant und die Oktaven im Bass nicht ausschweifende Bewegungen vollziehen, sie vielmehr über lange Strecken auf nur einer tonalen Ebene Repetitionen beschreiben lässt, dies allerdings im Diskant in variabler akkordischer Gestalt.

    Das Sich-Hineinsteigern des lyrischen Ichs in Frühlingsbilder bewirkt, dass die melodische Linie zwischen verschiedenen tonalen Ebenen in hoher Lage hin und her springt und sich dabei in rhythmisierten Tonrepetitionen ergeht. Bei dem Wort „Maienhauch“ beschreibt sie gar eine melismatische Achtel-Sechzehntelbewegung, die nach einem Fall in einen Anstieg übergeht und auf der Silbe „-hauch“ in einen gedehnten Sekundfall mündet. Erst bei den Worten „die Quellen springen bei deinem Weh´n“ senkt sie sich, als wäre sie des ständigen Auf und Abs müde, nach dreifacher Tonrepetition in hoher E-Lage auf mittlere tonale Ebene ab.

    Aber als dürfe das nicht sein, dieses Nachlassen des inneren Jubels, werden diese Worte noch einmal deklamiert, und dies wieder mit einer, nun allerdings nur zweifachen Tonrepetition auf dem „E“ in hoher Lage, die anschließend mit einem Sekundsprung in einen sich über das Intervall einer Sexte erstreckenden und auf dem Grundton „A“ endenden Sekundfall übergeht. Schon beim ersten Mal hat das Klavier, als wolle es sich gegen diese melodische Fallbewegung sperren, seine Oktaven im Bass eine Anstiegsbewegung beschreiben lassen. Und das tut es auch bei der Wiederholung der Worte des letzten Verspaares.

    In der fünften Strophe kehrt die Liedmusik der ersten in partiell variierter Gestalt wieder. In markanter Weise variiert wird eigentlich nur die melodische Linie auf den Worten „Mich läßt du schweifen im dunklen Wahn“. Hier senkt sie sich nach dem Quintfall am Anfang mit einem weiteren (verminderten) Sekundschritt schon zu dem „Cis“ in tiefer Lage ab, das sie beim ersten Mal erst am Ende der kleinen Melodiezeile erreichte. Das hat zur Folge, dass der nachfolgende Anstieg wie ein Vorlauf zu dem anmutet, was sich bei der – nun in identischer Weise wiederkehrenden – Aufstiegsbewegung der melodischen Linie auf den Worten „Durch Windespfeifen auf rauher Bahn“ ereignet. Aber das innere Getrieben-Sein des lyrischen Ichs erfährt hier einen noch stärkeren Ausdruck. Danach entfalten sich Melodik und Klaviersatz in gleicher Weise wie in der ersten Strophe, einschließlich der in d-Moll harmonisierten und expressiven Kombination aus Quintfall und Sextsprung auf „dein erfreu´n“ und dem in eine Dehnung mündenden, nun aber in A-Dur erklingenden Anstieg der melodischen Linie auf der Wiederholung dieser Worte.

    Das fünftaktige und in einem d-Moll-Akkord endende Nachspiel mutet wie eine permanente Wiederholung der expressiven Fall- und Sprungbewegung der melodischen Linie auf den Worten „dein erfreu´n“ an.
    Es ist die leiderfüllte Seele des lyrischen Ichs, der sich das Klavier in dem, was es zur Liedmusik beitragen kann, verpflichtet fühlt.

  • „Ständchen“, D 889

    Horch, horch! die Lerch' im Ätherblau;
    Und Phöbus, neu erweckt,
    Tränkt seine Rosse mit dem Tau,
    Der Blumenkelche deckt;
    Der Ringelblume Knospe schleußt
    Die goldnen Äuglein auf;
    Mit allem, was da reizend ist,
    Du süße Maid, steh auf!
    Steh auf, steh auf!

    (William Shakespeare, deutsch A.W. Schlegel)

    Dieses in den Weckruf „Steh auf“ mündende „Ständchen“ ist an die Prinzessin Imogen in Shakespeares Drama „Cymbeline“ gerichtet und entfaltet sich sprachlich in einer Folge von Versen aus vier- und dreifüßigen Jamben im Wechsel, die allesamt in stumpfer Kadenz enden.
    Darin, und das macht die hinter der vorgeblichen lyrisch-sprachlichen Einfachheit sich verbergende poetische Raffinesse dieses Textes aus, schlägt sich der auffordernde Gestus des Weckrufs nieder, dem aber dann durch die metrische Gleichförmigkeit, in dem er erfolgt, zugleich eine gewisse Eindringlichkeit verliehen wird. Von Raffinesse zeugt auch der Abriss der metrischen Regelhaftigkeit, der sich im letzten Vers ereignet. Der appellative Gestus, der, einsetzend mit dem repetierenden „Horch!“, diesem „Ständchen“ zugrunde liegt, tritt hier gleichsam unverhüllt auf, nicht mehr eingebettet in blumige Metaphorik und antike Mythologie.

