Vokalmusik als Gegensatz zur Instrumentalmusik - können wirklich unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden?

  • mein Ausgangspunkt für dieses Thema ist die Tatsache, daß Vokalmusik nicht ausschließlich nach der kompositorischen Struktur beurteilt werden kann sowie die Konsequenzen dieser Tatsache.


    Vereinfacht gesagt, lässt sich keine Entscheidung fällen, welches der folgenden Werke objektiv das beste sei:

    Bachs Matthäuspassion oder Händels Messias

    die 9.Symphonie Beethovens

    oder die Opern Carmen und La Boheme


    Die akademische Sichtweise bevorzugt gerne klare Kompositionstechniken oder mathematische Konzepte.

    Dem Publikum ist die unmittelbare Wirkung der Musik meist lieber als die Gewißheit, komplexe Algorithmen akustisch wahrzunehmen.

    Aber über die "reine Notenbehandlung" hinaus, ist ja in all diesen Fällen eine Textbehandlung gegeben, ein Zusammenwirken von Ton und Wort, welches die Wirkung der "absoluten Musik" um ein Vielfaches steigert.


    Gerade in der Gegenwart hat jene absolute Musik einen schweren Stand. Sie wird meist dramaturgisch benutzt oder dient weiterhin einem Interpretenwettbewerb um die tiefste Deutung...
    Ich nehme an, daß der historische Ausgangspunkt bei Beethovens berüchtigtem Spätwerk liegt. Kompositionen, über die sich vortreffliche Romane verfassen lassen, Deutungsansätze, die tiefenpsychologischen Ansprüche stellen und gleichzeitig behaupten, sich klar aus der Anordnung der Töne herauslesen zu lassen.
    Ich stehe diesen Werken neutral gegenüber und kommentiere sie daher nicht weiter.


    Die Vokalmusik hat noch zwei weitere Kriterien, nämlich die technische Behandlung der menschlichen Stimme und die Qualität des Textes.

    Damit wird es schon recht kompliziert, zu klaren Ergebnissen zu kommen.


    Da mittlerweile die geistlichen Werke keinen Sonderstatus mehr besitzen, können sie keinen Wert aus der Tatsache schöpfen, daß der Text aus der Bibel stammt.
    Vielleicht sind Passionen ein gutes Beispiel, um zu erkennen, daß die kompositorische Struktur auch hinter der Aussage des Stücks zurückstehen kann - die Intensität einer guten Passionsaufführung wird in den Zuhörern die gleichen Emotionen hervorrufen.

    (in diesem Zusammenhang wäre es doch an der Zeit, Telemann ein wenig mehr zu fördern!)


    Händel hat mit dem Halleluja einen ewigen Welthit gelandet...und den Beweis geliefert, daß harmonische Komplexität nicht alles ist, um eine Aussage zu treffen. (Persönlich halte ich den 4.Satz der Neunten für einen Abklatsch des Halleluja, nicht nur wegen D-Dur...)
    Aber als kompositorisches Meisterwerk lässt es sich nicht so leicht ergründen - vielleicht ist Mozarts Jupitersymphonie in der Prägnanz der Themen des 4. Satzes vergleichbar.

    Bei Geistlicher Musik wird gerne verschwiegen, daß das Erzeugen von Stimmungen und emotionalen Reaktionen - ähnlich wie in der Oper - von Grund auf beabsichtigt sind.
    Die Vorgaben der geistlichen Texte sind meistens klar, in welche Stimmung die Hörenden versetzt werden sollen.
    (Nur beim Kyrie oder Agnus Dei der Messvertonungen gibt es Bedeutungsunterschiede.)


    Eine Oper ist aufgebaut auf reiner Manipulation - das Konzept eines Hollywoodfilmes unterscheidet sich nicht von dem einer Oper.
    Ein guter Komponist wie z.B: Bizet weiß genau, mit welchen Melodien er das Publikum lockt, abwechselnd leichtere und schwerere Gefühle (Blumenarie) oder auch mitreißende Tanzmusik, dann wieder ein Zwischenspiel (die Intermezzofunktion der Oper muß ich einmal untersuchen). Das ist ein psychologisches Konzept, keine kompositorische Berechnung.

