Franz Schubert. Liedkomposition nach existenziell tiefgreifender Lebenskrise

  • „Ständchen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Mit den Worten „Der Ringelblume Knospe schleußt / Die goldnen Äuglein auf“ geht die melodische Linie zu einem ihre innere Beschwingtheit steigernden Gestus über. Verbunden ist dies mit einer – durchaus überraschenden – harmonischen Rückung nach As-Dur, die über die Dominante „Es“ eingeleitet wird. Der Klaviersatz behält zwar seine Grundstruktur bei, aber er wirkt nun, da die Akkorde in Bass und Diskant fast alle durch Einzeltöne ersetzt sind und nur noch das Achtel nach den beiden Sechzehntel-Repetitionen aus einem Akkord besteht, gleichsam leichtfüßiger, so dass er der beschwingteren Bewegung der melodischen Linie leichter zu folgen vermag. Diese überlässt sich mit einer Ausnahme nun nur noch am Anfang dieser und der die nächsten beiden Verse beinhaltenden Melodiezeile einer deklamatorischen Tonrepetition und geht danach zu Achtel-Sekundfällen und wieder zu jenen gedehnten Sekundsprüngen über, die sie schon in der Melodiezeile auf den ersten beiden Verspaaren beschrieb. Und in dieser ihrer Beschwingtheit, die sie bei dem Wort „Ringelblume“ sogar zu einem kleinen Tremolo beflügelt, steigert sie sich aus anfänglicher unterer Mittellage in obere empor.

    Das geschieht schon bei den Worten „schleußt die goldnen Äuglein auf“ in Gestalt einer Fortsetzung des gedehnten Sekundsprungs mit zwei weiteren Sekundschritten, die nach einer Tonrepetition mit einem gedehnten Sekundsprung in einen zweifachen Sekundfall übergehen. Bei der nächsten, mit den Worten „Mit allem, was da reizend ist“ eingeleiteten Melodiezeile steigert sich die melodische Linie mit einem Quintsprung zu dem Wort „reizend“ hin zum höchsten Ton des Liedes empor, der danach noch eine gewichtige Rolle übernimmt, weil die beiden herausragenden melodischen Sprünge auf den Worten „steh auf“ in Gestalt einer forte auszuführenden Dehnung enden. Und obwohl diesem hohen „G“ in diesem Fall, bei dem Wort „reizend“ also, ein zweifacher melodischer Terzfall nachfolgt, weist es auch hier schon einen hohen Grad an Expressivität auf, denn es ist nach der verminderten Fis-Harmonik, in der diese Melodiezeile einsetzt, in C-Dur harmonisiert. Und in dieser Tonart entfaltet sich die melodische Linie auch, mit einer kurzen Rückung in die Dominante G-Dur, bei den Worten „Du süße Maid, steh auf!“. Es ist die diesem Appell angemessene, dies auch deshalb, weil sich nach dem melodischen Juchzer-Motiv auf „süße“ ein expressiver Septsprung zu dem Wort „Maid“ hin ereignet.

    Mit diesem Appell ist die Liedmusik zu ihrem Ziel gelangt, - und damit auch zu ihrem Höhepunkt. Und so greift Schubert, wie er das in einem solchen Fall gerne tut, wieder zu seinem kompositorischen Mittel der Wiederholung. Die Melodiezeile auf dem dritt- und zweitletzten Vers erklingt in unveränderter Gestalt noch einmal, - unverändert bis auf den letzten melodisch-deklamatorischen Schritt auf dem für die liedmusikalische Aussage so wichtigen Appell „steh auf“. Der erfolgt nämlich nun nicht, wie beim ersten Mal, in Gestalt eines Sekundsprungs, sondern in einem über das Intervall einer Quarte, mündend in ein lang gedehntes, in C-Dur harmonisiertes und forte erklingendes „G“ in hoher Lage.

    Das Klavier kehrt in diesem Augenblick auch wieder zu seinen klanglich mächtigeren Figuren in Bass und Diskant zurück. Aber einfache Wiederholung reicht hier nicht, um den morgendlich-frischen und beschwingten Geist, den Schubert aus diesen Versen herausgelesen hat, liedmusikalisch einzufangen. Zweimal noch werden die Worte deklamiert „Steh auf, steh auf, du süße Maid, steh auf.“ Und dies auf in Melodik und Klaviersatz fast identische Art und Weise. Nur die Fallbewegung, die auf den Worten „süße Maid, steh auf“ liegt, setzt, verbunden mit einer Rückung nach F-Dur, beim zweiten Mal mit einem Sextsprung ein und endet, das Lied beschließend, in einem Sekundfall zum Grundton „C“.

    Warum Schubert bei den Wiederholungen nur geringfügige Variationen vornimmt, erschließt sich aus dem liedmusikalischen Geist, der sich hier entfaltet. Er stellt die vollkommene musikalische Verkörperung des lyrisch appellativen „Steh auf“ dar, - mit seinen in hoher Lage ansetzenden, sich durch Verkleinerung des Intervalls scheinbar in tiefere Lage absenkenden und dabei die harmonischen Stufen C-Dur, G-Dur und g-Moll durchlaufenden melodischen Sprüngen auf diesen Worten.

  • Sehr schön wieder was von dir zu lesen lieber H.Hofmann! :jubel::hail::)


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • „Hippolits Lied“, D 890

    Laßt mich, ob ich auch still verglüh',
    Laßt mich nur stille gehn;
    Sie seh' ich spät, sie seh' ich früh
    Und ewig vor mir stehn.

    Was ladet ihr zur Ruh' mich ein?
    Sie nahm die Ruh' mir fort;
    Und wo sie ist, da muß ich sein,
    Hier sei es oder dort.

    Zürnt diesem armen Herzen nicht,
    Es hat nur einen Fehl:
    Treu muß es schlagen bis es bricht,
    Und hat deß nimmer Hehl.

    Laßt mich, ich denke doch nur sie,
    In Ihr nur denke ich;
    Ja! ohne sie wär' ich einst nie
    Bei Engeln ewiglich.

    Im Leben denn und auch im Tod',
    Im Himmel, so wie hier,
    Im Glück und in der Trennung Not
    Gehör' ich einzig Ihr.

    (Friedrich von Gerstenberg)

    Dieses Gedicht des zum Kreis um Goethe gehörenden Friedrich von Gerstenberg (der eigentlich ein geborener „Müller“ ist), findet sich in dem 1821 in Leipzig erschienenen Roman „Gabriele“, den Johanna Schopenhauer, die Mutter des Philosophen, verfasste. Hippolit hat sich in die Titelheldin Gabriele verliebt und bringt all das, was ihm diese Liebe bedeutet und was sie mit ihm macht, in Versen zum Ausdruck, die er, sich absondernd von einer gerade stattfindenden gesellschaftlichen Veranstaltung, am Ufer eines Flusses auf einer Schreibtafel niederschreibt.
    Es ist, wie er empfindet, eine absolute, das Ich ganz und gar erfüllende und in ihrer Unauflöslichkeit sogar den Tod überdauernde Liebe, allerdings auch eine, die, weil sie keine Erfüllung zu finden vermag, dem Ich alle Ruhe raubt, es, wie die viermalige Wendung „laßt mich“ andeutet, in die Einsamkeit treibt und sogar die Gefahr des „stillen Verglühens“ in sich birgt.

    Unter den vier Kompositionen, die während Schuberts Aufenthalt in Währing in den Monaten Mai bis Juli 1826 entstanden, nimmt diese, wie schon beim vorangehend vorgestellten Lied „Ständchen“ angedeutet wurde, eine herausragende Stellung ein. Sie trägt wie diese den Vermerk „Währing, Juli 1826“, aber es ist eine ganz und gar andere liedmusikalische Welt, die einem hier entgegentritt.

    Könnte man sich bei „Ständchen“ und bei den beiden anderen Währing-Kompositionen („Trinklied“ und „An Silvia“) der Vorstellung hingeben, dass Schubert sich aus der Langeweile seines Aufenthalts in Währing durch eine Flucht in eine liedkompositorisch heitere Welt befreien wollte, so mutet die Musik dieses Liedes wie ein Sturz in tiefe Depression an.
    Sie atmet „Winterreise“-Geist, und dies unüberhörbar. Man meint in ihr dem Franz Schubert zu begegnen, der vor nicht allzu langer Zeit, gegen Mitte der zwanziger Jahre, in eine tiefe existenzielle Krise geriet und gegen deren Folgen er mit all den vielen liedkompositorischen Beschwörungen einer unbeschwert hellen und heiteren Lebenswelt nicht wirklich etwas auszurichten vermochte.


  • „Hippolits Lied“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Der Liedmusik liegt ein Viervierteltakt zugrunde, sie steht in a-Moll als Grundtonart und soll „Etwas langsam“ vorgetragen werden. Formal betrachtet stellt sie ein variiertes Strophenlied dar. Die erste und die zweite Strophe weisen eine je eigene Liedmusik auf, die sich bei der dritten und der vierten Strophe in unveränderter Gestalt wiederholt. In der fünften Strophe kehren Melodik und Klaviersatz der ersten in strukturell unveränderter Gestalt wieder, werden aber ergänzt durch eine Liedmusik, die eine Wiederholung der beiden letzten Verse beinhaltet.

    Könnte man diese Beschränkung auf nur zwei, in ihrem klanglichen Charakter einander auch noch ähnelnde Strophen und den weitgehenden Verzicht auf die Anwendung des Prinzips der Variation als Niederschlag der liedkompositorischen Absicht auffassen, die Schubert hier verfolgte?
    Das Erstarren-Lassen der Liedmusik in extrem fahler chromatischer Klanglichkeit, die in der wie endlos anmutenden Wiederkehr eines Pralltriller-Motivs und des Tones „E“ im Klaviersatz und der aus dem Ende des Quintenintervalls nicht herausfindenden Melodik wie eine Wiederkehr der „Leiermann“-Musik anmutet?
    Es spricht vieles dafür.