    Schubert hat daraus ein Lied gemacht, das einen hohen Grad an Popularität gewann und in verschiedenen Orchesterfassungen weltweite Verbreitung fand. Das Manuskript trägt den Vermerk „Währing, Juli 1826“. Das legt, vor allem weil es sich um ein kleinformatiges Papier mit Bleistift-Notenlinien handelt, die Vermutung nahe, dass es sich um eine Gelegenheitskomposition handelt, vielleicht im Gasthaus „Zum Biersack“ verfasst.

    Aber was heißt das bei Schubert schon. Einmal abgesehen von der Liedmusik mit regelrechter Ohrwurm-Qualität, - der Blick in die Noten zeigt: Wie Shakespeares - und von Schlegel bis hin zu dem „Hark, hark! the lark“ perfekt ins Deutsche übertragener – lyrischer Text, so gibt sich auch Schuberts Liedmusik darauf volkstümlich einfach und stellt doch ein zwar kleines, gleichwohl kompositorisch hochgradig artifizielles musikalisches Werk dar. Das lässt sich - was nachfolgend geschehen soll - in allen seinen Bereichen aufzeigen, von der Melodik über den Klaviersatz und die Harmonik bis hin zur Dynamik.


  • „Ständchen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Einem Brief von Bauernfeld vom Mai 1826 kann man entnehmen, dass Schubert sich in Währing mit Schwind „gelangweilt“ haben muss. Vielleicht war das der Grund, dass er, um seine Stimmung aufzuhellen und seinem, durch eine Einladung von Schober zustande gekommenen, Aufenthalt in Währing so etwas wie einen sinnstiftenden Ertrag abzugewinnen, zu diesen arglos-heiteren Versen Shakespeares gegriffen. Es spricht einiges dafür, denn drei von den vier Liedern, die er dort komponierte, weisen einen heiteren, ohne jegliche Eintrübung oder gar innere Brüche sich entfaltenden melodischen Grundton auf. Es handelt sich um eben dieses „Ständchen“ D 889, das „Trinklied“ D 888 und die beiden nachfolgend vorgestellten Lieder „An Silivia D 891 und „Hippolits Lied D 890, das in seiner Liedmusik von diesem Grundton allerdings abweicht.

    Das angesichts der Kürze dieser sich in ihrem „Allegretto“ geradezu flott entfaltenden Liedmusik auffällig lange, nämlich neun Takte umfassende Vorspiel, das am Ende gemäß der Anweisung „Da capo als Fine“ in unveränderter Gestalt noch einmal erklingt, verweist in beeindruckender Weise auf ihren wesenhaft tänzerischen, sich in unbeschwert lieblicher Klanglichkeit entfaltenden Charakter. Auftaktige Achtel-Akkorde leiten eine rhythmisierte Folge von je einem Viertelakkord, zwei nachschlagenden Sechzehntelakkorden und einem weiteren Viertelakkord ein, und das ist alles in bemerkenswerter Weise sexten- und terzbetont und bildet mit dem nachfolgend reinen Sexten-Teil im Diskant eine eindringliche melodische Linie ab, in die sich mehrfach im Bass melismatische Sechzehntelfiguren einfügen. Die Harmonik beschreibt dabei, auch das ein charakterlich prägender Faktor, ausschließlich Rückungen von der Grundtonart C-Dur nach G-Dur, wobei dessen Funktion als Dominante allerdings auf deutliche Weise hervorgekehrt wird. Der Geist des lebhaften morgendlichen Weckrufs, der diese Liedmusik beflügelt, tritt einem also von vornherein nicht nur im Vorspiel entgegen, dessen Klaviersatz in seiner Grundstruktur auch die Begleitung der melodischen Linie bildet, er begegnet einem auch in der Harmonik.

    Ein Sechsachteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, und in der dadurch vorgegebenen Rhythmisierung entfaltet sich auch die Melodik. In der regelmäßigen Aufeinanderfolge von je einem deklamatorischen Achtel- und einem Viertschritt bildet sie zwar das Jambus-Metrum des lyrischen Textes ab, sie verleiht ihm aber einen beschwingten Geist dadurch, dass das in Tonrepetitionen geschieht, die immer wieder schon inmitten der Melodiezeile oder auch an ihrem Ende in leicht gedehnte, weil aus einer Folge von punktiertem Achtel und Sechzehntel bestehende kleine Sekundsprünge übergehen, die wie ein fröhlicher Juchzer anmuten. Bei den ersten beiden Verspaaren kann man das gleich in sich wiederholender Weise erleben, denn auf beiden liegt die gleiche melodische Linie mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz.

    Nur am Ende der zweiten Zeile, bei dem Wort „deckt“ also, beschreibt die melodische Linie nun nicht, wie beim ersten Mal einen Quart-, sondern einen Sextsprung, weil sie zur Wiederholung der Worte „Der Blumenkelche deckt“ und der zugehörigen Melodik überleiten will. Wie tänzerisch bewegt sich die melodische Linie bei den Worten „Horch, horch! die Lerch' im Ätherblau“ in Tonrepetitionen auf der Ebene eines „H“, eines „C“ und eines „G“ in mittlerer Lage auf und ab, und mit einem Mal geht sie dann, nach einer neuerlichen Tonrepetition auf den Worten „und Phöbus“ bei „neu erweckt“ in einen gedehnten Sekundsprung über, um am Ende zur Tonrepetition auf der gleichen Ebene zurückzukehren, auf der der Sekundsprung ansetzte.
    (Fortsetzung folgt)

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