    Die durchkomponierten Opern bei Puccini bieten eine größere Vielfalt an Übergängen und Zwischenspielen, sind aber dadurch in der kompositorischen Struktur wesentlich einfacher gestrickt.
    Außerdem war zu Puccinis Zeit bereits der Instrumentationswahn voll ausgeprägt, sodaß das Erzeugen von Farben wichtiger wurde als kontrapunktische Kunst. (Die Ouvertüre zu Butterfly ist eine Fuge, Puccini kann auch das - wenn er will) Viele italienische Opernkomponisten haben als Kirchenmusiker angefangen.



    Das ganze Thema ist aber viel umfangreicher - daher möchte ich zum nächsten Punkt übergehen:

    was hat Goethe eigentlich gestört an Schuberts Vertonungen?

    zu sagen, er war als Dichter eifersüchtig über die enorme Wirkung der Musik, das finde ich banal - Schubert war jung und unbekannt.
    Wieso ist er überhaupt darauf gekommen, sich an den berühmten Dichter zu wenden? Protektion?

    Vielleicht war es ein Unglück, daß Goethe nicht die Lieder der Winterreise oder den Schwanengesang als ersten Eindruck zu sehen bekam? - ich denke schon, daß das Wort/Textverhältnis bei späteren Liedern Schuberts wesentlich besser war.
    Erkennbar ist das daran, daß bei vielen klassischen Liedern eine Transkription möglich ist, ohne daß das Stück an Wirkung einbüßt.
    Liszts Bearbeitung des Erlkönig sollte Beweis genug sein... es ist auf modernen Klavier höllisch schwer, die permanente Triolenbewegung durchzuhalten, in der Lisztfassung wird sie an einigen Stellen bewußt durchbrochen, um die rechte Hand zu entspannen. Das hat Liszt nicht ohne Absicht gemacht...
    Viele Lieder bauen auf einer eindrucksvollen Begleitung auf und die Singstimme ist halt auch vorhanden...

    Der Aufbau von Gretchen am Spinnrad ist vielleicht zu ähnlich einer großen romantischen Arie, nicht umsonst wird es auch ziemlich laut und pathetisch am Ende... ob das wirklich der Absicht des Gedichts entspricht, wage ich zu bezweifeln.

    Aber meine Absicht ist nicht, ikonische Meisterwerke zu kritisieren, sondern solche Werke zu finden, in denen möglichst viele Erwartungen erfüllt werden.
    Und ich möchte zeigen, daß zum Komponieren eines Lieds verschiedene Fähigkeiten gehören, nicht nur die bloße Notensetzkunst.
    Denn es ist zu einfach, nur Lieder bekannter Komponisten für gut zu erklären, weil sie einen "Markennamen" tragen, wohingegen der unbekannte Meister oft von vornherein abgelehnt wird, weil man ihn nicht kennt.

    Ich habe die Hoffnung, daß diese engstirnige Haltung ein wenig aufgelöst ist in letzter Zeit, damit besteht die Chance, daß wir noch zahlreiche Meisterwerke entdecken, auch wenn wir uns über den oder die VerfasserIn wundern müssen.

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Ich sehe eigentlich keine Anzeichen dafür, dass man sich bei der Beurteilung von Vokalmusik schwerer täte als bei Instrumentalmusik. Freilich kommt etwas dazu, nämlich der Text resp. das Verhältnis der Musik zum Text, aber das muss es ja nicht schwerer machen. Die Beurteilung ist ohnehin immer Folge einer Gruppe sehr unterschiedlicher Einzelbeobachtungen (bspw. bez. Originalität, "Fortschrittlichkeit", struktureller Kohärenz).


    Wenn man der Meinung ist, bei Puccini bestimmte Mängel gegenüber den allergrößten Meistern feststellen zu müssen, dann hilft seine Perfektion bei der Dramatik auch nichts.

  • Gerade in der Gegenwart hat jene absolute Musik einen schweren Stand. Sie wird meist dramaturgisch benutzt oder dient weiterhin einem Interpretenwettbewerb um die tiefste Deutung...

    Mir wäre auch nicht aufgefallen, dass absolute Musik heute unbeliebter wäre als Oper. Und wo wird "absolute Musik meist dramaturgisch benutzt"? Die Zeit, in der klassische Musik besonders oft als Filmuntermalung verwendet wurde, scheint mir eher vorbei zu sein.

    Damit wird es schon recht kompliziert, zu klaren Ergebnissen zu kommen.

    Es ist immer kompliziert, "zu klaren Ergebnissen zu kommen" bei der Bewertung von Kunst, und wirklich klar ist immer nur das Allerwenigste.