    Die Achtel-Figur, die das Klavier im zweitaktigen Vorspiel in Diskantlage anschlägt, nimmt nachfolgend eine die Liedmusik ganz und gar beherrschende und sie maßgeblich prägende Stellung ein. Beherrschend, weil sie – die Wiederholung nicht berücksichtigt – in der ersten, der zweiten und der variierten letzten Strophe tatsächlich achtunddreißig Mal erklingt, in zwar variierter, aber strukturell identischer Gestalt. Prägend, weil sie durch eben diese eine hohe Eindringlichkeit entfaltet. Die Ursache dafür liegt in der geradezu penetrant anmutenden Weise, in der der Ton „E“ als Basis für die Sprungbewegungen von Einzeltönen über unterschiedliche Intervalle dient.

    Weil in dieses „E“ nach jedem Sprung in Gestalt eines Pralltrillers wieder erklingt, mutet es an, als würde es jede von ihm wegführende Bewegung beherrschen und geradezu gewaltsam zu ihm wieder herabziehen. Und verstärkt wirkt dieser Effekt dadurch, dass im Bass – wie das schon im Vorspiel der Fall ist - immer wieder nicht nur ebenfalls ein „E“ erklingt, sondern auf dieser Grundlage ein bitonaler Akkord gebildet wird, der sich in auffälliger Häufigkeit als Quinte präsentiert.
    Es ist wahrlich die in ihrem Repetier-Gestus so eindringliche Leere der „Leiermann“-Quinte, die den klanglichen Raum und die Basis für die Entfaltung der melodischen Linie bildet. Das Klavier begleitet diese zwar immer wieder einmal auch mit zumeist wellenartig angelegten Achtel-Figuren im Diskant, das geschieht aber nur über höchstens drei Takte, bevor es wieder zur alles beherrschenden Grundfigur zurückkehrt. Und bemerkenswerter Weise sind in die davon abweichenden Figuren auch Pralltriller eingelagert.

    Wiederkehr des immer Gleichen ist der Geist, der in dieser Liedmusik umgeht. Und das tut er nicht nur im Klaviersatz, sondern auch in der Melodik. Und ganz offensichtlich drückt sich darin die Art und Weise aus, wie Schubert diese Verse „aus Schopenhauer´s >Gabriele<“, wie es im Notentext heißt, aufgefasst und verstanden hat. Es lässt sich mit seiner Liedmusik nicht auf die Vielfalt der Gedanken ein, denen sich das lyrische Ich – darin die Gegebenheiten im narrativen Kontext des Romans reflektierend – hingibt, für ihn ist nur – und das ist ganz typisch für seine liedkompositorische Rezeption von Lyrik – die existenzielle Grundsituation dieses Ichs von Bedeutung:
    Das totale Ergriffen-Sein von einer Liebe, die wesenhaft hoffnungslos ist. Daher dieser den Geist der Liedmusik beherrschende Gestus der Repetition von wesenhaft quintenbetonten und in ihrem auf Zurückfallen Hoffnungslosigkeit ausdrückenden Figuren im Klaviersatz und einer Melodik, die sich immer wieder einer ganz und gar ins Tongeschlecht Moll gebetteten und sich davon sich wirklich lösen könnenden Fallbewegung hingibt.

    Denn so ist es ja, wie die Melodik der ersten Strophe auf beeindruckende Weise vernehmlich werden lässt. Auf den Worten „Laßt mich, ob ich“ beschreibt die melodische Linie einen in a-Moll harmonisierten Sekundfall. Bei den nachfolgenden Worten „auch still verglüh´“ geht sie zwar mit zwei Sekundschritten in eine Aufwärtsbewegung über, um in einer Tonrepetition zu verharren, in der das Wort „still“ eine es klanglich hervorhebende Dehnung trägt. Die Harmonik rückt dabei in den Bereich der Dominante. Aber schon beim nächsten Vers wiederholt sich diese am Ende in einen Anstieg übergehende Fallbewegung, wobei sie nun in e-Moll gebettet ist, das bei der Dehnung, die am Ende des Wiederanstiegs, also auf dem Wort „geh´n“ liegt, wieder nach a-Moll rückt. Die melodische Fallbewegung wird beide Male vom Klavier im Bass mitvollzogen, und zwar in Gestalt von bitonalen Akkorden, die sich von einer Sekunde bis zu einer Quarte erweitern und bei der Dehnung auf „geh´n“ in eine Quinte münden, die mit der Achtelfigur im Diskant einen a-Moll-Akkord bildet.

    Beim nächsten Vers („Sie seh' ich spät, sie seh' ich früh“) beschreibt die melodische Linie, den Repetitionsgestus der lyrische Sprache aufgreifend, eine sich wiederholende Bewegung aus gedehntem Terzfall mit nachfolgendem Wiederanstieg, wobei sich jeweils eine Rückung von E-Dur nach a-Moll ereignet, und bei den die Strophe beschließenden Worten „Und ewig vor mir stehn“ hat die Falltendenz nun ganz und gar von ihr Besitz ergriffen. Es ereignet sich am Ende kein Wiederanstieg mehr, vielmehr geht sie nach einem kurzen Sekundsprung in einen den Gestus des Fallens betonenden Achtel-Sekundfall auf dem Wort „mir“ über, der über einen weiteren nach unten gerichteten Sekundschritt in den gedehnten Grundton „A“ mündet, den das Klavier wieder mit einer lang gehalten a-Moll-Quinte im Bass begleitet.

    (Fortsetzung folgt)

  • „Hippolits Lied“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Bei der zweiten – und damit auch der vierten – Strophe geht die melodische Linie von dem in der ersten so stark ausgeprägten klagenden Gestus zu einem eher konstatierenden, die Haltung der introvertierten Reflexion beim lyrischen Ich aufgreifenden Gestus über. Deklamatorische Tonrepetitionen prägen nun ihre Struktur, und in ihrer Harmonisierung ereignet sich immer wieder eine Rückung ins Tongeschlecht Dur. Beim ersten Vers („Was ladet ihr zur Ruh' mich ein?“) ist das noch nicht der Fall. Die melodische Linie verharrt zunächst in deklamatorisch gleich gewichtigen Schritten auf der Ebene eines „H“ in mittlerer Lage und ist ganz und gar in e-Moll harmonisiert. Bei „Ruh““ ereignet sich ein in eine Dehnung mündender und dieses Wort akzentuierender Quartsprung, aber danach kehrt die melodische Linie über einen Terz- und einen Sekundfall wieder zur tonalen Ausgangsebene zurück, von der aus sie auch zu ihren Bewegungen auf dem zweiten Vers ansetzt. Auch diese erfolgen in Tonrepetitionen, nun um eine Sekunde angehoben und in c-Moll harmonisiert. Darin schlägt sich das Gewicht der lyrischen Aussage „Sie nahm die Ruh' mir fort“ nieder. Und das hat auch zur Folge, dass sich bei dem Wort „Ruh“ eine harmonisch aussagestarke Rückung von c-Moll nach D-Dur ereignet und die melodische Linie bei den Worten „mir fort“ mit einem Sekundsprung einen in eine Dehnung mündenden zweifachen Sekundfall beschreibt, wobei die Harmonik von D-Dur nach G-Dur rückt.

    Auf den Worten „Und wo sie ist, da muß ich sein“, dem dritten Vers also, wiederholt die melodische Linie die Bewegungen auf dem ersten in unveränderter Gestalt noch einmal, - Ausdruck dieser introvertierten Haltung, die das lyrische Ich hier einnimmt. Beim letzten Vers („Hier sei es oder dort“) mutet die Liedmusik aber so an, als stelle sich bei ihm wieder das Bewusstsein seiner existenziellen Grundsituation ein, das Wissen um die letztendliche Hoffnungslosigkeit seiner großen Liebe. Aus einer Tonrepetition geht die melodische Linie nach einem Sekundsprung zu dem Wort „oder“ hin in einen Quartfall über, der nun wieder im Tongeschlecht Moll (d-Moll) harmonisiert ist. Aber weil das „dort“, dieses letzte Wort der Strophe, ja ein höchst gewichtiges Bekenntnis beinhaltet, die absolute Bindung an das geliebte Du nämlich, geht die melodische Linie wieder in einer Aufwärtsbewegung in Sekundschritten über und mündet in ein lang gedehntes „E“ in oberer Mittellage, das vom Klavier mit einer noch länger gehaltenen E-Oktave im Bass begleitet wird, die mit der zugehörigen Achtel-Figur im Diskant zusammen E-Dur-Harmonik entfaltet.

    Die Liedmusik der letzten Strophe ist mit der der ersten (und damit auch der dritten) bis zum letzten Vers einschließlich identisch. Schubert bringt aber hier, weil er dem in den beiden letzten Versen sich ausdrückenden und seelisch so anrührenden Liebesbekenntnis den ihm gebührenden Nachdruck verleihen möchte, wieder sein liedkompositorisches Prinzip der Wiederholung zum Einsatz. Und die Nachdrücklichkeit schlägt sich dabei in der Variation nieder, die er in der melodischen Linie vornimmt. Diese ist beim zweitletzten Vers identisch mit der Erstfassung. Bei den so entscheidenden Worten „gehör´ ich einzig ihr“ kommt es aber zu einer Steigerung der liedmusikalischen Expressivität. Die melodische Linie senkt sich nun bei dem Wort „gehör´“ nicht, wie beim ersten Mal, mit einem Sekundvorschlag in tiefere Lage ab, sondern geht mit einem Sekundsprung in höhere über, wovon aus sie auf der zweiten Silbe des Wortes einen ausdrucksstarken Achtel-Quintfall beschreibt, der nach einer zweifachen Tonrepetition mit einem Sekundsprung in ein die Melodik beschließenden und in eine Dehnung auf dem Grundton „A“ mündenden zweifachen Sekundfall übergeht. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von der Dur-Dominante „E“ zur Tonika a-Moll.