  • Die durchkomponierten Opern bei Puccini bieten eine größere Vielfalt an Übergängen und Zwischenspielen, sind aber dadurch in der kompositorischen Struktur wesentlich einfacher gestrickt.

    Das Durchkomposition zu einfacherer Struktur führt, finde ich jetzt auch erstmal nicht besonders plausibel, siehe Götterdämmerung versus barocker Nummernoper.

  • Gerade in der Gegenwart hat jene absolute Musik einen schweren Stand. Sie wird meist dramaturgisch benutzt oder dient weiterhin einem Interpretenwettbewerb um die tiefste Deutung...
    Ich nehme an, daß der historische Ausgangspunkt bei Beethovens berüchtigtem Spätwerk liegt. Kompositionen, über die sich vortreffliche Romane verfassen lassen, Deutungsansätze, die tiefenpsychologischen Ansprüche stellen und gleichzeitig behaupten, sich klar aus der Anordnung der Töne herauslesen zu lassen.
    Ich stehe diesen Werken neutral gegenüber und kommentiere sie daher nicht weiter.

    Welch treffende Aussagen! Vielleicht könnte man auch einmal behaupten, dass diese "berüchtigten" Spätwerke Produkte eines schwerkranken Menschen waren, der zudem durch seine Taubheit vermutlich auch noch psychisch äusserst belastet war. Wer wagt da noch Deutungsansätze?


    Eine Oper ist aufgebaut auf reiner Manipulation - das Konzept eines Hollywoodfilmes unterscheidet sich nicht von dem einer Oper.
    Ein guter Komponist wie z.B: Bizet weiß genau, mit welchen Melodien er das Publikum lockt, abwechselnd leichtere und schwerere Gefühle (Blumenarie) oder auch mitreißende Tanzmusik, dann wieder ein Zwischenspiel (die Intermezzofunktion der Oper muß ich einmal untersuchen). Das ist ein psychologisches Konzept, keine kompositorische Berechnung.

    Tja, diese Hollywoodprodukte wurden/werden häufig als "Seifenopern" bezeichnet, gleich ob Filme oder Serien. Dieser treffliche Ausdruck ist jedoch älter als Hollywood. Meine beiden sehr musikalischen Großmütter (beide in den 60ern des 19. Jhdts. geboren) kannten den schon, obwohl sie nie ein Hollywoodprodukt gesehen haben, Kinos gab es im finstersten Niedersachsen damals noch nicht. Sie bezeichneten damit echte Opern, häufig mit grauenvollen Texten ("feuchtes Nass füllt meine Nase") und entsprechend manipulativer Musik.

    Dass die Texte geistlicher Gesangswerke teilweise auch grauenvoll sind war/ist bekannt. Auf "Textqualität" wurde jedoch da nicht geachtet. Sie sollten ein Glaubensziel ansprechen. Für den protestantischen Teil der Kirchenmusik galt: alle Texte mussten vor Druck und Vertonung durch die "geistliche Zensur" um zu kontrollieren, dass sie den Dogmen (hier: lutherische Orthodoxie) entsprachen. Darauf kann man sich auch heute noch einstellen.

    was hat Goethe eigentlich gestört an Schuberts Vertonungen?

    Vielleicht hilft es weiter: Goethe war durch seine Freundschaft mit Zelter sehr "bachisch" beeinflusst, was man vom frühen Schubert nun nicht behaupten kann.

  • Aber wo soll absolute Musik einen "schweren Stand" haben?

    Ich sehe eher, dass Opern und noch mehr Lieder einen "schweren Stand" haben, da viele Hörer von der "Künstlichkeit" einer klassisch ausgebildeten Singstimme abgestoßen sind. Romantische Orchestermusik ist dagegen wohl die beliebteste klassische Musik überhaupt, allerdings Programmmusik wegen der "Hörhilfe" wahrscheinlich mehr als absolute Musik.

  • Welch treffende Aussagen! Vielleicht könnte man auch einmal behaupten, dass diese "berüchtigten" Spätwerke Produkte eines schwerkranken Menschen waren, der zudem durch seine Taubheit vermutlich auch noch psychisch äusserst belastet war. Wer wagt da noch Deutungsansätze?

    Behaupten kann man natürlich viel. Es ist nur so, dass derlei Spekulationen nichts an den Kompositionen ändern. Und um die sollte es doch gehen. Wer diese nun "deuten" (in Bezug auf Musik eh ein äußerst heikles bis grundsätzlich umstrittenes Unterfangen) und dabei Anspruch auf Gültigkeit anmelden will, muss sich schlicht in einen vielstimmigen, dynamischen Deutungsdiskurs begeben und dort durch Plausibilität überzeugen. Wenn sich in diesem Zusammenhang biographische Aspekte eindeutig aufdrängen - umso besser. Insofern nützt es nichts, hier allgemeine Aussagen zu treffen: Jede Komposition müsste hinsichtlich ihrer Relevanz individuell (und immer wieder neu) bestätigt werden.

    Tja, diese Hollywoodprodukte wurden/werden häufig als "Seifenopern" bezeichnet, gleich ob Filme oder Serien. Dieser treffliche Ausdruck ist jedoch älter als Hollywood. Meine beiden sehr musikalischen Großmütter (beide in den 60ern des 19. Jhdts. geboren) kannten den schon, obwohl sie nie ein Hollywoodprodukt gesehen haben, Kinos gab es im finstersten Niedersachsen damals noch nicht. Sie bezeichneten damit echte Opern, häufig mit grauenvollen Texten ("feuchtes Nass füllt meine Nase") und entsprechend manipulativer Musik.

    Dass die Texte geistlicher Gesangswerke teilweise auch grauenvoll sind war/ist bekannt. Auf "Textqualität" wurde jedoch da nicht geachtet. Sie sollten ein Glaubensziel ansprechen. Für den protestantischen Teil der Kirchenmusik galt: alle Texte mussten vor Druck und Vertonung durch die "geistliche Zensur" um zu kontrollieren, dass sie den Dogmen (hier: lutherische Orthodoxie) entsprachen. Darauf kann man sich auch heute noch einstellen.

    Vielleicht hilft es weiter: Goethe war durch seine Freundschaft mit Zelter sehr "bachisch" beeinflusst, was man vom frühen Schubert nun nicht behaupten kann.

    Auch hier gilt für mich: Mit pauschalen Zuschreibungen kann ich nichts anfangen. Jede Oper muss für sich selbst bestehen. Nur weil es schlechte Texte gibt, heißt das nicht, dass es keine großartigen Opern (resp. hochwertige Kirchenmusik) gäbe.

  • Ich stoße mich auch bei jedem Absatz mehrmals. z.B.:

    Eine Oper ist aufgebaut auf reiner Manipulation - das Konzept eines Hollywoodfilmes unterscheidet sich nicht von dem einer Oper.
    Ein guter Komponist wie z.B: Bizet weiß genau, mit welchen Melodien er das Publikum lockt, abwechselnd leichtere und schwerere Gefühle (Blumenarie) oder auch mitreißende Tanzmusik, dann wieder ein Zwischenspiel (die Intermezzofunktion der Oper muß ich einmal untersuchen). Das ist ein psychologisches Konzept, keine kompositorische Berechnung.

    Die Conclusio soll sein: "Das ist ein psychologisches Konzept, keine kompositorische Berechnung". Sehe ich auch nicht ein, denn das psychologische Konzept gehört ja zur kompositorischen "Berechnung".


    Und dann die Manipulation - sobald etwas Ideologisches übermittelt werden soll - und im Text oder Film, der eine Handlung erzählt, gibt es das in der Regel - kann man das als Manipulation auffassen, egal welche Art von Text oder Film und mit oder ohne Musik. Selbst wenn das Programm ist, das kritische Denken des Rezipienten anzuregen, geschieht das idR mit Manipulation. In der Oper gibt es auch diverse Möglichkeiten des Text-Musik-Verhältnisses. Und in der Geschichte des Hollywood-Films ändert sich auch die Strategie der Filmmusikgestaltung. Wenn vielleicht der Opernkomponist Puccini und der Filmkomponist Max Steiner exakt die Handlung Moment für Moment akustisch miterzählen und dadurch emotional verstärken wollen, so ist das natürlich ein kompositorisches Konzept, das dann sowohl in der Oper als auch in der (Hollywood-)Filmmusik später durch andere Konzepte ersetzt wurde. Da Steiner und Korngold aus dem Opernzentrum Wien kamen, ist diese Gemeinsamkeit auch nicht besonders überraschend.

  • Lieber Leiermann,


    ich widerspreche Dir zu keiner Sekunde. Nur, die Beurteilung der Relevanz von Musik und Texten ist und bleibt subjektiv. Deswegen lese ich ziemlich fassungslos die hier auftretenden "Beurteilungen" von Musikwerken, deren Interpretationen und "Deutungen". Wenn jemand mit Bach´schen Fugen, Beethovens Spätwerk, Schuberts Liedern, der Zauberflöte, Wagner nichts anfangen kann, so ist das seine/ihre höchst individuelle Einstellung, die vornehmlich nur auf ihn/sie zutrifft.