    Im Nachspiel lässt das Klavier vier Takte lang sein Pralltriller-Achtel-Motiv erklingen, bevor es diese Achtel mit einem Oktavsprung in wellenartiger Bewegung in einen lang gehaltenen sechsstimmigen a-Moll-Akkord münden lässt.

  • „Gesang (An Silvia)“, op.106, 4, D 891

    Was ist Silvia, saget an,
    Daß sie die weite Flur preist?
    Schön und zart seh' ich sie nah'n,
    Auf Himmels Gunst und Spur weist,
    Daß ihr alles untertan.

    Ist sie schön und gut dazu?
    Reiz labt wie milde Kindheit;
    Ihrem Aug' eilt Amor zu,
    Dort heilt er seine Blindheit,
    Und verweilt in süßer Ruh.

    Darum Silvia tön', o Sang,
    Der holden Silvia Ehren;
    Jeden Reiz besiegt sie lang,
    Den Erde kann gewähren:
    Kränze ihr und Saitenklang!

    (William Shakespeare, deutsch Eduard von Bauernfeld)

    Dieser lyrische Text stammt aus Shakespeares Komödie „The Two Gentlemen of Verona“ und wurde von Eduard von Bauernfeld in ein da und dort ein wenig steif und gedrechselt wirkendes Deutsch übertragen. Es handelt sich um ein Ständchen, das von einem Verehrer an die Tochter des Herzogs von Mailand mit dem Namen Silvia gerichtet ist. Formal betrachtet stellt es ein Preislied dar, bei dem zwei jeweils mit einer Frage eingeleitete und die Angebetete in ihrer Tugend und Schönheit in geradezu kosmische Dimensionen rückende Strophen in eine dritte münden, die das Vorangehende ausdrücklich als Lobgesang zu Ehren der „holden Silvia“ ausweist.

    Auch dieses Lied weist im Notentext die Notiz „Währing, Juli 1826“ auf. Es ist die letzte der dort entstandenen vier Liedkompositionen, von denen drei, eben diese, das „Trinklied“ und das „Ständchen“ einen Shakespeare-Text als Grundlage haben und allesamt eine in ungebrochener Beschwingtheit sich entfaltende Liedmusik aufweisen.
    Es handelt sich um ein reines Strophenlied, das in A-Dur als Grundtonart steht, einen Viervierteltakt aufweist und „mässig“ vorgetragen werden soll. Schubert hat es später in sein Liederheft op.106 aufgenommen, das seiner freundlichen Grazer Gastgeberin „Frau Marie Pachler“ gewidmet ist.

    Es dürfte wohl dasjenige unter den drei Shakespeare-Liedern sein, in dem die Melodik mit ihrer inneren Beschwingtheit im kontrastierenden Wechselspiel mit dem sich in akkordischen Repetitionen ergehenden Klaviersatz die größte Eindrücklichkeit zu entfalten vermag. Es ist der spezifische, von dem des Volkslieds inspirierte Geist Schubertscher Melodik, der einem hier in geradezu reiner Gestalt entgegentritt und der Komposition zu großer Beliebtheit verhalf.

    Und es ist wie immer bei Schubert:

    Eingängigkeit und Eindringlichkeit der Liedmusik resultieren aus der engen Anbindung an den lyrischen Text und aus dessen Verwandlung in musikalische Sprache.
    Es ist der lyrisch-sprachliche Gestus der Frage, der den Lobpreis Silvias in den ersten beiden Strophen prägt, und hinzukommend die in der dritten Strophe sich ereignende Steigerung der Emphase im Lob, die der Liedmusik ihr spezifisches Gepräge, ihren Geist und ihren klanglichen Charakter verleihen.
    Der Reiz und die Größe dieser Liedmusik besteht darin, dass sie in dem Lobpreis, auf den sie ausgerichtet ist, nicht über die Stränge schlägt, sondern im Gestus des Maßhaltens verbleibt. Darin reflektiert sie den spezifischen Charakter der lyrischen Sprache und ihrer Metaphorik.


  • Zitat von Helmut Hofmann

    „Gesang (An Silvia)“, op.106, 4, D 891

    :):thumbup::!::hail::jubel:


    Lieber H.Hofmann, meine LieblingsInterpretation ist diese......



    ......!

    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Meine auch. DFD singt mir zu verkopft. Aber das ist ein anderes Thema.

    Herzlichen Dank von dir wieder zu lesen, lieber Helmut :jubel:

    Freundliche Grüße Siegfried

  • :):thumbup::!::hail::jubel:


    ...meine LieblingsInterpretation ist diese......

    Ja, kann ich verstehen, lieber Fiesco. Wunderlich entfaltet einen strahlenden, die musikalische Frische des Liedes geradezu verströmenden Legato-Gesang, der die Melodiezeilen ausklingen lässt.

    Man möchte geradezu mitsingen.

    Ich könnte dem nun entgegen halten, was Fischer-Dieskau gesanglich erbringt: Ein Hervortreten-Lassen der lyrischen Aussage der einzelnen Melodiezeilen und damit eine deutlich ausgeprägtere Binnendifferenzierung innerhalb der strophischen Anlage der Liedmusik.

    Aber wie sagt Siegfried doch zu Recht: "Das ist ein anderes Thema".


    Übrigens, lieber Siegfried, ich habe Deinen (hier Franz Schubert. Liedkomposition nach existenziell tiefgreifender Lebenskrise geäußerten) Wunsch nach einer Besprechung von "Der Hirt auf dem Felsen" keineswegs vergessen. Sie kommt ganz zum Schluss und ist - wen wundert´s? - recht umfangreich ausgefallen.

  • Besten Dank, lieber Helmut!

    Bin schon sehr gespannt auf deine Besprechung.

    PS: Mein Sohn übt das Stück derzeit mit einer Sängerin und einer Pianistin ein. Er spielt Klarinette.

    Freundliche Grüße Siegfried

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  • Es sollen zuvor aber noch sieben Liedbesprechungen erfolgen. Erst dann habe ich "Hirt auf dem Felsen" vorgesehen, lieber Siegfried.

    (Schön ist das, einen solchen Sohn zu haben!)

  • Es sollen zuvor aber noch sieben Liedbesprechungen erfolgen. Erst dann habe ich "Hirt auf dem Felsen" vorgesehen, lieber Siegfried.

    (Schön ist das, einen solchen Sohn zu haben!)

    Ich danke dir, lieber Helmut! Beim Gehalt deiner Besprechungen lohnt sich das Warten allemal! :hail:

    Freundliche Grüße Siegfried

  • An Silvia“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Schon das Vorspiel lässt dieses Maß-Halten in der Steigerung der dem Lobpreis innewohnenden Emphase sehr deutlich vernehmen. Im Diskant beschreiben dreistimmige repetierende Achtelakkorde eine ansteigende und danach wieder fallende Linie, wobei die Harmonik eine Rückung von der Tonika A-Dur über ihre Dominante hin zu cis-Moll und h-Moll beschreibt, um danach wieder zur Tonika und Dominante zurückzukehren. Im Bass ereignen sich partiell von Pausen unterbrochene Fallbewegungen von Vierteln mit eingelagerten rhythmisierten Tonrepetitionen, in deren Verlauf sich ebenfalls eine deutlich ausgeprägte, einen Anstieg und einen Fall beschreibende melodische Linie abzeichnet. Das alles geschieht pianissimo und erweist sich im Folgenden als die Grundstruktur des die melodische Linie begleitenden Klaviersatzes.

    Diese strukturelle Grundeigenschaft, die gleichsam bogenförmige, von der Tendenz zum Anstieg mit nachfolgendem Fall geprägte Anlage weist auch die Melodik des Liedes auf. Und ebenso findet sich in ihr die Binnengliederung durch Pausen, wie sie die Figurenfolge im Klavierbass aufweist. Wären die Melodiezeilen, die sich daraus ergeben, mit den Versen des lyrischen Textes identisch, so wäre diese Binnengliederung der Melodik nicht weiter bemerkenswert. Dem ist aber nicht so. Die melodischen Zäsuren, die inmitten des ersten und des dritten Verses erfolgen und bei denen es sich mindestens um Pausen im Wert eines Viertels, mehrfach um halbtaktige und einmal, nämlich nach dem zweiten Vers, sogar um eine handelt, die einen ganzen Takt plus einem Viertel umfasst, strukturieren die Melodik auf markante Weise.
    Und ganz offensichtlich schlägt sich darin der rhetorische Gestus der lyrischen Sprache nieder, die sich in zwei von den drei Strophen auf der Grundlage einer einleitenden Frage in gleichsam regulierter Weise entfaltet und sich erst in der dritten, ja eigentlich erst im letzten Vers, zur großen, mit einem Ausrufezeichen versehenen Lobpreis.-Emphase „Kränze ihr und Saitenklang!“ aufschwingt.

    Grundsätzlich reflektiert die melodische Linie in dieser ihrer Struktur und ihrer Binnengliederung also, wie charakteristisch für Schuberts Liedmusik, die spezifische Eigenart der lyrischen Sprache und ihre Semantik. Aber noch ein weiteres erreicht Schubert damit: Die einzelnen, das Wesen von Silvia beschreibenden und darin die Intentionen des Lobpreisenden enthaltenden lyrischen Aussagen erhalten auf diese Weise ein Gewicht und ein emotionales Potential, das ihnen textlich nicht in diesem Maße eigen ist.