    Wir wissen doch in den meisten Fällen garnicht, ob der Komponist seine Werke immer gleich interpretiert hat. Ich habe da erhebliche subjektive Zweifel.

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  • Ich stoße mich auch bei jedem Absatz mehrmals. z.B.:

    Die Conclusio soll sein: "Das ist ein psychologisches Konzept, keine kompositorische Berechnung". Sehe ich auch nicht ein, denn das psychologische Konzept gehört ja zur kompositorischen "Berechnung".


    Und dann die Manipulation - sobald etwas Ideologisches übermittelt werden soll - und im Text oder Film, der eine Handlung erzählt, gibt es das in der Regel - kann man das als Manipulation auffassen, egal welche Art von Text oder Film und mit oder ohne Musik. Selbst wenn das Programm ist, das kritische Denken des Rezipienten anzuregen, geschieht das idR mit Manipulation. In der Oper gibt es auch diverse Möglichkeiten des Text-Musik-Verhältnisses. Und in der Geschichte des Hollywood-Films ändert sich auch die Strategie der Filmmusikgestaltung. Wenn vielleicht der Opernkomponist Puccini und der Filmkomponist Max Steiner exakt die Handlung Moment für Moment akustisch miterzählen und dadurch emotional verstärken wollen, so ist das natürlich ein kompositorisches Konzept, das dann sowohl in der Oper als auch in der (Hollywood-)Filmmusik später durch andere Konzepte ersetzt wurde. Da Steiner und Korngold aus dem Opernzentrum Wien kamen, ist diese Gemeinsamkeit auch nicht besonders überraschend.

    Dem kann ich mich grundsätzlich sehr anschließen. Kunst einen Manipulationsvorwurf zu machen, führt m.E. zu wenig bis nichts. Künstlern vorzuwerfen, sie würden Überlegungen zur (psych.) Wirkung in ihre Arbeit einbeziehen, käme mir reichlich abstrus vor. Im Gegenteil: Umso besser, wenn sie genau wissen, wie das geht!

    Illusionstheater abzuwerten mit dem Hinweis, es würde da mit allen möglichen suggestiv wirkenden Mitteln eine einnehmende, das Gefühl ansprechende, irreführende Scheinwelt etabliert, geht ins Leere. Wie du selbst sagst: Auch der auf scharfsinnige und auf sich von der Fiktion distanzierende Reflexion abzielende Künstler setzt Mittel gezielt ein, um diesen Mechanismus zu bewirken. Gut, dass beides möglich ist - und noch viel mehr jenseits dieser Polarität.

    Lieber Leiermann,


    ich widerspreche Dir zu keiner Sekunde. Nur, die Beurteilung der Relevanz von Musik und Texten ist und bleibt subjektiv. Deswegen lese ich ziemlich fassungslos die hier auftretenden "Beurteilungen" von Musikwerken, deren Interpretationen und "Deutungen". Wenn jemand mit Bach´schen Fugen, Beethovens Spätwerk, Schuberts Liedern, der Zauberflöte, Wagner nichts anfangen kann, so ist das seine/ihre höchst individuelle Einstellung, die vornehmlich nur auf ihn/sie zutrifft.

    Wir wissen doch in den meisten Fällen garnicht, ob der Komponist seine Werke immer gleich interpretiert hat. Ich habe da erhebliche subjektive Zweifel.

    Na klar, 'Beurteilung' im Bereich des Ästhetischen ist ein Begriff, der Subjektivität impliziert. Es gibt jedoch Urteile, die sich durch Überzeugungskraft/Plausibilität auszeichnen. Und diese entstehen durch Nachvollziehbarkeit, also Möglichkeiten der Überprüfung.

    Wer also Beethovens Spätwerk als mit Mängeln behaftet darstellen möchte, sollte das so tun, dass sein Urteil nicht auf tönernen Füßen steht. Und er wird nicht umhin kommen, sich mit vielen Urteilen anderer heller Köpfe auseinanderzusetzen, welche die Relevanz des Spätwerks bereits überzeugend hergeleitet haben.

  • Wer also Beethovens Spätwerk als mit Mängeln behaftet darstellen möchte, sollte das so tun, dass sein Urteil nicht auf tönernen Füßen steht. Und er wird nicht umhin kommen, sich mit vielen Urteilen anderer heller Köpfe auseinanderzusetzen, welche die Relevanz des Spätwerks bereits überzeugend hergeleitet haben.

    ....und genau da fängt schon das Problem an: was sind, wie werden "Mängel" definiert? Quinten/Oktavparallelen? Alberti-Dudelbegleitung über viele Takte hinweg? Pausenlose Akkord-Klopfbässe wie bei Schubert? Ich finde so etwas anödend und mangelhaft gleich ob als Spieler oder Hörer. Andere werden das genießen. Die Kritik bleibt deswegen immer subjektiv.

  • ....und genau da fängt schon das Problem an: was sind, wie werden "Mängel" definiert? Quinten/Oktavparallelen? Alberti-Dudelbegleitung über viele Takte hinweg? Pausenlose Akkord-Klopfbässe wie bei Schubert? Ich finde so etwas anödend und mangelhaft gleich ob als Spieler oder Hörer. Andere werden das genießen. Die Kritik bleibt deswegen immer subjektiv.

    Mängel werden festgestellt im Vergleich zu als vorbildlich aufgefassten anderen Kunstwerken.


    Die Parallelen wurden früher mal angekreidet, seit geraumer Zeit nicht mehr.


    Was Du persönlich nicht magst, sagt in dem Zusammenhang natürlich nur etwas über Deinen Geschmack aus: Du wünschst Dir in Musik für Tasteninstrumente permanent eine komplizierte Begleitung.


    Es gibt freilich einen großen Unterschied zwischen der trivialen Subjektivität, die darin liegt, dass man das kritisiert, was man persönlich nicht so mag, und der Subjektivität, die bei der Abwägung von etablierten Bewertungen sich auch nicht auf 0 reduzieren lässt.

  • Ich stelle mal den Gedanken in den Raum, daß eine reale vergleichende Bewertung kaum möglich ist, weil eben die Zeit und das Umfeld der Bewertung eine Große Rolle spielt, man lese die durchaus fundierten Kritiken von Hanslick durch, dessen Urteil auf dem Höhepunkt seiner Karriere mehr oder weniger Dogm war. Man lese auch Einschätzungen von Werken in alten Musiklexika - und vergleiche sie mit heute. Auch heutige Bewertungen sind nur eine Zeitaufnahmen, die dereinst wieder verworfen werden könnten - und (hoffentlich) teilweise auch werden.


    Mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo kurzstückmeister,

    ......und was ist der objektive Maßstab für "als vorbildlich aufgefasste andere Kunstwerke"? Sind wir da nicht schon wieder bei der Subjektivität angelangt?

    Nein, ich wünsche mir nicht eine komplizierte Begleitung für Tasteninstrumente. Wäre das der Fall, würde ich ständig Czerny- oder Hanonetüden spielen/hören. Für mich ist ein wesentlicher Bestandteil von Musik der Spannungsauf/abbau. Das geschieht mit Sicherheit nicht durch seitenlanges Albertigedudel "Tonika, Dominante, Subdominante"...Fortsetzung in einer anderen Tonart so die erreicht.

  • Ich stelle mal den Gedanken in den Raum, daß eine reale vergleichende Bewertung kaum möglich ist, weil eben die Zeit und das Umfeld der Bewertung eine Große Rolle spielt, man lese die durchaus fundierten Kritiken von Hanslick durch, dessen Urteil auf dem Höhepunkt seiner Karriere mehr oder weniger Dogm war. Man lese auch Einschätzungen von Werken in alten Musiklexika - und vergleiche sie mit heute. Auch heutige Bewertungen sind nur eine Zeitaufnahmen, die dereinst wieder verworfen werden könnten - und (hoffentlich) teilweise auch werden.

    Klar, dazu kommen die regionalen Unterschiede, die Unterschiede der Bewertungen getätigt durch Musikwissenschaftler und Musiker und natürlich die Tatsache, dass jeder von ihnen seine individuelle Version hat, die nicht frei von Subjektivität ist.


    Trotzdem ist für mich, wenn es hier um Bewertung gehen soll, natürlich die zu abstrahierende "Bewertung der Fachwelt" gemeint, nicht Bachianers Alberti-Allergie.;)

  • ......und was ist der objektive Maßstab für "als vorbildlich aufgefasste andere Kunstwerke"? [...] Für mich ist ein wesentlicher Bestandteil von Musik der Spannungsauf/abbau. [...]