    Insofern, und darin liegt - unter anderem - die kompositorische Raffinesse dieser Liedmusik, kommt den zahlreichen, die Melodik so tiefgreifend strukturierenden Pausen eine doppelte Funktion zu:
    Einerseits mäßigen sie die dem Aufstiegsgestus der Melodik innewohnende Tendenz zur Steigerung der Emphase, andererseits aber ermöglichen sie das Zum-Ausdruck-Bringen des großen emotionalen Potentials, das den lobpreisenden Aussagen innewohnt, - in freilich geregelter und damit gedämpfter Art und Weise. Erst bei der, von Schubert ganz bewusst ermöglichten Wiederholung des letzten Verses darf sich die melodische Linie in nicht gleichsam gemaßregelter und deshalb auch nicht von einer Pause unterbrochener Emphase entfalten.
    (Fortsetzung folgt)

  • „An Silvia“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    In noch zwei weiteren Strukturelementen zeigt sich der hochgradig artifizielle Charakter dieser Liedkomposition, der – das nebenbei – das Gerücht, dass es sich dabei um eine Gelegenheitskomposition im Währinger Gasthof „Zum Biersack“ handeln könnte, als völlig abwegig erweist:
    In der Steigerung der musikalischen Expressivität, wie sie sich in der Aufeinanderfolge der Melodiezeilen und der damit einhergehenden Ausweitung des Ambitus einstellt, und in den harmonischen Modulationen, die sich dabei ereignen.

    Die melodische Linie auf den Worten „saget an“ wirkt, da sie die gleiche Bewegung wie die vorangehende auf den Worten „Was ist Silvia beschreibt, wie eine Wiederholung derselben auf einer um eine Terz abgesenkten und in der Subdominante harmonisierten tonalen Ebene. Dieser mit der anfänglichen Dehnung in beiden Zeilen und der Absenkung in tiefe Lage den Fragecharakter der beiden Verse reflektierenden Melodik tritt bei den Worten „Daß sie die weite Flur preist“ eine entgegen, die wie ihr Gegenbild wirkt: In zwei Terzsprüngen und einem über eine Quarte steigt sie in hohe Lage auf, um sich bei „Flur“ einer Dehnung zu überlassen, der ein Quartfall nachfolgt. Dieser lang gedehnte, mit einer harmonischen Rückung von der Dominante E-Dur zur Tonika A-Dur verbundene und Preislied-Aura entfaltende Quartfall auf den Worten „Flur preist“ wird in der nachfolgenden Pause für die Singstimme vom Klavier auf dezente Weise noch einmal nachvollzogen.

    Weil die Fallbewegung, die sich in den von einer Pause voneinander abgehobenen beiden Melodiezeilen auf den Worten des ersten Verses ereignet, so wirkt, als wolle sie der Melodik nur den Impuls geben, sich in dem ihr eigenen Geist zu entfalten, dem des preisenden Aufstiegs, lässt Schubert bei den beiden nächsten Versen der Strophe diesen Vorgang noch einmal wiederkehren, in strukturell ähnlicher Gestalt, mit gesteigerter Expressivität allerdings.

    Wieder ereignet sich in den beiden Melodiezeilen, die auf den Worten des dritten Verses liegen, eine von einer starken Binnendehnung geprägte Fallbewegung, wobei die zweite so wirkt, als setze sie die Bewegungen der ersten in ähnlichem Gestus fort. Wie beim ersten Vers erstreckt sich der zweifache, mit einer Dehnung bei „schön“ und „ich“ (erste Strophe) erfolgende Fall über das Intervall einer Sexte. Allerdings geschieht das nun in höherer tonaler Lage, und die Harmonik bewegt sich mit ihren Rückungen nicht im Bereich der Tonika und ihren Dominanten, vielmehr in ausdrucksstarker Weise von cis-Moll nach Gis-Dur bei der ersten Melodiezeile und von H-Dur nach E-Dur bei der zweiten.

    Auch die melodische Figur auf dem zweitletzten Vers („Auf Himmels Gunst und Spur weist“) stellt in der Grundstruktur eine Wiederkehr jener dar, die auf dem zweiten liegt, und auch hier zielt die Variation auf eine Steigerung der musikalischen Expressivität ab. Nun setzt die melodische Linie auftaktig nicht mit einem Sekundfall, sondern mit einem Quintsprung ein, und sie steigt auch nicht mit zwei Terzsprüngen und einem über eine Quarte in hohe Lage empor, sondern durchweg über Quinten, was zur Folge hat, dass der höchste Ton nun nicht ein „E“, sondern ein „Fis“ ist. Und schließlich beschreibt sie von dieser hohen Lage auch nun keinen einfachen gedehnten Quartfall, sondern einen über zwei Terzen, wobei der erste legato auszuführen ist.

    Dem letzten Vers kommt in diesem Strophenlied-Konzept eine Schlüsselstellung im Sinne von liedmusikalischem Höhepunkt und Schluss zu. Das zeigt sich schon darin, dass der expressive Fall, in dem die den zweitletzten Vers beinhaltende Melodiezeile endet, in der Dominante harmonisiert ist und das eintaktige Nach- und Zwischenspiel, das diesen auch hier nachvollzieht, ebenfalls in E-Dur-Harmonik steht. Vor allem aber ist es die Tatsache, dass er als Vorlage für eine Textwiederholung in eigenständiger Melodik dient, die diese Schlüsselstellung begründet.

    (Fortsetzung folgt)

  • „An Sylvia“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Die kompositorische Strategie der zwar behutsamen, gleichwohl kontinuierlichen Steigerung der liedmusikalischen Expressivität, die Schubert in diesem Lied verfolgt und die als Ausdruck der dem Lobpreis innewohnenden Emphase verstanden werden will, zeigt sich darin, dass auch die melodische Erstfassung des Schlussverses zwar in Tonika-Harmonik einsetzt, gleichwohl aber – dies allerdings über eine Rückung nach h-Moll - wieder in der Dominante E-Dur endet und damit wie ein Portal anmutet, das sich für die Rezeption der Emphase öffnet, in die sich die Liedmusik bei der Wiederholung des Verses steigert.

    Auch hier arbeitet Schubert mit diesem Kontrast-Effekt, den er schon bei den vorangehenden Melodiezeilen eingesetzt hat: Jenem Sich-Absenken der melodischen Linie, dem anschließend eine es gleichsam konterkarierende und in hohe Lage führende Aufschwung-Bewegung nachfolgt. Und hier nun erreicht er den Höhepunkt seiner Expressivität. Wieder wird in der Erstfassung der Vers in zwei durch eine Pause voneinander abgehobene kleine Melodiezeilen untergliedert. Auf dem anfänglichen „daß“ liegt wieder eine Dehnung, der bei „ihr alles“ ein Fall über eine Doppelterz und einen Legato-Sekundfall nachfolgt. Und auch bei der zweiten Zeile beschreibt die melodische Linie strukturell die schon vom ersten und vom dritten Vers her bekannten Bewegungen: Auftaktiger Einsatz mit einem Sprung und nachfolgend neuerlicher Fall. Nur dass sich dieses Mal dieser Sprung über ein größeres Intervall erstreckt, eine Sexte nämlich, und der Fall sich, nach der üblichen Dehnung auf der ersten Silbe von „untertan“, nun in höchst ausdrucksstarker Weise in Gestalt einer Sechzehntel-Kette mit nachfolgendem Legato-Sekundfall auf den beiden nachfolgenden Silben dieses Wortes ereignet. Die Harmonik vollzieht dabei – wie bereits erwähnt - eine Rückung von h-Moll in die Dominante E-Dur.

    Die Melodik auf der Wiederholung dieses letzten Verses mutet in der Tat nun wie eine markante Konterkarierung jener an, die der Erstfassung ihr klangliches Gepräge gibt. Keine Unterbrechung durch eine Pause mehr, und vor allem keine Falltendenz. Stattdessen ein gerade extrem sich auslebender Drang nach oben: Einsetzend mit einem veritablen Oktavsprung auf den Worten „daß ihr“, nachgefolgt von einem wiederum über eine Oktave erfolgenden Fall auf dem Wort „alles“, der mit einem Sekundsprung zu einer Dehnung auf der ersten Silbe von „untertan“ übergeht. Und dies alles nicht, wie bislang in dieser Liedmusik, in Gestalt von deklamatorischen Schritten im Wert von Vierteln und Achteln, sondern nun in solchen, die das Gewicht einer halben Note aufweisen.

    Dem Geist des Lobpreises, der Schubert in diesen Versen Shakespeares entgegengetreten ist, hat er mit dieser sich in der Emphase auf höchst kunstvolle Weise langsam steigernden und in der Schluss-Melodiezeile ihren Höhepunkt erreichenden Melodik vollendeten liedmusikalischen Ausdruck verliehen. Die Kombination aus Sekundsprung und in eine Dehnung mündendem Sekundfall, die nun auf den beiden letzten Silben des Wortes „untertan“ liegt, hat Kadenzcharakter und beschließt das Lied zusammen mit dem fünftaktigen Nachspiel, das sich als Wiederkehr des Vorspiels und als Zwischenspiel der Strophenlied-Musik erweist.

  • „An die Laute“, op.81, 2, D 905

    Leiser, leiser, kleine Laute,
    Flüstre, was ich dir vertraute,
    Dort zu jenem Fenster hin!
    Wie die Wellen sanfter Lüfte
    Mondenglanz und Blumendüfte,
    Send' es der Gebieterin!

    Neidisch sind des Nachbars Söhne,
    Und im Fenster jener Schöne
    Flimmert noch ein einsam Licht.
    Drum noch leiser, kleine Laute:
    Dich vernehme die Vertraute,
    Nachbarn aber - Nachbarn nicht!

    (Friedrich Rochlitz)

    Friedrich Rochlitz (1769-1842), von dem dieses Gedicht stammt, war Gründer und Herausgeber der „Allgemeinen Musikalischen Zeitung“. Er verfasste Romane, Erzählungen, Lustspiele und Gedichte. Schubert vertonte drei davon, neben diesem noch „Alinde“ und „Zur guten Nacht“ (für Bariton und vierstimmigen Männerchor). Dieses Ständchen, denn um ein solches handelt es sich bei „An die Laute“, wird vom lyrischen Ich in Versen von regelmäßig vierfüßigen Trochäen vorgetragen, die auf durchaus kunstvolle Weise vom Reimschema und den Kadenzen her pro Strophe jeweils zwei Dreiergruppen bilden. Die Verse eins, zwei, vier und fünf sind bei klingender Kadenz durch Paarreim miteinander verbunden, die Verse zwei und sechs weisen eine stumpfe Kadenz auf und reimen sich ebenfalls miteinander.