    Solche für immer und überall gültig sein sollenden Kriterien sind mit Vorsicht zu genießen.

  • ....und genau da fängt schon das Problem an: was sind, wie werden "Mängel" definiert? Quinten/Oktavparallelen? Alberti-Dudelbegleitung über viele Takte hinweg? Pausenlose Akkord-Klopfbässe wie bei Schubert? Ich finde so etwas anödend und mangelhaft gleich ob als Spieler oder Hörer. Andere werden das genießen. Die Kritik bleibt deswegen immer subjektiv.

    Als Ästhetiker kann ich hier nur darauf verweisen, dass die "musikalische Logik" ein historisches Produkt ist. Wenn man den Barock nach den ästhetischen Maßstäben der Renaissance beurteilt wie man es ja auch getan hat, kommt man zu dem Urteil, dass der Barock nur schwülstig und überladen ist, also eine Art entartete Renaissance. Wenn man Beethoven nach den Maßstäben von Bach, Schubert und Bruckner nach denen von Beethoven oder Brahms beurteilt, dann entdeckt man nur einen Mangel an Entwicklung, stört sich an Oktavparallelen, Klopfbässen und Alberti-Dudelbegleitungen. Dann hat man aber einfach nur die falschen ästhetischen Maßstäbe angelegt, so dass man verkennt, dass Quinten und Oktavparallelen eben bei Beethoven banal wären, es bei Schubert oder Debussy aber überhaupt nicht sind. In der Ästhetik und Kunsthistorie ist auch genau das Thema.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Hallo Holger,

    natürlich sind "musikalische Logik", besser "Regeln" jeweils zeit/geschmacksbedingte Kunstprodukte, bekannt, bekannt. Doch darum ging es mir bei der Erwähnung von Octav/Quintparallelen nicht. Sie sind nur ein unter vielen Beispielen von möglichen "Mängeln". Auch beim alten Bach wird ein ausgefuchster Dauersucher sie finden. 99,9% der Hörer bekommen das sowieso nicht mit, die meisten Spieler auch nicht, und wenn, dann lächeln sie, wie ich. Klartext: für mich sind die kein Mangel.

    Etwas anderes sind für mich (subjektiv gesehen) die Albertibässe. Diese stellen für mich einen eklatanten Kompositionsmangel dar. Sie wurden aus Einfallslosigkeit, Faulheit, Ersparnis lästiger Schreibarbeit eingesetzt. Man besehe sich nur einmal die Manuskripte derartiger Werke, gleich ob für Klavier oder andere. Die Basslinie bekommt 4 Achtel/Sechszehntel, ändert sich die Harmonie, werden wieder 4 Noten angezeigt, und das war es schon. Damit kommt bei mir gähnende Langeweile auf. Ästheten mögen gerne darüber weghören, ich kann es nicht.


    Wenn man Beethoven nach den Maßstäben von Bach, Schubert und Bruckner nach denen von Beethoven oder Brahms beurteilt, dann entdeckt man nur einen Mangel an Entwicklung,

    "Entwicklung"? Wohin, mit welchem Ziel?

    Auch schöne Grüße

    Nikolas

  • Deine Oktavparallelen taugen aber ebensowenig wie Deine Albertibässe, um Stimmung dafür zu machen, dass eh alles nur subjektiv ist, und Deine Abneigung gegen Alberti-Bässe genausoviel Gewicht hätte wie das Neue Handbuch der Musikwissenschaft.


    Dass Alberti-Bässe aus Gründen der "Einfallslosigkeit, Faulheit, Ersparnis lästiger Schreibarbeit" eingesetzt wurden, ist natürlich auch jetzt eine ganz tolle Theorie, nicht wahr. Kannst Du das irgendwie belegen/argumentieren? "Man besehe sich nur einmal die Manuskripte derartiger Werke" gilt nicht.

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  • Deine Oktavparallelen taugen aber ebensowenig wie Deine Albertibässe, um Stimmung dafür zu machen, dass eh alles nur subjektiv ist, und Deine Abneigung gegen Alberti-Bässe genausoviel Gewicht hätte wie das Neue Handbuch der Musikwissenschaft.


    Dass Alberti-Bässe aus Gründen der "Einfallslosigkeit, Faulheit, Ersparnis lästiger Schreibarbeit" eingesetzt wurden, ist natürlich auch jetzt eine ganz tolle Theorie, nicht wahr. Kannst Du das irgendwie belegen/argumentieren? "Man besehe sich nur einmal die Manuskripte derartiger Werke" gilt nicht.