    Der spezifische Reiz dieses Ständchens besteht darin, dass die Adressatin gar nicht direkt angesprochen wird. Vielmehr wird lyrisch eine in sich geschlossene idyllische Situation entworfen, in der das lyrische Ich seine Laute anspricht und ihr gleichsam den Auftrag erteilt, all das, was es ihr nun anvertraut, der „Gebieterin“ zuzuflüstern. Alles, die mit der Imagination der Geliebten und der Übersendung der Gedanken und Gefühle an sie verbundenen lyrischen Bilder, ist in idyllische Sanftheit und Zartheit gehüllt, die Laute ist klein und leise, und die Heimlichkeit des Geschehens wird durch das Bild vom Ausschluss der Nachbarn und ihrer Söhne auf eine geradezu drastische, sich von der sonstigen Metaphorik deutlich abhebende Weise zum Ausdruck gebracht.

    Es ist dieses Thema der in der situativen Abgeschlossenheit und Stille eines wesenhaft einsamen Ichs an ein fernes Du abgesendeten Liebesbotschaft, das Schubert bei diesen Versen angesprochen haben dürfte, ist diese Situation ihm doch tief vertraut. Und hinzu kommt der damit einhergehende monologische Verkehr mit der Laute, dem Instrument, über das, wie das auch beim Klavier der Fall ist, der Musiker und Komponist de Außenwelt mitzuteilen vermag, was sein Herz, seine Seele und seine Gedanken bewegt. Schubert konnte sich also in diesen Versen des Friedrich Rochlitz wiederfinden und zu ihrer Umsetzung in Liedmusik motiviert fühlen.


  • „An die Laute“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die Komposition entstand im Januar 1827. Es ist ein Strophenlied, dem – darin die Grundsituation des Lauten-Ständchen reflektierend – ein Sechsachteltakt zugrunde liegt und das zwar „etwas geschwind“, aber ohne jegliche Schwankungen in der Dynamik durchweg im Pianissimo vorgetragen werden soll. Dass der Klaviersatz klanglich Lautenmusik imaginiert, mit arpeggierten Akkorden und wie gezupft wirkenden, steigend und fallend ausgerichteten Sechzehntelfiguren im Diskant, begleitet von partiell staccato angeschlagenen und durchweg in Aufwärtslinien angelegten Achtel-Dreierfiguren im Bass, ist nicht weiter verwunderlich, schließlich ist es thematisch geradezu geboten. Aber da hier ein Franz Schubert am Werk ist, ist dieser Klaviersatz weit davon entfernt, sich in struktureller Simplizität und klanglicher Schlichtheit zu ergehen und sich darin zu erschöpfen.

    Und das gilt in gleicher Weise für die Melodik, die, bei allen Verpflichtungen, die sich in der Gestalt ihrer Entfaltung aus der lyrisch vorgegebenen Ständchen-Situation ergeben, auf überaus vielgestaltige Art und Weise die lyrischen Aussagen, ihre Metaphorik und die darin sich niederschlagenden Gedanken und Emotionen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen vermag. Dergestalt, dass man hier als Hörer einer musikalisch überaus reizvollen, in ihrer zarten Beschwingtheit und kammermusikalischen Intimität sehr wohl beeindruckenden Liedmusik begegnet.

    Das viertaktige Vorspiel entfaltet mit seinen beiden arpeggierten Akkorden im Diskant und der nachfolgenden, in dreifach repetierende bitonale Achtelakkorde mündenden aufsteigenden Sechzehntel-Kette im Walzertakt beschwingte Lautenmusik-Atmosphäre und gibt zugleich die melodische Linie der Singstimme auf den Worten des ersten Verses vor. In ihrer aus einer vierfachen Tonrepetition hervorgehenden und in einen Terzfall mündenden Aufstiegsbewegung über einen Quart- und einen Terzsprung weist sie zwar eine einfache Struktur auf, sie fängt aber gerade darin den Gestus der zärtlichen Ansprache ein, wie er diesem ersten Vers eigen ist. Diese Anmutung kommt vor allem dadurch zustande, dass sich innerhalb der deklamatorischen Tonrepetitionen auf dem Wort „leiser“ eine gedehnter Sechzehntel-Sekundsprung ereignet und der Quartsprung auf dem Wort „kleine“ aus einer anfänglichen Dehnung hervorgeht. Hinzu kommt, dass das Klavier diese Melodiezeile mit drei arpeggierten Akkorden begleitet und bei dem aus hoher Lage einsetzenden Terzfall auf dem Wort „Laute“ seine aus dem Vorspiel bekannte aufsteigend angelegte Sechzehntel-Kette erklingen lässt.

    Und weil sich im zweiten Vers dieser Gestus der zärtlich-innigen Ansprache fortsetzt, wiederholt sich diese melodische Bewegung in unveränderter Gestalt noch einmal, - dies allerdings nun auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene. Die Anmutung von Zärtlichkeit und Innigkeit erfährt dabei dadurch eine Steigerung, dass die Harmonisierung nun in h-Moll – mit kurzer Rückung nach Fis-Dur – erfolgt, die arpeggierten Akkorde ein größeres tonales Intervall übergreifen und sich am Ende, also bei dem Wort „vertraute“ nun im Diskant ein mit einem melismatischen Zweiunddreißigstel-Anstieg eingeleiteter Sekundfall von sechs Sechzehnteln ereignet.

    Bei den Worten des dritten Verses („Dort zu jenem Fenster hin“) beschreibt die melodische Linie, nun in als Dominante fungierender E-Dur-Harmonik einsetzend, die alsbald in A-Dur übergeht, zunächst Bewegungen im engen Intervall einer Sekunde auf mittlerer tonaler Ebene, geht aber dann, den Gestus der ersten und zweiten Melodiezeile aufgreifend, bei den Worten „Fenster hin“ mit einem Terzsprung in obere Mittellage über, um sich dort auf der ersten Silbe von „Fenster“ einer langen Dehnung zu überlassen, die auf der zweiten dann mit einem Sekundsprung in einen Quintfall übergeht, dem ein die melodische Linie beschließender und in A-Dur harmonisierter Sekundanstieg nachfolgt. Auch diese Melodiezeile begleitet das Klavier mit arpeggierten Akkorden im Diskant über den durchweg erklingenden Achtel-Dreierfiguren im Bass.

    (Fortsetzung folgt)

  • Lieber Helmut Hofmann ,


    Vielen Dank für die Beschreibung der ersten Strophe. Ich habe mir nun die Interpretation von Fritz Wunderlich angehört und auch die von Dietrich Fischer-Dieskau von meiner CD. Auf youtube zu finden:



    Meine erste Frage betrifft wieder den Text. Wunderlich singt in der zweiten Strophe "und vom Fenster jener Schöne", während DiFiDi (?) sich an den von Dir geposteten Text hält. Gibt es dafür eine Erklärung oder ist das einfach ein bisschen Ungenauigkeit, die man in Kauf nehmen muss. Ich empfinde das poetische Bild als durchaus verschieden. Das "vom" suggeriert eine Zielhaftigkeit, die hinter dem Flimmerschein eine Intention der Schönen vermuten lässt, die eigentlich der Einsamkeit widerspricht.


    Persönlich würde ich der Begleitung von Moore dem Vorzug geben. Fischer-Dieskau hält sich auch deutlicher zurück als Wunderlich, der in den letzten Zeilen des Gedichtes tatsächlich "Gas" gibt, was der Stelle eine Dramatik verleiht, die ich so nicht aus dem Gedicht lese. Fischer-Dieskau klingt hier eher verschmitzt, was ich gefühlstechnisch als besser passend empfinde.

  • Ja, das habe ich auch bemerkt, lieber astewes, dass Fritz Wunderlich statt "Und im Fenster..." "Und vom Fenster..." singt. Das ist nicht der Wortlaut im Notentext, der genau dem bei Rochlitz entspricht. Ich habe keine Erklärung dafür, außer der, dass es sich bei dieser Aufnahme ja um einen Mitschnitt von den Salzburger Festspielen handelt, und bei Live-Auftritten passieren halt immer wieder einmal kleine Patzer in der Deklamation. Bei einer Studio-Produktion hätte man das korrigiert.

    Nebenbei: In den vielen Fischer-Dieskau-Liederabenden, die ich erlebt habe und an die ich mich in großer Dankbarkeit erinnere, bemerkte ich niemals einen Deklamationsfehler.


    Meine Besprechung hier entstand auf der Grundlage der Fischer-Dieskau-Interpretation des Notentextes. Als ich vor der Frage stand, zu welcher Aufnahme ich einen Link herstellen sollte, habe ich mich aber für Fritz Wunderlich entschieden. Der Grund dafür ist in den Beiträgen 127 und 128 zu finden. Ich möchte halt den Lesern meiner Beiträge eine Freude machen.

    Interessant sind Deine Bemerkungen zum gesanglichen Vortrag des Liedes und die pianistische Begleitung desselben. Ich möchte das aber nicht kommentieren. Nach durchaus leidvollen einschlägigen Erfahrungen dort meide ich das Tamino-Feld "Liedgesang".

  • Ich habe mir für Deinen Thread die große Kassette mit allen Schubertliedern mit Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore geholt. Deswegen vergleiche ich natürlich immer im Hintergrund.


    Ich finde es aber schön, wenn viele Interpretationen hier zum Zuge kommen. Nur durch den Vergleich versteht man eigentlich doch die Probleme und kommt an den kritischen Stellen dem Sinngehalt näher.

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  • Nur durch den Vergleich versteht man eigentlich doch die Probleme und kommt an den kritischen Stellen dem Sinngehalt näher.