    Wir schreiben langsam an der Sache vorbei. Ich habe die Quint/Oktavparallelen, Albertibässe als mögliche Beispiele zitiert (die keinen Absolutheitsanspruch haben) auf die Bemerkung von Leiermann "Mängel" in Beethovens Spätwerk, verbunden mit der Frage, was denn unter musikalischen Mängeln zu verstehen sei. Darauf gibt es, wie zu vermuten, viele Antworten, die alle subjektiv sind.

    Also, nimm bitte zur Kenntnis, dass ich Albertibässe für einen musikalischen Mangel ansehe, und ich respektiere Deine Gegenansicht.

    Kritik an Albertibässen ist übrigens so alt wie sie, zu finden bei CPE Bach (Versuch; Briefe an Claudius, Forkel); G. Türk (Clavierschule); uvam.

  • Wir schreiben langsam an der Sache vorbei. Ich habe die Quint/Oktavparallelen, Albertibässe als mögliche Beispiele zitiert (die keinen Absolutheitsanspruch haben) auf die Bemerkung von Leiermann "Mängel" in Beethovens Spätwerk, verbunden mit der Frage, was denn unter musikalischen Mängeln zu verstehen sei. Darauf gibt es, wie zu vermuten, viele Antworten, die alle subjektiv sind.

    Also, nimm bitte zur Kenntnis, dass ich Albertibässe für einen musikalischen Mangel ansehe, und ich respektiere Deine Gegenansicht.

    Kritik an Albertibässen ist übrigens so alt wie sie, zu finden bei CPE Bach (Versuch; Briefe an Claudius, Forkel); G. Türk (Clavierschule); uvam.

    Lieber Bachianer, ich weiß nicht, ob wir uns da richtig verstanden haben. Ich habe dir jedenfalls überhaupt keine Frage zu etwaigen Mängeln in Beethovens Spätwerk gestellt. Ich habe aber darauf hingewiesen, dass derjenige, der darüber ein relevantes Urteil fällen möchte, dies nicht aus einer subjektivistischen Beliebigkeitshaltung heraus tun kann.

    Du hingegen scheinst mir genau darauf pochen zu wollen, ästhetische Urteile seien durch und durch subjektiv, oder?

    Jedenfalls: Das entspricht nicht meiner Erfahrung und damit auch nicht meiner Überzeugung. Fundiert hergeleitete, in ihrer Gewichtung transparent vermittelte Musikkritik kann m.E. eine gewisse Gültigkeit beanspruchen. Darüber müsste man allerdings eine Diskussion führen, die hier wohl fehl am Platze ist.

    Was ich sehr befremdlich finde: Dass man gewisse musikalische Mittel per se als mangelhaft tituliert. Das lehne ich klar ab mit einem Rückverweis auf mein Credo, musikalische Qualität bzw. Defizite seien stets vom konkreten Werk aus zu begründen. Ich möchte dir damit deine tief sitzende Abneigung gegen Albertibässe nicht ausreden. Da es aber Musik von herausragender Qualität gibt, in denen auch Albertibässe eine Rolle spielen, haben sie nach meiner Überzeugung schlicht und ergreifend ihre grundsätzliche künstlerische Berechtigung erwiesen.

  • Lieber Bachianer, ich weiß nicht, ob wir uns da richtig verstanden haben. Ich habe dir jedenfalls überhaupt keine Frage zu etwaigen Mängeln in Beethovens Spätwerk gestellt

    Guten Morgen, lieber Leiermann,

    haste auch nicht, Du hast jedoch "Mängel in Beethovens Spätwerk" als Bemerkung ins Spiel gebracht. Darauf habe ich mit Fragestellungen versucht zu antworten.

    Du hingegen scheinst mir genau darauf pochen zu wollen, ästhetische Urteile seien durch und durch subjektiv, oder?

    In den meisten Fällen: ja!, denn was soll man unter "Ästhetik" verstehen, wie wird die allgemeingültig definiert?

    Dass man gewisse musikalische Mittel per se als mangelhaft tituliert. Das lehne ich klar ab mit einem Rückverweis auf mein Credo, musikalische Qualität bzw. Defizite seien stets vom konkreten Werk aus zu begründen.

    Musikalische Mittel/Mängel ist im Nachhinein ein schlechter Ausdruck. Ich korrigiere mich: kompositorische Mängel.