    Da hast Du gewiss recht, lieber astewes. Sich verschiedene Aufnahmen von einem Lied anzuhören ist ja allein schon deshalb sinnvoll, weil große Liedmusik allemal polyvalent ist, man also als gesanglicher Interpret unterschiedliche Schwerpunkte in der Erschließung ihrer Aussage setzen kann und das in der Regel ja auch tut. Ich selbst ziehe deshalb bei der Besprechung eines Liedes, auch wenn ich mich bevorzugt auf eine bestimmte Aufnahme davon stütze, jeweils verschiedene gesangliche Interpretationen davon hinzu.

    Aber ich kann den Aspekt des Interpretationsvergleichs nicht auch noch in diesen Thread einbeziehen. Meine Ausführungen sind ohnehin zu lang. Gleichwohl freue ich mich, wenn andere, also Du zum Beispiel, diesen hier einbringen.

  • „An die Laute“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Als wolle das Klavier dieses Ende der melodischen Linie auf dem dritten Vers noch einmal in ausführlicher Weise nachvollziehen, lässt es in einem zweitaktigen Zwischenspiel zweimal eine mit melismatischem Zweiunddreißigstel-Anstieg eingeleitete Fallbewegung von Sechzehnteln erklingen, die in eine abschließende, ebenfalls fallend angelegte akkordische Schlussfigur münden. Damit leitet es zum zweiten liedmusikalischen Teil der Strophe über, der die zweite Vers-Dreiergruppe beinhaltet. Hier verfährt Schubert in gleicher Weise wie im ersten Teil, indem er nämlich die Melodik auf dem vierten Vers beim fünften unverändert wiederkehren lässt, dieses Mal sogar auf der gleichen tonalen Ebene, mit identischem Klaviersatz und in gleicher Harmonisierung.

    Es ist eine Melodik, die durch die Art, wie sie angelegt und harmonisiert ist, wirkt, als würde sie den mit dem Wort „wie“ eingeleiteten lyrisch-sprachlichen Gestus des metaphorischen Vergleichs aufgreifen, wozu auch die Wiederholung der melodischen Bewegungen ganz wesentlich beiträgt. Sie bestehen aus zwei einander ähnelnden, bogenförmig angelegten Figuren auf den Worten „wie die Wellen“ und „sanfter Lüfte“, bzw. „Mondenglanz“ und „Blumendüfte“, bei denen die zweite in ihrem Anstieg eine um eine Sekunde höhere tonale Ebene erreicht, um am Ende aber doch wieder zur Ausgangsebene zurückzukehren. Die Harmonik vollzieht dabei die ausdrucksstarke Rückung von H-Dur über e-Moll nach D-Dur, und das Klavier begleitet mit partiell arpeggierten Akkorden, lässt aber am Ende wieder eine Folge von fallenden, allerdings in einer Repetition innehaltenden Sechzehnteln erklingen.

    Weil der Schlussvers beider Strophen gleichsam die Quintessenz dessen enthält, was das lyrische Ich seiner kleinen Laute als Auftrag anzuvertrauen hat, verleiht Schubert ihm besonderes liedmusikalisches Gewicht dadurch, dass er ihn deklamatorisch wiederholen lässt. Das geschieht auf eine liedmusikalisch ausdrucksstarke Weise, indem die Melodik durch ihre Anlage und ihre Harmonisierung bei der Wiederholung so wirkt, als würde sie dem Auftrag des lyrischen Ichs Nachdruck verleihen in der Gewissheit, dass er auch wirklich mit dem gewünschten Erfolg ausgeführt werde.

    Beim ersten Mal liegt auf den Worten „Send´ es der Gebieterin“ ein aus einer Tonrepetition hervorgehender Anstieg in Gestalt eines Quartsprungs in hohe Lage, der sich auf dem Wort „Gebieterin“ nach einem anfänglichen doppelten Sekundfall in zwei kleinen Sekundschritten gleichsam noch einmal wiederholt, - darin eben diese Haltung des Beauftragens zum Ausdruck bringend. Und so mutet es denn auch ganz konsequent an, dass die Harmonik erst einmal mit Rückungen einsetzt wie bei den beiden vorangehenden identischen Melodiezeilen, - also von H-Dur nach e-Moll, nun aber über die Dominante A-Dur zur Tonika D-Dur übergeht.

    Liegt der Melodik bei der liedmusikalischen Erstfassung des Schlussverses eine aufwärts gerichtete Tendenz zugrunde, so ist es bei der Wiederholung eine abwärts gerichtete. Eingeleitet wird sie von einem Sechzehntel-Fall im Klavierdiskant im Anschluss an die melodische Dehnung, in der die Erstfassung endet, und sie wirkt deshalb wie eine Fortsetzung desselben. Nach einem Sekundfall mit nachfolgender Tonrepetition geht die melodische Linie zwar noch einmal einen Terzsprung über. Dieser wird aber mit dem gedehnten Terzfall auf dem Wort „der“ schon wieder zurückgenommen, und danach ereignet sich auf dem Wort Gebieterin“ ein zweifacher Terzfall, der sich als Abwärtsbewegung der Melodik nach einem zwischengelagerten Quartsprung in Gestalt eines in den Grundton „D“ in tiefer Lage mündenden Quintfalls fortsetzt, wobei die Harmonik in Kadenz-Manier eine Rückung von der Dominante zur Tonika D-Dur vollzieht. Das Klavier kommentiert diese melodische Bewegung mit einer Folge von Sechzehnteln, die zwar mit einem Terzsprung einsetzt, danach aber in einen kontinuierlichen Fall in Sekundschritten übergeht.

    Es ist also ein ganz und gar optimistischer Schluss, in dem die Melodik dieses Liedes endet. Und so mutet es denn auch ganz konsequent an, dass das Klavier im fünftaktigen Nachspiel die Figuren des Vorspiels noch einmal erklingen lässt und sie am Ende mit drei vierstimmigen D-Dur-Akkorden im Diskant und einem Bass und Diskant übergreifenden arpeggierten Schlussakkord bekräftigt.

  • „Das Lied im Grünen“, D 917

    Ins Grüne, ins Grüne!
    Da lockt uns der Frühling der liebliche Knabe,
    Und führt uns am blumenumwundenen Stabe,
    Hinaus, wo die Lerchen und Amseln so wach,
    In Wälder, auf Felder, auf Hügel, zum Bach,
    Ins Grüne, ins Grüne.

    Im Grünen, im Grünen,
    Da lebt es sich wonnig, da wandeln wir gerne,
    Und heften die Augen dahin schon von ferne;
    Und wie wir so wandeln mit heiterer Brust,
    Umwallet uns immer die kindliche Lust,
    Im Grünen, im Grünen.

    Im Grünen, im Grünen,
    Da ruht man so wohl, empfindet so Schönes,
    Und denket behaglich an dieses und jenes,
    Und zaubert von hinnen, ach! was uns bedrückt,
    Und alles herbei, was den Busen entzückt,
    Im Grünen, im Grünen.

    Im Grünen, im Grünen,
    Da werden die Sterne so klar, die die Weisen
    Der Vorwelt zur Leitung des Lebens uns preisen.
    Da streichen die Wölkchen so zart uns dahin,
    Da heitern die Herzen, da klärt sich der Sinn,
    Im Grünen, im Grünen.

    Im Grünen, im Grünen,
    Da wurde manch Plänchen auf Flügeln getragen,
    Die Zukunft der grämlichen Ansicht entschlagen.
    Da stärkt sich das Auge, da labt sich der Blick,
    Sanft wiegen die Wünsche sich hin und zurück,
    Im Grünen, im Grünen.

    Im Grünen, im Grünen,
    Am Morgen, am Abend, in traulicher Stille,
    Entkeimet manch Liedchen und manche Idylle,
    Und Hymen oft kränzt den poetischen Scherz,
    Denn leicht ist die Lockung, empfänglich das Herz
    Im Grünen, im Grünen.

    Ins Grüne, ins Grüne!
    Laßt heiter uns folgen dem freundlichen Knaben!
    Grünt einst uns das Leben nicht fürder
    So haben wir klüglich die grünende Zeit nicht versäumt,
    Und, wann es gegolten, doch glücklich geträumt,
    Im Grünen, im Grünen.

    (Johann Anton Friedrich Reil)

    Johann Anton Friedrich Reil (1773-1843) wirkte in Wien seit 1801 als Schriftsteller, Schauspieler und Librettist und betätigte sich später sogar noch als kaiserlicher Kammerdiener. Dieses Gedicht stellt eine in biedermeierlichem Geist entworfene lyrische Skizze einer „Welt im Grünen“ dar, in der es sich „mit heiterer Brust“ leben und „wandeln“ lässt, in der „von hinnen gezaubert wird“, was den Menschen „bedrückt“, und „die Zukunft“ „der grämlichen Ansicht entschlagen, eine Welt auch, deren „traulicher Stille“ „manch Liedchen und manche Idylle“ „entkeimen“ kann. In der Erstfassung hatte das Gedicht einen geringeren Umfang. Reil hat es später, nach Schuberts Tod, um drei Strophen erweitert und dies mit den Worten kommentiert:
    „Diese Drey der ursprünglichen Dichtung nicht angehörigen Strophen wurden als Traueropfer dem Verklärten von dem Dichter nachgeweiht und der Melodie unterlegt.“

    Poetische Flucht aus bedrückender Realität in ländlich-naturhafte Idylle ereignet sich hier, und das dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, dass Schubert nach diesem Gedicht gegriffen und es in Liedmusik umgesetzt hat. Das geschah im Juni 1827. Er hielt sich damals, zusammen mit Schober, in Dornbach, einem kleinen Dörfchen westlich von Wien auf und bezog Quartier im dortigen Gasthaus „Kaiserin von Österreich“. Ob die Komposition dort entstanden ist, weiß man nicht, möchte es aber für durchaus möglich halten, empfindet man sie doch im Wissen um die Tatsache, dass Schubert sich damals in schlechter physischer und psychischer Verfassung befand und gleichsam von der „Winterreise“ weglief, an der er damals arbeitete, durchaus auch als liedmusikalischen Entwurf einer imaginären Lebenswelt, in der ein von inneren Gefährdungen und Brüchen ungefährdetes Leben möglich ist.

    Das Lied ist als Rondo angelegt. Es umfasst sieben Strophen – eigentlich sogar acht, denn der Liedmusik der sechsten Strophe wurde nachträglich eine weitere, hier nicht abgedruckte Strophe unterlegt, die, abweichend von den anderen, mit den Worten „O gerne im Grünen“ einsetzt und inhaltlich sogar nach Horaz, Plato, Wieland und Kant ausschweift. Man kann gut verstehen, dass es in der Regel nicht in seiner Gänze, sondern in verkürzter Form vorgetragen wird, aber Dietrich Fischer-Dieskau hat schon recht, wenn er meint, „daß sich niemand solchem Zauber, der Länge zum Trotz, wird entziehen können.“
    Zwar führte er nicht näher aus, worin dieser spezifische „Zauber“ besteht, aber das musste er auch gar nicht. Er ist unmittelbar und auf beeindruckende Weise vernehmlich: In einer wesenhaft heiteren Liedmusik, bei der die Melodik sich auf der Grundlage des motivischen Materials, das in der ersten und der dritten Strophe vorliegt, immer wieder neue, dabei auch die Harmonisierung und das Tongeschlecht einbeziehende Varianten durchläuft und dann doch im Gestus des Rondos zu den in der ersten Strophe vorliegenden Grundmotiven und ihrer Harmonisierung zurückkehrt.


  • „Das Lied im Grünen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Nicht nur in der Melodik gründet dieser „Zauber“. Auch der Klaviersatz hat seinen Anteil daran. Er besteht, wie schon das viertaktige Vorspiel vernehmen und erkennen lässt, im Diskant durchweg aus einer Folge von Achteln, die in der vielgestaltigen Art und Weise, wie sie sich über dem Auf und Ab von Vierteln im Bass entfalten, gebrochene Akkorde darstellen und dabei nicht nur der Bewegung der melodischen Linie folgen, sondern immer wieder einmal auch eine eigene generieren. Das Vorspiel gibt das in gleichsam programmatischer Weise vor, - den Geist der Melodik manifestierend, wie er sich in den sieben Strophen in der Singstimme und im Klaviersatz entfaltet. Sein Grund-Gestus ist, wie man im Vorspiel vernimmt, einer bei dem aus einem doppelten, aber auf ansteigender tonaler Ebene sich ereignenden Fall über ein größeres Intervall eine beschwingtes Auf und ab in höherer Lage hervorgeht, dem ein auf dem Grundton endender Fall in kleinen Schritten nachfolgt, wobei die Harmonik durchweg zwischen der Tonika A-Dur und ihrer Dominante hin und her pendelt.

    Nicht dass die melodische Linie der Singstimme nun in allen Strophen in dieser Weise strukturiert wäre. Dem ist ganz und gar nicht so. Aber all die Bewegungen, die sie durchläuft und die im Aufgreifen der jeweiligen lyrischen Aussage durchaus unterschiedliche Gestalt annehmen, muten doch so an, als regiere doch eben dieser Geist in ihnen. In der Melodik der ersten Strophe, die in der Gestalt, die sie in den ersten beiden Versen annimmt, in allen Strophen in teils identischer, teils, wie in den Strophen drei und vier, in variierter, aber den Grund-Gestus beibehaltender Gestalt wiederkehrt, präsentiert er sich in gleichsam exemplarischer Weise. Den Rahmen bilden dabei die immer wieder erklingenden melodischen Figuren auf den Worten „im Grünen“, bzw. „ins Grüne“, wie die Fassung bei der ersten und der letzten Strophe lautet, den appellativen Aufbruch-Gestus hervorhebend. Am Strophenanfang liegt auf ihnen bei allen Strophen mit Ausnahme der dritten und der vierten ein doppelter Sekundanstieg, der bei der Wiederholung in einen Terzsprung mit nachfolgendem Terzfall übergeht, wobei jeweils auf der ersten Silbe des Wortes „Grüne“ eine Dehnung liegt. Am Strophenende wird daraus aber eine mit einem Terzsprung einsetzende Fallbewegung, die, weil sie in drei Schritten über das Intervall einer Quinte erfolgt und auf dem Grundton endet, wie eine nachträgliche Bekräftigung dieses schwunghaften Geistes anmutet, mit dem die Melodik aller Strophen immer wieder einsetzt.

    Er bleibt auch in allen ihren nachfolgenden Bewegungen erhalten und wirkmächtig. Und das drückt sich in zwei Elementen, bzw. Faktoren aus, die die Melodik in ihrer Grundstruktur nicht nur beim ersten Verspaar der Strophen, sondern auch bei allen nachfolgenden Varianten in maßgeblicher Weise prägt: Es ist die Tendenz zum sprunghaften Aufstieg in hohe Lage und die grundsätzliche Entfaltung im die innere Beschwingtheit generierenden deklamatorischen Gestus der Aufeinanderfolge von zwei Schritten im Wert eines Achtels und einem in dem eines Viertels. Nur in den die Strophe einleitenden und sie beschließenden Figuren löst sich die melodische Linie von diesem deklamatorischen Gestus, und das betont nicht nur die innere Geschlossenheit der Strophen, sondern bewirkt zugleich ihre Anbindung aneinander im Geist eben dieses Aufbruchs in die lyrisch beschworene grüne Gegenwelt.

    Die Melodik auf den Versen der ersten Strophe lässt all das in für das ganze Lied repräsentativer Weise vernehmlich werden. Sie sei deshalb – gleichsam stellvertretend für die aller nachfolgenden Strophen – in ihrer strukturellen Anlage in Augenschein genommen. Danach soll nur noch kurz der Blick auf melodische Varianten geworfen werden, die erkennen lassen, wie Schubert auch hier, bei aller Orientierung am Strophenlied-Konzept, die lyrische Aussage in die Struktur der melodischen Linie eingehen lässt.

    Bei den Worten „Da lockt uns der Frühling der liebliche Knabe“ bewegt sie sich, nach einem Terzfall-Einstieg auf „da lockt“, zunächst in eben diesem für sie so typischen Schritt-Gestus „zwei kurzer ein langer“ in mittlerer und tiefer Lage, geht aber dann bei den Worten „der liebliche“ zu einem, wiederum für sie typischen, Septsprung in hohe Lage über, um dort ihren deklamatorischen Gestus fortzusetzen und mit einem Terzfall zum Grundton erst einmal abzuschließen. Das Klavier folgt diesen Bewegungen mit seinen Achtelfiguren im Diskant, allerdings nur – und das ist sozusagen der Regelfall - in deren Grundtendenz, also ohne zum Beispiel den Septsprung mitzuvollziehen, und die Harmonik beschreibt die schlichten Rückungen zwischen der Tonika A-Dur und ihren beiden Dominanten.

    Bei den Worten des dritten Verses („Und führt uns am blumenumwundenen Stabe“) setzt die melodische Linie nun gleich am Anfang mit dem sie in hohe Lage führenden Sprung ein. Dieses Mal ist es einer über das Intervall einer Sexte, und er führt sie zur tonalen Ebene eines hohen „Fis“, die später nur noch um eine Sekunde überschritten werden wird. Von dort aus senkt sie sich in den für sie so typischen und Beschwingtheit suggerierenden Achtel-Tonrepetitionen mit nachfolgendem Viertel in mittlere Lage ab, um aber bei den Worten „Hinaus, wo die Lerchen und Amseln so wach“ alsbald wieder in diesem repetitiven Schreitgestus in obere Lage emporzusteigen, um sich dort beim zweitletzten Vers („In Wälder, auf Felder, auf Hügel, zum Bach“) einem munteren Auf und Ab über das Intervall einer Terz zu überlassen. Hier bewegt sich die Harmonik wieder in den üblichen Rückungen zwischen der Tonika A-Dur, der Subdominante D-Dur und der der Dominante E-Dur. Der vorangehenden Aufstiegsbewegung verleiht sie aber besonderen musikalischen Ausdruck dadurch, dass sie bei den deklamatorischen Tonrepetitionen mit nachfolgendem Sekundsprung auf den Worten „wo die Lerchen und Amseln““ eine Rückung von E-Dur nach Cis-Dur vollzieht und danach über H-Dur nach E-Dur zurückkehrt.
    (Fortsetzung folgt)

  • Lieber Helmut Hofmann Vielen Dank für die Erklärungen zur verlorenen Strophe. Ich hätte sicher sonst wieder dumme Fragen gestellt.;)


    Wie Du schon schreibst haben, wir hier ein biedermeierliches Idyll, was in dieser Art ja gar nicht zum Titel des Threads passt. Bei allen anderen Liedern, die ich bisher hier gehört habe, gab es, wenn nicht existenzielle Einsamkeit (die gab es eher selten), so doch immer die Bedrohung oder auch den Tatbestand eines Liebesverlusts, der häufig thematisiert wurde.

    So haben wir klüglich die grünende Zeit nicht versäumt,
    Und, wann es gegolten, doch glücklich geträumt,


    Diese Zeilen scheinen das Idyll zu enttarnen, oder übersehe ich etwas?

  • Nur kurz und nur allgemein, denn die musikalische Umsetzung hier kenne ich noch nicht.


    Der Text ist mir zufällig erst vor wenigen Tagen untergekommen - in einem Reclam-Heft mit grünen Gedichten. ^^


    Ich denke, liebe Kollegen Axel und Helmut, dass man das Biedermeierliche vom Existenziellen respektive vom wirklich Romantischen nicht trennen kann (oder nicht trennen können muss) bei gelungener und ansprechender Lyrik. Reil ist nun vielleicht nicht die oberste Liga, aber nehmen wir Mörike. Ein Gedicht wie Früh im Wagen erscheint mir unglaublich modern.


    http://www.zeno.org/Literatur/…+1867)/Fr%C3%BCh+im+Wagen


    Was mich betrifft, so würde ich die von Axel zuletzt zitierten Verse durchaus als "enttarntes Idyll" empfinden. Romantik, nicht weit weg von Eichendorff, Traum, schönes Trugbild ...


    Euch herzliche Grüße,


    Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Erst mal ein Danke für das Fass, dass ihr Beide, lieber astewes und WolfgangZ, hier indirekt aufgemacht habt.

    Denn es sind ja eine Menge Fragen und Probleme, die Ihr direkt und indirekt ansprecht, und das Ärgerliche ist, dass dies hier nicht der Ort ist, sich in der gebotenen Ausführlichkeit und Gründlichkeit darauf einlassen zu können.

    Auf diese, aus meiner Sicht problematische These etwa:

    dass man das Biedermeierliche vom Existenziellen respektive vom wirklich Romantischen nicht trennen kann (oder nicht trennen können muss) bei gelungener und ansprechender Lyrik.

    Das Mörike-Gedicht "Früh im Wagen", das ja nun mit Romantik und Biedermeier nichts zu tun hat, ist eines von seinen großen und verdiente wahrlich ein ausführliches interpretatorisch-diskursives Sich-Einlassen darauf.

    Aber wenigstens so viel dazu. Die "Frühe" ist ja ein Thema, dem er sich gleich mehrfach lyrisch gewidmet hat. Und in allen Fällen greift er - und das macht die Größe des Lyrikers Mörike aus - die ihr innewohnende Ambivalenz auf, und das auf in ihrer wesenhaft zwischen Realismus und Romantik sich entfaltenden Metaphorik überzeugende Weise.


    Was nun die von astewes aufgeworfene Frage anbelangt, ob man die zwei letzten Verse (vor dem Refrain) des Reil-Gedichts als "Enttarnung des Idylls" verstehen könne, so meine ich dieses:

    Das ist nicht der Fall, denn es geschieht ja nicht in Gestalt eines Bruchs in der durchweg idyllischen Metaphorik, stellt sich vielmehr als gedankliche Reflexion des Themas "Im Grünen" dar. Und dies unter der Prämisse "Laßt heiter uns folgen dem freundlichen Knaben!", - womit der in der Strophe zuvor erwähnte "Hymen" (Hymenaios) gemeint ist.

    Im Grunde handelt es sich bei diesem Gedicht um eine metaphorisch mächtig aufgeblasene Gedankenlyrik. Und der Schluss-Gedanke darin lautet so: Wenn uns das Leben auch in Zukunft nicht immer "grün" entgegentreten sollte, so haben wir doch klugerweise die "grünende Zeit" nicht versäumt, denn wir konnten darin, wenn es gegolten hat, glücklich träumen.

    Mit einem Enttarnen von "Idylle" hat das nichts zu tun. Es ist eine Art Lebensweisheit, gegründet auf die These, dass die Erfahrung von Idylle, wie sie in diesem Gedicht geradezu endlos in vielen Bildern beschworen mit mit dem Refrain immer wieder beharrlich festgenagelt wird, etwas Schönes, Erbauliches und gar Nützliches ist.


    Ist Biedermeier-Geist, was sich hier lyrisch-sprachlich artikuliert. Meilenweit entfernt von dem der literarischen Romantik und des Realismus. Zu dem Thema "Idylle" (im Sinn von Lebenserfahrung) hat ein Eichendorff etwa dies zu sagen:

    "Es wandelt, was wir schauen,

    Tag sinkt ins Abendrot,

    Die Lust hat eignes Grauen,

    Und alles hat den Tod."


    Aber was soll´s!

    Schubert hat - wie ich gerade aufzuzeigen versuche - aus dieser bis zu Horaz, Plato, Wieland und Kant ausschweifenden Gedankenlyrik Johann Anton Friedrich Reils eine wirklich wesenhaft lyrische, weil ganz und gar aus sich heraus sprechende und deshalb großen Zauber verströmende Liedmusik gemacht.

  • Im Grunde handelt es sich bei diesem Gedicht um eine metaphorisch mächtig aufgeblasene Gedankenlyrik. Und der Schluss-Gedanke darin lautet so: Wenn uns das Leben auch in Zukunft nicht immer "grün" entgegentreten sollte, so haben wir doch klugerweise die "grünende Zeit" nicht versäumt, denn wir konnten darin, wenn es gegolten hat, glücklich träumen.

    Lieber Helmut Hofmann . Vielen Dank für Deine Gedanken zu dem Thema. Ich kann Sie nachvollziehen, muss aber doch sagen, dass mein erster Eindruck der war, dass die besagten Zeilen den Text vorher zu relativieren schienen.


    Das jetzige Bild, wo wir die die idyllische Zeit sozusagen als Fundament für das Ertragen einer eventuell nicht so schönen kommenden Zeit sehen wollen, stellt dann aber die Frage, ob dann dieses Bild nicht untypisch für alles andere ist, was Du bisher hier von Schubert gezeigt hast.

    So haben wir klüglich die grünende Zeit nicht versäumt,
    Und, wann es gegolten, doch glücklich geträumt,

    Wenn wir hier dann das lyrische Ich verlassen und uns Schubert zuwenden, dann frage ich mich, wo bei ihm dann genau diese Basis für das Ertragen zu finden ist. (Ich weiß natürlich nicht, ob eine solch direkte Übertragung auf den Komponisten zulässig ist) Aber der Threadtitel wirft ja schon die Frage auf, wie sich das Lied in seinen Lebenszusammenhang integriert.

  • Lieber Helmut,


    @ Mörike: Früh im Wagen


    eine These wollte ich ohnehin nicht aufstellen, denn - wie von Dir gesagt - dafür ist hier nicht der Ort und das geht auch nicht in drei Sätzen. Es ging mir um die konventionelle Zuordnung eines Dichters, also um Etiketten als Ausgangspunkt von Problematisierung, und um die diesbezügliche Modernität des Gedichts eben. Die ist in der Bildlichkeit von großer vor-expresisonistischer Radikalität. Also gewiss keine Widerrede! ;):) [Ich komme halt von der Schule, auch wenn ich sie hinter mir habe.]


    Aber relevanter ist hier natürlich, was Du gerade mit Axel diskutierst. Vielleicht ein ander Mal. [Ich weiß schon, dass ich solches Debattieren gern ankündige, und das war es dann des Öfteren. Du wirst mir verzeihen, Du wirst das Leben auch kennen ... ]


    Deiner Relativierung der Sicht von Axel, dem ich zugestimmt habe, will ich auch gar nichts Neues entgegensetzen, kann es sowieso nicht ohne spezifische Vertiefung meinerseits in die Materie. Und dann könnte ich es vielleicht erst recht nicht - wer weiß ...


    Erfreulich ist solcher Austausch mit (und bisweilen sogar unter ... :untertauch:) Kennern - aber auf jeden Fall unter Liebhabern - allenthalben ... und sei er noch so quantitativ knapp bemessen!


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Aber der Threadtitel wirft ja schon die Frage auf, wie sich das Lied in seinen Lebenszusammenhang integriert.

    Diese Frage liegt ja dem ganzen Thread zugrunde. In seiner Einführung merkte ich bezüglich der ihm zugrunde liegenden Arbeitshypothese an:


    Konkret besteht sie in der Annahme, dass Schubert, die Liedmusik in ihrem spezifischen affektiven Potential gleichsam als Sprache der Seele nutzend, in der Zeit nach seiner Lebenskrise Liedkomposition in erster Linie in der Absicht betrieb, deren Folgen zu bewältigen, indem er ihnen künstlerisch-musikalischen Ausdruck verschaffte, - dies durch die Wahl diesbezüglich relevanter lyrischer Texte und einer Liedmusik, die deren gedankliches und affektives Potential unter dem Aspekt der personalen Betroffenheit in umfassender Weise aufgreift und sich auf diese Weise im Sinne einer vertieften Ausschöpfung des semantischen Potentials der lyrischen Sprache unter Nutzung neuer musikalischer Ausdrucksmittel weiterentwickelt.


    In Falle jedes einzelnen Liedes stellt sich also jeweils die Frage, welchen Beitrag seine Komposition zur Bewältigung von Schuberts Lebenskrise beigetragen haben könnte. Wohlgemerkt: Die Komposition, nicht das Lied selbst. Dessen spezifische Aussage ist freilich in diesem Zusammenhang von großer Relevanz.

    Der Konjunktiv will dabei sagen: Es kann hier nur um rein hypothetische Überlegungen gehen. In diesem Fall, dem hier gerade zur Besprechung anstehenden Lied, habe ich Schuberts Motiv, zu diesem lyrischen Text von Reil zu greifen, ja doch einleitend angedeutet mit den Worten:

    "Poetische Flucht aus bedrückender Realität in ländlich-naturhafte Idylle ereignet sich hier, und das dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, dass Schubert nach diesem Gedicht gegriffen und es in Liedmusik umgesetzt hat. "


    Diese Fluchten ereignen sich in Schuberts Liedschaffen in der letzten Phase seines Lebens immer wieder. Sie werden sogar, wie ich in einem einschlägigen Thread darzustellen versucht habe, Gegenstand eines ganzen Liederzyklus: hier Franz Schubert, „Die schöne Müllerin“. Der Liederzyklus als musikalisches Selbstbekenntnis nämlich.

    Bis dann das harte und bittere, für ihn unausweichliche und im Resultat kompromisslose Sich-Stellen der Realität von Leben in der "Winterreise" und den späten Heine-Liedern erfolgt.


    Aber Kompromisse sind ja doch schön, weil vorübergehend erheiternd und von seelischen Lasten befreiend. Die musikalische Imagination von einem Sich-Ergehen "Im Grünen" gehört dazu.

    So, meine ich, muss man dieses Lied hören.

    Und dass Schubert sich in der Komposition daran erfreute, ist wohl unüberhörbar.

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